Der letzte Orphan - Gregg Hurwitz - E-Book

Der letzte Orphan E-Book

Gregg Hurwitz

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Beschreibung

Der letzte Orphan - der neue Thriller-Bestseller von Gregg Hurwitz! »Töte. Oder werde getötet.« Evan Smoak hat es geschafft! Nie wieder Blutvergießen, nie wieder soll das geheime Telefon des »Nowhere Man« klingeln. Der Haken an der Sache: die Präsidentin der USA. Betäubungsmittel für Großwild, Luftunterstützung, ein Einsatzteam in voller Kampfmontur, ein Konvoi mit Spezialfahrzeugen, Fesseln und eine Kapuze. So sieht eine persönliche Einladung der US-Präsidentin aus ... wenn der Gast Evan Smoak, Deckname Orphan X, heißt. Vor Jahren war er der beste Auftragskiller der US-Regierung, bis er sich entschied, als »Nowhere Man« seine eigenen Ziele zu jagen. Erstes Gebot: »Lass keinen Unschuldigen sterben.« Doch die US-Präsidentin verlangt genau das von ihm. Das Ziel ist ein Mann, der die Regierung bedroht. Evan weiß: Blut wird fließen ... es liegt an ihm, wessen Blut vergossen wird!

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Seitenzahl: 477

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Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Prolog: Hinter der scharlachroten Tür

1. Halten Sie mal

2. Dieser ganze lästige Zen-Scheiẞ

3. Die Poklatscher

4. Dringendere Ziele

5. Etwas, das älter war als die Furcht

6. Gefechtserprobung

7. High-Value-Target

8. Ein verdammtes Selfie mit Orphan X

9. All diese Jahre

10. Prometheus für Arme

11. Der groẞe böse Orphan

12. Fun, Fun, Fun

13. Angespannter Schlieẞmuskel

14. Trotz ihrer Verschiedenheit

15. Ein akuter Fall von Miesepetrigkeit

16. Vier Sekunden

17. Eine sehr schlechte Nacht

18. Unerreichbare Männer

19. Charlie Foxtrott

20. Ein Schrei nach Hilfe

21. Gefallener Engel

22. Für die bin ich ein Nichts

23. Das macht das Ganze hier leicht

24. Wirklich?

25. Aus einer anderen Welt

26. Dirtboxes

27. Ich auch nicht

28. Grab weiter

29. Family-Bucket

30. Blick in die Sonne

31. Steve, der weiẞe Zuhälter

32. Mr. Harte Grenze

33. Ineffiziente Idiotie

34. Ein überwältigendes Déjà-vu

35. Tatort

36. Monster

37. Schlachterschenkel

38. Die hohe Kunst des Leichenverschwindenlassens

39. 

40. Fackeln und Heugabeln

41. Proleten-Poet

42. Zerstörerischer Engel

43. Auf eine düstere Art schön

44. Und dann lieẞ er los

45. Das Auge Gottes

46. Mir wurde gesagt, es würde Wodka geben

47. Diese Art von Hirnfickerei

48. Ein Hauch von Freiheit

49. Den ganzen Weg nach unten

50. Versuch es gar nicht erst

51. Man kann die Mythologie nicht aus dem Menschen streichen

52. Einzigartig

53. Gestraft und gedemütigt

54. Unbekanntes Terrain

55. Eine Skyline der Verkommenheit

56. Ein Überblick über die Lage

57. Klebrige und nicht zu bewegende Ladung

58. Altmodisches Duell

59. X in unendlicher Ausführung

60. Das Werk des Teufels

61. Eine starke Frau

62. Root-Beer-Waffenstillstand

63. Ein neuer Mensch

64. Auf Tuchfühlung

65. Was auch immer als Schicksal durchging

Danksagungen

Über den Autor

Weitere Titel von Gregg Hurwitz

Impressum

Der letzte Orphan

Gregg Hurwitz

Aus dem Amerikanischen von Noah Sievernich

An Caspian Dennis und Rowland White, meine britischen Kopiloten

Besondere Beziehung in der Tat

 

Es ist der Geist sein eigner Raum, er kann

In sich selbst einen Himmel aus der Hölle,

Und aus dem Himmel eine Hölle schaffen.

– Milton, Das verlorene Paradies

Trotz dieser tiefen Zwiespältigkeit war ich doch in keiner Weise ein Heuchler, denn mit beiden war es mir todernst.

– Robert Louis Stevenson, Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde

Prolog:Hinter der scharlachroten Tür

Johnny war zweiundzwanzig Jahre alt und konnte nur an Sex denken. Es gab auch noch andere Dinge, da war er sich sicher, doch die verschwanden so tief im Nebel seines Unterbewusstseins, dass sie im Allgemeinen unbemerkt blieben. Nach der Highschool zog es ihn deswegen von Massachusetts nach Manhattan. Vorgeblich arbeitete er dort als Bühnenhilfe, doch eigentlich trieb er sich nur in der Theaterszene herum, um auf all die schönen, klugen und talentierten Frauen zu treffen, die sich von den Verheißungen des Big Apple anziehen ließen.

Zu seinem Glück besaß er markante Gesichtszüge, war ein begabter Pitcher, was ihn insgesamt sehr sportlich wirken ließ, und hatte ein wenig schauspielerisches Talent von seiner Mutter geerbt. Und nur zwanzig Minuten Training am Tag reichten aus, um sein Sixpack nicht in Gefahr zu bringen. Die Vorteile, die ihm diese Welt mitgegeben hatte, erschienen ihm fast schon unfair, also bemühte er sich, diese Geschenke mit Respekt zu ehren. Und mit Dankbarkeit.

Lacey war typisch amerikanisch – perfekte Kurven, rundes Gesicht mit Grübchen und langes Haar mit Pony. Sie war jung und makellos, er war jung und makellos – und er wusste genug, um zu wissen, dass er jede verdammte Sekunde dieser Phase seines Lebens schätzen sollte. Johnny Seabrook; ein ziemlich guter Name für ein Kind, dessen Opa Teppichleger war. Der eigentliche Familienname, Schetter, war auf Ellis Island aus offensichtlichen Gründen geändert worden. Seine Familie hatte vier Generationen gebraucht, um Needham hinter sich zu lassen und in die Wellesley Avenue zu ziehen. So akademisch sie jetzt auch waren, durch ihre Adern floss immer noch die Arbeiterklasse. Das liebte Johnny so sehr an New York. Jeder dort brannte darauf, sich neu zu erfinden, und solange man den Gefallen erwiderte, waren alle bereit, denjenigen zu akzeptieren, der man sein wollte.

Er und Lacey hatten wilden Sex, wann immer sie konnten. In der Mittagspause. Nachts auf seinem Futon, mit einer Unterbrechung, um einen Film zu schauen, dann noch zweimal, bevor sie einschliefen. Sie war großartig, zart und ihr Haar duftete nach grünen Äpfeln und Reichtum. Sie kam aus den Hamptons und war in der entsprechenden Partyszene vernetzt, auf die er bisher nur durch Reality-TV-Shows einen Blick hatte erhaschen können. Aber es schien, als ob es das wäre. Das – die Zukunft, von der er immer geträumt hatte.

Sie sahen einander erst seit ein paar Wochen, als sie sich nach einem ihrer mittäglichen Stelldicheins auf den Rücken drehte und von einer Party am Labor Day erzählte. Irgendein reicher Finanztyp, der ständig Partys veranstaltete, wie dieser Gatsby-Vogel aus dem Roman. Doch Lacey konnte aufgrund eines Familienausflugs an die Côte d’Azur nicht hingehen, ein Ort, der für Johnny so fantastisch war wie der fünfte Mond des Jupiters. Aber sie hatte kein Problem damit, dass er ohne sie hinfuhr. Sie hatte ihm sogar über ihr Konto ein Uber bestellt, weil sie wusste, dass er die Kohle nicht hatte. Sie sagte, einige ihrer Freundinnen würden dort sein und es sei in Ordnung, wenn er sich mit ihnen treffen wolle, denn schließlich war klar, dass sie sich auch mit ein paar Franzosen treffen würde. New Yorker Frauen, Mann! So anders als die Bostoner, unter denen er aufgewachsen war, mit ihrer Neuengland-Strenge, ihrer puritanischen Sachlichkeit und ihrem harten Arbeitsethos.

Der Ort liege in der Billionaire’s Row, sagte Lacey, und als er nach der Adresse fragte, antwortete sie mit einem Wort: Tartarus. Einige der Residenzen dort trugen Namen, erklärte sie, wie in dieser Serie The Cape. Er hatte kein Papier zur Hand, doch auf dem Boden neben seinem Futon fand er einen Edding. Johnny notierte die Anschrift auf dem weißen Sohlenrahmen seiner Vans.

Am nächsten Samstag, kurz vor zehn Uhr abends, setzte ihn sein Uber am Ende einer kurvenreichen Straße ab, die wie eine Art royale Einfahrt aussah. Das waren nicht bloß Häuser am Meer, sondern Küstenpaläste. Eine weite Aussicht auf die Shinnecock Bay auf der einen Seite, weiche Sandstrände auf der anderen. Selbst zu dieser Stunde konnte Johnny das Rauschen der Wellen und die Schreie der Möwen hören, die sich im südwestlichen Sommerwind wiegten. Er konnte das Meer schmecken.

