Der liebende Gott und sein heiliger Zorn - Volker Halfmann - E-Book

Der liebende Gott und sein heiliger Zorn E-Book

Volker Halfmann

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Beschreibung

Wir sprechen oft vom »lieben Gott« wie von einem senilen Opa, der kaum noch was mitbekommt und auch mal ein Auge zudrückt. So einen Gott nimmt man nicht ernst, so ein Gott ist nicht mehr heilig. Aber das ist nicht der Gott der Bibel. Gott ist Liebe. Aber wer diese Liebe und damit Gott selbst verschmäht, der erfährt Gottes Zorn. Und dieser Zorn ist keine Schwäche, kein unberechenbares Gefühl. Dieser Zorn ist heilig. Und er findet sich genauso in der Heiligen Schrift wie die Rede vom liebenden Gott. Aber kann ein liebender Gott zornig werden und weswegen? Ist der göttliche Zorn die Ursache für das Leid auf dieser Welt? Und wie entgeht man dem Zorngericht Gottes? Eine biblisch fundierte und tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Zorn Gottes führt vom Alten über das Neue Testament hinein in die Gegenwart und fragt nach der Spannung von Zorn und Barmherzigkeit, nach Heiligkeit und Menschlichkeit und letztlich nach unserem Gottesbild. Ein Buch, das ohne zu belehren oder Angst zu schüren unser Gottesbild hinterfragt und auf die Hoffnung der göttlichen Gnade hinweist.

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Volker Halfmann (Jg. 1966) hat in Dietzhölztal-Ewersbach und Oberursel (Taunus) Theologie studiert und arbeitet als Pastor im Bund Feier evangelischer Gemeinden. Er ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder.

Wir sprechen oft vom »lieben Gott« wie von einem senilen Opa, der kaum noch was mitbekommt und auch mal ein Auge zudrückt. So einen Gott nimmt man nicht ernst, so ein Gott ist nicht mehr heilig. Aber das ist nicht der Gott der Bibel. Gott ist Liebe. Aber wer diese Liebe und damit Gott selbst verschmäht, der erfährt Gottes Zorn. Und dieser Zorn ist keine Schwäche, kein unberechenbares Gefühl. Dieser Zorn ist heilig. Und er findet sich genauso in der Heiligen Schrift wie die Rede vom liebenden Gott.

ABER KANN EIN LIEBENDER GOTT ZORNIG WERDEN UND WESWEGEN? IST GOTTES ZORN DIE URSACHE FÜR DAS LEID AUF DER WELT? UND WIE ENTGEHT MAN DEM ZORNGERICHT GOTTES?

Eine biblisch fundierte und tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Zorn Gottes führt vom Alten über das Neue Testament hinein in die Gegenwart und fragt nach der Spannung von Zorn und Barmherzigkeit, nach Heiligkeit und Menschlichkeit und letztlich nach unserem Gottesbild. Ein Buch, das ohne zu belehren oder Angst zu schüren unser Gottesbild hinterfragt und auf die Hoffnung der göttlichen Gnade hinweist.

Volker Halfmann

DERLIEBENDEGOTT

UND SEINHEILIGERZORN

SCM R.Brockhaus ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe, die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-417-27093-8 (E-Book)

ISBN 978-3-417-24179-2 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2023 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-brockhaus.de | E-Mail: [email protected]

Soweit nicht anders angegeben, sind die Bibelverse folgender Ausgabe entnommen:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen

Weiter wurden verwendet:

Hoffnung für alle® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by Biblica, Inc.®.

Verwendet mit freundlicher Genehmigung des Herausgebers Fontis – Brunnen Basel

Lektorat: Christina Bachmann

Umschlaggestaltung: Johanna Pabst / Erik Pabst, www.erikpabst.de

Autorenfoto: Privat

Satz: Burkhard Lieverkus

In dankbarer Erinnerungan Kurt Seidel,der mich gelehrt hat,gründlich zu denken und kindlich zu vertrauen.

Inhalt

Einleitung: Worum es in diesem Buch geht

Teil I: Biblischer Befund

Exkurs: Das menschliche Beschreiben Gottes

Kapitel 1: Die Botschaft vom Zorn Gottes im Alten Testament

Kapitel 2: Die Botschaft vom Zorn Gottes im Neuen Testament

Kapitel 3: Zusammenfassung

Teil II: Kirchliche Auslegung

Exkurs: Einfluss der griechischen Philosophie auf die Theologie

Kapitel 4: Markion

Kapitel 5: Laktanz

Kapitel 6: Thomas von Aquin

Kapitel 7: Martin Luther

Kapitel 8: Friedrich Schleiermacher

Kapitel 9: Albrecht Ritschl

Kapitel 10: Karl Barth

Kapitel 11: Zusammenfassung

Teil III: Systematische Einordnung

Kapitel 12: Gott ist nicht lieb

Kapitel 13: Gott ist heilig und gerecht

Exkurs: Hat Jesus den Zorn Gottes besänftigt?

Kapitel 14: Ein Verstehensmodell

Teil IV: Praktische Konsequenzen

Kapitel 15: »Und hätte die Liebe nicht …«

Kapitel 16: Das eigene Gottesbild hinterfragen

Kapitel 17: Die Ehrfurcht wiederentdecken

Kapitel 18: Den ganzen Christus verkündigen

Kapitel 19: Das prophetische Wort wagen

Exkurs: Zur Entwicklung krank machender Gottesbilder

Nachwort: Warum es mich innerlich zerreißt

Danksagung

Verzeichnis der verwendeten Literatur

Vertiefende Fachliteratur

Artikel, Aufsätze und verschriftlichte Vorträge

Bibelausgaben und Nachschlagewerke

Anmerkungen

Quellenangaben der Eingangszitate

Anmerkungen zu den Kapiteln

Der Begriff des Zornes Gottesbelegt die Nichtintegrierbarkeit Gottesin ein menschliches Wunschbild vom »lieben Gott«.Walter Dietz***Begegnet uns Gott nicht eifrig, eifersüchtig, zornig […],dann begegnet er uns überhaupt nicht,dann ist der Mensch– alle Beteuerungen über die Liebe Gottes werden daran nichts ändern können! –faktisch sich selbst überlassen.Karl Barth***O ungehorsame Predigt, die nicht den Mut hat,den Zorn Gottes vernehmlich und unmißverständlich zu verkündigen!Wie vermag sie bei Tage recht seine Gnade zu predigen,wenn sie nicht mehr wagt, bei Nacht seine Wahrheit zu verkündigen?Aurel von Jüchen

Einleitung:

Worum es in diesem Buch geht

Es gibt keine Bibelauslegung im »luftleeren Raum«. Auch wenn wir uns beim Studium der Bibel um größtmögliche Objektivität bemühen, so ist unser Denken niemals neutral. Es ist geprägt von unserer eigenen Geschichte, von unserer Erziehung und Bildung, von einschneidenden Erlebnissen und Begegnungen sowie vom gerade vorherrschenden Zeitgeist, der weder vor Kirchentüren noch vor unseren Köpfen haltmacht.

Darum ist Theologie immer auch Biografie: Wie wir von Gott reden, das speist sich eben nicht allein aus der Heiligen Schrift, sondern ist ein Ergebnis unserer Deutung dieser Schrift – und diese Deutung hängt wiederum mit unserer Biografie zusammen. Eine Neutralität gibt es nicht. Als Autor dieses Buches bilde ich da keine Ausnahme. Auch mein Reden von Gott ist geprägt durch meine Biografie. Und darum ist es für Sie, der Sie dieses Buch lesen, wichtig zu verstehen, was mich in den vergangenen Jahren geprägt hat. Ich fasse mich hier bewusst kurz (ausführlich können Sie meine Geschichte in meiner Autobiografie Mein goldener Sprung in der Schüssel – Wie ich als Pastor mit meinen Zwangsstörungen und der Alkoholabhängigkeit lebe nachlesen).

