Orphan X - Gregg Hurwitz - E-Book

Orphan X E-Book

Gregg Hurwitz

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Beschreibung

1. Gebot: Keine voreiligen Schlüsse. Das schwarze Satellitentelefon klingelt. Am anderen Ende ist ein Mädchen, das von einem korrupten Cop verfolgt wird. Evan Smoak wird ihr helfen. 4. Gebot: Es ist nie persönlich. Evan ist ein Absolvent des Orphan-Programms, in dem Waisenkinder zu hocheffizienten Killern ausgebildet wurden. Nach Jahren des Mordens für die Regierung ist er in den Untergrund gegangen. Er hilft nun den Verzweifelten, die nicht zur Polizei gehen können. Dabei hält er sich strikt an seine eigenen Gebote. Doch diesmal muss er gegen eine Regel nach der anderen verstoßen, damit die allerwichtigste unangetastet bleibt: 10. Gebot: Lasse niemals einen Unschuldigen sterben. »Orphan X ist Gregg Hurwitz’ bislang bestes Buch – eine meisterliche Demonstration all der Stärken, die seine Thriller ausmachen.« Lee Child

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Seitenzahl: 524

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Dies ist ein fiktives Werk. Alle in diesem Roman dargestellten Personen, Organisationen und Ereignisse sind entweder ein Produkt der Fantasie des Autors oder werden fiktiv verwendet.

Der Inhalt dieses Buchs/E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtlich Sanktionen nach sich ziehen.

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Die englische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Orphan X« bei Minotaur Books, New York.

Deutsche Ausgabe 2024

Copyright © 2016 Gregg Hurwitz

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 Ronin Hörverlag: Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056

Erlangen

Die Rechte an der Nutzung der deutschen Übersetzung von Mirga Nekvedavicius liegen bei der Verlagsgruppe

HarperCollins Deutschland GmbH, Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Umschlaggestaltung: by wayan-design unter Verwendung von Motiven von Depositphotos © PastaSevenSeven

(Iurii Pankovskyi) und AdobeStock © logoboom

E-Book-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN: 978-3-98955-527-3 (E-Book)

Für Informationen wende dich an Ronin Hörverlag, Heusteg 47, 91056 Erlangen

www.ronin-hoerverlag.de

ORPHAN X

Gregg Hurwitz

Aus dem Amerikanischen von Mirga Nekvedavicius

ZUM AUTOR

Gregg Hurwitz schreibt neben Thrillern Drehbücher für große Hollywood-Studios sowie Comicbücher für so prestigeträchtige Verlage wie Marvel (Wolverine, Punisher) und DC (u. a. Batman). Mit seinen Büchern hat er den Weg auf die New-York-Times-Bestsellerliste gefunden, und seine 15 Thriller sind mittlerweile in 22 Sprachen übersetzt worden.

Die Filmrechte an Orphan X konnte Gregg bereits vor Veröffentlichung an Warner Bros. verkaufen.

Für all die Bad Boys und Girls, die Regelbrecher und selbst ernannten Hüter des Gesetzes –

Philip Marlowe und Sam Spade, Bruce Wayne und Jason Bourne, Bond und Bullitt, Joe Pike und Jack Reacher, Hawk und Travis McGee, die Sieben Samurai und die Glorreichen Sieben, Mack Bolan und Frank Castle, die drei Johns (W. Creasey, Rambo und McClane), Käpt’n Ahab und Guy Montag, Mike Hammer und Paul Kersey, Lone Ranger und Shadow, Robin Hood und Van Helsing, Beowulf und Gilgamesch, Ellen Ripley und Sarah Connor, Perseus und Coriolanus, Hanna und Hannibal, der Mann ohne Namen und der Profi, Parker und George Stark, Pike Bishop und Harmonica, Lancelot und Achilles, Shane und Snake Plissken, Ethan Edwards und Bill Munny, Jack Bauer und Repairman Jack, der Killer und der Killer, Zorro und Green Hornet, Dexter und Mad Max, das dreckige Dutzend und Dirty Harry, der Terminator und Lady Vengeance, Cool Hand Luke und Lucas Davenport, Logan 5 und James »Logan« Howlett, V und Vic Mackey, Hartigan und Marv, Sherlock und Luther und Veronica Mars und Selina Kyle

– weil sie so verdammt böse sind, dass sie schon wieder gut sind.

Ripley: Was Sie tun, ist falsch. Luther: Ja, ich weiß.

Ripley: Wieso tun Sie es dann? Luther: Weil es richtig ist.

– aus Luther von Neil Cross

INHALT

ORPHAN X

Zum Autor

Inhalt

Prolog: DIE FEUERPROBE

1. DIE MORGENGETRÄNK-INITIATIVE

2. FESTUNG DER EINSAMKEIT

3. KAPUTT WIE ICH

4. ICH WERDE DICH ERWARTEN

5. ANDERE DINGE

6. BITTE NICHT

7. MAN WEISS NIE, MIT WEM MAN’S ZU TUN HAT

8. UNVERSEHRT

9. EIN VERDAMMTER HEILIGER

10. AGENTENKRAM

11. UND JETZT?

12. DIE ARBEIT EINER FRAU

13. PROFIS

14. WUNSCHERFÜLLUNG

15. TICK, TICK, TICK

16. DIE BEIDEN WÖLFE

17. SCHERBEN

18. SIEH GENAUER HIN

19. WERBEKOSTEN

20. AUF FRISCHER TAT

21. TOTER BRIEFKASTEN

22. TEILE SEINES WAHREN ICHS

23. DAS SCHACHBRETT LESEN

24. BESCHISSENES DATE

25. EINE BESTIMMTE ART VON GESCHÄFTEN

26. BEUNRUHIGT

27. KATZ UND MAUS

28. GRAUENHAFTE VEREINIGUNG

29. DA UND WEG

30. LOCKRUF

31. MEHR WAHRES ALS ERFUNDENES

32. KEIN ENTRINNEN

33. EIN LANGER TAG

34. DER VORFALL MIT DEM SAMURAISCHWERT

35. HYMN TO FREEDOM

36. EIN BESONDERES MÄDCHEN

37. FRÜHER ODER SPÄTER

38. EIN SCHUTZSCHILD AUS KILLERN

39. DAS GERÄUSCH, DAS AUSBLIEB

40. SCHWACHSTELLEN

41. EMOTIONSZENTREN

42. IM GEHIRN EINES VERSCHWÖRUNGSTHEORETIKERS

43. EIN ECHT FURCHTERREGENDER TYP

44. PERPETUUM MOBILE

45. MENSCHLICHER BIENENSTOCK

46. PYROTECHNISCHER HORROR

47. ATMEN

48. VÖLLIG RUINIERT

49. BLUTROTE SPUR

50. DIE BERÜHRUNG IHRER LIPPEN

51. *&^%*!

52. DAS BLATT DES GEGNERS

53. RÜCKENSCHWIMMEN AUF DEM TROCKENEN

54. NEIN

55. LAUTLOSE ARBEIT

56. DAS ZEHNTE GEBOT

57. NUR EIN ERLEUCHTETES FENSTER

58. ABSCHIEDSGESCHENK

59. NÄCHSTES MAL

Epilog: VERLUST

Danksagung

PROLOG: DIE FEUERPROBE

Der zwölfjährige Evan sitzt stocksteif auf dem bequemen Beifahrersitz, der Mann am Steuer sagt kein Wort. Evan hat eine Platzwunde an der Wange, seine Stirn ist zerkratzt. Warmes Blut rinnt ihm den Hals hinab, wo es sich mit Angstschweiß vermischt. Rund um seine Handgelenke, wo die Handschellen saßen, ist die Haut wund gescheuert. Sein Herzschlag dröhnt ihm in der Brust und im Kopf.

Er muss sich zwingen, sich nichts anmerken zu lassen.

Er sitzt erst seit fünf Minuten in dem Auto. Das Leder riecht teuer.

Der Fahrer hat ihm gesagt, wie er heißt: Jack Johns. Sonst nichts.

Er ist ziemlich alt, auf jeden Fall über fünfzig, mit einem breiten, gut aussehenden Gesicht. Stämmig gebaut wie ein Catcher beim Baseball, mit dem passenden Blick aus leicht zusammengekniffenen Augen.

Jack zieht ein Taschentuch hinten aus der Hosentasche, faltet es auf und schiebt es über das Armaturenbrett in seine Richtung. »Für deine Wange.«

Evan betrachtet das feine Leinen. »Da kommt aber Blut drauf.«

Jack wirkt belustigt. »Das macht nichts.«

Evan wischt sich das Gesicht ab.

Er war immer der Kleinste gewesen. Der, der immer zuletzt beim Sport gewählt wurde. Und nur weil er knochenharte Prüfungen durchgestanden hat, sitzt er jetzt hier in diesem Auto und hat es endlich ins Team geschafft.

Keiner von ihnen hatte gewusst, was sie von dem Mystery Man halten sollten, als er das erste Mal am Rand der rissigen Basketballplätze aufgetaucht war und ihnen bei ihren Spielen und Kämpfen zugesehen hatte. Versteckt hinter seiner Ray-Ban, fuhr er mit der Hand am Maschendrahtzaun entlang und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er ging langsam, hatte es nie eilig, war aber trotzdem jedes Mal so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Es gab massenweise Theorien: Er war der Kinderschänder Chester the Molester. Ein reicher Geschäftsmann auf der Suche nach einem Adoptivkind. Ein Organhändler auf dem Schwarzmarkt. Ein Anwerber für die griechische Mafia.

Evan war bereit gewesen, es herauszufinden.

Man hat ihn so gründlich von der Bildfläche verschwinden lassen, als wäre er von Außerirdischen entführt worden. Eine Feuerprobe, ja – so eine Art Rekrutierungsmaßnahme. Aber wofür, das weiß Evan immer noch nicht.

Er weiß nur: Wo auch immer es hingeht, es kann nur besser sein als das, was er in East Baltimore hinter sich lässt.

Evans Magen grummelt, was ihm auch jetzt und hier noch peinlich ist. Er betrachtet sich im Seitenspiegel. Er sieht unterernährt aus. Da, wo sie hinfahren, gibt es vielleicht reichlich zu essen.