Johnny schwamm mit dem Strom und folgte den Leuten, die die Meadow Lane hinaufströmten, zu einem riesigen Haus mit einem privaten Steg. Cliquen und Grüppchen, in denen sich die Jungen und Schönen mit den reiferen, wohlgealterten Erwachsenen vermischten. Ein altmodisches Holzschild kündigte das Haus als Tartarus an, die großen Buchstaben waren mit dem Schottenmuster eines Kilts ausgefüllt. Das Mondlicht glitzerte auf dem Quarzstein der kreisförmigen Einfahrt, und Bedienstete in roten Westen parkten Fahrzeuge ein, die mehr wert waren als das Haus seiner Eltern. Er wurde zusammen mit einer Gruppe von Models im Kleinen Schwarzen durch ein Foyer von der Größe seines Wohnhauses geschleust, vorbei an einem tosenden Wasserfall und dann hinaus in den hinteren Bereich, wo die Party in vollem Gange war. Ein untersetzter Mann mit einer Warhol-Brille – irgendein berühmter Designer? – drehte sich um und bot ihm und den Frauen irgendwas zum Schnupfen von einem Silberlöffel an.

Johnny dachte, dass es unhöflich wäre, abzulehnen.

Die Party wurde immer wilder, grelle Lichter tanzten um ihn herum. Er lachte, und jeder, den er ansah, freute sich mit ihm.

Chinesische Papierlaternen flatterten im Wind und warfen einen rötlichen Schein auf die Köpfe der Gäste. Es gab Schneekrabbenscheren in Eiswannen, fröhlich leuchtende Kapseln, die neben Fenchelteiggebäck auf kleinen Tabletts gereicht wurden und die beste Coverband, die er je gehört hatte, lieferte extrem guten Achtzigerjahre-Rock ab. Im Gewühl der Menge glaubte er, dieses eine Supermodel und dann den Journalisten zu erkennen, der den Skandal mit der Weinflasche gehabt hatte. Da war dieser Politiker – Senator? Kongressabgeordnete? –, den er aus den Nachrichten kannte. All diese berühmten Menschen zusammengeschart, scherzend, trinkend, ziehend und fummelnd.

Jemand bekam auf dem Sprungbrett einen geblasen. Reiche Leute, Mann!

Nach zwei Poppers zur Anregung und der Hälfte seines dritten Gin Tonic stieß Johnny mit jemandem zusammen und hätte seinen Drink fast in ihr tiefes Dekolleté verschüttet. Es kostete ihn alle Mühe, seinen Blick loszureißen. Sie war eine Göttin. Bronzene Haut, die Haare zu einem Afro gestylt, ein lockeres, rückenfreies Sommerkleid. Ihre Wangenknochen waren mit Make-up-Strichen stark betont. Sie war so attraktiv, dass sie alles bisher Gekannte in den Schatten stellte.

Es fühlte sich falsch an, sie überhaupt anzuschauen. »Wow«, sagte er.

Sie machte eine königliche halbe Drehung, wobei ihre nackte Schulter fast sein Kinn berührte. Im Nacken hatte sie eine blau-goldene, gekreuzte Solidaritätsschleife tätowiert, mit einem kleinen vertikalen Schriftzug am linken Ende: boston strong.

Johnny fühlte sein Herz schneller schlagen; das Zeug war so gut, wie man es auf solchen Partys erwarten konnte. »Du kommst aus Boston, hm?« Er tippte sich mit dem Daumen auf die Brust: »Wellesley. Bist du wegen der Party hier?«

Sie sah ihn an. »Verstehst du es nicht?«

»Was denn?«

»Du bist ein Spielzeug wie ich. Ich suche nicht nach einem anderen Spielzeug. Ich bin auf der Suche nach einem Spieler.«

Ein Zigarettenmädchen ging zwischen ihnen hindurch, ein Tablett mit Cannabis-Zuckerwatte und einer reichen Auswahl an Joints umgeschnallt, und dann war die Göttin mit der Agilität eines Ninjas verschwunden, und er fragte sich, ob sie überhaupt real gewesen war.

Jetzt lachte er. Es war so lächerlich, dass er, Johnny Seabrook, der zweitbeste Highschool-Pitcher aus dem nicht allzu reichen Stadtteil von Wellesley, hier zwischen den Mächtigen und Berühmten war.

Die alten Kerle hatten Geld, das war sicher, aber er wusste, dass er hübscher war, als er es verdiente, also ließ er zumindest das für sich sprechen. Natürlich fiel ihm auf der anderen Seite des Weges die Rothaarige im roten Satinkleid ins Auge, und er hob sein Glas, um ihr zuzuprosten, bevor er merkte, dass er es irgendwo abgestellt hatte. Sie winkte ihn mit dem Finger heran, und er folgte ihr ins Haus. Sie spielten ein Versteckspiel für Erwachsene, und Johnny verfolgte sie durch die Menge von Raum zu Raum. Das Gebäude war verdammt noch mal dafür gebaut worden – mit Winkeln und Ritzen, Geheimgängen, versteckten Räumen hinter Bücherregalen. Überall spielte sich verrückter Scheiß ab – Metallkübel voller Champagner, Tische, auf denen sich die Austern türmten, eine halbbekleidete Orgie auf den Ledersofas einer Bibliothek. An jeder Ecke stand ein anderer Typ im Smoking und balancierte ein Tablett mit Cocktails. Johnny schwebte durch eine Dunstwolke aus Haschischrauch – dem guten Zeug, das nach frischem Harz duftete. Der Kontakt mit dem Nebel verstärkte seinen Rausch, bis er sich fühlte, als würde er wahrhaftig durch die Halle schweben.

Er verlor das Mädchen in Rot aus den Augen, dann den Raum, in dem er sich befand, und schließlich sein Gesicht, das sich gummiartig anfühlte, als hätte sich etwas über seinen Schädel gestülpt. Er kam wieder zu sich; ausgestreckt auf einem Billardtisch mit einem Mann mit rötlichen, wabbeligen Wangen, der auf ihn herabblickte – der Moderator dieser einen Morgensendung – und dann bemerkte er, dass das Kinn des Kerls nass war und er seine Hand in Johnnys Jeans geschoben hatte.

Er probierte »Nein« zu sagen – doch es kam nur »Ne« heraus. Während er aus dem Zimmer stolperte, versuchte er, seinen Gürtel zu schließen, wobei sich der Boden strikt weigerte, fest zu bleiben. Alles hatte eine schreckliche Perspektive angenommen, als hätte er sich über das Geländer des Balkons gewagt, auf dem die Freiheit Spaß machte, und stünde nun auf dem Vorsprung, auf dem sie grenzenlos, schwindelerregend und erschreckend wurde. Er weinte, und er wünschte sich sein Highschool-Zimmer mit dem Red-Sox-Banner an der Wand und seine Mutter und seinen Vater und seine nerdig-coole kleine Schwester, die so viele Meinungen hatte – die meisten davon richtig –, und er fühlte sich so weit weg von zu Hause.

Und er dachte daran, was seine Eltern sagen würden und auch seine Lehrer, und wie er sich das selbst eingebrockt hatte, weil er wusste, er könne ein großer Mann in der Welt sein, er war fähig so viel Spaß zu haben, ohne dass es Konsequenzen hätte, und es war alles so schmutzig und schrecklich. Und es war seine Schuld, weil er auf den Vorschlag eines Mädchens, das er nur halb kannte, eine Fahrt nach Gott-weiß-wohin unternommen hatte, und er hatte seinem Körper alle Arten von Chemie-Scheiße zugeführt, ohne darüber nachzudenken, und jetzt bekam er, was er verdiente.

Orientierungslos taumelte er von Raum zu Raum, schien aber den Ausgang nicht zu finden. Die Villa war wie ein großes Labyrinth, in dem alles zu allem führte. Und jetzt weinte er und dachte daran, dass er niemandem erzählen konnte, was passiert war, und dass er nie wieder trinken oder Leute treffen wollte, und dass er nicht nach Hause gehen und seinen Eltern gegenübertreten konnte, und auf der Treppe tauchten die aufgedunsenen Gesichter der Partygäste auf. Eine Frau mit platinblonder Perücke strich ihm mit dem Daumen über die Wange und saugte seine Tränen von ihrer Fingerkuppe, und dann rannte er hoch, statt runter, nur um ihr zu entkommen.

Zwei Sicherheitstypen auf dem Treppenabsatz des dritten Stocks – einer fettleibig und schmierig, der andere durchtrainiert und mit akkurat frisiertem Haar – waren mit einer Frau beschäftigt, die sich mit einer pyrotechnischen Explosionskraft in eine Bodenvase erbrach. Johnny schlich sich unbemerkt an ihnen vorbei. Er wurde einen Moment lang ohnmächtig und dann ...

... die Kunstwerke rutschten von den Wänden, aber wenigstens war es ruhig. Er musste nur wieder zu Atem kommen. Ihm wurde klar, dass er sich wahrscheinlich in der Nähe des Hauptschlafzimmers befand, denn hier oben war niemand, und er spürte, wie plötzlich sein Magen grummelte. Da war eine große Tür ohne Griff, die mit einem schicken scharlachroten Stoff – wie man ihn bei teuren Couches oft findet – gepolstert war, und er vermutete, dass es sich um das Badezimmer reicher Leute handeln könnte, also stieß er mit seiner Schulter dagegen, aber sie ließ sich nicht öffnen. Doch Johnny wollte nicht auf die Marmorfliesen kotzen, daher rammte er noch einmal kräftiger dagegen, woraufhin sie aufsprang und er drinnen auf einem hochflorigen Teppich landete und ...