Ich bin in einem christlichen Elternhaus aufgewachsen und habe seit meiner frühesten Kindheit eine evangelische Freikirche besucht. Rückblickend kann ich weder in der Verkündigung dieser Kirche noch in meinem eigenen Elternhaus erkennen, dass dort vornehmlich eine Drohbotschaft vermittelt worden wäre. Dass sich in mir dennoch ein Angst machendes Gottesbild festgesetzt hat, hängt wohl eher mit meiner psychischen Erkrankung zusammen. Seit dem Beginn meiner Pubertät leide ich an einer Zwangsstörung, welche sich unter anderem durch ständige Grübeleien, irrationale Ängste und durch blasphemische Gedankenzwänge geäußert hat. Damit verbunden gehörte es zu meiner kindlichen »DNA«, mich vor dem vernichtenden Zorn Gottes zu fürchten. Gott war für mich über viele Jahre ein grausamer und unberechenbarer Himmelsdespot, der nur darauf wartete, mich zu zerquetschen.

Über viele Jahre habe ich angekettet an dieses schreckliche und lebensverneinende Gottesbild gelebt, ohne den Mut, mich davon zu befreien. Erst im Alter von vierzig Jahren ist es mir gelungen – bedingt durch einen völligen Zusammenbruch und einen darauffolgenden Klinikaufenthalt – diesem Gott meine Gefolgschaft zu versagen und auszubrechen. Das war ein langer und schwerer Weg, doch meine hart errungene Gottlosigkeit habe ich als eine Befreiung erlebt: als eine Befreiung von dem Gott, der mir über viele Jahre die Luft zum Atmen und zum Leben genommen hat. Allerdings hatte diese neu gewonnene Freiheit auch ihren Preis. Denn tief in mir schlummerte nach wie vor die feste Überzeugung, dass Gott sich an mir rächen würde. Ich wartete auf seinen Zorn und stellte mich auf das Schlimmste ein. Womit ich damals nie gerechnet hätte, war, dass er mich in den folgenden Jahren nicht mit seinem Zorn überschüttete, sondern mit seiner Barmherzigkeit.

Um meinen kranken Kopf zu betäuben, habe ich schon früh zum Alkohol gegriffen und über die Jahre eine Alkoholabhängigkeit entwickelt. Ich bin suchtkrank, was zur Folge hat, dass es einen kontrollierten Alkoholkonsum für mich nicht gibt. Meine einzige Option, um selbstbestimmt und erfüllt leben zu können, ist die völlige Abstinenz vom Alkohol. Ich stehe an jedem neuen Tag vor der Herausforderung, jeweils »das erste Glas« stehen zu lassen. Doch leider gehört es oft zu den Kennzeichen einer Suchterkrankung, dass diese Abstinenz nicht dauerhaft gelingt, zumindest nicht in der Anfangszeit: Es kommt zu Rückfällen.

Nach einem solchen Rückfall erlebte ich meinen persönlichen Tiefpunkt. Aufgrund einer schweren depressiven Reaktion und den damit verbundenen Suizidgedanken verbrachte ich einige Zeit in der Psychiatrie – voller Selbsthass und ohne jede Perspektive, wie es für mich weitergehen könnte. In meiner Verzweiflung wandte ich mich an Gott. Ich schrie zu Jesus, mich aus diesem zerstörerischen Kreislauf aus Sucht, Scham und Selbstzerstörung zu befreien. Und er hat mich erhört! Er hat mich an die Hand genommen und Schritt für Schritt in die Freiheit geführt.

In der Folgezeit lernte ich einen mitfühlenden Gott kennen, einen Gott, der mich sieht und dem mein Leid zu Herzen geht. Gott ist ein Gott voller Barmherzigkeit! Um dies zu bezeugen und zugleich auch aufzuzeigen, welche wichtigen Konsequenzen dies für uns hat, habe ich ein zweites Buch geschrieben: Wer fühlt, was er sieht, der tut, was er kann – Ein Plädoyer für mehr Barmherzigkeit.

Aufgrund meiner Erfahrungen stellte sich in meiner Gottesbeziehung etwas ein, was ich die vielen Jahre zuvor nie gekannt hatte: ein Urvertrauen. Ich bin mir heute innerlich gewiss, dass Gott für uns ist. Und: Wenn Gott für uns ist, wer kann dann gegen uns sein? (Römer 8,31; HFA).

Vermutlich ist es dieses tiefe Urvertrauen, das mir inzwischen ermöglicht, mich angstfrei und akribisch mit einer biblischen Botschaft auseinanderzusetzen, die mir früher das Blut in den Adern gefrieren ließ: die Botschaft vom göttlichen Zorn.

Die Offenbarung Gottes durch sein Wort

Niemand von uns hat Gott je gesehen. Weder haben wir ihn besucht noch sind wir ihm bei einem Spaziergang persönlich begegnet. Wenn es diesen Gott denn überhaupt gibt – wovon ich ausgehe –, dann ist es so, dass er ein unzugängliches Lichtbewohnt (1. Timotheus 6,16), er existiert jenseits von Raum und Zeit. Das bedeutet: Um zutreffende Aussagen über Gott machen zu können, sind wir darauf angewiesen, dass er sich uns offenbart, sich zu erkennen gibt, sich auf die Ebene unserer Existenz herablässt. Als Christ gehe ich davon aus, dass genau dies geschehen ist: Der Schöpfer des Universums hat sich zu erkennen gegeben, er hat sich offenbart.

Gott offenbart sich durch sein Wort. Er spricht zu Abram und verheißt ihm Land und Nachkommen. Er offenbart Mose seinen Namen und führt sein Volk aus der Sklaverei. Er schließt mit Israel einen Bund, leitet dieses Volk durch die Jahrhunderte und ermahnt es durch seine Propheten. Ihren letztgültigen Höhepunkt erreicht diese Offenbarung Gottes durch seine Menschwerdung: Nachdem Gott vielfältig und auf vielerlei Weise (Hebräer 1,1) geredet hat, redet er durch seinen Sohn, durch Jesus, den Christus. Jesus ist das fleischgewordene Wort Gottes (Johannes 1,14), er ist das Bild des unsichtbaren Gottes (Kolosser 1,15), wer ihn sieht, hat den Vater gesehen (Johannes 14,9).

Sowohl das Wesen Gottes als auch sein Wille erschließen sich uns darum einzig aus diesem Wort, wobei wir zwischen dem geschehenen Wort und dem geschriebenen Wort zu unterscheiden haben. Die Bibel ist insofern »Wort Gottes«, da sie für uns das schriftliche Zeugnis der Offenbarung Gottes durch sein geschehenes Wort darstellt. Darum ist die Bibel für die an Christus Glaubenden der verbindliche Maßstab für ihren Glauben, für ihre Lebensführung und für ihre Lehre. Seit der Verbreitung der biblischen Schriften haben Millionen von Menschen ihrer Botschaft vertraut und erkannt, dass diese Schriften nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit sind (2. Timotheus 3,16). Dabei standen sie immer auch vor der Aufgabe, die in den biblischen Schriften vermittelte Botschaft auszulegen und zu interpretieren. Sie taten dies – und tun das bis heute – als Kinder ihrer Zeit. Ebenso tue ich es vor dem Hintergrund meiner Geschichte. Und zu dieser Geschichte gehört die Auseinandersetzung mit dem »göttlichen Zorn«.