Oder vielleicht ist er auch das Essen.

Evan nimmt seinen Mut zusammen. Räuspert sich. »Wofür brauchen Sie mich eigentlich?«

»Das kann ich dir jetzt noch nicht sagen.« Jack fährt eine Weile schweigend weiter, merkt dann anscheinend, dass seine Antwort einem Jungen in Evans Lage nicht ausreichen dürfte. »Ich werde dir vielleicht nicht alles sofort erzählen«, fügt er hinzu, und es klingt fast wie eine Entschuldigung, »aber ich werde dich niemals belügen.«

Evan sieht ihn prüfend an. Entschließt sich, ihm zu glauben. »Wird es wehtun?«

Jack fährt weiter, den Blick stur geradeaus gerichtet.

»Manchmal.«

1. DIE MORGENGETRÄNK-INITIATIVE

Nachdem er einen Satz Pistolenschalldämpfer bei einem neunfingrigen Waffenmann in Las Vegas abgeholt hatte, machte sich Evan in seinem Ford Pick-up auf den Heimweg und versuchte krampfhaft, nicht an seine Schnittwunde zu denken.

Die Wunde an seinem Unterarm hatte er sich in einer hässlichen Auseinandersetzung in einem Truck Stop zugezogen. Wenn er einen Auftrag hatte, ließ er sich ungern in etwas anderes hineinziehen. Aber ein fünfzehnjähriges Mädchen hatte dringend seine Hilfe gebraucht. Und nun saß er hier und versuchte, das Armaturenbrett nicht vollzubluten, bis er sich zu Hause richtig um seinen Arm kümmern konnte. Für den Moment hatte er ihn erst einmal provisorisch mit seinem Socken abgebunden und den Knoten mit den Zähnen festgezogen.

Jetzt nichts wie nach Hause. Seit eineinhalb Tagen hatte er nicht mehr geschlafen. Er dachte an die Flasche dreifach destillierten Wodka im Gefrierschrank seines Sub-Zero-Kühlschranks. Er dachte an eine heiße Dusche und sein weiches Bett. Und er dachte an das RoamZone-Telefon im Handschuhfach, das schon bald wieder klingeln würde.

Nachdem er sich in westlicher Richtung durch die verstopften Straßen von Beverly Hills gekämpft hatte, bog er in die vertrauten Gefilde des Wilshire Corridor, dessen Apartmenthochhäuser hier in Los Angeles schon als Wolkenkratzer galten.

Das Gebäude, in dem er wohnte, hatte den etwas prätentiösen Namen Castle Heights und war das Eckhaus nach Osten. Von den oberen Stockwerken hatte man eine unverbaute Sicht auf Downtown. Die letzte Renovierung hatte in den Neunzigern stattgefunden, und das Dekor – glänzende Messingbeschläge und lachsfarbener Marmor – hatte einen vornehmen, aber nicht mehr ganz zeitgemäßen Charme.

In einer Stadt, in der alles »schick« und »trendy« sein musste, war das Castle Heights eine Ausnahme. Und genau das, was Evan suchte. Die Klientel waren wohlhabende Chirurgen alter Schule, Seniorpartner und silberhaarige Ruheständler, die seit Jahren Mitglied im Country Club waren. Vor ein paar Jahren war ein mittelmäßiger Aufbauspieler der Lakers eingezogen und hatte ihnen den obligatorischen Presseterror beschert. Aber er war bald an ein anderes Team verkauft worden, sodass die Bewohner zur Ruhe kommen und ihr beschauliches Leben mit all seinen Annehmlichkeiten wieder aufnehmen konnten.

Evan bog in die überdachte Einfahrt, gab dem Angestellten vom Parkservice zu verstehen, dass er selbst parken würde, und fuhr die Rampe hinunter in die Tiefgarage. Er stellte den Pick-up auf seinem angestammten Platz zwischen zwei Pfeilern ab, wo er weitgehend geschützt vor neugierigen Blicken und der grellen Deckenbeleuchtung war.

Ungestört in seinem Auto, öffnete Evan den provisorischen Druckverband und untersuchte die Schnittwunde. Die Wundränder waren zwar sauber, aber sie sah trotzdem schlimm aus: Die feinen Härchen waren blutverkrustet, und der Schnitt selbst blutete noch immer leicht. Die Wunde war nicht tief. Sechs, vielleicht sieben Stiche.

Er holte das Handy aus dem Handschuhfach. Das RoamZone bestand aus gehärtetem schwarzem Gummi um ein Glasfasergehäuse und hatte ein Display aus Gorilla-Glas. Er behielt es immer in Hörweite.

Immer.

Nachdem er sich im Rückspiegel vergewissert hatte, dass niemand anderes in der Garage war, stieg er aus und zog sich eines der schwarzen Sweatshirts an, die er hinter dem Sitz aufbewahrte. Die Schalldämpfer hatte er in eine Einkaufstüte aus Papier gestopft. Das blutige Hemd und den blutigen Socken warf er obendrauf.

Er prüfte den Akkustatus des RoamZone – zwei Balken –, steckte es ein und nahm die Treppe ein Stockwerk hinauf ins Erdgeschoss.

Vor der Tür zur Lobby hielt er kurz inne, um sich auf den Übergang in sein anderes Leben vorzubereiten.

Zweiunddreißig Schritte bis zum Fahrstuhl, eine kurze Fahrt nach oben, dann hätte er es geschafft.

Evan trat in die Lobby, die angenehm kühl war und nach frischen Schnittblumen roch. Seine Sohlen machten leise Quietschgeräusche auf den Fliesen, als er sich einen Weg durch den Trubel bahnte und den anderen Hausbewohnern flüchtig zulächelte, die mit ihren Einkäufen bewehrt und in Handygespräche vertieft geschäftig die Lobby durchquerten. Evan war Mitte dreißig und ziemlich durchtrainiert, aber nicht so muskulös, dass er auffiel. Ein durchschnittlicher Typ mit durchschnittlich gutem Aussehen.

Das Castle Heights war stolz auf seine Sicherheitsvorkehrungen, vor allem auf den Aufzug, der vom Sicherheitspersonal bedient wurde. Evan versuchte, den Wachmann auf sich aufmerksam zu machen, der sich hinter dem hohen Tresen vor einer Wand aus Überwachungsbildschirmen in seinem Stuhl zurücklehnte.

»Joaquin, bitte in den Einundzwanzigsten.«

Hinter ihm sagte eine Stimme: »Warum sagen Sie denn nicht Penthouse? Es ist doch schließlich das Penthouse-Stockwerk.« Eine klauenartige Hand schloss sich um seinen verletzten Unterarm und drückte zu, und Evan spürte ein plötzliches Brennen unter seinem Sweatshirt.

Er drehte sich zu der kleinen verhutzelten Dame neben ihm um – Ida Rosenbaum aus 6G – und rang sich ein Lächeln ab.

»Da haben Sie wohl recht, Ma’am.«

»Außerdem müssen wir in den zehnten Stock, zu unserer Eigentümerversammlung im Konferenzraum«, fuhr sie fort.

»Jetzt gleich. Soweit ich weiß, haben Sie schon die letzten drei verpasst.« Um ihre Schwerhörigkeit wettzumachen, sprach sie besonders laut, sodass die gesamte Lobby jetzt genau über Evans Teilnahmequote Bescheid wusste.

Mit einem Ping hielt der Aufzug.

Mrs. Rosenbaum verstärkte den Druck auf Evans Arm und warf Joaquin einen hoheitsvollen Blick zu. »Er kommt jetzt mit zur Eigentümerversammlung.«

»Halt! Warten Sie auf mich!« Die Frau aus 12B, Mia Hall, drückte mit der Hüfte die gläserne Eingangstür auf, wobei ihre schwere Handtasche zur einen Seite schwang und ihr Sohn, den sie an der Hand hatte, zur anderen. Ihr iPhone hatte sie zwischen Ohr und Schulter geklemmt.

Evan seufzte und entwand Mrs. Rosenbaum vorsichtig seinen Arm, als sie in den Aufzug stiegen. Er konnte fühlen, dass die Wunde wieder zu bluten angefangen hatte und sein Sweatshirt sich langsam vollsog.

Während Mia mit ihrem Sohn im Schlepptau auf sie zugerannt kam, sang sie mit doppelter Geschwindigkeit in ihr Handy: »Happy verspäteter Geburtstag to you, happy – tut mir leid, mein Auto hat gestreikt, und ich musste in die Werkstatt, und die haben gesagt, ich brauche neue Bremsbeläge, die sauteuer sind, also hab ich vergessen, Peter von der Schule abzuholen, und er musste mit zu einem Freund, und darum spreche ich dir erst jetzt aufs Band – biiirthhday, happy birthday to you.«

Sie hob den Kopf und ließ das Handy in ihre geräumige Handtasche fallen. »Entschuldigung, tut mir leid. Danke schön.« Als sie in den Aufzug sprintete, rief sie zu Joaquin hinüber: »Hallo, Joaquin. Haben wir jetzt nicht eine Eigentümerversammlung?«

»In der Tat«, sagte Mrs. Rosenbaum pikiert.

Joaquin warf Evan einen mitleidigen Blick zu – tut mir leid, Mann –, dann gingen auch schon die Fahrstuhltüren zu. Auf so engem Raum trieb Ida Rosenbaums Parfüm einem die Tränen in die Augen.

Das Schweigen im Aufzug hielt sie nicht lange aus. »Alle haben sie ständig ihr Handy am Ohr«, sagte sie zu Mia. »Wissen Sie, wer das vorausgesehen hat? Mein Herb, Gott hab ihn selig. Er hat gesagt: ›Eines Tages werden die Leute nur noch mit Bildschirmen reden und gar keine anderen Menschen mehr brauchen.‹«

Als Mia ihr antwortete, blickte Evan zu Peter runter, der ihn aus dunklen Augen ansah. Seine feinen blonden Haare lagen platt an, nur ein einziger Wirbel trotzte der Schwerkraft und stand am Hinterkopf nach oben. Auf seiner gewölbten Stirn klebte ein buntes Pflaster. Dann senkte er den Kopf und besah sich eingehend Evans Fuß. Allmählich bemerkte Evan den kühlen Luftzug an seinem nackten Knöchel. Die fehlende Socke.