... er konnte nicht glauben, was er sah: ein Mann, der sich in seinem Stuhl zurücklehnte, den Kopf zurückgeworfen, die Lippen vor Lust geschürzt, in das Licht von hundert Sünden getaucht ...

...

... drehte sich auf dem Stuhl, das Gesicht von Wut verzerrt ...

...

... ein Schlag, der direkt durch sein Schulterblatt und nach vorne hinaus ging ...

...

... er kotzte, während er taumelnd eine enge Dienstbotentreppe hinunterschlitterte ...

...

... jemand jagte ihn, schrie ...

...

... straucheln und dann eine Stufe nach der anderen hinunterfallen ...

...

... die Erinnerung daran, dass er in den falschen Raum gestolpert war, was er dort gesehen hatte, was niemand sehen sollte ...

...

... frische Luft traf ihn, und er wurde so wach, wie es noch ging.

Blut tropfte aus dem Ohr, sein linkes Knie war verdreht, und ein purpurroter Fleck breitete sich auf der Brust seines billigen Hemdes aus. Johnny schnappte nach Luft, als er durch die Terrassentür an der Seite der Villa hinausstürzte und seine Vans auf dem gepflegten Bermudagras ins Rutschen gerieten.

Der trostlose Hinterhof war unbeleuchtet – zweifellos mit Absicht.

Keine Anzeichen von Leben. Die Villa war groß, der Hinterhof bestimmt vierhundert Meter entfernt.

Die Coverband machte Bruce Springsteen alle Ehre.

 – liddle gurl is yer daddy home, did he go ’n’ leave ya all alone –

Er konnte nicht dorthin gehen. Er konnte keinem dieser verrückten reichen Leute trauen. Hilfe, sagte er, oder zumindest dachte er das, aber das Wort war in seinem Kopf.

Sein Gürtel war immer noch offen, und die Scham über das, was er zugelassen hatte, schwoll wie eine Welle an und drohte ihn zu ertränken. Er konnte keine Hilfe holen, würde nie darüber reden können.

Vor ihm versperrte eine Baumreihe in weiten Teilen den Golfrasen des benachbarten Anwesens. Das Haus war zwar nur anderthalb Kilometer entfernt, wirkte jedoch so unerreichbar wie eine Burg auf einem Hügel. Der Wind hatte von Norden gedreht und brachte von der Bucht und dem Marschland den widerlichen Gestank der Ebbe mit sich; frische, salzige Luft, die faulig geworden war.

Trunken vor Schmerz schwenkte Johnny seinen Kopf in Richtung der Vorderseite des Hauses, seine Sicht war geblendet und verschwommen, die Konturen der Dinge verschmolzen miteinander. Ein Lichtfleck ergoss sich an der Seite der immensen kreisförmigen Einfahrt.

Die Bediensteten. Er konnte den Bediensteten vertrauen.

Schritte hinter ihm, die die Treppe hinunterhämmerten, ein nahender Donner.

Er schwankte ein wenig, die Finger gespreizt auf seinem Oberkörper über der nassen Stelle, wo die Brust auf die Schulter traf. Aus dem Durchschussloch sickerte immer mehr Blut, dunkel wie Tinte.

War er ... war er wirklich angeschossen worden?

... und das Springsteen-Double sang von einem Messer, kantig und stumpf und ...

Er bewegte sich auf die Bediensteten zu, fummelte sein iPhone aus der Tasche, tippte mit dem Daumen auf die drei Ziffern, aber seine Finger waren taub, gefühllos, und das glatte Gehäuse rutschte ihm aus der Hand, bevor er auf Anruf drücken konnte. Er ging in die Knie, um es aufzuheben, aber er kam nicht hoch. Blut tropfte von seiner Unterlippe, er weinte und das rötliche Gesicht des Morgensendungsmoderators ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Zum ersten Mal in seinem zauberhaften Leben verstand er, was es bedeutete, sich vergewaltigt und erniedrigt zu fühlen, und konnte sich nicht vorstellen, jemals darüber zu sprechen. Und dann kamen die Schritte von hinten heran, leise auf dem satten Gras, und ein Schatten streckte sich schlank und unheimlich unter den säuselnden Blättern hervor.

Er konnte sein eigenes Gesicht auf dem obsidianfarbenen Bildschirm seines Telefons sehen, das gerade so außerhalb seiner Reichweite lag, und dann sah er ein anderes Gesicht über seiner Schulter auftauchen, die Visage des Mannes aus dem Raum hinter der scharlachroten Tür.

Irgendwo im Hinterhof dröhnte unbeeindruckt die Musik, und dort, direkt über ihm, schwebte sie, diese schreckliche Grimasse, unmenschlich und leer wie die eines Geistes, und der Rest des Körpers verlor sich im Schatten, und Johnny wimmerte und sabberte Blut und tastete nach dem Telefon im Gras, seine Fingerspitzen streiften es, der Bildschirm erwachte zum Leben, der grüne Anrufkreis war nur Millimeter von seinen Fingerspitzen entfernt.

Doch da hörte er einen dumpfen Schlag, und seine Hand wurde heiß vor Schmerz. Er sah, dass sie in den Rasen gepfählt worden war.

Er öffnete den Mund, aber alles, was herauskam, war ein Luftzug, und dann packte der Mann ihn an den Haaren, und eine Stimme flüsterte ihm ins Ohr: »Ungezogener Junge.«

Das Messer glitt mit einem Ruck aus Johnnys Hand, und dann wurde sein Kopf nach hinten gerissen, so dass die Kehle frei lag. Der Schmerz wurde eins mit dem Gesang, sein Herz pochte wie die ferne Musik, seine Ohren dröhnten im Rhythmus des Schlagzeugs, seine Nerven waren on fiii-ire.

1. Halten Sie mal

Es war nicht das erste Mal, dass Evan Wodka auf der Spitze eines Gletschers getrunken hatte. Aber es war das erste Mal, dass er mit dem ausdrücklichen Ziel, Wodka zu trinken, auf einen Gletscher gestiegen war.

Nicht irgendein Gletscher, sondern der Langjökull, das Ungetüm in der Nähe der isländischen Hauptstadt. Tausendfünfhundert Meter über dem Meeresspiegel war die Luft so kalt, dass Evan sie zwischen seinen Zähnen spürte, selbst im kamingewärmten Inneren der Pop-up-Bar.

Es hatte einiger Navigation bedurft, um hierherzugelangen. Ein Anschlussflug nach Reykjavik, gefolgt von einer Reise über die Tundra, die so turbulent war, dass sich seine Eingeweide anfühlten, als wären sie von einem Industrietrockner durchgeschüttelt worden.

Er war vor zwanzig Minuten an den exakten Koordinaten – 64.565653°N, 20.024822°W – angekommen, Zeit genug, um das Taubheitsgefühl in seinen Fingerspitzen abzuschütteln und einen ersten Schluck von der handgemachten Spirituose zu nehmen. Ihr Name leitete sich von dem Wort für Rauch ab. Reyka hatte eine Gerstenbasis, die mit Wasser angereichert wurde, das man aus dem Gestein eines viertausend Jahre alten Lavastroms filterte, was es zur reinsten Flüssigkeit der Welt machte.

Die Bar hier inmitten des trostlosen Nirgendwo war kaum mehr als eine karge Holzkonstruktion aus Balken und Wänden. Gern genutzte Schachbretter auf Tischen. Ein Vierergespann stämmiger Isländer in Fußballtrikots. Panoramafenster mit Blick auf kilometerlange, blendend weiße Tundra. Dekorative Papageientaucher lugten zwischen den Flaschen auf den Regalen hervor.

Evan nahm einen weiteren Schluck von der limitierten Auflage, für die er über sechstausend Kilometer gereist war. Seidiges Mundgefühl, Rosé und Lavendel, ein Hauch von Getreide im Abgang. Er stellte sein aus Gletschereis gefertigtes Schnapsglas auf den Tresen vor sich ab.

Prompt wurde es vom Ellbogen eines Fußballfans aus dem Quartett zertrümmert, als dieser sich betrunken drehte, um nach der Taille einer vorbeigehenden Touristin zu greifen. Evan atmete gleichmäßig aus und wischte die Eisreste von der Bar. Obwohl die jungen Männer rüpelhaft und eingebildet waren und einen zu hohen Alkoholpegel hatten, konnte er spüren, dass sie keine schlechten Kerle waren. Aber sie waren auf dem besten Weg, solche zu werden, wenn nicht schleunigst jemand eine Kurskorrektur vornahm.

Auf Evans anderer Seite prahlte ein hohlwangiger Rentner vor einer Schar australischer Studentinnen und jedem in Hörweite damit, dass er Mitglied des legendären Viking-Squad-S.W.A.T.-Teams gewesen war, der isländischen Spezialeinheiten, bekannt als Sérsveit ríkislögreglustjóra. Der gutaussehende Mann, der seine besten Jahre bereits hinter sich hatte, sonnte sich im Glanz der Aufmerksamkeit, die ihm die jungen Frauen schenkten.

Beschwingt und amüsiert kämpften sich die Australierinnen durch seine Aussprache. Gut gebaut, mit schönem Lächeln und großzügigem Lachen, hingen sie an seinen Worten, genauso erfreut über die ungewöhnliche Gesellschaft, wie er es war.

»Wir haben kein stehendes Heer«, erklärte der ehemalige Polizist in nahezu perfektem Englisch. »Wir sind also die letzte Verteidigungslinie, wenn es darum geht, tödlichen Bedrohungen zu begegnen.«

Evan beugte sich vor und signalisierte dem Barkeeper seinen Durst. Als dieser ihm einschenkte, schnappte sich ein anderer Fußballer den Shot unter der Flasche weg und stürzte ihn hinunter.