Gott fürchten und lieben

Der Theologe Walter Groß stellt fest: Die Rede vom Zorn Gottes gehört unverzichtbar zur gesamtbiblischen Rede von Gott.1 Sie findet sich nicht allein im Alten Testament, sondern ebenso im Neuen. Dort wird die Rede vom göttlichen Zorn durch den Apostel Paulus sogar noch radikalisiert und universalisiert: Denn es wird offenbart Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen (Römer 1,18). Aus Sicht der neutestamentlichen Autoren gibt es nur einen einzigen Weg, diesem göttlichen Zorn zu entrinnen: Die Anerkennung von Jesus als dem Sohn Gottes und das Vertrauen auf die durch ihn geschehene Erlösung: Wer an den Sohn glaubt, der hat das ewige Leben; wer aber dem Sohn nicht gehorcht, wird das Leben nicht sehen, sondern der Zorn Gottes bleibt auf ihm (Johannes 3,36).

Wie aber passt diese Botschaft vom göttlichen Zorn zu der biblischen Aussage, dass Gott Liebe (1. Johannes 4.16) ist? Kann ein liebender Gott zornig sein? Und könnte sein verzehrender Zorn sogar diejenigen vernichten, die er doch liebt? Wie verhalten sich Gottes Liebe und Barmherzigkeit zu seinem Zorn? Ist der Zorn Gottes als Ausdruck seiner Liebe zu verstehen oder eher als ihre Nivellierung? Ja, was bedeutet es eigentlich, dass Gott Liebe ist? Wie ist diese Liebe zu definieren und zu beschreiben?

Um diese und um viele weitere Fragen geht es in diesem Buch. Denn wenn die Bibel wirklich die Grundlage für unseren Glauben, für unser Leben und für unsere Lehre ist, dann kommen wir um eine Auseinandersetzung mit der Botschaft vom Zorn Gottes nicht herum. Dann brauchen wir Antworten – nicht nur, um Gott besser zu verstehen, sondern vor allem auch, um ihn so zu lieben und zu ehren, wie es ihm gebührt. Nach biblischem Verständnis gehört zu einer Gottesbeziehung, die der Offenbarung Gottes angemessen ist, nicht allein die Liebe, sondern ebenso die Ehrfurcht.

Darum formuliert Martin Luther in seinem kleinen Katechismus, dass wir Gott fürchten und lieben sollen: Gott droht zu strafen alle, die diese Gebote übertreten; darum sollen wir uns fürchten vor seinem Zorn und nicht gegen seine Gebote handeln. Er verheißt aber Gnade und alles Gute allen, die diese Gebote halten; darum sollen wir ihn auch lieben und vertrauen und gerne tun nach seinen Geboten.2

Verschiebungen in Gesellschaft und Glauben

Soziologen, Ökonomen und Philosophen betonen, dass wir derzeit einen epochalen Wandel erleben. Unsere Gesellschaft entwickelt sich weg von einer klassischen Arbeitsgesellschaft und hin zu einer Sinngesellschaft. So schreibt der Philosoph Richard David Precht: Ich möchte vorschlagen, diese neue Gesellschaft als »Sinngesellschaft« zu bezeichnen. So wie aus der Revolution der Produktionsmaschinen im 18. und 19. Jahrhundert die Arbeitsgesellschaft entsprang, so entspringt aus der Revolution der Informationsmaschinen seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Sinngesellschaft. Eine solche Gesellschaft ist heute psychisch, ökonomisch und kulturell um den Sinn gruppiert wie die alte Arbeitsgesellschaft um die Lohnarbeit. Und genau dieser Austausch des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betriebssystems macht das zweite Maschinenzeitalter nicht einfach zu einer Fortsetzung der Arbeitsgesellschaft, sondern tatsächlich zu etwas ganz Neuem.3

Unsere Arbeitswelt verändert sich ebenso rasant wie unsere Umwelt und die multiplen Krisen der Gegenwart erfordern eine drastische Anpassung unserer Politik, unserer Wirtschaft und unseres Lebensstils. Damit verbunden sind eine Vielzahl von Verunsicherungen und Ängsten. Die Menschen der Postmoderne sind erfüllt von spirituellen Bedürfnissen, sie sind auf der Suche nach Halt und Sinn.

Die Theologin Christina Brudereck schreibt: Materialismus und Konsum haben die Menschen nicht glücklich gemacht. […] Wissenschaft und Erklärbarkeit haben es auch nicht gebracht. […] Die Freiheit von allen Autoritäten, Institutionen und Traditionen bleibt zwar eine kostbare Errungenschaft, gleichzeitig wird der Wunsch nach familiärer Geborgenheit und bleibenden Werten wach. Enttäuscht suchen die hungrigen Seelen nach etwas, was wirklich satt macht. Ja, die Seele lässt sich nicht abspeisen. Sie hat noch andere Fragen. Ein Mensch will nicht nur wissen: Sehe ich gut aus? Habe ich Erfolg? Habe ich alles im Griff? Ein Mensch fragt auch: Woher komme ich? Wohin gehe ich? Wozu lebe ich? Wie werde ich eigentlich glücklich?4

Zugleich betont Brudereck zu Recht, dass die meisten postmodernen Menschen nicht mehr auf die Idee kommen, im Christentum nach Antworten zu suchen, und sie begründet dies wie folgt: Dass die Suchenden im Christentum keine Antwort vermuten, liegt nicht an den Suchenden, sondern an den Kirchen. Dass die Sehnsüchtigen nicht glauben, bei uns satt zu werden, liegt an uns, den Menschen, die das Christentum verkörpern. Dass der spirituelle Hunger in unseren Gottesdiensten und Gemeinschaften nicht gestillt worden ist, stellt zuallererst uns selbst infrage.5

Es scheint, als hätten wir in unseren westlichen Gesellschaften längst jenes Szenario, vor dem Jesus in der Bergpredigt ausdrücklich gewarnt hat: Ihr seid das Salz der Erde; wenn aber das Salz fade geworden ist, womit soll es gesalzen werden? Es taugt zu nichts mehr, als hinausgeworfen und von Menschen zertreten zu werden (Matthäus 5,13).

In seinem »Weckruf« an die christlichen Kirchen beschreibt Christoph Quarch diesen Zustand recht schonungslos: »Der Geist«, heißt es, »weht, wo er will«. Was mich besorgt, ist, dass er im real existierenden Christentum nun aber gerade nicht weht; ja womöglich gar nicht wehen will. Und dass deshalb die spirituelle Sehnsucht, der geistige Hunger, viele Menschen in ganz andere Richtungen treibt und drängt: in asiatische Religionen, in esoterische Welten, auf schamanische Weisheitswege; was alles gut und schön ist, nur eben nicht als Hoffnungsschimmer für die christliche Tradition verbucht werden kann. Denn vor dieser beugt sich eben – um eine Formulierung Hegels zu verwenden – das Knie nicht mehr. Vielmehr wird es von einem schrumpfenden und alternden Kreis von Anhängern bewahrt und von einem – irgendwann muss es ja mal gesagt sein – mediokren Kreis von »Kirchenverwesern« verwaltet. Es sind – ob es einem nun passt oder nicht – die konservativen Milieus, die den Kirchen die Stange halten; während die innovativen, kulturkreativen, zukunftsorientierten Teile unserer Gesellschaft ihre Sinnsuche anderenorts verfolgen. Und mir scheint, dass es angesichts dessen nur recht und billig ist, die Frage aufzuwerfen: Warum? Was ist hier los?«6

Was müsste geschehen, damit die Gemeinschaft der Christen zu neuer Kraft findet und ihre Botschaft wieder gehört wird? Nach meiner Überzeugung gibt es auf diese wichtige Frage nicht nur die eine Antwort, denn dafür ist das Phänomen des kirchlichen Verschwindens in die Bedeutungslosigkeit7 viel zu komplex. Und doch mag ein Grund darin liegen, dass die einzelnen »Salzkörner« in dieser Gemeinschaft fade geworden sind und ihre Kraft verloren haben.