Er machte einen halben Schritt zur Seite und stellte den Fuß so, dass der Junge seinen Knöchel nicht mehr im Blickfeld hatte.

Entfernt nahm er wahr, dass Mia etwas sagte.

Offenbar hatte sie ihn etwas gefragt. Er sah sie an. Sie hatte ein paar helle Sommersprossen auf der Nase, die man bei normalem Tageslicht nicht sah, und ihre glänzenden kastanienbraunen Haare waren zu einer unordentlichen, aber höchst attraktiven Frisur aufgesteckt. Er hatte sich daran gewöhnt, sie immer nur hektisch und im Alleinerziehenden-Modus zu sehen: mit den Schuhen in der Hand irgendwo entlanghastend, leicht außer Atem und gleichzeitig mit Batman-Lunchbox und umgehängter Aktentasche hantierend. Aber die indirekte Beleuchtung im Fahrstuhl ließ sie jetzt ganz anders wirken.

»Wie bitte?«

»Finden Sie nicht auch?«, wiederholte sie, wobei sie Peter liebevoll durch die Haare wuschelte. »Das Leben wäre doch langweilig, wenn es keinen gäbe, der immer für Probleme sorgt?«

Evans Ärmel fühlte sich feucht auf seiner Haut an. »Stimmt.«

»Mom? Mom. Mom. Mein Pflaster geht ab.«

»Genau das meine ich«, sagte Mia lächelnd zu Mrs. Rosenbaum, die ihr Lächeln nicht erwiderte. Mia kramte in ihrer Tasche. »Irgendwo hab ich doch noch welche.«

»Die mit den Muppets«, forderte Peter. Er hatte eine heisere Stimme, die älter klang als die eines Achtjährigen. »Ich will Tier.«

»Den hast du gerade drauf. Auf deinem Dickschädel.«

»Dann Kermit.«

»Kermit war heute Morgen dran. Miss Piggy?«

»Iih, nee. Gonzo.«

»Ja, Gonzo gibt’s noch!«

Als Mia das neue Pflaster mit dem Daumen auf Peters Stirn glatt strich und ihm dabei einen Kuss auf den Kopf gab, wagte Evan einen schnellen Blick auf seinen Ärmel. Er hatte ihn durchgeblutet, der schwarze Stoff über der Wunde sah jetzt noch dunkler aus. Er verlagerte sein Gewicht, und die Schalldämpfer in der Papiertüte, die er über dem Arm hatte, stießen scheppernd gegeneinander. Auf der Tüte sah man einen feuchten Fleck – der blutige Socken hatte sie durchgeweicht. Evan riss sich zusammen, drehte die Tasche um und stellte sie mit dem Fleck zur Wand auf den Boden.

»Sie sind doch Evan, oder?« Mia hatte sich wieder ihm zugewandt. »Was machen Sie noch mal beruflich?«

»Importeur.«

»Oh, wofür denn?«

Er sah auf die Stockwerkanzeige. Der Fahrstuhl schien sich im Schneckentempo zu bewegen.

»Industriereiniger. Wir verkaufen hauptsächlich an Hotels und Restaurants.«

Mia lehnte sich seitlich an die Fahrstuhlwand. Da ein Knopf fehlte, stand ihr Blazer, eine Designerkopie, am Ausschnitt so weit offen, dass man großflächig ihre Bluse bewundern konnte. »Wollen Sie mich denn nicht fragen, was ich mache?« Sie klang amüsiert, aber es war noch kein richtiges Flirten. »So funktionieren Gespräche.«

Bezirksstaatsanwältin, Gehaltsstufe III, am Torrance Courthouse. Seit knapp fünf Jahren Witwe. Hat mit dem restlichen Geld aus der Lebensversicherung ihres Mannes vor ein paar Monaten eine kleine Eigentumswohnung im zwölften Stock gekauft.

Evan lächelte höflich. »Und was machen Sie?«

»Ich bin Bezirksstaatsanwältin«, sagte sie in einem gespielt überheblichen Ton. »Sie sollten sich also besser vorsehen.«

Er hoffte, sein »Oh!« klang angemessen beeindruckt. Sie nickte zufrieden und holte einen Mohnmuffin aus ihrer Handtasche. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Peter wieder neugierig seinen nackten Knöchel betrachtete.

Der Aufzug hielt im neunten Stock. Aus dem Gemeinschaftsraum gesellte sich ein Grüppchen Hausbewohner zu ihnen, angeführt von Hugh Walters, Vorsitzender der Eigentümergemeinschaft und jemand, der sich selbst gern reden hörte.

»Hervorragend! Es ist ganz besonders wichtig, dass heute Abend möglichst viele zur Versammlung kommen. Wir stimmen nämlich darüber ab, welche Getränke es morgens in der Lobby geben soll.«

»Ich wollte eigentlich …«, setzte Evan an.

»Kaffee mit oder ohne Koffein.«

»Wer trinkt schon koffeinfrei?«, wollte Lorilee Smithson, 3F, wissen, eine Ehefrau Nummer drei, deren Gesicht nach Jahrzehnten der Schönheitsoperationen leicht katzenhafte Züge angenommen hatte.

»Leute mit Herzrhythmusstörungen zum Beispiel«, schaltete sich Mrs. Rosenbaum ein.

»Ach, hören Sie auf damit, Ida«, sagte Lorilee. »Sie sind doch nur so gemein zu mir, weil ich schön bin.«

»Nein. Ich bin gemein zu Ihnen, weil Sie dumm sind.«

»Ich finde, wir sollten Kombucha anbieten«, meldete sich John Middleton, 8E, zu Wort. Er war in den Vierzigern, hatte Haarimplantate und war vor einigen Jahren zu seinem verwitweten Vater, einem Finanzvorstand im Ruhestand, in die Wohnung gezogen. Wie immer trug er einen Trainingsanzug mit dem Emblem der Mixed-Martial-Arts-Gruppe, der er seit zwei Jahren angehörte – oder von der er zumindest permanent erzählte. »Das ist probiotisch und enthält obendrein Abwehrstoffe. Noch viel gesünder als koffeinfreier Kaffee.«

Es stiegen noch weitere Hausbewohner zu, und Evan wurde an die Rückwand des Aufzugs gedrängt. Alles in ihm sträubte sich; er war starr vor Anspannung. Kriegsschauplätze und Kampfzonen konnten ihn nicht aus der Ruhe bringen, aber Small Talk im Castle Heights warf ihn völlig aus dem Ruder. Mia schaute von ihrem Muffin hoch, von dem sie nur ein paar Bissen genommen hatte, und verdrehte die Augen.

»Von Ihnen hört man in letzter Zeit ja gar nichts mehr, Mr. Smoak«, sagte Hugh mit geübter Blasiertheit. Er musterte ihn eindringlich durch seine schwarze Brille, die so unmodisch war, dass sie schon wieder voll im Trend lag. »Wollen Sie nichts zu der Morgengetränk-Initiative beitragen?«

Evan räusperte sich. »Für mich persönlich muss es kein Kombucha sein.«

»Wenn Sie mal ab und zu was für Ihre Fitness tun würden, anstatt den ganzen Tag mit Excel-Tabellen zu spielen, vielleicht schon«, lästerte Johnny in einem gespielten Flüsterton, was ihm ein Kichern von Lorilee, aber auch zahlreiche tadelnde Blicke einbrachte.

Evan bemühte sich, ruhig zu bleiben, und betrachtete den Fleck auf seinem Ärmel, der sich immer weiter ausbreitete. Er verschränkte nonchalant die Arme, um das Blut zu verdecken.

»Ihr Sweatshirt«, flüsterte Mia. Sie beugte sich zu ihm, und er konnte den angenehmen Zitronengrasgeruch ihrer Körperlotion riechen. »Es ist ja ganz nass.«

»Mir ist im Auto was ausgelaufen.« Mia betrachtete noch immer seinen Ärmel, also fügte er noch hinzu: »Traubensaft.«

»Traubensaft?«

Der Aufzug hielt plötzlich mit einem Ruck an.

»He«, sagte Lorilee. »Was ist denn jetzt los?«

Mrs. Rosenbaum sagte: »Vielleicht sind Sie mit Ihren aufgespritzten Lippen an den Nothalteknopf gekommen.« Die Hausbewohner wurden unruhig und begannen, wie eingesperrte Tiere auf und ab zu gehen. Aus dem Augenwinkel nahm Evan eine blitzschnelle Bewegung wahr: Peter hatte sich hingehockt, mit seiner kleinen Hand Evans Hosenbein gepackt und hochgezogen, sodass man nun seinen merkwürdig unbekleideten Knöchel sehen konnte. Evan zog seinen Fuß weg, wobei er versehentlich die Einkaufstüte umstieß. Einer der Schalldämpfer fiel heraus und rollte geräuschvoll über den Boden.

Peter machte erst große Augen, aber dann schnappte er sich den Schalldämpfer und stopfte ihn zurück in Evans Tüte.

»Peter«, ermahnte ihn Mia. »Steh auf. Man kriecht nicht auf dem Boden rum. Was hast du dir dabei gedacht?«

Schüchtern erhob er sich, wobei er sich nervös die Hände rieb.

»Mir war etwas runtergefallen«, sagte Evan. »Er hat’s nur für mich aufgehoben.«

»Was zum Teufel war das?«, fragte Johnny.

Evan entschied sich, darauf lieber keine Antwort zu geben. Schließlich hatte Johnny es geschafft, den roten Hebel wieder umzulegen, der sich verklemmt hatte, und die Fahrt ging weiter. Im zehnten Stock angekommen, hielt Hugh die Türen auf. Er blickte von Peter zu Mia. »Dann haben Sie sich also nicht um eine Betreuung für Ihren Sohn gekümmert?«

Die acht oder neun Frauen, die in der Nähe standen, warfen ihm empörte Blicke zu.

»Ich bin alleinerziehend«, sagte Mia.