Evan starrte auf die Wodkapfütze, die sich unter seinen Händen auf der Bar gebildet hatte. Dann blickte er zum Barkeeper, einem blassen Nordischen mit Haaren aus Draht. »Möchten Sie mit ihnen sprechen?«, sagte Evan ruhig. »Oder soll ich?«

Der Barkeeper zuckte mit den Schultern. »Sie sind zu viert. Und wir sind hier weit draußen. Da gibt es nichts zu sprechen.«

»Nun«, sagte Evan. »Nicht nichts.«

Der Barkeeper gab ihm einen neuen Shot, den er diesmal bei der Übergabe sicherte. »Amerikaner?«, fragte er. »Weshalb sind Sie nach Island gekommen? Geschäftlich? Wale beobachten?«

Evan hob das Schnapsglas. »Das hier.«

»Sie sind den ganzen Weg hierhergeflogen?« Der Mund des Barkeepers klappte ungläubig auf. »Für Wodka?«

Warum nicht?, dachte Evan.

Er war an einem Punkt in seinem Leben angelangt, an dem er endlich in der Lage war, sich kleine Vergnügungen zu gönnen. Seine Kindheit war, gelinde gesagt, rau und chaotisch gewesen. Es hatte ihn durch eine Reihe von Pflegefamilien geschleudert und im Alter von zwölf Jahren aus jedem Anschein eines normalen Lebens gerissen, damit er zum Attentäter ausgebildet werden konnte. Das streng geheime Regierungsprogramm sollte ihn zu einer entbehrlichen Waffe machen, die Missionen ausführen konnte, welche nach internationalem Recht illegal waren. Orphans wurden ausschließlich für Solo-Operationen ausgebildet – ohne Kontakt zu Gleichaltrigen, ohne Unterstützung, ohne Rückendeckung. Wäre Jack Johns, Evans Ausbilder und Vaterfigur, nicht gewesen, hätte das Programm wahrscheinlich erfolgreich das letzte Fünkchen Menschlichkeit in ihm ausgelöscht. Der schwierige Teil war nicht, ihn in einen Killer zu verwandeln, das hatte Jack ihm von Anfang an beigebracht. Der schwierige Teil war, seine Menschlichkeit zu erhalten. Diese beiden gegensätzlichen Triebe zu vereinen, war die große Herausforderung in Evans Leben.

Nach mehr als zehn Jahren, die er damit verbracht hatte, nicht genehmigte Anschläge rund um den Globus zu verüben, hatte Evan das Programm eigenmächtig verlassen und Jack durch einen plötzlichen Schicksalsschlag verloren. Seitdem hatte er sich dazu verpflichtet, unter dem Radar zu bleiben und seine Fähigkeiten zu nutzen, um anderen zu helfen, die genauso machtlos waren, wie er es als kleiner Junge gewesen war – mit Missionen, die er als der Nowhere Man durchführte.

Im Moment genoss er eine Pause zwischen den Aufträgen. Das, was einer Familie oder einer operativen Partnerin am nächsten kam – eine sechzehnjährige Hackerin namens Joey Morales – hatte einen unbefristeten Urlaub genommen, um ihre Unabhängigkeit zu erkunden, was auch immer das heißen mochte. Entgegen all seiner ihm eingeprägten Gewohnheiten hatte er eine persönliche, wenn auch undefinierte Beziehung mit einer Staatsanwältin namens Mia Hall begonnen, so dass er vor zwei Monaten an ihrer Seite gewesen war, als ihr Krankenbett in eine lebensbedrohliche Operation geschoben wurde. Die Operation hatte sie ins Koma fallen lassen, ohne dass eine klare Prognose hatte gestellt werden können. Ihr zehnjähriger Sohn Peter, ein weiterer der wenigen Auserwählten, zu denen Evan eine menschliche Bindung verspürte, befand sich nun in den fähigen Händen von Mias Bruder und ihrer Schwägerin. In der gemeinsamen Abwesenheit von Joey und Mia war es in Los Angeles ruhig genug geworden, dass Evan die wilde Einsamkeit der Freiheit wiederentdecken konnte.

Zu seiner Linken fuhr der isländische Ex-Polizist fort. »Fallschirmspringen und Hafensicherheit, so etwas in der Art. Drogen und Sprengstoff.«

»Sprengstoff«, gurrte eine der Australierinnen. »Cool.«

»Betrachten Sie mich als einen echten James Bond«, fuhr der Alte fort. »Aber noch härter.«

»Härter als Bond?«

Auf Evans anderer Seite riefen die Fußballer »Skál!«, stürzten ihre Schnapsgläser zusammen hinunter und leckten Eis und Wodka von ihren Handflächen. Ein älterer Mann begleitete seine Frau an der rüpelhaften Gruppe vorbei und erntete dafür Spott. Der Größte der Vierergruppe, rotgesichtig und ungepflegt, schlug dem Ehemann auf die Schulter, so dass dieser taumelnd auf die Tür zustürzte.

Das zog Evans Aufmerksamkeit nun vollkommen auf sich.

Der große Mann trug Hosenträger, die sich ideal zum Greifen eigneten. Ein anderer hatte einen praktischen Handgelenksgips; Evan mochte es immer, wenn ein Großmaul seinen eigenen Knüppel mitbrachte. Der Mann, der Evans Shot genommen hatte, trug ein flaches metallenes Lippenpiercing in der Größe eines Vierteldollars, auf dem eine Rune eingeprägt war; Evan hatte sein Wissen über die isländischen Runen seit einigen Jahrzehnten nicht mehr aufgefrischt, aber er glaubte, dass es sich um das Symbol für Schutz im Kampf handelte. Und der vierte Mann trug eine Brille mit massivem Titangestell, ideal, um das empfindliche Fleisch um die Augenhöhlen herum einzudrücken.

Zwischen den beiden Gruppen eingeklemmt, kauerte sich Evan weiter in sich zusammen und nahm noch einen Schluck. Er liebte das Trinken.

Aber er war kein Trinker.

»Was war das Lustigste, das Sie je bei Ihrer Arbeit gesehen haben?« Die Australierinnen scharten sich nun enger um den Polizisten, um ihn zu betören.

»Als mein Partner Rafn sich beim Pinkeln versehentlich in den Fuß geschossen hat. Direkt durch die Oberseite seines Stiefels!«

Gelächter. Die nächste Getränkerunde kam für die Damen – ein ekelhaftes Gebräu aus rosa Grapefruit, Holunderblütensirup und Soda, gekrönt mit einer Kirschtomate. Es sah aus wie ein Salat in einem Glas.

Das Geplänkel ging weiter. »Und was war das Unheimlichste, das Sie gesehen haben?«

Der altehrwürdige Polizist fuhr sich mit der Hand durch sein ergrautes Haar. »Nun, ich könnte es Ihnen sagen. Aber dann ...«

Während die Australierinnen lachten und ihn anflehten, schloss Evan die Augen und schmeckte noch einmal die Reyka-Spezialität. Sie war unangemessen weich, der Abgang kurz und einen Hauch von würzigem Zedernholz hinterlassend.

Er bewunderte Wodka. Basiselemente, die einem strengen Prozess unterzogen, destilliert und gefiltert wurden, bis das Ergebnis in seine reinste Essenz verwandelt war.

Als schmächtiger Junge hatte Evan selbst einen ähnlichen Prozess durchlaufen. Nahkampf, Netzwerk-Infiltrierung, Messerkampf, Psyops, SERE-Taktiken – er hatte eine akribische Ausbildung absolviert, um mehr zu werden, als seine bescheidene Herkunft vermuten ließ.

Wie Jack immer zu ihm gesagt hatte: Ein Diamant ist nur ein Klumpen Kohle, der mit Druck umzugehen weiß.

In einem Anflug von aggressiver Belustigung schlug einer der Fußballer mit der Faust gegen die Theke, so dass ein gläserner Aschenbecher an Evans Wange vorbei nach oben flog. Er zerschellte auf dem Boden neben seinen Stiefeln.

Er ignorierte sie. Instinktiv warf er einen Blick auf das RoamZone, das Hightech-Hochsicherheitstelefon, das ihn überallhin begleitete. Nachdem er sich als Nowhere Man für jemanden eingesetzt hatte, verlangte er als einzige Bezahlung, dass diese Person seine ansonsten geheime Telefonnummer – 855-2-NOWHERE – an einen anderen Hilfsbedürftigen weitergab. Er wusste nie, wann das Telefon klingeln, in welcher Art von Leben-oder-Tod-Notlage sich der Anrufer befinden würde, oder was er tun müsste, um zu helfen. Die einzige Konstante war die erste Frage, die er jedes Mal stellte, wenn er abnahm: Brauchen Sie meine Hilfe?

Das robuste Telefon zeigte keine verpassten Anrufe an.

Der Polizist zu seiner Linken ließ sich zu einer neuen Geschichte hinreißen. »... kennen Sie die geothermischen Becken?«

»Sicher! Die natürlichen Quellen. Wir kommen gerade von der Blauen Lagune. Oh mein Gott, diese Farbe! Und der Nebel.«

»Nun, es gibt einen weniger bekannten Kurort eine Stunde östlich von Akureyri. Wir sind stolz auf die niedrige Kriminalitätsrate, aber ein Unternehmen hat unsere Gastfreundschaft ausgenutzt und uns als Umschlagplatz von der EU nach Nordamerika verwendet. Meth. Erhebliche Mengen aus Dresden.«

Evan beugte sich über die Theke, das Schnapsglas fester umfassend, die eisige Wölbung klebte an seiner Handfläche.