Bedingt durch mein erstes Buch kenne ich inzwischen eine Vielzahl von Christen, die unter einem völlig verzerrten, Angst machenden Gottesbild leiden. Diese Frauen und Männer haben nie die Möglichkeit gehabt, sich bei Gott zu bergen und seiner Liebe zu vertrauen; sie fürchten Gott, ohne ihn zu lieben. Daneben aber gibt es auch Geschwister, die unter einem anderen, ebenso verzerrten Gottesbild leiden. Sie glauben an einen »lieben Gott«, der letztlich bereit ist, sowohl seinen Willen als auch sein göttliches Wesen aufzugeben, um nur für sie da zu sein und ihre Lebensträume zu erfüllen. Diese Frauen und Männer haben nie die Möglichkeit gehabt, sich vor Gott zu demütigen8 und seine Heiligkeit anzubeten; sie lieben Gott, ohne ihn zu fürchten. Und weil dies so ist, bleiben sie im schlimmsten Fall über viele Jahre auf einem Weg, der zum Verderben führt (Matthäus 7,13), im Vertrauen darauf, dass es ja schließlich Gottes Job ist, ihnen am Ende zu vergeben.

Ich möchte hier ausdrücklich betonen, dass es mir nicht zusteht, im Einzelfall darüber zu richten, bei wem dies tatsächlich der Fall ist. Auch bin ich eher geneigt, den Balken aus meinem eigenen Auge zu ziehen, bevor ich mich dem Splitter im Auge meines Nächsten zuwende (Matthäus 7,1-5). Und doch muss es – bei aller gebotenen Demut – möglich sein, aus Liebe darauf hinzuweisen, dass die Gefahr eines verkürzten, einseitigen und oberflächlichen Gottesbildes real ist. Ein solches Gottesbild führt dann in der Regel zu einem unverbindlichen und ungehorsamen Glaubensleben – und der Ausgang eines solchen Glaubens ist nach dem Zeugnis des Neuen Testaments zumindest ungewiss.

Gott als Butler und Therapeut

Zu den gegenwärtigen Verschiebungen in unserer Gesellschaft gehört, dass das Ich und dessen innere Befindlichkeit eine immer größere Bedeutung erlangen. Es kommt zu einer zunehmenden Individualisierung, Subjektivierung und Emotionalisierung, was wiederum auch im Bereich des Glaubens zu beobachten ist.

In ihrer wissenschaftlichen Studie zu den Glaubens- und Lebenswelten von Jugendlichen kommen Tobias Faix und Tobias Künkler zu dem Schluss: Wenn subjektives Wohlbefinden das größte Lebensziel ist, dann ist für gläubige Jugendliche das zentrale Anliegen des Glaubens folgerichtig, dass er ihnen dabei hilft, dieses Lebensziel zu erreichen. Gott greift nur dann in das Leben der Einzelnen ein, wenn diese ihn darum bitten. Dies ist meist dann der Fall, wenn sie Probleme haben oder es ihnen schlecht geht. Gott ist demnach eine Art Kombination aus göttlichem Butler und kosmischem Therapeuten: Er ist situativ verfügbar, um unsere Bedürfnisse zu erfüllen, und er verlangt nichts von uns. Vielmehr ist es sein Job, unsere Probleme zu lösen und dafür zu sorgen, dass es uns gut geht.9

Eine vergleichbare Studie zum Gottesbild der Erwachsenen gibt es leider noch nicht. Ich gehe jedoch stark davon aus, dass sie zu ähnlichen Ergebnissen kommen würde. Der Soziologe Hubert Knoblauch bringt die gegenwärtige, zunehmende Individualisierung und Subjektivierung unserer Spiritualität treffend auf den Punkt: Entscheidend für die Spiritualität ist nicht das Selbst als Objekt der Transzendenz. Zentral für die Spiritualität ist vielmehr das Selbst als Subjekt der Transzendenz.10 In einer solchen Spiritualität ist Gott dann nur noch selten bis nie der ganz andere, der Heilige und Fordernde.11 Die Botschaft von einem zornigen Gott lässt sich unmöglich integrieren, da sie das eigene Wohlbefinden stören würde. So kommt es, dass die Vorstellung vom Zorn Gottes laut dem Theologen und Philosophen Holger Zaborowski zu den Vorstellungen gehört, die innerhalb der zeitgenössischen Theologie nicht mehr so recht ihren Ort finden, die abseits stehen, hin und wieder, wie alte Bekannte, die uns fremd geworden sind, denen wir aber immer noch Höflichkeitsbesuche abstatten, aufgesucht werden, manchmal abgestaubt werden, aber kaum noch in den Blick geraten, wo es wichtig wird, wo es weh tun kann. Es passt nicht so recht, dass Gott – auch – zornig sein soll. Man stellt die in Bibel und Geschichte gut fundierte Rede vom Zorn Gottes unter Ideologieverdacht oder verdrängt und vergisst sie.12

Eben darum schreibe ich dieses Buch, denn diese Entwicklung erfüllt mich mit großer Sorge. Der katholische Theologe Jan-Heiner Tück betont zu Recht und treffend, dass die Unterschlagung des biblischen Zorn- und Gerichtsmotivs Gottes Reden erschreckend banalisieren kann: Die inflationäre Rede von einem lieben Gott, der allen alles verzeiht, korrespondiert nicht nur mit der Apathie gegenüber fremdem Leid, sondern auch mit der anhaltenden Tendenz zur Schuldverdrängung. Wer wäre nicht versiert in der Kunst, es nicht gewesen zu sein, die immer darauf hinausläuft, es andere gewesen sein zu lassen? Den latenten Unschuldswahn aber und die eingeübten Muster der Schuldabschiebung unterbricht die Botschaft vom Zorngericht Gottes. Wo diese Botschaft niedergehalten wird, degeneriert die Rede von Gottes Liebe leicht zur Phrase.13

Das hat katastrophale Folgen: für die Theologie (insbesondere für die Christologie, also die Lehre von der Person und Bedeutung Jesu, und die Soteriologie, die Lehre von der Erlösung), für die Praxis der Kirche (vor allem für die Verkündigung und die Seelsorge) und für das christliche Leben des Einzelnen (insbesondere für den Gehorsam gegenüber den göttlichen Geboten).

Dem Unbequemen nicht ausweichen

Nachdem ich zuerst die leidenschaftliche Barmherzigkeit Gottes kennengelernt habe, lerne ich in jüngster Zeit mehr und mehr, dass dieser Gott auch ein heiliger und gerechter Gott ist. Ein Gott, der zornig wird und der zu fürchten ist. Mit meiner jahrelangen Angst vor Gott hat dies nichts zu tun, denn die Angst vor einem unberechenbaren, grausamen Despoten ist etwas völlig anderes als die Ehrfurcht vor einem liebenden, sich selbst opfernden Vater, der in seiner Liebe zugleich heilig und gerecht ist. Furcht ist nicht in der Liebe, (1. Johannes 4,18), wie der Apostel Johannes betont, die Gottesfurcht jedoch schon, wie es der Apostel Petrus bezeugt: Wandelt die Zeit eurer Fremdlingschaft in Furcht! (1. Petrus 1,17).

Ich bin kein Kulturpessimist! Weder verachte ich die zahlreichen Errungenschaften der Aufklärung, die ich ja selbst täglich in Anspruch nehme, noch bin ich der Meinung, dass früher alles besser war. Das scheint mir wichtig zu betonen, damit ich für die folgende Beobachtung nicht Beifall aus den Kreisen erhalte, zu denen ich mich absolut nicht zugehörig fühle. Mir geht es auch gar nicht um Beifall, mir geht es schlicht darum, zu beschreiben, was ich gegenwärtig wahrnehme: Ich beobachte, dass sich in unserer Frömmigkeit mehr und mehr ein einseitiges, unbiblisches und undifferenziertes Gottesbild breitmacht, welches dazu führt, dass in unserer Christusnachfolge die Ehrfurcht vor Gott, die Notwendigkeit des Gehorsams sowie die Dringlichkeit der Evangelisation als »Rettung vor dem Zorn« verloren gehen.