»Die Satzung der Eigentümerversammlung besagt explizit, dass zu den Sitzungen keine Kinder zugelassen sind.«

»Na schön, Hugh.« Mia schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Dann fehlt Ihnen eben meine Stimme bei den Hängebegonien im Schwimmbadbereich.«

Hugh machte ein finsteres Gesicht und ging mit den anderen in den Konferenzraum. Evan versuchte, mit Mia und Peter im Aufzug zurückzubleiben, aber Mrs. Rosenbaum steckte ihren Arm hinein und bekam ihn wieder am Unterarm zu fassen, wobei sie die Blutkruste aufriss, die sich gerade unter dem Sweatshirt gebildet hatte. »Sie kommen jetzt mit. Wenn Sie hier wohnen, müssen Sie auch Ihren Beitrag leisten. Genau wie alle anderen.«

»Tut mir leid. Ich muss zurück zu meinen Excel-Tabellen.« Evan nahm Mrs. Rosenbaums Hand von seinem Arm. Die Unterseite ihrer runzeligen Finger war verschmiert von seinem Blut. Er tätschelte ihr kurz die Hand – und nutzte diese Geste, um ihr mit der anderen Handfläche unbemerkt das Blut abzuwischen, bevor er seinen Arm wieder zurück in den Aufzug zog.

Die Türen gingen zu. Mia wickelte die Reste ihres Muffins in die Papierserviette, steckte ihn wieder ein und seufzte genervt. Sie fuhren schweigend nach oben; Evan hielt die ganze Zeit die Tüte an sich gedrückt, oben umgefaltet, damit man den Blutfleck nicht sehen konnte. Er stellte sich so, dass sein sockenloser Fuß und der blutige Ärmel von Mia und Peter wegzeigten.

Peter blickte die ganze Zeit stur geradeaus. Im zwölften Stock verabschiedete sich Mia und stieg aus dem Aufzug, Peter folgte ihr. Die Türen gingen gerade wieder zu, als sich eine kleine Hand durch die Gummilamellen hindurchschob und die Türen ruckend auseinanderfuhren.

Peter steckte seinen Kopf in den Aufzug. Gonzo, der auf dem Pflaster auf seiner Stirn prangte, lenkte allerdings ein klein wenig von seinem feierlichen Gesichtsausdruck ab.

»Danke, dass du mir vorhin aus der Patsche geholfen hast.«

Noch bevor Evan ihm antworten konnte, hatten sich die Türen schon wieder geschlossen.

2. FESTUNG DER EINSAMKEIT

Äußerlich glich die Eingangstür von 21A allen anderen im Gebäude. Sie entsprach den Vorgaben der Eigentümerversammlung, und auch Hugh Walters’ Argusaugen war während der monatlichen Stockwerksinspektionen nie etwas Besonderes an ihr aufgefallen. Was Hugh natürlich nicht wusste, war, dass eine dünne Schicht Holzlaminat eine Stahltür verbarg, die Feuer mindestens für sechs Stunden standhielt, sich mit Rammböcken nicht einschlagen ließ und selbst Sprengladungen im Bereich der Scharniere widerstand.

Endlich vor seinem Apartment angekommen, steckte Evan den Schlüssel in das ganz normal aussehende Zylinderschloss. Beim Umdrehen des Schlüssels öffnete sich ein unsichtbares System von Sicherheitsriegeln im Innern der Tür mit einem etwas satteren Schließgeräusch als normal.

Er ging hinein, schloss die Tür hinter sich ab, schaltete die Alarmanlage aus, ließ die blutige Papiertüte auf einen gläsernen Beistelltisch fallen … und atmete aus.

Endlich zu Hause.

Zumindest in seiner Version davon.

Zahlreiche Fenster und Balkone sorgten für einen fantastischen Ausblick von seinem Eckpenthouse aus. Zwölf Meilen entfernt Richtung Osten glitzerte die gezackte Skyline von Downtown, und Century City erhob sich im Süden.

Das Apartment bestand hauptsächlich aus einem riesigen Raum, dessen stahlgrauer Betonfußboden durch einen frei stehenden Kamin in der Mitte, etliche Säulen und eine Stahlwendeltreppe unterteilt wurde. Diese führte zu einem wenig benutzten, von ihm als Lesezimmer umgebauten Loft. Die Küche verfügte über Betonarbeitsflächen, Geräte aus Edelstahl, Armaturen aus gebürstetem Nickel und eine Rückwand aus verspiegelten Metrofliesen. Von der Kochinsel aus sah man auf eine große, sparsam möblierte Fläche, die nur von Übungsmatten, diversen Trainingsgeräten und hin und wieder einem Sitzbereich aufgelockert wurde.

Die Fenster und Schiebetüren waren aus kugelsicherem Lexan, einem thermoplastischen Kunststoff, und die heruntergelassenen Sonnenschutzrollos fügten unauffällig noch eine weitere Schutzschicht hinzu. Deren Metallgewebe bestand aus winzigen, ineinandergreifenden, kettenhemdartigen Ringen aus einer seltenen Titanart. Die Rollos würden die meisten Scharfschützengeschosse aufhalten, die eventuell noch die Polycarbonatfenster durchdrangen. Außerdem boten sie zusätzlichen Schutz vor Sprengkörpern und erschwerten gleichzeitig möglichen Attentätern die Sicht.

Natürlich schützten sie auch hervorragend vor Sonneneinstrahlung.

Sogar die Wände waren verstärkt. Evan hatte diese Verbesserungen nach und nach über die Jahre vornehmen lassen, wobei er jedes Mal die Anbieter wechselte, sich die Ausstattung stückweise an verschiedene Adressen liefern und das meiste außerhalb der Wohnung zusammenbauen ließ. Wenn er Installateure brauchte, stellte er sicher, dass diese nie genau wussten, was sie da einbauten. Mit genauester Planung und Geduld hatte er sich eine Festung der Einsamkeit gebaut – und niemand hatte es bemerkt.

Er mochte die Welt wirklich sehr, die er sich hinter der Eingangstür von 21A erschaffen hatte. Dennoch war er bereit, sie jederzeit wieder aufzugeben.

Er ging hinüber in die Küche, wobei seine Schritte geräuschvoll vom polierten Beton widerhallten. Der einzige etwas verspielte und farbige Touch war die sogenannte Grüne Wand, die neben dem Herd installiert war. Es handelte sich um einen hängenden Garten mit integriertem Bewässerungssystem, in dem alles Erdenkliche von Minze und Kamille für frischen Tee bis hin zu Koriander, Petersilie, Salbei, Basilikum und Chilis für Omeletts wuchs. Obwohl es Dezember war, gedieh die Kamille prächtig im sorgfältig überwachten Klima des Penthouses.

Bisweilen gab es Evan zu denken, dass das einzige Lebewesen, mit dem er sein Leben teilte, eine Wand war.

Aber er hatte seine Gebote, und die Gebote waren alles, was zählte.

Beim Kühlschrank angelangt, nahm er eine frostbeschlagene Flasche U’Luvka aus dem Gefrierschrank, ein polnischer Wodka, der nach einer Art von Kristallglas benannt war. Er goss einige Fingerbreit in einen Shaker auf Eiswürfel aus demineralisiertem Wasser, schüttelte, bis seine Hände am gefrorenen Metall festklebten, und leerte den Inhalt in ein gekühltes Martiniglas. Er nahm einen Schluck, ließ das kühle Brennen langsam seine Kehle herunterrinnen und schloss die Augen, als er spürte, wie gut es ihm tat.

Er ging langsam durch die Duftwolke, die die Grüne Wand verströmte, und trat durch eine der nach Süden ausgerichteten Schiebetüren. Der Boden des Balkons war mit Quarzkies ausgelegt, der laut unter den Füßen knirschte, was genau sein Sinn und Zweck war. Die in die Fenster und Türrahmen eingebauten Glasbruchdetektoren registrierten die exakte Audiosignatur des knirschenden Steins und meldeten die Belastungsgeräusche jedes Objekts, das schwerer als zwanzig Kilo war. Die Sensoren reagierten ebenfalls, wenn sich etwas Größeres der Scheibe näherte.

Ein viereckiger Blumenkübel nah am Rand des Balkons beherbergte eine Auswahl an gedrungenen Sukkulenten sowie einen Basejumping-Schirm, der in einem Geheimfach steckte, für den Fall, dass Evan einen schnellen Abgang machen musste.

Er lehnte sich mit den Armen auf die Brüstung, nahm einen weiteren Schluck und fühlte, wie der Wodka ihm die Wangen wärmte. In der Entfernung glitzerte das halbmondförmige Marina del Rey am Rande des Kontinents, als ritte es auf dem Kamm des nachtschwarzen Pazifiks.

Eine Bewegung im Nachbargebäude zog Evans Aufmerksamkeit auf sich. Genau gegenüber auf der anderen Straßenseite lag Apartment 19H. Joey Delarosa tauchte schemenhaft hinter seinem Lamellenvorhang auf. Er aß gerade mit einem Holzlöffel aus dem Kochtopf, während ein Footballspiel im Hintergrund flimmerte. Er war ein kleiner Buchhalter in einer der großen Firmen, der seine Freizeit hauptsächlich mit Essen und Fernsehen verbrachte. Ungefähr einmal im Monat ging er auf Sauftour, kam aus den Bars von Westwood heimgeschwankt und rief heulend seine Exfrau an. Seine Anrufe konnten sie allerdings nicht erweichen, Joey beherzigte nämlich das telefonische Kontaktverbot nicht und hatte seit drei Jahren keinen Unterhalt mehr gezahlt. Nach seinem letzten familiären Gastspiel damals hatte seine Frau zwei Tage im Koma gelegen, und sein Sohn war jetzt permanent gehbehindert, weil bei Sechsjährigen die Wachstumsfugen sehr empfindlich sind. Die Wartungstür in Joeys Küche, die in die Nähe des Müllschachts führte, hatte ein Scheibenschloss der Marke Schlage, das Evan mit einem Gabelspanner in fünf bis sieben Sekunden aufbekam. Evan hatte es sich zur Aufgabe gemacht, genauestens über seine Umgebung Bescheid zu wissen. Für alles in Sichtweite – für jeden Bewohner, jede Treppe, jeden Schaltraum und jeden kläffenden Köter – hatte er eine ganze Liste von Verzeichnissen und Plänen im Kopf.