»Wir werden also in der Abenddämmerung zu einem Lavafeld in Mývatn gerufen. Dichter Dampf wie ein Vorhang. Aufgewühltes Wasser, von unten erhitzt. Herzzerreißend schön.« Der ehemalige Polizist hielt einen Moment inne. »Dieses eisige Blau, eine Farbe, von der man nicht glauben kann, dass Gott sie erschaffen kann. Wir kommen dort an und ...«

Die jungen Frauen lehnten sich näher heran. »Und?«

»In dem blauen, blauen Wasser trieb ein armdickes Band aus Purpur wie ein Farbklecks. Ich watete ihm hinterher, wie es so herumschwappte, folgte dem Blut wie ein Hai. Und dann sah ich es. Es trieb gegen eine Wand aus versteinerter Lava. Wasserverquollen. Den Kopf in einem Winkel, der anatomisch keinen Sinn ergab.« Der Polizist tippte mit den Fingerspitzen auf die Oberfläche der Bar. »Die Schlinge hatte sich durch den größten Teil des Halses gearbeitet. Der Kerl muss sich höllisch gewehrt haben.«

»Wer war das?«, fragte eine der Australierinnen atemlos.

»Ein deutscher Drogenboss. Derjenige, der die Operation eingefädelt hatte.«

»Und wer ... wer hat ihn getötet?«

Auf Evans anderer Seite stampften die Fußballer jetzt mit den Füßen und sangen ein Trinklied. Aber sein Ohr war auf die Geschichte eingestellt, die das ehemalige Mitglied des Sérsveit ríkislögreglustjóra erzählte.

»Glaubt ihr an Märchen?«, fragte der Polizist.

Die Frauen starrten ihn mit glasigen Augen an.

»Es gab einen Killer der Regierung, bekannt als Orphan X«, fuhr er fort. »Stellen Sie sich ihn als den großen bösen Wolf vor. Wahrscheinlich Amerikaner, vielleicht auch Brite. Keiner wusste, wer er war. Niemand hat es je herausgefunden. Möglicherweise existierte er gar nicht. Vielleicht war er nur ein Name, den man den bösen Männern zuflüsterte, damit sie nachts nicht so gut schlafen konnten.«

»Glauben Sie, er war echt?«

»Ich habe sein Werk gesehen.«

»Der tote deutsche Drogenbaron?«

»Und fünf seiner Kollegen, die übel zugerichtet in einer Scheune am Fuße des Námafjall-Gebirges gefunden worden waren. Ihr Versteck. Das Gemetzel ...« Der Polizist schüttelte den Kopf. »Es entsprach unserer nationalen Mordrate aus dem vorangegangenen Jahrzehnt. Niemand hatte den Attentäter kommen oder gehen sehen. Keine Fußabdrücke, keine Reifenspuren, keine Augenzeugen. Man sagt, so sei er zu seinem Spitznamen gekommen. Seinem anderen Spitznamen.«

»Wie lautet er?« Die Australierinnen waren jetzt gefangen, beugten sich vor und stocherten mit ihren Strohhalmen in ihren Getränken herum.

»Der Nowhere Man. Es heißt, dass er die Welt der Spione verlassen hat. Aber er ist immer noch da. In den Schatten.«

»Das ist nicht wahr«, sagte eine der Frauen. »Das kann nicht wahr sein.«

»Er hat eine geheime Telefonnummer. So heißt es zumindest. Die Nummer wird herumgereicht, und wenn man ihn anruft, meldet er sich mit: Kann ich Ihnen helfen?«

Evan schüttelte den Kopf. Nur minimal.

Der pensionierte Polizist fixierte ihn. »Was?«

»Kann ich Ihnen helfen?«, wiederholte Evan. »Das klingt ... unterwürfig.«

»Dieser Mann ist alles andere als unterwürfig«, sagte der Polizist.

»Ich könnte mir vorstellen, dass er etwas Bestimmteres sagen würde«, bot Evan an. »Etwa: Brauchen Sie meine Hilfe?«

»Egal, was er sagt, er ist niemand, den man auf den Fersen haben will.«

»Wie sieht er aus?«, fragte eine andere der jungen Frauen.

»Wie jeder und niemand«, sagte der Polizist und richtete seine Aufmerksamkeit von dem Mann zurück auf die Clique. »Es gibt nur wenige Informationen über ihn. Gewöhnliche Größe, gewöhnliche Statur. Ein durchschnittlicher Typ, nicht besonders gutaussehend.«

Die Frauen waren atemlos.

Der Polizist fuhr fort. »Er gelangt überall hin, sagt man. Zu allem fähig. Fürchtet sich vor nichts.«

»Niemand hat vor nichts Angst«, sagte Evan.

Der Polizist warf ihm einen irritierenden Blick zu. »Was weiß ein Tourist wie Sie schon von einem Mann wie ihm? Einem Mann, der Drogendealer, Terroristen und Staatsoberhäupter getötet hat? Ich habe die Leichen, die er hinterlassen hat, mit meinen eigenen Augen gesehen.«

Evan zuckte mit den Schultern. Er winkte dem Barkeeper, ihm noch etwas einzuschenken. Es würde sein Letzter sein. Er hatte eine lange, zähneknirschende Fahrt zurück in die Hauptstadt vor sich und einen noch längeren Flug von dort.

Der Polizist schlug die Hände zusammen und blies hinein. »Es heißt, er sei direkt in das Hauptquartier einiger der furchterregendsten Männer der Welt gelaufen. Zwanzig zu eins in der Unterzahl. Und wenn sie ihn verhöhnen, zuckt er nicht einmal mit der Wimper. Er starrt sie nur an und sagt ...«

Die theatralische Pause war schon zu lang.

»Sehe ich so aus, als könnte man mir Angst einjagen?«

Evan verschluckte sich fast an seinem Reyka.

Der Polizist drehte sich auf dem Hocker zu ihm um. »Ist was?«

Evan wischte sich den Mund ab. »Es ist nur ... das klingt nicht gerade kernig.«

»Okay, Sie Klugscheißer – und was ist Ihr Vorschlag?«

Bevor Evan antworten konnte, blaffte der Fußballfan mit der gepiercten Lippe seinem Freund etwas ins Ohr, beugte sich dann vor und nahm der nächstbesten Australierin ein Glas aus der Hand. Er schüttete es sich den baumstammartigen Hals hinunter, schlug das Glas auf den Boden und brüllte, bis ihm die Stimme versagte.

Evan drehte sich auf seinem Barhocker, um sich der Vierergruppe zuzuwenden. »Jetzt«, sagte er, »fangt ihr an, meine Geduld auf die Probe zu stellen.«

Der Mann sah auf ihn herab. »Wir wollen deine Geduld nicht auf die Probe stellen.« Seine Stimme war heiser vom Alkohol. Er legte eine Hand auf Evans Schulter und drückte zu. »Was soll ich denn tun?«

»Entschuldige dich bei ihr«, sagte Evan. »Das wäre gut.«

Der Mann lachte ein vertrocknetes Lachen.

Seine Freunde verteilten sich hinter ihm und schoben die Barhocker beiseite, um Platz zu schaffen.

Evan seufzte. Er streckte dem Polizisten sein Schnapsglas hin. »Halten Sie mal.«

Überrascht nahm der Mann den Wodka entgegen, den Mund leicht geöffnet.

Evan stützte seine Hände auf die Theke und beugte sich zu den Australierinnen vor. »Würden Sie mich einen Moment entschuldigen?«

In seinem peripheren Blickfeld nahm er die Fußballer wahr und bewertete die ihm zur Verfügung stehenden Requisiten.

Die roten Hosenträger waren aus strapazierfähigem Gummi mit Metallklammern.

Die Titanbrille saß so hoch auf dem Nasenrücken, dass sie den Knorpel durchstoßen konnte.

Der Gips schwebte in einer niedrigen Deckung und war nur einen Drehkick davon entfernt, gegen den wartenden Kiefer zu schlagen.

Evan spürte, wie sich der Griff um seine Schulter verstärkte.

Er hielt seinen Blick auf die Vereinigung seiner Hände gerichtet, die auf dem Rand der Bar lagen. Er nahm den Raum um sich herum wahr.

Die halbleere Flasche stand eine Armlänge entfernt bei den Bierhähnen.

Der Hocker unter ihm: robuste Konstruktion, ausreichend dicke Beine zum Stoßen.

Ein Klecks verschütteten Alkohols auf dem Boden, gleich hinter den Absätzen des Mannes, der auf ihn zu drängte.

»Ich weiß, dass du dich für groß hältst«, sagte Evan leise. »Und eure Überzahl und die Tatsache, dass du in deinem Heimatland bist, machen dich selbstbewusst.«

Er stand auf.

Hinter ihm gab eine der Australierinnen ein nervöses Kichern von sich und der Polizist sog scharf die Luft ein.

»Aber ich möchte, dass du mich ansiehst.« Evan hob den Blick, um den des Mannes zu erwidern, und schob seinen rechten Fuß ein wenig zurück, um seinen Stand zu festigen. »Sieh mich genau an, und dann frag dich ...«

Er begutachtete den Mann, der über ihm schwebte, mit dem Runenpiercing am Kinn wie ein Soul-Patch-Bart. Verlockend.