Doch ich schreibe dieses Buch nicht in der Haltung eines belehrenden Besserwissers, sondern als jemand, der nachforscht und Fragen stellt – ganz im Sinne von Holger Zaborowski, wenn er betont: Wer nicht fragt, bleibt dumm. Schwere Fragen werden nicht dadurch beantwortet, dass auf die Frage verzichtet wird oder dass die Frage umformuliert oder entschärft wird, sondern dadurch, dass man sie als Antrieb zu neuerem, tieferem Suchen und Nachdenken versteht und dass man erkennt, dass manche Fragen sich nicht so beantworten lassen, wie wir es gerne hätten. Denn ansonsten wird die Gottes-Rede kitschig, naiv, wenn nicht sogar zynisch. Von Gott zu reden ist nicht leicht. Wer würde das Gegenteil behaupten?14

Auch wenn mir manche Antworten vermutlich schwerfallen werden und sie wohl immer nur ein Stück der Wirklichkeit erfassen können, so möchte ich mich in diesem Buch durch ein tieferes Suchen und Nachdenken den folgenden Fragen stellen:

Was wäre, wenn wir den heiligen und gerechten Gott der Bibel durch unsere heutige Frömmigkeit mehr und mehr weichgespült haben?

• Was wäre, wenn wir leidvolle Erfahrungen der Gegenwart (sowohl individuelles als auch kollektives Leid) nicht mehr ausschließlich auf das Schicksal zurückführen oder (in einem strengen Dualismus) auf den Satan, sondern auf einen zornigen Gott als den Verursacher dieses Leidens?

• Was wäre, wenn auch die reiche und verwöhnte Kirche des Westens unter eben diesem Zorn steht, weil sie seine Gebote missachtet und seinen Namen entehrt?

• Was wäre, wenn im Vertrauen auf Jesus Christus tatsächlich der einzige Weg liegt, um dem zukünftigen Zorngericht Gottes zu entgehen?

• Was wäre, wenn Gott sich am Ende durchsetzt, wenn er seinem Wesen und Willen treu bleibt und sich auch als der Liebende niemals in die Hände derer begibt, die er liebt?

• Was wäre, wenn wir die biblische Botschaft vom Zorn Gottes nicht länger verdrängen, sondern ihr erlauben, unsere Vorstellungen vom »lieben Gott« zu korrigieren?

Wenn Sie solche Fragen kennen und teilen, dann lade ich Sie ein, mir auf dem Weg durch die Bibel und die Kirchengeschichte zu folgen und gemeinsam mit mir zu überlegen, welche Konsequenzen aus den auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnissen zu ziehen sind. Gehören Sie aber zu jenen Christinnen und Christen, die sich innerlich ständig vor Gott geißeln in der irrigen Annahme, nicht gut genug zu sein, um von ihm geliebt zu werden, dann sollten Sie dieses Buch jetzt wirklich aus der Hand legen und sich stattdessen mit Gottes Gnade und Barmherzigkeit beschäftigen. Die biblische Botschaft vom Zorn Gottes ist der Schatten, den die Verkündigung seiner Liebe wirft – und Sie sollten zunächst vom Licht dieser Liebe erfüllt sein, bevor Sie sich dem Schatten zuwenden.

Unstimmige Gottesbilder

Am Ende sei noch bemerkt, dass aufmerksame Leserinnen und Leser meiner Bücher zu dem Schluss kommen könnten, dass ich in der Gesamtschau ein Gottesbild vermittle, welches in sich nicht schlüssig ist, da sich meine Ausführungen nur schwer oder gar nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen.

Dieser Schlussfolgerung möchte ich hier nicht widersprechen, ganz im Gegenteil: Mein Glaube an Gott gründet auf sein fleischgewordenes Wort, das er in Jesus, dem Sohn Gottes, gesprochen hat. Jesus Christus ist für mich das uns Menschen zugewandte Antlitz und Herz dieses Gottes – und eben darum vertraue ich ihm: weil ich auf Jesus sehe! Das bedeutet aber nicht, dass das Wesen des Gottes, der mir in Christus begegnet, in die kleinen Schubladen meines menschlichen Verstandes passt. Der Apostel Paulus betont:

Denn wir erkennen stückweise, und wir weissagen stückweise; wenn aber das Vollkommene kommt, wird das, was stückweise ist, weggetan werden. Als ich ein Kind war, redete ich wie ein Kind, dachte wie ein Kind, urteilte wie ein Kind; als ich ein Mann wurde, tat ich weg, was kindlich war. Denn wir sehen jetzt mittels eines Spiegels undeutlich, dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise, dann aber werde ich erkennen, wie auch ich erkannt worden bin.

1. Korinther 13,9-12

Das hier beschriebene Vollkommene meint nicht etwa die Fertigstellung des biblischen Kanons, sondern die Wiederkunft des Herrn, Jesus Christus. Bis zu dieser Wiederkunft bleibt meine Gotteserkenntnis ein unvollkommenes und verschwommenes Stückwerk. Auch verwehrt mir die Offenbarung Gottes, den in ihr erkannten Gott in ein einheitliches, harmonisiertes Bild zu pressen. Der in der Geschichte handelnde, lebendige Gott widersetzt sich meinen Bestrebungen, ihn mit meiner Logik zu durchdringen und einzuordnen.

Darauf verweist auch der Theologe Walter Dietz, wenn er schreibt: Der Begriff des Zornes Gottes belegt die Nichtintegrierbarkeit Gottes in ein menschliches Wunschbild vom »lieben Gott«. Vielmehr ist Gott in seiner Heiligkeit und Macht nur im Horizont der Demut angemessen zu fassen, und zwar in dem Bewusstsein, ihn nicht fassen zu können (denn wenn du meinst, ihn begriffen zu haben, ist es nicht Gott).15

Ebenso finde ich mich bei dem Alttestamentler Walter Groß wieder, der betont, dass die Vereinbarkeit unserer Gottesbilder sich nicht in einem übergeordneten Gottesbild äußert. Dass es noch der einzige Gott ist, den wir in vielen Bildern vergegenwärtigen, ist einerseits zentrale Überzeugung, auch zentrale Bürde des biblischen Monotheismus, hat andererseits seine Basis in der kontinuierlichen Glaubenserfahrung der einen Gemeinschaft – Israel, Kirche – mit diesem Gott.16

Als Teil dieser Gemeinschaft habe auch ich Glaubenserfahrungen gemacht, die mich veranlassen, diesen einen Gott anzubeten und ihm vertrauensvoll zu dienen. Und es ist mein tiefer Wunsch und mein Gebet, dass noch viele Menschen den Gott kennenlernen, der diese Welt so sehr liebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat (Johannes 3,16).

Volker Halfmann im Februar 2022

Teil I:

Biblischer Befund

Exkurs:

Das menschliche Beschreiben Gottes

Ein peinlicher Gott?