Das Dritte Gebot, das man ihm seit seinem zwölften Lebensjahr eingebläut hatte, lautete: Beherrsche deine Umgebung.

Eine Zeit lang nippte er an seinem Wodka und atmete die kühle Luft.

Aus Gewohnheit checkte er noch einmal das RoamZone. Trotz des extraleistungsfähigen Lithium-Ionen-Akkus zeigte es nur noch einen Balken an. Sofort ging er in die Wohnung, stöpselte das Ladegerät auf der Küchenarbeitsfläche in das Handy und verband das Telefon mit dem Lautsprechersystem, damit er es überall in seiner 650 m2großen Wohnung klingeln hören konnte. Die Nummer, die es läuten ließ, war leicht zu merken:

1-855-2-NOWHERE.

Sie hatte eine Ziffer mehr als notwendig, aber bedachte man die mentale Verfassung, in der die meisten Anrufer waren, brauchten sie etwas, das einfach und einprägsam war.

Das schwarze Telefon hatte seit über zehn Wochen nicht mehr geklingelt. Das bedeutete, es konnte jeden Moment klingeln – oder auch erst in ein paar Monaten. Er konnte es nicht vorhersagen. Aber egal, wie lange es dauerte, er würde warten. Weil er Ungeduld in sich aufkeimen spürte, sagte er still das Siebte Gebot vor sich hin wie ein Mantra: Nur ein Auftrag auf einmal. Nur ein Auftrag auf einmal. Nur ein Auftrag auf einmal.

Er zog sich bis auf die Boxershorts aus, machte dann mit Birkenscheiten ein Feuer im Kamin und verbrannte seine Kleidung, die fleckige Einkaufstüte und den blutigen Socken. Mit den beiden Schalldämpfern in der Hand ging er in sein Schlafzimmer und legte sie auf die Ablage. Mitten im Raum befand sich ein Magnetschwebebett, das wortwörtlich zwei Fuß über dem Boden schwebte. Die Platte wurde durch unglaublich starke Neodym-Seltenerdmagneten in der Luft gehalten und war mit Drahtseilen fixiert, die es absolut ruhig hielten. Laut der finnischen Designfirma hatte das Magnetfeld eine gesundheitsfördernde Wirkung, was aber medizinisch kaum belegt war. Evan fand einfach, dass es gut aussah. Keine Füße, kein Kopf- und auch kein Fußteil – minimalistischer ging es nicht.

Im Badezimmer tippte er die Milchglastür der Duschkabine an, die lautlos zur Seite glitt. Er duschte so heiß, wie er es eben noch aushalten konnte. Das Wasser spülte den Schmutz und Schweiß von seiner Haut, wodurch er die Wunde auf seinem Arm besser untersuchen konnte. Halb so wild. Der Schnitt war sauber und würde gut verheilen. Nachdem er sich abgetrocknet hatte, kümmerte er sich um die Wunde. Da er sich gegen Nähen und Klammerpflaster entschieden hatte, drückte er jetzt den Wundrand zusammen und verklebte ihn mit Sekundenkleber. Wenn die Wunde verheilte, würde der Kleber herausgedrückt werden.

Evan ging zurück ins Schlafzimmer. In seiner Kommode befanden sich mindestens zwanzig graue T-Shirts mit V-Ausschnitt, ein Dutzend dunkle Jeans sowie die gleiche Anzahl von Sweatshirts. Nachdem er sich angezogen hatte, zögerte er und blickte nachdenklich auf die unterste Schublade.

Er seufzte. Zog die Schublade auf. Schob die säuberlich gefalteten Boxershorts zur Seite. Eine daumennagelgroße Vertiefung war der einzige Hinweis auf das Geheimfach im Boden.

Er streckte die Hand danach aus, hielt jedoch inne, kurz bevor er das Holz berührte.

Er dachte an das, was darunter verborgen war, dann schob er die Boxershorts wieder ordentlich zusammen und machte die Schublade zu. Es war ein anstrengender Tag gewesen, und es gab wirklich keinen Grund, warum er jetzt in dem Geheimfach herumwühlen musste – und in allem, was damit zusammenhing.

Nach einem kurzen Abstecher in die Küche, um einen Eiswürfel zu holen, ging er zurück ins Badezimmer und nahm die Schalldämpfer von der Ablage. Er trat in die immer noch nasse Duschkabine, griff nach dem Hebel für das heiße Wasser und drückte ihn in die umgekehrte Richtung. Der Hebel war elektronisch gesichert und wurde durch seinen Handabdruck freigegeben. Als er ihn über den Endpunkt hinaus weiterdrückte, schwang eine nahtlos in das Fliesenmuster eingepasste Tür nach innen und gab den Blick auf ein verstecktes Zimmer frei.

Der hinter der Tür liegende, knapp 40 m2große Raum mit dem unregelmäßigen Grundriss hieß bei Evan nur »der Tresor«. Während einer vorgeblichen Renovierungsmaßnahme hatte er die verwinkelte Abstellfläche am Ende seiner Wohnung kurzerhand durch eine Wand abgetrennt. Unter der für alle Bewohner zugänglichen Treppe zum Dach gelegen, hatte der Raum frei liegende Streben und unverputzte Betonwände. Von oben ragte die Unterseite der Treppe hinein und verringerte die Deckenhöhe erheblich. Keine der anderen Wohnungen hatte einen derartigen Bereich; niemand würde also danach suchen, geschweige denn merken, dass er nicht zu sehen war.

Zu seinem Waffenarsenal und der Werkbank, die an der Wand unter der Treppenschräge standen, gelangte man nur durch diese Geheimtür. Auf einem mitten im Raum stehenden L-förmigen Metallschreibtisch stand ein Sammelsurium von Computertowern, Antennen und Servern. Eine Monitorwand an einer der Wände zeigte das Innere von Castle Heights, die Flure und Treppenschächte, aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Video-Feeds der billigen, aber soliden Überwachungskameras aus Taiwan, die überall im Gebäude installiert waren, konnte man problemlos anzapfen.

Ein Computer ohne Internetzugang enthielt Evans Bankinformationen. Sein Hauptkonto war sicher versteckt in Luxemburg unter dem Namen Z$Q#)3, das Passwort war ein aus vierzig Wörtern bestehender Nonsens-Satz. Es konnte nur telefonisch darauf zugegriffen und Überweisungen konnten nur per Sprachsteuerung getätigt werden. Es gab keinen elektronischen Zugang, keine virtuellen Transaktionen und keine Bankkarten. Diverse Zweitkonten hatte er auf weitere Länder, die das Bankgeheimnis hochhielten, wie Bermuda, Zypern oder die Kaimaninseln verteilt, und jeglicher Papierkram wurde durch eine Reihe von Trusts und Briefkastengesellschaften in Road Town auf Tortola geleitet.

Wie Jack immer zu sagen pflegte: »Kugellager in Kugellager.«

Evan hatte es weit gebracht seit den Projects von East Baltimore. Neben dem Mousepad auf dem Tisch in der Mitte des Raumes stand in einer mit kobaltblauen Glaskieseln gefüllten gläsernen Schale eine handtellergroße Aloe vera. Evan ließ den Eiswürfel, den er aus der Küche geholt hatte, auf die gezackten Stacheln fallen: eine einfache Form der Bewässerung, die Vera einmal in der Woche brauchte.

Er verstaute die Schalldämpfer in einer Schublade seines Waffenschranks, verließ den Tresor und verschloss die Tür hinter sich.

Im großen offenen Bereich der Wohnung setzte er sich schließlich im Schneidersitz auf einen Teppich, den Rücken gerade, die Hände leicht auf die Knie gestützt. Und meditierte. Er nahm die Umrisse seines Körpers von innen wahr, wie seine Knochen auf dem Boden auflagen, das Gewicht seiner Handflächen. Den Weg seines Atems von der Nase über den Hals in den Brustkorb. Den Duft der brennenden Birkenscheite konnte er hinten im Rachen schmecken. Er bemerkte die Kringel in der Maserung des Sandelholzschranks, einzelne Fäden im Orientteppich, die Art und Weise, wie die Rollos die Lichter der Stadt in ein gedämpftes orangefarbenes Leuchten verwandelten. Ziel war es, alles wahrzunehmen, als sehe er es zum ersten Mal. Und zwar jedes Mal.

Der Atem war sein Anker.

Er senkte leicht die Lider, die Augen weder offen noch ganz geschlossen, wodurch seine Umgebung verschwommen wie in einem Traum wirkte. Vergangenheit und Zukunft existierten nicht mehr. Er ließ den Tag los – die vierstündige Fahrt von Las Vegas, das Messer, das ihn verletzt hatte, das eintönige Geleier von Hugh Walters’ Stimme. Die Luft aus der Klimaanlage kitzelte in seinem Nacken. Die Wunde an seinem Unterarm strahlte eine dumpf pochende Hitze aus, die auch etwas Angenehmes hatte.

Seine linke Schulter fühlte sich verspannt an. Er versuchte, die Anspannung zu lösen, indem er sie ein Stückchen nach unten sinken ließ, bis er eine Dehnung in der Muskulatur verspürte. Er brachte sich ins Gleichgewicht, seinen Körper und seine Gedanken, bis er zu Atem wurde und sonst nichts, bis die ganze Welt Atem war und nichts anderes mehr existierte.

Eine ganze Weile saß er so da, ganz in der herrlichen Ruhe aufgegangen.

Aber dann wurde Evan aus seinem tranceartigen Zustand auf dem Orientteppich gerissen. Er blinzelte ein paarmal, um seine Augen wieder zu fokussieren und sich zu sammeln. Jetzt bemerkte er, was ihn so brutal aus seiner Meditation geholt hatte.

Das schwarze Telefon. Es klingelte.

3. KAPUTT WIE ICH

Das Klingeln des RoamZone unterschied sich nicht groß von dem anderer Telefone.

Die Technik dahinter schon.