Evan sagte: »Sehe ich aus wie jemand, der Angst hat?«

Die Flugbegleiterin blieb mit dem Getränkewagen an Evans Gangplatz stehen. Zuvor hatte er um einen Beutel mit Eis für seine Knöchel gebeten.

Sie brachte ein keckes, wenn auch müdes Lächeln zustande. »Möchten Sie etwas?«

»Welche Wodkas haben Sie denn?«

Sie ratterte die kurze Liste herunter.

Evan sagte: »Wasser ist gut, danke.«

Während sie einschenkte, ertönte über die Lautsprecher die Durchsage, dass sie in vierzig Minuten mit dem Landeanflug auf den LAX beginnen würden. Sie stellte das Getränk auf seinen Klapptisch, den er zum Entsetzen seines Sitznachbarn kräftig mit einem antibakteriellen Tuch geschrubbt hatte.

Die Flugbegleiterin wies mit dem Kinn auf den Beutel mit größtenteils geschmolzenem Eis, das gegen seine Hand gedrückt war. »Soll ich das für Sie nehmen?«

Evan entfernte den tropfenden Beutel und enthüllte einen bösen Bluterguss an den Knöcheln des Ring- und Mittelfingers seiner linken Hand. Durch eine umliegende gelb-blaue Schwellung hindurch bildete eine Reihe von geplatzten Blutgefäßen ein unvollkommenes Schneeflockenmuster. Als er ihr den Eisbeutel reichte, blieb ihr Blick an den schmerzhaften Stellen hängen.

»Meine Güte, das sieht ja furchtbar aus. Was ist das?«

»Ich glaube«, sagte er, »es ist die isländische Rune für Schutz im Kampf.«

2. Dieser ganze lästige Zen-Scheiẞ

Wenige Minuten vor Mitternacht befand sich Evan auf der königsblauen Polsterung einer Trainingsmatte auf Händen und Knien und hielt die Tabletop-Position. Die Schultern direkt über den Handgelenken, die Hüften über den Knien, alle Gelenke in einem sauberen Winkel von neunzig Grad. Aber eine Sache war anders. Seine Handflächen, die auf die Matte drückten, waren so gedreht, dass seine Finger gerade nach hinten zu seinen Knien zeigten.

Es sah bizarr aus, als hätte ihm jemand die Hände abgetrennt und in der falschen Richtung wieder aufgesetzt.

Die Dehnung in seinen Unterarmen, die den Schock einiger gut platzierter Schläge auf dem Langjökull absorbiert hatten, erreichte ein biblisches Ausmaß an Intensität.

Er dehnte sich in der Stille seines Penthouse, 21A des Castle Heights Residential Towers. Sein Nacken tat auch weh. Kneipenkämpfer – vor allem die großen – neigten dazu, Leute in Schwitzkästen zu nehmen, ohne zu verstehen, dass man dadurch in ihre Deckung geriet und leichten Zugang zur Leiste, zum Bauch, zum verletzlichen Fußrücken hatte. Ausatmend zog Evan seine Hüften noch ein paar Millimeter zurück, die Faszien seiner Arme zerrten intensiver an den Muskeln und Nervenfasern.

Er hatte vergessen, einzuatmen. Er konzentrierte sich, hier an diesem Fleckchen Erde, einem modernen Wunderland aus Gussbeton und Edelstahleinbauten, das so karg und kalt war wie die skandinavische Landschaft, die er wenige Stunden zuvor durchquert hatte.

Es gab Trainingsstationen und Geräte zur Bewegungserkennung. Es gab vom Boden bis zur Decke reichende kugelsichere Fenster und einziehbare Sicherheits-Sonnenschirme mit diskreter Panzerung. Es gab einen Wodka-Tiefkühltresor und einen Tresor ganz anderer Art, der hinter der Dusche im Hauptschlafzimmer versteckt war. Es gab ein schwebendes Bett, das mit Hilfe von Herkules-Magneten einen Meter über dem Boden gehalten wurde, und eine Aloe-Vera-Pflanze namens Vera III., die von Vernachlässigung lebte. Es gab ein zeremoniell dekoriertes Katana und einen vertikalen Garten, der durch Tröpfchenbewässerung gespeist wurde. Es gab eine Discokugel und eine Klettwand mit kompatiblen Ganzkörperanzügen, mit denen man sich an sie kletten konnte, wenn man dagegen sprang.

Die letzten beiden waren eine lange Geschichte.

Der Schmerz in seinen Armen wich einem tauben Kribbeln, dann einer stechenden Milchsäureausschüttung, und schließlich gab er auf. Er atmete die Stille ein. Die Klimaanlage hier blieb auf kühle neunzehn Grad eingestellt, der freistehende Kamin hatte Ruhezeit. Wie es seine Gewohnheit war, hatte er das Outfit, das er auf dem Ausflug getragen hatte, bereits verbrannt und abermals die identische Kleidung angezogen. Er mochte die Kälte, die Stille, das Fehlen äußerer Reize. Alles hier fühlte sich gefroren, steril und sicher an, wie eine Eisgruft, in der er sich zur vampirischen Verjüngung ausruhen konnte.

Seit er aus dem Orphanprogramm geflohen war, fristete er sein Dasein im Fegefeuer als Nowhere Man. Er verfügte über praktisch unbegrenzte finanzielle Mittel und eine herausragende Fähigkeit, im Namen anderer freiberuflich Vergeltung zu üben. Dabei achtete er darauf, dass er seine Fähigkeiten im Einklang mit den Zehn Geboten einsetzte, die er von Jack erhalten hatte – eine Reihe von Regeln, die sicherstellen sollten, dass er bei den Einsätzen gesund blieb.

Angesichts der früheren Missionen, die er als Orphan X durchgeführt hatte, wurde er von den höchsten Stellen der US-Regierung als Gefahrenquelle betrachtet. Die Präsidentin hatte ihn inoffiziell begnadigt, wobei sie zur Bedingung gemacht hatte, dass er alle außerplanmäßigen Aktivitäten als Nowhere Man einstellte.

Er war nicht sehr gut darin, alle außerplanmäßigen Aktivitäten einzustellen.

Aber er blieb in Sicherheit, solange niemand etwas herausfand. Nicht der Staat, nicht die NSA. Nicht die CIA oder das FBI. Nicht die verantwortliche Secret Service Special Agentin Naomi Templeton, die ihn so unerbittlich verfolgte, wie es ihr Job erforderte. Nicht Präsidentin Victoria Donahue-Carr, die selbst die Bedingungen für seine inoffizielle Begnadigung festgelegt hatte.

Solange das RoamZone ruhig blieb, brauchte er sich keine Sorgen zu machen.

Er könnte sich hier einfach entspannen, eine kleine Pause einlegen und sich vergewissern – das RoamZone klingelte.

Evan entließ seine Hände, ging zurück auf die Fersen und schüttelte seine Hände aus, bis der Schmerz nachließ.

Die Anrufer-ID zeigte nichts an. Neugierde erfasste ihn.

Er meldete sich, wie er es immer tat. »Brauchen Sie meine Hilfe?«

Eine leichte Verzögerung; der Anruf wurde rund um den Globus durch mehr als ein Dutzend virtuelle Software-Telefonvermittlungsziele geleitet.

Dann ertönte ein Schluchzen.

Wenn er als Nowhere Man ans Telefon ging, war er daran gewöhnt. Er sprach oft mit Menschen in ihrem schlimmsten Moment der Verzweiflung.

Er wartete.

Und dann erkannte er, wer da weinte. Joey Morales.

Nachdem sie aus dem Orphanprogramm geflohen war, hatte er sie entgegen all seinen Wünschen und seinen Vorschriften als Einzelkämpfer retten müssen. Doch in gewisser Weise hatte sie auch ihn gerettet. Eine unglaubliche familiäre Bindung zwischen einer jugendlichen Hackerin und einem erwachsenen Attentäter, die ihn immer noch verwirrte. Vor ihr hatte er die Intensität von Zuneigung nicht verstanden. Auch die Verletzlichkeit; wie der Schmerz eines anderen noch mehr Qualen bereiten konnte als der eigene.

Er war nicht darauf trainiert worden, den Schmerz anderer Menschen zu berücksichtigen. Man hatte ihm beigebracht, seinen eigenen kaum wahrzunehmen.

Er hielt den Ansturm der Fragen zurück – Was ist passiert? Hat dich jemand verletzt? Wen muss ich verstümmeln? – und zwang sich zu warten.

Das Fünfte Gebot: Wenn du nicht weißt, was du tun sollst, tu gar nichts.

»Okay«, sagte er. »Es ist Okay.«

Joey hörte nicht auf zu weinen, seelenzerreißende Schreie, die in etwas übergingen, das wie eine Panikattacke klang – ruckartiges Einatmen, hastiges Ausatmen.

Irgendwie zwang sie sich zu einer halb geformten Bitte. »Mach, dass es aufhört.«

»Ich werde atmen«, sagte er leise. »Und du passt dich mir an. Okay?«

»...k-kay.«

Er atmete hörbar und langsam. Zuerst waren sie nicht synchron, aber dann begann sie, sich dem Rhythmus seiner Atmung anzupassen.

»Atme langsamer aus«, sagte er ihr. »Doppelt so lang.«

»Das tue ich!«

»Nein. Hör zu.« Er machte es vor. »Platz schaffen für mehr Sauerstoff.«

Es dauerte fünf volle Minuten, bis sie seine Atmung widerspiegelte. Dann hielten sie den Rhythmus für weitere zwei.