Zorn ist eine zutiefst menschliche Eigenschaft. Jeder Mensch macht im Laufe seines Lebens eine Erfahrung mit dem Zorn, sei es, dass er selbst zornig wird oder dass ihn der Zorn eines seiner Mitmenschen trifft. Laut dem Duden ist Zorn ein heftiger, leidenschaftlicher Unwille über etwas, was jemand als Unrecht empfindet oder was seinen Wünschen zuwiderläuft.17 Wikipedia beschreibt den Zorn als einen Zustand starker emotionaler Erregung (Affekt) mit unterschiedlich aggressiver Tendenz, der zum Teil mit vegetativen Begleiterscheinungen verknüpft ist.18

Zorn hat eine Innen- und eine Außenseite: Eine starke innere Erregung führt zu äußeren Handlungen. Jan-Heiner Tück nennt drei verschiedene Dimensionen, in denen der menschliche Zorn zum Ausdruck kommt: Zorn kann zunächst ein unkontrollierter und impulsiver Affekt sein. Ein unbedeutendes Ereignis, das als ärgerlich oder störend empfunden wird, veranlasst eine cholerische Reaktion, die sich zu blindem Wüten steigern kann. […] Darüber hinaus kann Zorn aber auch Ausdruck einer Normverletzung sein. Hier ist die affektive Reaktion nicht maßlos und ungehemmt, sondern an den Gedanken der gerechten Vergeltung gebunden. […] Der Zorn ist gestillt, sobald der Forderung Genüge getan ist. Im pädagogischen Kontext schließlich kann Zorn auch im Horizont größeren Wohlwollens vorkommen. Wenn Kinder etwas tun, was sie unter keinen Umständen tun sollen, reagieren Eltern erzürnt – nicht, weil sie ihre Kinder nicht lieben, sondern gerade, weil sie sie lieben. […] Im Horizont der Liebe wird Zorn zum pädagogischen Vehikel von Besserung und Reifung.19

In der Psychoanalyse wird der Zorn (ebenso wie der Groll und die Scham) zu den narzisstischen Gefühlszuständen gezählt. So schreibt Heinz Weiß: Während im Groll der Blick in anklagender Weise von unten nach oben gerichtet ist, sieht sich der Beschämte einem Objekt gegenüber, das in demütigender Absicht auf ihn herabblickt. Im Zorn ist der Blick dagegen von oben nach unten gerichtet: Das Individuum nimmt eine überlegene Position ein, von der aus es urteilt und richtet.20 Zorn ist hier Ausdruck einer tiefen Kränkung und dient der Vermeidung von Schuldgefühlen (Konflikte um Trauer und Schuld werden umgangen).

Wie aber soll es dann möglich und angemessen sein, Gott die menschliche Eigenschaft des Zorns zuzuschreiben? Ist Gott etwa ein unbeherrschter und unberechenbarer Narzisst? Verkleinern und entehren wir nicht das Bild und den Namen Gottes, wenn wir ihm so menschlich-allzumenschliche Eigenschaften wie Zorn, Eifer, Rache, Ungehaltenheit und dreinfahrende Gewalttat zuschreiben?, fragt Aurel von Jüchen. Haben wir es in den biblischen Äußerungen, die in dieser Weise von Gott sprechen, nicht wirklich mit Vorstellungen zu tun, die sich Gott in kindlicher und allzu einfältiger Weise wie einen Menschen mit menschlichen Empfindungen und Ausbrüchen vorstellen?21

Gerade die biblische Botschaft vom Zorn Gottes regt dazu an, die anthropomorphe, also menschenähnliche Redeweise über Gott grundsätzlich infrage zu stellen, wirkt sie doch heute meist befremdlich oder gar peinlich.

In die lange Kette der Kritiker eines zornigen Gottes reiht sich auch der Philosoph Peter Sloterdijk ein: Die Befremdlichkeit des Evangeliums für das Publikum von heute reicht weit über das Zugeständnis des Paulus hinaus, die Rede vom Christus sei für die Juden ein Ärgernis und für die Griechen eine Torheit. Jenseits von Torheit und Ärgernis bezeichnet Peinlichkeit die Seinsweise des Religiösen in heutiger Zeit. Seit geraumer Weise hat sich das religiöse Empfinden in die Intimzonen der Psyche zurückgezogen und wird als das eigentliche Pudendum [der eigentliche Schambereich, Anm. des Autors] der Moderne wahrgenommen. Der Mensch nach der Aufklärung müßte eine breite Schwelle aus Verlegenheit überqueren, um ernsthaft noch von der Frage nach ›jenem höheren Wesen, das wir verehren‹ berührt zu werden. Theologen reagieren auf diese Situation gern mit dem tiefschürfenden Hinweis, der moderne Mensch lebe eben in der ›geschichtlichen Situation der Gottesferne‹. Doch schon das Wort ist falsch gewählt. Das Problem zwischen Gott und den Heutigen liegt nicht darin, daß sie ihm fern wären. In Wahrheit müßten sie zulassen, daß er ihnen zu nahe träte, sollten sie seine Angebote ernst nehmen. An keiner Eigenschaft des Gottes der Theologen läßt sich das besser zeigen als an der peinlichsten unter allen: seinem Zorn.22

Will man sich diesem Urteil sowie der grundsätzlichen Kritik am anthropomorphen Reden über Gott nicht anschließen, so hat man erst einmal grundsätzlich zu klären, inwieweit es gerechtfertigt ist, menschlich von Gott zu reden.

Die Menschwerdung Gottes

Zunächst ist mit Walter Groß festzuhalten, dass die metaphorische Rede von Gott unverzichtbar ist: Die meisten unserer Gottesaussagen sind in einem diffusen oder auch in einem sehr reflektierten Sinn metaphorisch mit bestenfalls analogem Aussagekern. Das gilt jedoch für alle inhaltlichen Varianten von Aussagen über Gott, zumal wenn wir ihm aus unserem Lebenskontext bekannte Handlungen oder Eigenschaften zusprechen. Metaphorische Rede ist in diesen Fällen kein gegenüber begrifflicher Rede defizienter Modus, sondern eine für diesen Bereich unverzichtbare Weise der sprachlichen Wirklichkeitserfassung mit eigenen Leistungen und eigenen Kriterien.23

Dort, wo Gott sich offenbart, wo er sich zu erkennen gibt, um in die Geschicke und die Geschichte der Menschen einzugreifen, dort ist der Mensch herausgefordert, diese erfahrene Offenbarung verständlich zu beschreiben. Und da es dem Menschen nicht möglich ist, göttlich von Gott zu reden, muss er dies menschlich tun, mithilfe seiner eigenen Worte, Bilder und Erfahrungen. Walter Groß formuliert diesen Sachverhalt so: Der Mensch kann von Gott nur sprechen, indem er Ungöttliches von ihm aussagt, denn alle unsere Kategorien sind der erschaffenen Gegenstandswelt entnommen. Daher kann keine Aussage Gott wirklich treffen, schon gar nicht kann sie ihn umfassend ins Wort bringen. Unsere Gottesaussagen sind auch deswegen stets perspektivisch und partiell, weil sie nicht Gott selbst, sondern von Menschen je und je gemachte Gotteserfahrungen formulieren, allerdings in der Überzeugung, Gott nicht ganz zu verfehlen.24

Fragt man weiter, ob diese anthropomorphe Redeweise von Gott angemessen ist, ob sie also Gott gerecht wird, so kann man mit Kierkegaard darauf verweisen, dass Gott selbst als Menschzur Welt gekommen ist und sich in der Grammatik des menschlichen Selbstvollzugs zur Sprache gebracht hat.25 Kierkegaard schreibt in seinen Tagebüchern: Man eifert so sehr gegen den Anthropomorphismus und denkt nicht daran, dass Christi Geburt der größte und bedeutungsvollste ist.26

Völlig zu Recht betont Eberhard Jüngel: Kommt in den biblischen Texten zur Sprache, daß Gott zur Welt kommt, und erreicht die Geschichte des Zur-Welt-Kommens Gottes nach dem Verständnis der neutestamentlichen Evangelien ihr Ziel im Zur-Welt-Kommen des Menschen Jesus und in seiner Geschichte in dieser Welt, dann kann die anthropomorphe Eigenart menschlicher Rede von Gott sachlich nicht verfehlt sein.27 Positiv formuliert lässt sich somit festhalten, dass das menschliche Beschreiben Gottes seiner Selbstmitteilung in Jesus Christus entspricht: Gott entäußerte sich und nahm Knechtsgestalt an, indem er den Menschen gleich geworden ist, und der Gestalt nach wie ein Mensch befunden (Philipper 2,7).