Die Nummer, 1-855-2-NOWHERE, die Evan ursprünglich über einen bulgarischen VoIP-Server bezogen hatte, war so konfiguriert, dass Anrufe digitalisiert und durch verschlüsselte VPN-Tunnel über das Internet versendet wurden. Der Tunnel wurde per Software als virtuelle Verbindung über fünfzehn verschiedene Vermittlungsstellen auf der ganzen Welt zu einem VoIP-fähigen WLAN-Router geleitet, der Joey Delarosa in Apartment 19H auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehörte. Von dort wurde das Signal über das Verizon-LTE-Netz wieder ins Internet eingespeist. Falls es auf wundersame Weise den Männern mit den dunklen Sonnenbrillen und schwarzen Anzügen tatsächlich jemals gelänge, den Datenstrom so weit zu verfolgen, und sie Joeys Wohnung stürmten, könnte Evan sich das ganze Debakel durch seinen heruntergelassenen Sonnenschutz ansehen.

Nach jeder erfolgten Kontaktaufnahme wechselte er mit der Nummer zu einem anderen Telefonanbieter. Momentan war das eine Firma in der chinesischen Jiangsu-Provinz, ein rechtlicher und logistischer Albtraum für jeden, der Nachforschungen anstellen wollte. Das Handy selbst konnte sich problemlos in jedes Mobilfunknetz einloggen, funktionierte in 135 Ländern und wurde mit Prepaid-SIM-Karten aus dem Automaten betrieben, die Evan regelmäßig zerstörte und durch neue ersetzte.

Evan erhob sich, auf dem Weg zur Küchentheke tappten seine bloßen Füße über den glatt polierten Beton.

Er meldete sich mit seiner Standardfrage: »Brauchen Sie meine Hilfe?«

Die Stimme am anderen Ende war mit minimaler Verzögerung zu hören. »Sind Sie … Ist das ein Scherz?«

»Nein.«

»Moment. Es ist … Kleinen Moment.« Eine junge weibliche Stimme, noch keine zwanzig. Lateinamerikanischer Akzent, vielleicht San Salvador. »Gibt’s Sie wirklich? Ich hab gedacht, Sie sind so was wie … wie ’ne urbane Legende. Ein Mythos.«

»Bin ich auch.«

Er wartete. Hörte ihren schnellen Atem. Nichts Ungewöhnliches.

»Also, ich steck in der Klemme. Keine Zeit für irgendwelchen Quatsch, falls … falls …« Ein unterdrücktes Schluchzen. »Ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Wie heißt du?«

»Morena Aguilar.«

»Wo hast du diese Nummer her?«

»Von einem Schwarzen.«

»Beschreib ihn mir.«

Das Erste Gebot: Keine voreiligen Schlüsse.

»Er hatte einen Bart, total struppig, mit Grau drin. Und er hatte einen gebrochenen Arm. In ’ner Schlinge.«

Clarence John-Baptiste. Letzten Herbst hatte sich eine Meth-Gang in seinem Haus in Chatsworth eingenistet und ihn und seine Tochter als Geiseln genommen. Mit Clarence und der Kleinen war nicht zimperlich umgegangen worden.

»Wo wohnst du?«

Sie nannte eine Adresse in Boyle Heights in East L. A., in den sogenannten Flats unterhalb des Los Angeles River. Das Gangterritorium der Lil East Side.

»Wann sollen wir uns treffen?«

»Kann ich nicht … Weiß ich nicht.« Er wartete wieder.

»Morgen. Morgen gegen Mittag?«

»Wo kannst du hinkommen?«

»Ich hab kein Auto.«

»Ist es bei dir zu Hause sicher?«, fragte Evan.

»Mittags ja.«

»Also dann bis um zwölf Uhr.«

Zwölf Uhr mittags passte gut. Er würde drei Stunden brauchen, um die umliegenden Häuserblocks abzusuchen, ihr Haus zu beobachten und auf Digitalsender und Anzeichen von Sprengstoff zu überprüfen. Falls es tatsächlich eine Falle war und es zu einem Gefecht kam, würde es nach seinen Regeln ablaufen.

Das Neunte Gebot: Angriff ist die beste Verteidigung.

Später, zurück im Tresor, trank Evan frisch aufgebrühten Kamillentee, während er den Namen Morena Aguilar durch seine Datenbanken laufen ließ.

Mit Ausnahme von ganz exklusiven Geheimdienstinformationen über Terroristen waren die Datenbanken der Strafverfolgungsbehörden weitgehend ans Internet angeschlossen. Der Großteil der im Strafregister und in zivilen Datenbanken enthaltenen Informationen ist von jedem Streifenwagen einer örtlichen Polizeidienststelle aus zugänglich, sofern er über ein mobiles Datenendgerät verfügt. Dazu zählt jedes Panasonic-Toughbook, das am Armaturenbrett eines stinknormalen LAPD-Streifenwagens hängt. Jeder dieser Laptops tauscht sich direkt mit CLERS, dem kalifornischen Polizeifunk, CLETS, dem kalifornischen Telekommunikationssystem, NCIC, dem nationalen Verbrechensformationszentrum, und CODIS, der Gewalttäter-DNA-Datenbank des FBI, sowie im wahrsten Sinne des Wortes Hunderten anderer Datenbanken auf Staats- und Bundesebene aus.

Hat man sich erst mal Zugang zu einem einzigen Streifenwagencomputer verschafft, sitzt man quasi schon am Schaltpult von Big Brother.

Evan war kein Hackergenie, aber es war ihm gelungen, sich unbemerkt Zugang zu diversen Streifenwagen zu verschaffen und Codes auf ihre Laptops hochzuladen, womit er sich ein praktisches virtuelles Hintertürchen zu ihrer SSH-Verbindung geschaffen hatte.

Nun konnte Evan also von seinem sicheren Versteck aus nach Herzenslust auf der Datenautobahn surfen, die Einzelheiten für den morgigen Einsatz zusammentragen und dabei seinen wohlduftenden Tee trinken.

Während der letzten Dreiviertelstunde hatte Morena Aguilar auf der umgedrehten Recyclingtonne auf der Veranda vor dem heruntergekommenen Fertighaus gesessen, das aussah wie alle anderen in der Siedlung. Die Hände hatte sie unter ihre Oberschenkel geschoben, sodass die dünnen Arme mit den Ellbogen nach außen zeigten. Mit ihren Hacken donnerte sie nervös an das splitternde Holz, wodurch ihre Knie auf und ab hüpften. Ihre dunklen Haare hatte sie so fest zu einem Pferdeschwanz gebunden, dass sie eng am Kopf anlagen und ihr erst hinter dem Haargummi als wilde Lockenpracht in den Nacken fielen. Sie blickte unruhig hin und her, den Kopf eingezogen, eine dünne Schweißschicht glänzte auf ihrer Stirn.

Sie hatte Angst.

Evan hatte noch vor der Kreuzung hinter einer verlassenen Rostlaube geparkt und suchte jetzt erneut durch das abgenommene Zielfernrohr eines Gewehrs die Straße ab. Auf einem verdorrten Rasenstück im Vorgarten des gegenüberliegenden Hauses tauchte eine Mutter im Teenageralter auf, ebenfalls eine Latina, die ein Kleinkind in Windeln auf der Hüfte hatte. Sie setzte es in eine große Geflügelbratschale aus Aluminium, die mit Sand gefüllt war. Der Kleine war offenbar gemischter Abstammung, seine grünen Augen hoben sich deutlich von der karamellfarbenen Haut ab. Als er in seinem improvisierten Sandkasten zu graben anfing, zündete sie sich eine Marlboro Red an und blies den Rauch in den Himmel, wobei sie sich an einem hellroten Muttermal an der Unterseite ihres Arms kratzte. Sie konnte nicht älter als achtzehn sein, aber ihr Gesicht sah verhärmt aus. Ein Handy ragte ihr hinten aus der Hosentasche. Ein zweiter Teenager stellte einen Kinderwagen neben ihr auf dem verdorrten Rasen ab. Die Raucherin schüttelte eine Zigarette aus dem Päckchen und bot sie ihrer Freundin an. Die beiden unterhielten sich nicht. Sie standen nur nebeneinander, rauchten und beobachteten die Straße. Zwei junge Frauen, die sonst nichts zu tun hatten.

Sobald Evan sich vergewissert hatte, dass von ihnen keine Gefahr ausging, setzte er das Zielfernrohr ab, griff einen schwarzen Aktenkoffer aus Metall und stieg aus dem Pick-up. Als er näher kam, bemerkte Morena ihn und stand auf, eine Hand in ihren Oberarm gekrallt. Er trat auf die Veranda. Das Leben hatte bereits tiefe Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen, Sorgenfalten und einen harten Ausdruck in den hübschen braunen Augen. Sie roch stark nach Haarspray.

»Ich bin ein Vertreter und verkaufe Umkehrhypotheken«, sagte er leise zu ihr. »Du hast kein Interesse. Schüttele den Kopf.«

Sie tat wie geheißen.

»Ich gehe jetzt um den Block und komme dann von hinten durch den Garten. Deine Hintertür ist nicht abgeschlossen. Bitte lass sie so. Schau jetzt genervt und geh zurück ins Haus.« Sie ließ die Gittertür hinter sich zufallen, und er verließ die Veranda und ging die Straße hinunter.

Zehn Minuten später saßen sie sich auf kaputten Gartenstühlen im winzigen Wohnzimmer des Hauses gegenüber, Evan mit Blickrichtung auf das fettverschmierte Fenster zur Straße hin. Vor ihm auf dem Couchtisch lag sein mit einem Zahlenschloss gesicherter Aktenkoffer. Wenn man die Zahlenkombination falsch eingab, gab er einen Stromstoß von 800 Volt ab, der lähmte, aber nicht tödlich war. Der Koffer enthielt außerdem ein sprachgesteuertes Mikrofon, eine Minikamera sowie einen hochleistungsfähigen Breitbandstörsender, der jegliche andere Überwachungsvorrichtung lahmlegte.

Akten konnte man natürlich auch darin aufbewahren.