Schließlich fragte er: »Was ist passiert?«

Das RoamZone verfügte über eine Vielzahl von Funktionen – einen selbstreparierenden Bildschirm, Nanotech-Batterien, ein Anti-Gravity-Schutzcase. Außerdem konnte man damit ein zerbrochenes Fenster aufhebeln. Er tippte auf das holografische Display und sah zu, wie Joeys Worte tanzten, während das RoamZone ihre Stimme übertrug.

»Nichts«, sagte sie. »Es muss nicht immer irgendwas passiert sein, X.«

Er hatte ihre Schallwellen auf Orange eingestellt, so dass sie wie eine Flamme flackerten. Das war alles, was er im Moment von ihr hatte.

»Wo bist du?«, fragte er.

»Ein kleines Motel außerhalb von Phoenix.«

Es überraschte ihn nicht, dass ihr improvisierter Roadtrip in Arizona geendet hatte. Oder dass sie dort von Panik ergriffen worden war. Bevor ihre geliebte Tante – die ihr wie eine Mutter gewesen war – gestorben war, hatte Joey das erste unschuldige, unkomplizierte Jahrzehnt ihrer Kindheit bei ihr verbracht. Und dann waren die Pflegefamilien gekommen. Und ihre kurze Zeit in der Orphanausbildung. Nichts von alledem war unschuldig. Und schon gar nicht unkompliziert.

»Weißt du, was sie immer gesagt hat? Meine Tante? Wenn ich etwas Lustiges gemacht habe, hat sie gesagt: Ich habe ein Monster erschaffen. Und das gefiel mir, denn es bedeutete, dass sie stolz darauf war, dass ich das Beste von ihr übernommen hatte. Sie war so wahnsinnig witzig. Egal, was für eine Scheiße wir gerade durchmachten. Und ...« Sie schnitt mit einem scharfen Einatmen ab.

Joey hasste es zu weinen und kämpfte die ganze Zeit dagegen an.

Evan gab ihr Zeit. Es gab nichts anderes, was er ihr geben konnte.

Ihre Stimme zitterte leicht, drohte aber nicht zu brechen. »Sie war die einzige Person, die da war, als ich auf die Welt kam, die letzte Verbindung zu ... ich weiß nicht, zu mir. Meinem kleinen Ich. Auf ihren Schultern reiten, Geburtstagskuchen, all das. Verstehst du?«

Die einzigen Antworten, die Evan einfielen, waren banal und abweisend.

Er hörte ein schlürfendes Geräusch – Hund leckte Joeys salziges Gesicht ab. Evan hatte den Rhodesian Ridgeback als Welpen aus einem Hundekampfring gerettet und ihn Joey geschenkt. Sie hatte sich geweigert, ihm einen Namen zu geben, weil sie sich nicht an ihn binden wollte, und als die beiden unzertrennlich geworden waren, war der Name geblieben.

Evan hörte aufmerksam zu, seine Sinne waren in höchster Alarmbereitschaft. Eines der Ziele der Meditation, die er praktizierte, war es, alles so zu erleben, als würde es zum ersten Mal geschehen. Denn das war jedes Mal der Fall.

»Es ist einfach ... gekommen«, sagte Joey. »All dieses Zeug. Fuck, Gefühle sind scheiße. Und sie lassen mich nicht in Ruhe. Zum Beispiel war ich heute traurig über einen alten Mann, der allein an einer Bushaltestelle saß. Er hatte einen kleinen Hut und alles.«

Eine Pause.

»Na komm, Hund. Lass uns etwas Wasser holen.« Sie stöhnte leise auf, als sie sich erhob.

Evan konzentrierte sich auf das Geräusch. »Warum stöhnst du?«

»Ich stöhne nicht, X. Jesus. Ich habe ein zartes, weibliches Ausatmen vollzogen.«

»Warum?«

»Nichts. Ich bin nur in der Hüfte verspannt.«

Er schloss die Augen und ging in sich. »Schmerzen an der Vorderseite des Gelenks?«

Jetzt eine längere Pause.

»Ja. Woher weißt du das?«

»Hast du dich heute erschrocken? Hat dich etwas erschreckt?«

»Nein«, sagte sie mit leicht zugänglicher jugendlicher Irritation. »Ich habe mich nicht ...«

Eine Eingebung ließ sie innehalten. Er gab ihr die Stille.

»Nun, irgendein Idiot in einem Volvo hat mich vorhin fast angefahren«, sagte sie nachdenklich. »An einer Kreuzung. Aber ich bin fürs Fahren in Gefechtssituationen ausgebildet, es ist also nicht so, dass ich Angst hatte.«

Er wartete.

»Aber vielleicht habe ich mich verkrampft. Für etwa eine Femtosekunde.«

Er wartete noch etwas.

»Warum? Warum hast du das gefragt?«

»Der Psoas ist der erste Muskel, der aktiviert wird, wenn man in den Kampf oder die Flucht geht. Weißt du, wie man ihn löst?«

»Natürlich weiß ich, wie ich meinen Psoas entlasten kann. Ich bin keine Amateurin.« Scharfe Geräusche, als das Telefon hingeworfen wurde. Er wartete, während sie stöhnte und herumschlurfte. Dann hörte er, wie sich ihr Atem zerklüftete, überging in erschütternde Entlastungen und sich schließlich wieder entspannte.

Als sie wieder den Hörer aufnahm, war ihre Stimme viel gedämpfter. Sie klang erschöpft, ausgelaugt. »Kann ich mich nicht einfach mit all dem nicht beschäftigen?«, fragte sie. »Emotionen oder was auch immer.«

Sie war im Allgemeinen so energiegeladen und koffeiniert, dass er diese ruhigeren Momente mit ihr genoss, selbst am Telefon. Er stellte sich ihr breites Lächeln vor, das ein Grübchen in ihre rechte Wange zauberte. Diese durchscheinenden smaragdgrünen Augen, rein wie Edelsteine. Das schwarzbraune Haar, das zur Seite gekämmt war, um den rasierten Streifen über ihrem rechten Ohr zu zeigen.

Er wusste, dass sie jetzt schläfrig war, er konnte es an ihrer Stimme hören, wie die Worte langsamer wurden, wie ihre Oberlider schwer wurden. Sie würde sich jetzt mit dem hundertzehnpfündigen Ridgeback auf dem Bett zusammenrollen und sich in einen Kokon wickeln. Er kannte diese Phase. Die Chrysalis, in der alles zusammensackte, formlos und hoffnungslos, ein Ur-Reset, bevor neue Struktur und Bedeutung Einzug halten konnte.

Er sagte: »Sicher.«

»Und was dann?«

»Du wirst weniger fühlen ...«

»Nehm ich.«

»Beziehungsweise gar nichts.«

Eine Pause.

Er sagte: »Wie man etwas tut, so tut man alles.«

»Komm mir nicht mit diesem ganzen lästigen Zen-Scheiß. Die Gebote sind nur für die Ausbildung.«

»Richtig.«

Ein langes Schweigen.

»Ich bin unter anderem deshalb gegangen, um ... keine Ahnung, um mich selbst zu finden. Ich weiß, das klingt dumm. Aber was ist, wenn es nichts Neues zu finden gibt?«

»Was soll das heißen?«

»Ich meine, ich wurde als Orphan ausgebildet, auch wenn ich die Ausbildung nie abgeschlossen habe. Aber was ist, wenn das alles ist, was ich kann? Was, wenn ich wirklich eine Killerin sein soll, wie –«

Sie hielt inne, aber er wusste, worauf ihre Worte hinausliefen:

Wie du.

»Ich versteh schon«, fuhr sie fort und sammelte sich wieder. »Ich bin erst sechzehn. Aber viel stärker als die meisten sogenannten Erwachsenen. Musste Mozart auch warten, bis er achtzehn war, um Klavier spielen zu dürfen?«

»Er hat niemanden mit seinen Sonaten umgebracht.«

»Das ist nicht der Punkt.«

»Es gibt Orte, von denen man nicht mehr zurückkehren kann.«

»Du bist dorthin gegangen. Warum sollte ich nicht?«

»Die Kosten«, sagte er.

Dieses Schweigen war noch länger.

»Ich bin im Moment so kaputt, X. Einfach verdammt kaputt. Die ganze Zeit.«

»Die Wunde ist der Ort, an dem das Licht in dich eindringt.«

»Scharfsinnig. Ist dir das auf Anhieb eingefallen?«

»Nein, einem muslimischen Dichter aus dem dreizehnten Jahrhundert. Es ist seit bald tausend Jahren im Umlauf.«

»Was bedeutet das?«

»Poesie bedeutet nie etwas. Sie evoziert.«

»Gut. Was evoziert sie?«

»Wenn ich es beschreiben könnte, wäre es keine Poesie.«

»Superhilfreich. Also, was soll ich tun?«

»Entweder du lässt es los«, sagte er, »oder du gehst damit unter.«

»Den Schmerz?«

»Nein.«

»Was dann?«

»Die Vorstellung, dass der Schmerz dich einzigartig macht.«

Ihre Worte wurden langsamer, zogen sich in die Länge. »Okay. Was passiert dann?«

»Ich weiß es nicht. So weit bin ich noch nicht gekommen. Aber vielleicht erhellt es ...«

»Was?«

»Was eigentlich einzigartig an dir ist.«

»Und was ist eigentlich einzigartig an mir?«

»Was ich bis jetzt gesehen habe? Deine Fähigkeit, enorme Mengen an Red Vines zu essen.«

»Du bist das Letzte.« Am Rande des Schlafes wurde ihr Tonfall intensiver.