In dieselbe Richtung argumentiert Wilfried Härle, wenn er verdeutlicht, dass wir mit unserer Sprache lediglich Geschaffenes bezeichnen können. Und auch Gott zeige sich uns ja durch die Schöpfung. Zudem seien seine Spuren in der Geschichte zu erkennen und Jesus Christus selbst sei das Ebenbild und sichtbare Spur des sichtbaren Gottes in unserer Welt. Und eben dies ist zugleich die Begründung dafür, dass wir die Worte, Begriffe, Bilder, mit denen wir Geschöpfliches bezeichnen, trotz ihrer Unangemessenheit auf Gott anwenden dürfen, erklärt Härle. Und dabei sind gerade die personalen Symbole und Metaphern dem Wesen des göttlichen Heilshandelns besonders angemessen. Durch die personalen Begriffe wird deutlich, dass Gott uns nicht nur dinglich oder mechanisch, sondern worthaft (nämlich durch Gesetz und Evangelium) begegnet, anredet, ruft und eben so mit uns als Personen verkehrt.28

Zorn setzt in Beziehung

Aufgrund dieses Heilshandelns Gottes ist es dann auch angemessen und legitim, vom »Zorn Gottes« im Sinne einer persönlichen Beziehungsmetapher zu sprechen. Die biblischen Autoren beschreiben Gott eben nicht abstrakt in seinem So-Sein, sondern vielmehr als einen personalen Gott, der zu uns Menschen in Beziehung tritt. Das bringt Walter Groß so auf den Punkt: Die Bibel erwähnt nur selten Eigenschaften Gottes, wie heilig, gerecht, eifersüchtig, barmherzig, langmütig. Wenn vom Zorn Gottes die Rede ist, geht es – wie fast durchwegs in biblischen Gottesaussagen – nicht um eine zeitlose, unveränderliche Eigenschaft Gottes – Unveränderlichkeit ist ohnehin keine biblische Gottes-Kategorie –, sondern es geht um vergangene, gegenwärtige oder zukünftige Taten Gottes, d. h., um menschliche Erfahrungen mit Gott und deren Extrapolation.29

Aurel von Jüchen argumentiert ähnlich, wenn er sagt, dass Gott handle, weil er Person sei. Gleichzeitig bezeuge er sich als Person, indem er an und mit uns handle. Darum finden wir nirgendwo in der Bibel eine meditative Überlegung über das Wesen Gottes. Auf jeder Seite, ja fast kann man sagen, in jeder Zeile spricht sie vom Handeln Gottes. Wir erfahren nichts über sein An-sich-Sein, aber durch sein Handeln bezeugt er uns überwältigend sein Für-uns-Sein. Nur in dem lebendigen Für-uns-Sein erfahren wir das An-sich-Sein Gottes, so wie Kinder aus der Liebe, aus der täglichen, tätigen Sorge das Wesen von Vater und Mutter erfahren. Daher kommt es, daß die Bibel, wo sie von Gott spricht, in jener erstaunlichen Fülle von Tätigkeits-Wörtern von ihm redet.30

Und auch der Theologe Carsten Wuttke betont die Notwendigkeit anthropomorpher Redeweise als Beziehungsmetapher: Alles in allem kann so durch anthropomorphe (oder präziser: personale) Aussagen über Gott theologisch zum Ausdruck gebracht werden, dass dieser Gott selbst ein »Beziehungssuchender« ist, der den intensiven Kontakt mit dem Menschen wünscht – ohne dass durch eine solche sprachliche Annäherung seine Unverfügbarkeit in Frage gestellt würde.31

Die Grenzen bleiben klar

Dieser qualitative Unterschied ist somit auch bei der biblischen Rede vom göttlichen Zorn vorauszusetzen. Zu diesem Ergebnis kommt Jörg Jeremias in seinen Studien zum Zorn Gottes im Alten Testament: In einer Fülle von Belegen aus der Sekundärliteratur wird – selten explizit, meist implizit – die irrige Ansicht vertreten, dass Gottes Zorn im Alten Testament durch die gleichen Eigenarten gekennzeichnet sei wie menschlicher Zorn. Jedoch werde aus den alttestamentlichen Texten klar, dass bei der Übertragung des Begriffs auf Gott die im menschlichen Kontext abstoßenden Elemente weitestgehend fremd seien oder in den Hintergrund träten: die überempfindliche Verletzlichkeit, mit der Menschen »außer sich« geraten; die blinde Wut, in der sie das eigene Handeln nicht mehr zu kontrollieren vermögen und blindlings dreinschlagen; die Amoralität und Gesetzlosigkeit des Handelns, mit der Menschen im Zorn sich selbst absolut setzen, übliche Maßstäbe überschreiten und alle Regeln verletzen. Gottes Zorn ist für die überwiegende Mehrzahl alttestamentlicher Texte sorgsam begründet durch exzessive menschliche Schuld, in wenigen anderen Fällen dem Menschen zwar unbegreiflich schmerzlich, aber deshalb keineswegs außerhalb der Moral.32

In einem Artikel des Theologischen Wörterbuches zum Neuen Testament kommt Johannes Fichtner zu derselben Schlussfolgerung, wenn er mit Blick auf das Alte Testament betont, dass das starke Abstandsgefühl des alttestamentlichen Frommen gegenüber seinem Gott und die tiefe Einsicht in das Wesen des göttlichen Zornes die Gefahr banne, durch allzu starke Anthropopathismen die Grenzen zwischen Gott und Mensch zu verwischen […]. Damit ist seine Abgrenzung gegenüber dem menschlichen Zorn gegeben, der seine Wurzel vorwiegend in dem selbstherrlichen Ich des Menschen hat.33

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das menschliche Beschreiben Gottes seiner Selbstoffenbarung in Christus entspricht. In der Bibelauslegung ist dieses menschliche Beschreiben unumgänglich, weil es die Bezüge zur Welterfahrung des Menschen braucht, wie Jürgen von Oorschot erklärt. Zugleich ist dieses biblische Reden über Gott mehr als nur eine Notlösung. Die breite und an zentralen Stellen zu findende Verwendung anthropomorpher Redeweise machen vielmehr deutlich, dass der Anthropomorphismus in diesen Traditionen nicht als hermeneutisches Übel, sondern als theologisch gewolltes Element der Rede von Gott verstanden wird.34

Laut Aurel von Jüchen ist es ein hoffnungsloses Beginnen, den christlichen Gottesbegriff von den sogenannten »Anthropomorphismen« zu trennen und zu »reinigen«. Nehmt ihr Gott die willenhafte, tathafte, lebendige Weise, sich zu äußern, die die Bibel auf jeder Seite bezeugt, so vernichtet ihr seine Personhaftigkeit, vernichtet ihr ihn selbst.35

Wer aber nun meint, insbesondere die biblische Rede vom Zorn Gottes als eine veraltete, naive, allzu menschliche Vorstellung tilgen zu müssen, der muss sich darüber im Klaren sein, dass er mit allen anderen anthropomorphen Aussagen über Gott ebenso zu verfahren hat, wie Ludger Schweinhorst-Schönberger verdeutlicht. Nicht selten kann man in der zeitgenössischen Verkündigung und Theologie beobachten, dass von der Rede vom Zorn Gottes gesagt wird, sie sei nicht wörtlich, sondern »nur« metaphorisch zu verstehen; gleichzeitig aber spricht man mit großer Emphase und vermeintlichem Wissen von der Liebe und vom Erbarmen Gottes. Eine solche Unausgewogenheit in der Gottesrede mag gut gemeint sein, sie ist aber unglaubwürdig, weil sie der Erfahrung nicht standhält, sie ist zudem unbiblisch, weil sie große Passagen der biblischen Gottesrede unter den Tisch fallen lässt, und schließlich ist sie unredlich, weil sie vor dem abwägenden Urteil der Vernunft nicht bestehen kann.36

Ohne Zorn Gottes keine Liebe und Barmherzigkeit Gottes!