Im brütend heißen Zimmer stank es nach Vogel. Ein zerrupfter Papagei raschelte in seinem Käfig im quadratischen Schlafzimmer nebenan. Durch die geöffnete Tür konnte man zwei Matratzen auf dem Boden erkennen sowie eine Kommode, einen gesprungenen Spiegel und einen Trompetenkoffer, der an einem längst ausrangierten Aquarium lehnte.

»Karotte, bitte!«, rief der Papagei. »Bitte! Bitte nicht!«

Hinter Morenas Kopf hatte Evan die Straße genau im Blick: Die beiden jungen Mütter standen immer noch im Vordergarten gegenüber und rauchten. Mittlerweile hatte das Baby angefangen zu weinen, aber keine der beiden machte Anstalten, es zu beruhigen. Evan verlagerte sein Gewicht im Stuhl.

Die Bewegung ließ Morena ruckartig hochschrecken. Ihr Oberteil, ein durchgeknöpftes Arbeitshemd mit einem BENNY’S BURGERS-Aufnäher und ihrem Namensschild vornedrauf, hatte Schweißflecken. Ihre Hände steckten zu Fäusten geballt in den Taschen ihrer Polyesterhose.

»Du bist nervös. Weil ich hier bin.«

Sie nickte schnell mit dem Kopf und sah gleich wieder viel jünger aus.

»Kannst du mit einer Waffe umgehen?«

»Ich hab schon öfter geschossen«, sagte sie schließlich. Ihm war klar, dass sie log. Sie tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Ihre Augenbrauen waren zu dünnen Bögen gezupft, und ihre Nase zierte eine kleine Kuhle, wo normalerweise ein Piercing saß.

Evan zog die Pistole aus dem Hüftholster, drehte sie mit dem Griff voran und hielt sie ihr entgegen. Sie starrte die Waffe in seiner ausgestreckten Hand an.

Die Wilson Combat 1911 war eigens nach Evans Vorgaben angefertigt worden: Halbautomatik, Edelstahlmagazin mit acht Patronen, eine neunte war bereits in die Kammer geladen. Verlängerter Lauf, mit optimiertem Lademechanismus für fehlerfreies Durchladen und einem Gewinde für einen Schalldämpfer. Die offene »Straight Eight«-Visierung saß etwas höher, sodass bei aufgesetztem Schalldämpfer die Sicht nicht beeinträchtigt wurde. Beidseitig bedienbare Daumensicherung, da er Linkshänder war. Griffsicherung hinten, damit sich nur dann ein Schuss löste, wenn man sie in der Hand hatte. Griffig geschnittenes Fischhautmuster mit achtzehn Rillen pro Zoll am Vorderschaft sowie »Gunner Grip«-Spezialgriffschalen der Firma Simonich, damit die Waffe beim Abfeuern sicher in der Hand lag. Extralange Biberschwanz-Griffsicherung, die die weiche Haut zwischen Daumen und Zeigefinger vor Hammerverletzungen schützte. Das Ganze in Mattschwarz, damit sie in der Dunkelheit verschwand und es keine verräterischen Lichtreflexe gab.

Evan forderte sie erneut auf, die Pistole zu nehmen. »Nur solange wir uns unterhalten. Zur Beruhigung.«

Vorsichtig nahm sie die Waffe aus seiner Hand und legte sie neben sich auf das Sitzkissen. Als sie ausatmete, entspannten sich ihre Schultern bereits ein wenig.

»Was … was mit mir passiert, ist mir schon lang egal. Es ist wegen ihr. Mi hermanita, meine kleine Schwester, Carmen. Bei mir ist von Anfang an alles schiefgelaufen. Aber die Kleine? Die hat noch nie Mist gebaut. Sie ist grad in der Schule. Da ist sie richtig gut. Dabei ist sie erst elf.«

Evan schaute hinüber zum zerbeulten Trompetenkoffer, dann zurück zu Morena. »Und wie alt bist du?«

»Siebzehn.« Sie nahm einen hastigen Atemzug. Wieder eine lange Pause. Anscheinend war sie sich nicht bewusst, wie lange sie zwischendurch schwieg. Sie war nicht unwillig, zu reden, nur mit den Gedanken woanders.

»Mein Vater hat uns verlassen, als wir noch klein waren. Mi mamá hat rausgefunden, dass er vor ein paar Jahren gestorben ist. Sie … sie ist letztes Jahr gestorben. Hatte Gebärmutterkrebs. Und dann kam er. Er zahlt jetzt die Miete für unser Haus. Der lässt uns hier nicht weg.«

Auf der anderen Straßenseite weinte das Baby immer noch. Eine der Mütter streckte den Arm nach dem Kinderwagen aus und schob ihn vor und zurück, um das Kind zu beruhigen.

»Karotte, bitte!«, krächzte der Papagei aus dem Zimmer in Evans Rücken. »Bitte, bitte nicht!«

Evan konzentrierte sich wieder auf Morena. Er wollte keine Fragen stellen, sondern sie ihre Geschichte mit ihren eigenen Worten erzählen lassen.

Sie zog ein Handy aus der Tasche ihrer engen Hose. »Er hat mir das hier gegeben. Damit er mir eine SMS schreiben kann, wann immer er will. Ich hab immer Bereitschaft, so ist das. Ist schon okay. Er nimmt ja nur mich. Na ja, bis jetzt. Meine Schwester, sie wird langsam älter. Viel Zeit hat sie nicht mehr. Er hat gesagt, sie ›wird langsam reif‹.« Morena verzog angeekelt den Mund. »Er hat’s schon mal gewollt, neulich Abend. Ich … hab ihn abgelenkt. Ich weiß, was ich machen muss. Aber er hat nächstes Mal gesagt … nächstes Mal.« Sie biss sich auf die Lippe, um nicht zu weinen. »Sie verstehen’s nicht.«

»Dann hilf mir, es zu verstehen.«

Sie schüttelte nur den Kopf. Draußen kündigte verzerrt klingender Rap ein Auto an. Die Kofferraumtür des Kombis stand offen, der Typ auf der Ladefläche hielt einen Großbildfernseher fest, sodass er nicht umfallen konnte, sein Kumpel saß am Steuer. Dann war das Auto auch schon wieder verschwunden, aber die Musik war noch lange zu hören.

»Gibt es jemanden, zu dem ihr gehen könntet?«, fragte Evan.

»Meine Tante. Die wohnt in Vegas. Ist aber eh egal.«

»Warum egal?«

Plötzlich wütend, beugte sie sich zu ihm. »Sie kapieren’s einfach nicht. Er sagt, wenn ich mit ihr weggehe, kommt er hinterher und fängt uns wieder ein. Die haben jetzt diese Datenbanken. Er findet jeden. Überall.« Und damit war ihre Wut einfach verpufft. Sie presste sich die zur Faust geballte Hand auf die zitternden Lippen. »War dumm, Sie anzurufen. Erzählen Sie bloß keinem was. Mir fällt schon was ein. Tut es immer. Ich muss jetzt los, zur Arbeit.«

Er wusste, dass ihre Schicht erst in zwei Stunden anfing und dass man zu dem Burgerladen, bei dem sie arbeitete, nur sieben Minuten zu Fuß brauchte. Also blieb er sitzen. Sie machte ebenfalls keine Anstalten, zu gehen.

Sie wiegte sich leicht hin und her. »Ich will nur nicht, dass …« Sie blinzelte, und die Tränen rannen ihr über das glatte Gesicht. »Ich will nur nicht, dass sie so kaputt wird wie ich.«

Sie hob die Hand, um sich über das Gesicht zu wischen. An der Innenseite ihres Unterarms sah er etwas, das wie eine grellrote Impfnarbe aussah. Aufgrund ihres Alters war das aber völlig unmöglich.

Es war ein Brandmal.

Evans Blick schoss zu den jungen Müttern auf der anderen Straßenseite. Die Frau, die er zuerst dort gesehen hatte, hob die Zigarette zum Mund. Schlagartig wurde ihm klar, dass ihr hellrotes Muttermal gar keins gewesen war. Sein Blick wanderte hinunter zum Arm der anderen Frau, die den Kinderwagen schaukelte. Auch ihr Arm wurde an derselben Stelle von einem ähnlichen braunroten Fleck entstellt.

Morena bemerkte, dass Evan sich wieder ihr zuwandte. Sie ließ schnell den Arm sinken und verdeckte das Brandmal. Aber nicht schnell genug. Evan hatte die verbrannte kreisrunde Stelle lange genug betrachten können. Ungefähr so groß wie die Mündung einer Pistole Kaliber .40.

Wie etwa einer Glock 22, der Standarddienstwaffe des LAPD.

Er rief sich in Erinnerung, was Morena gesagt hatte: Er findet jeden. Überall. Der ultimative Machtmissbrauch. Sklaverei mitten in der Stadt. Die jungen Frauen gegenüber hatten ebenfalls Bereitschaftshandys. Und Kinder. Jetzt verstand er auch ihre verbitterten Gesichter, die vollkommene Resignation.

Morena erhob sich zum Gehen. Sie strich ihr Arbeitshemd glatt, dann hob sie den Kopf, damit die Tränen aufhörten.

»Danke, dass Sie vorbeigekommen sind. Aber Sie kapieren’s einfach nicht.«

»Jetzt schon«, sagte Evan. Sie sah ihn an.

»Die ganze Straße?«

Sie ließ sich wieder in den Stuhl fallen. »Der ganze Block.« Wieder eine Pause. »Ich will nur nicht, dass er sich meine kleine Schwester schnappt.«

»Darüber brauchst du dir jetzt keine Sorgen mehr zu machen.«

4. ICH WERDE DICH ERWARTEN

Auf dem Heimweg besuchte Evan seine Safe Houses und überprüfte deren Zustand. Er besaß zahlreiche Immobilien über ganz L. A. verstreut: ein Stadthaus an der Westside, ein Cottage im Valley, ein Haus im Ranch-Stil in dem heruntergekommenen Viertel, das direkt in der Einflugschneise des LAX-Flughafens lag. Er sorgte dafür, dass der Rasen gewässert war, Flyer und Prospekte von der Veranda verschwanden und die automatische Beleuchtung sich zeitlich änderte. Hinter den nichtssagenden Fassaden verbargen sich Ersatzfahrzeuge, Grundausrüstung für Einsätze sowie Waffenlager. Jack hatte immer wieder betont, wie wichtig es war, diverse »Aufladestationen« mit sofort einsatzbereiter Ausrüstung vorzuhalten.