»Du bist auch das Letzte.«

»Nacht, X.«

»Nacht, Josephine.«

3. Die Poklatscher

Am nächsten Tag machte Evan seine zweimal wöchentlich stattfindende Runde durch die Safe Houses, die er im Großraum Los Angeles unterhielt, um sich zu vergewissern, dass sie bewohnt aussahen, und um seine Ausrüstungsgegenstände und Ersatzfahrzeuge zu überprüfen. Wie es schon zur Routine geworden war, landete er schließlich beim Haus von Mias Bruder und ihrer Schwägerin, um Peter im Garten zu besuchen.

Evans Beziehung zu Mia war ein Wirrwarr aus Anfängen und Unterbrechungen; und obwohl sie zweifellos die Konturen seines geheimen Lebens erahnte, durfte sie als Staatsanwältin niemals wissen, wer er wirklich war, sonst wäre sie gezwungen gewesen, ihn zu verhaften. Trotz alledem hatten sie ein grundlegendes Vertrauen zueinander, vor allem, wenn es um ihren zehnjährigen Sohn ging. Mia hatte Evan gebeten, auf Peter aufzupassen, sofern auf dem OP-Tisch etwas schiefging, um den tugendhaften Einfluss der alten Schule auf ihn auszuüben, den Evan in seiner eigenen Kindheit nie gehabt hatte. Als Mia ins Koma gefallen war, hatte er versucht, dieses Versprechen so gut es ging einzulösen.

Es war die erste seiner ständigen Verpflichtungen, die einen anderen Menschen betraf.

Er und Peter aßen Sandwiches auf dem Terrassentisch, während Peters Tante und Onkel drinnen herumlärmten und sich aus verschiedenen Zimmern auf eine Art anschrien, die Evan fälschlicherweise für Streit hielt.

Die in gleichschenklige Dreiecke halbierten Sandwiches bestanden aus Kinderwurst, gelbem Senf und Wonder Bread. Mit der Zunge schob Peter einen zerkauten Klumpen durch die teilweise zusammengebissenen Zähne und entblößte seine Lippen, um Evan das Ergebnis zu zeigen.

»Sieh dir das an, Evan Smoak.« Peter hatte eine raue Stimme, die alles, was er sagte, auf unerklärliche Weise amüsant klingen ließ. »Wurst-Knete!«

Er beugte sich vor und ließ den Brei auf den Pappteller tropfen. Dann zerdrückte er ihn mit den Fingern und baute einen stärkehaltigen Schneemann. Er hielt inne, blickte auf. »Warum isst du nicht?«

Evan betrachtete die unförmige Wurst-Knete, die von den Spuren des Kool-Aid auf Peters Zunge rot gefärbt war, und tat sein Bestes, um die Zwangsneurose zu beruhigen, die sein Stammhirn wie Wespen umschwärmte. »Keinen Hunger.«

Der süßliche Geruch von Tropical Fruit kitzelte Evans Muskelgedächtnis. Er starrte auf die Teller, die vor ihnen standen, die Art von Essen, die er im Fernsehen gesehen hatte, als er im Pflegeheim aufwuchs. Die meisten Leute verstanden nicht, wie arm man sein konnte. Die Art von Armut, bei der Wurst zu teuer war und man deshalb Mayonnaise-Sandwiches zum Abendessen aß. Diese Art von Armut war mit einer heimlichen Scham verbunden, die sich in die Seele einbrannte.

»Okay. Wusstest du« – Peter grub mit einem schmutzigen Fingernagel an einem Stück Brot, das zwischen seinen Vorderzähnen steckte – »dass deine Pobacken, wenn sie waagerecht wären, klatschen würden, wenn du die Treppe hochgehst?«

»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«

»Wäre das nicht witzig?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Wir würden es einfach als normal betrachten. Wie Fußstapfen.«

Peter lachte dieses große Lachen mit offenem Mund, dass seine kohlefarbenen Augen leuchten ließ. »Dann wären ja in Einkaufszentren und so, in den Treppenhäusern, alle Poklatscher. Wie eine Herde von Poklatschern.«

»Wenn du eine Garagenband gründest«, sagte Evan, »sollte das ihr Name sein.«

»Eine Herde Poklatscher?«

»Oder ganz klassisch: die Poklatscher.«

»Wie die Beatles.«

»Mit härterem Schlagzeug.«

Peters Lächeln verblasste. Er sah unruhig aus. Er stocherte in seinem übriggelassenen halben Sandwich herum, warf eine Weintraube hoch und versuchte, sie mit dem Mund aufzufangen.

Evan beobachtete ihn, um den Stimmungsumschwung abzuschätzen. Der Versuch, für ein Kind da zu sein, fiel ihm schwer.

»In der Schule –«, Peter hielt inne. Er ließ seinen Finger in die andere Faust gleiten und drückte sie.

»Was?«

»Also, Mrs. Reimenschnitter sagt, dass man Mädchen und Jungen gleich behandeln muss. Aber das macht keinen Sinn. Weil ich ein Mädchen nicht einfach umhauen würde, weißt du? Ich sollte behutsamer sein. Und Onkel Wally ist anders als Tante Janet. Und du bist anders als Mommy.«

»Wie das?«

»Sie ist schlauer.«

»Schön«, sagte Evan.

»Und der Poklatscher-Witz würde ihr nicht so gut gefallen.«

»Vielleicht.«

»Würde er nicht. Sie würde nur so tun, als ob er ihr gefällt.« Peter kaute auf seiner Lippe, senkte den Blick, und Evan konnte spüren, wie seine Gedanken bei seiner Mutter verweilten. »Aber Mädchen behandeln mich anders! Woher soll ich dann wissen, was ich tun soll?«

Evan kannte die Eselsbrücke für die zehn wichtigsten Druckpunkte, mit denen man beim Kyusho Jitsu maximale Schmerzen verursacht. Aber Geschlechteraufklärung für Grundschüler war bei weitem nicht sein Fachgebiet. Er betete um eine Unterbrechung, eine Ablenkung, Granatbeschuss, irgendwas.

Aber Peter machte weiter. »Ich kann Onkel Wally nicht fragen, denn er sagt immer nur falsche Sachen. Und Tante Janet erzählt das Gegenteil von dem, was er sagt – eigentlich sollte sie also recht haben, aber sie liegt einfach nur anders falsch als Onkel Wally.«

»Ich finde«, sagte Evan, »dass die Leute einem zeigen, wie sie behandelt werden wollen, wenn man ihnen Aufmerksamkeit schenkt. Ich denke, das ist etwas, das Mrs. Durchdenwald –«

»Reimenschnitter!«

»– verstehen würde. Man kann selten etwas falsch machen, wenn man sanft ist. Besonders bei Mädchen.«

Peter grübelte darüber nach. Er nahm einen Schluck Kool-Aid, der seine Lippen rot glühen ließ. »Du bist nicht immer sanft.«

Evan sagte: »Nein.«

»Aber nur, wenn du es nicht sein musst?«

»Das ist richtig.«

Eine leichte Brise rührte die goldenen Blätter an den Bäumen. Der Rasen war mit Erdhörnchenhügeln übersät und hatte die Form einer Niere. Wally hatte ein Spielgerät mit einer verkürzten Kletterwand gebaut, die falsch herum montiert worden war. Es gab ein rostiges Skateboard im Unkraut, ein von der Sonne ausgeblichenes Frisbee und einen billigen Kickertisch unter der Nylonmarkise der Veranda. Hier gab es Liebe. Aber es fehlte so viel aus dem Leben, das Peter vorher geführt hatte.

Der Junge starrte auf seinen Zeigefinger, der in seiner kleinen Faust steckte, und drückte sie mit Impulsen zusammen, die seine Knöchel weiß werden ließen. »Ich habe Mom gestern vorgelesen, wie sie es gesagt haben. Und ...«

»Und was?«

»Ich habe versucht, sie dazu zu bringen, meinen Finger zu drücken. Aber sie hat’s nicht gemacht. Was, wenn ...?«

Der Wind zerzauste den blonden Scheitel in Peters Gesicht. Evan konnte sehen, wie er versuchte, die Worte zu finden, und dachte: Bitte frag nicht.

Peter faltete seine Hände am Rand des Tisches. Diese Haltung hatte etwas Förmliches an sich, das Evan das Herz brach. »Was ist, wenn sie nicht mehr aufwacht?«

Eine quälende Frage, die eine ehrliche Antwort verdiente.

»Es wäre schrecklich«, sagte Evan. »Und dann würden wir damit fertig werden.«

Der nächste Halt war Joeys vorübergehend verlassene Wohnung. Sie hatte Evan per SMS gebeten vorbeizufahren, weil sie einen manuellen Neustart auf einem ihrer Server benötigte. Ein Speicherleck in der von ihr geschriebenen Videoaufzeichnungssoftware hatte das System sich aufhängen lassen, als sie versuchte, aus der Ferne darauf zuzugreifen.

Um zu gewährleisten, dass sie als Sechzehnjährige hier sicher allein leben konnte, hatte er das Gebäude über ein Wirrwarr von Briefkastenfirmen gekauft und mit zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen ausgestattet. Da Joey aber nun mal Joey war, hatte sie es schnell durchschaut und ihn für übervorsichtig und paranoid gehalten. Er hatte ihr erklärt, dass dies seine besten Eigenschaften seien.