Evan wusste schließlich nie, wann er abtauchen musste. Er hatte einen Ehrenplatz auf zahlreichen Fahndungslisten, jedoch auf keiner, die an die Öffentlichkeit dringen durfte. An Flughäfen, Grenzübergängen und in Botschaften musste er besondere Vorsicht walten lassen. Allerdings war er in den letzten fünf Jahren nur ein einziges Mal in einer Botschaft gewesen. Und zwar, um einen Angestellten zu töten, der einer der Drahtzieher eines Menschenhändlerrings gewesen war.

Als Evan das Castle Heights erreichte, tauchte die untergehende Sonne die Seite des Gebäudes bereits in ein warmes orangefarbenes Licht. Er parkte. Auf dem Weg durch die Lobby kam er an einem halben Dutzend Kombucha Flaschen vorbei, die auf dem Getränketisch in einem Bottich mit geschmolzenen Eiswürfeln schwammen. Augenscheinlich war die Getränke-Initiative nicht der rauschende Erfolg gewesen, den die Eigentümerversammlung sich erhofft hatte.

Im Aufenthaltsbereich gegenüber der Eingangstür senkte sich raschelnd der Sportteil der L. A. Times, und Johnny Middletons Kopf erschien über dem Rand der Zeitung. Er hatte das Kombucha im Visier.

Evan beschleunigte seine Schritte. Untermalt vom Rascheln seiner Nylonjogginghose, rutschte Johnny von der gepolsterten Sitzgelegenheit. »Evan. Evan!«

Evan hatte keine andere Wahl, als stehen zu bleiben. Dann war Johnny schon bei ihm. Den Missmut deutlich ins Gesicht geschrieben, blickte er zum verlassenen Getränkebottich hinüber. Als er sich wieder zu Evan umdrehte, sah sein rundliches Gesicht selbstzufrieden aus. »Sie sollten wirklich mal zu einem Probetraining vorbeikommen.« Er tippte auf das Kampfsportemblem auf seiner Sweatjacke. Zwei aufeinanderprallende Fäuste. Wie einfallsreich. »Ich kann Sie umsonst reinbringen.«

Noch bevor Evan antworten konnte, täuschte Johnny einen Jab an.

Die Faust kam langsam und im falschen Winkel auf ihn zu. Evan sah seine Kontermöglichkeiten glasklar vor sich: beidhändige Abwehr, Handgelenk nach innen zum Unterarm drücken, den Knochen brechen und die Ellbogensehnen reißen lassen, danach für den Takedown den Arm hinter den Rücken drücken und mit dem Knie Johnnys freie Rippe zerschmettern, sobald er auf den Boden aufkam.

Aber stattdessen zuckte er nur leicht zusammen. »Ist nicht so mein Fall.«

»Okay, Chief«, sagte Johnny und zog sich mit einer Großmut signalisierenden Geste zurück. »Betrachten Sie’s als offene Einladung.«

Evan ging weiter zum Aufzug und wollte gerade einsteigen, als er ein Durcheinander an der Tür zur Garage bemerkte. Mia und Peter kamen hereingewankt, die Arme voller Einkaufstaschen. Evan hielt den Aufzug an, während sie reinschlurften und sich dicht neben ihn stellten. Auf dem Weg nach oben konnte er Peter unter all den riesigen Einkaufstüten kaum erkennen.

»Soll ich Ihnen tragen helfen?«

»Danke, geht schon.«

Irgendwo inmitten der ganzen Einkäufe klingelte ein iPhone: die Titelmelodie aus Der weiße Hai. Mia nahm ein Knie zu Hilfe, um die Einkaufstaschen beiseitezuschieben, damit sie an ihre Handtasche kam. Eine Plastiktüte aus dem Drogeriemarkt rutschte ihr dabei vom Arm. Evan fing sie auf, bevor sie zu Boden fallen konnte. Das Telefon hörte auf zu klingeln. Mia seufzte frustriert, dann begann sie, die Taschen wieder richtig hinzuhängen.

Evan bemerkte, dass Peter, der neben ihm stand, ihn eindringlich ansah. Peter senkte den Blick, um Evans Knöchel zu studieren. Dieser zog leicht sein Hosenbein nach oben: Tadaa, heute mit Socke! Bitte gehen Sie weiter. Hier gibt’s nichts zu sehen.

Der durchdringende Blick ruhte jetzt wieder auf Evans Gesicht.

»Evan. Und weiter?«

»Wie bitte?«

»Wie heißt du mit Nachnamen?«

»Smoak.«

»Wie bei Feuer?«

»Schreibt sich nur anders.«

»Und dein zweiter Vorname?«

»Danger.«

»Ehrlich?«

»Nein.«

Keine Reaktion. Dann verzogen sich die Lippen des Jungen zu einem fast unmerklichen Grinsen.

Mia musste sich wegdrehen, weil sie selbst schmunzeln musste.

Der Aufzug hielt mit einem Ping im zwölften Stock. »So, jetzt hast du Mr. Danger aber genug verhört«, sagte Mia, streichelte Peter über den Kopf und zog ihn hinter sich her aus dem Aufzug.

Evan schaute zu spät nach unten, wo noch immer Mias Drogerieeinkäufe von seinem Handgelenk baumelten. Er wollte gerade die Aufzugtüren aufdrücken, als sie bereits wieder zusausten. Dann befand er sich auch schon mitsamt ihrem Krimskrams auf dem Weg ins Penthousegeschoss. Es würde noch ein Weilchen dauern, bevor er ihr die Tüte zurückbringen konnte.

Heute Abend hatte er nämlich noch einiges zu erledigen.

Evan wuchtete Mias Plastiktüte auf die Arbeitsfläche in der Küche und begutachtete dann seine Wodkasammlung, die säuberlich aufgereiht im Gefrierschrank lag. Er entschied sich für den Jean-Marc XO in der Glasstöpselflasche aus vier französischen Weizensorten, neunfach destilliert, mit Mikrosauerstoff angereichert und kohlefiltriert. Als er sich zwei Fingerbreit Wodka auf Eis einschenkte, fiel sein Blick auf eine Packung Heftpflaster, die aus Mias Tüte auf die Arbeitsfläche gerutscht war. Natürlich mit Motiven der Muppets. Die quietschbunten Farben, die so gar nicht mit der grauen Fläche und dem ganzen Edelstahl harmonierten, fielen ihm sofort unangenehm auf. Er fand die grellen Orange- und giftigen Grüntöne seltsam verstörend, aber den genauen Grund konnte er nicht benennen.

Er schob die Packung zurück in die Tüte und nippte auf dem Weg in den Tresor an seinem Drink. Der Wodka rann ihm seidenweich die Kehle hinunter, ein Gefühl der Reinheit.

Morena Aguilar hatte ihm zwei Dinge an die Hand gegeben, mit denen er arbeiten konnte: ihr Bereitschaftshandy, das jetzt neben seiner treuen Aloe vera auf dem Edelstahlschreibtisch lag, und einen Namen.

Bill Chambers.

Es gab mehr als genug Informationen über William S. Chambers vom LAPD. Durch einige große, zeitlich gut abgepasste Verhaftungen hatte er sich vom Streifenpolizisten zum Detective zweiten Grades hochgearbeitet, um vor vier Jahren schließlich einen heiß begehrten Posten in der Gang and Narcotics Division zu ergattern. Das erklärte natürlich, wie er sich sein kleines Imperium im von der Lil East Side regierten Boyle Heights aufbauen konnte. Sein Posten war ideal, um den Gangmitgliedern hin und wieder einen Gefallen zu tun, wenn diese sich entsprechend revanchierten. So hatten sie Chambers mit seinem Harem aus versklavten jungen Frauen in Ruhe gelassen. Vielleicht hatten sie sogar ihre Beziehungen spielen lassen, um ihn zu schützen und den Block, den er zu seinem persönlichen Arbeitslager gemacht hatte, zu bewachen. Evan entdeckte mehrere interne Ermittlungsverfahren, alle torpediert durch verlegte Beweisstücke oder den plötzlichen Gesinnungswechsel der Zeugen. Als Nächstes nahm er sich Chambers’ Finanzen vor. Für Chambers’ Konten waren zahlreiche Baraus- und -einzahlungen unter der 10.000-Dollar-Grenze vermerkt, ab der die Bank Meldung machen musste. Fragwürdige Vorgänge. Aber keine stichhaltigen Beweise.

Und das Erste Gebot verlangte stichhaltige Beweise.

Evan nahm sich jetzt Morenas Bereitschaftshandy, ein billiges Plastikteil mit verschmiertem Display, leicht wie ein Spielzeugtelefon. Ein Wegwerfmodell aus Mexiko. Als er mit dem Daumen das SMS-Verzeichnis aufrief, schien es sich im Tresorraum schlagartig abzukühlen; es lief ihm eiskalt über den Rücken. Eine bestimmte Nummer hatte Morena eine Flut von sexuell eindeutigen Nachrichten mit Befehlen und Anweisungen geschickt. Einige enthielten Beispielfotos mit offensichtlich minderjährigen Latinas in unmissverständlichen Posen. Er starrte in das Gesicht eines Mädchens, das bestimmt noch keine vierzehn war. Es war völlig ausdruckslos, und die teilnahmslos wirkenden, rot geränderten Augen schienen nicht zu ihrem Körper und dem, was er tun musste, zu gehören.

Er legte das Telefon hin und nahm sich seinen Drink, musste aber feststellen, dass ihm die Lust auf Wodka vergangen war. Wie auch auf alles andere. Er verspürte Zorn glühend heiß in sich aufsteigen und musste sich das Vierte Gebot in den Sinn rufen: Es ist nie persönlich.

In all den Jahren, die er dabei war, hatte er nie ein Gebot gebrochen. Und er war auch diesmal nicht bereit dazu.