Kapitel 1:

Die Botschaft vom Zorn Gottes im Alten Testament

Zur Auswahl und Darstellung der alttestamentlichen Texte

Exklusiv oder inklusiv?

Will man die Botschaft vom Zorn Gottes im Alten Testament gewissenhaft darstellen, so ist zunächst einmal zu klären, ob man sich dabei auf die Stellen beschränken sollte, in denen der göttliche »Zorn« ausdrücklich erwähnt wird. Oder ist es wichtig und angemessen, auch die Stellen zu berücksichtigen, die den Begriff »Zorn« zwar nicht verwenden, ihn aber in seinen typischen Äußerungen und Auswirkungen eindeutig beschreiben (etwa bei der Sintflut-Erzählung oder den Strafandrohungen des Propheten Amos)?

Beschränken wir uns auf die Texte, die wortwörtlich vom göttlichen »Zorn« reden, sind wir von der Auslegung her in sicherem Fahrwasser. Allerdings könnte es sein, dass dadurch einzelne Aspekte der Botschaft vom Zorn Gottes außer Acht gelassen werden. Die exegetische Sicherheit könnte das Gesamtbild verengen. Beziehen wir auf der anderen Seite auch solche Stellen mit ein, in denen der Zorn Gottes zwar beschrieben, aber nicht explizit genannt wird, so weitet sich das Bild zunächst. Auf der anderen Seite kann diese Vorgehensweise dazu führen, dass der zu erfassende Sachverhalt zu verschwimmen droht: Das Bild wird unscharf.

Um eine solche Unschärfe zu vermeiden, werde ich mich in der folgenden Darstellung überwiegend auf Texte beziehen, in denen der Zorn Gottes ausdrücklich genannt wird. An einigen wenigen Stellen jedoch scheint es mir – um des Gesamtbildes willen – ratsam, auch solche Texte mit einzubeziehen, die den göttlichen Zorn klar und eindeutig beschreiben, ohne ihn beim Namen zu nennen.

Historisch oder thematisch?

Noch ein weiterer Punkt ist zu klären: In welcher Form und nach welchem Schema soll es um die ausgewählten alttestamentlichen Texte gehen? Diese Frage ist darum so wichtig, weil jede Form der Darstellung in sich bereits eine Interpretation bedeutet. Ähnlich wie beim Erstellen eines Blutbildes sind die vorher eingestellten Suchparameter dafür verantwortlich, was man am Ende herausfindet und was nicht.

Jörg Jeremias orientiert sich bei seinen Ausführungen an der Gattung der alttestamentlichen Bücher sowie an deren Entstehungsgeschichte. Er beschreibt die Rede vom göttlichen Zorn zuerst in den Psalmen, dann in den Klageliedern, im Deuteronomistischen Geschichtswerk und zuletzt bei den Propheten. Ein ähnlich historisches Schema liegt dem Buch Der zornige Gott von Ralf Miggelbrink zugrunde. Auch Miggelbrink differenziert zwischen den Anfängen des Zorn-Gedankens, der deuteronomistischen Zorn-Gottes-Theologie, der prophetischen Rede vom Gotteszorn sowie den Ausführungen zum Zorn Gottes im weisheitlichen Schrifttum.

Eine deutlich andere, stärker inhaltliche, Gliederung findet sich in der biblisch-dogmatischen Studie von Rudolf Bartholomäi aus dem 19. Jahrhundert.37 Er betrachtet erstens die Stellen, in denen Gott selbst über den Zorn spricht (2. Mose 32,10; Psalm 95,11; Jesaja 60,10 und andere). Aus diesen und weiteren Stellen ergibt sich für ihn, dass die Rede vom Zorn Gottes nicht nur eine auf Gott angewandte, willkürlich menschliche Redeweise ist, welcher keine objective Wahrheit zu Grunde läge; nichts berechtigt uns, anzunehmen, daß es im blos figürlichen Sinne geredet ist.38 Vielmehr steht für Bartholomäi fest: Wir können nicht umhin, wenn Gott von seinem Zorn selber redet, es sei durch Moses oder Jesaja oder deren Einen, ja gerade durch allerlei Stimmen, in allerlei Zeiten, anzunehmen, daß es laut der Schrift wirklich und wahrhaftig einen göttlichen Zorn giebt, der dem menschlichen Affekt so ähnlich und so unähnlich ist, als der Mensch ursprünglich und jetzt seinem Gott.39 Zweitens nennt Bartholomäi jene alttestamentlichen Texte, in denen es die Menschen sind, welche den Zorn Gottes fühlen und erkennen und nennen. So gibt es im Alten Testament zahlreiche Stellen, in denen die Gerechten den Zorn Gottes fürchten, ihm Recht geben wider ihre Sünden, und die Gottlosen ihn erfahren.40 Drittens betrachtet Bartholomäi die Auswirkungen des göttlichen Zorns, viertens die Modalitäten des Zornes Gottes und fünftens die Terminierungen der göttlichen Zornesoffenbarungen.

Eine stärker inhaltlich orientierte Übersicht bietet auch Jan-Heiner Tück, indem er zwischen vier unterschiedlichen Dimensionen des göttlichen Zornes unterscheidet: Zunächst gibt es mit der Sintfluterzählung im Buch Genesis ein göttliches Straf- und Vernichtungshandeln, das sich auf die ganze Menschheit erstreckt. […] Eine zweite Dimension alttestamentlicher Zornesaussagen bezieht sich auf Israel und die Fremdvölker. […] Eine dritte Dimension des Zorns bezieht sich auf Jerusalem, die Stadt des Tempels. […] Vor allem die Psalmen bringen viertens das Geschick Einzelner ins Wort, die vom Zorn heimgesucht und an die Schwelle des Todes gebracht werden.41

Im Unterschied zu den Arbeiten von Jeremias und Miggelbrink liegt den Ausführungen von Bartholomäi und Tück also eine Systematik zugrunde, die sich viel stärker an den Inhalten der Texte orientiert und weniger an ihrer Entstehungszeit. Beide Vorgehensweisen haben sowohl ihre Berechtigung als auch ihre Gefahren. Die rein entstehungsgeschichtliche Betrachtung der Texte bietet die Möglichkeit, eine Entwicklung in der Rede vom Zorn Gottes darzustellen: Die frühen Texte sprechen anders vom zornigen Gott als die späteren, nachexilischen Texte. Die Unsicherheit dieses Ansatzes besteht jedoch in einer allzu vorschnellen Festlegung bezüglich der Entstehungszeit der einzelnen biblischen Bücher. Zumindest sollte man zur Kenntnis nehmen, dass die weit verbreitete Theorie zu den Quellen des Alten Testamentes sowie zu deren Entstehungszeiten nicht so gesichert ist, wie manche Theologen dies suggerieren. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die Kapitel 40 bis 66 des Propheten Jesaja, die in der Regel als Deuterojesaja (Kapitel 40-55) und Tritojesaja (Kapitel 56-66) bezeichnet werden. Wann diese Kapitel entstanden sind, ist bis heute nicht eindeutig zu klären.

Die stärker inhaltlich orientierte Darstellung der alttestamentlichen Aussagen zum Zorn Gottes bietet den Vorteil, mit der Wiedergabe der einzelnen Texte zugleich auch deren systematische Einordnung zu liefern. Doch die Gefahr liegt auf der Hand: Wer sagt, dass die vorgegebene Einordnung die einzig mögliche ist? Im schlimmsten Fall könnte eine solche Vorgehensweise den Blick für die Intention der biblischen Aussagen vollständig vernebeln. Hier gilt, was Ralf Miggelbrink betont: Der Systematiker darf nicht schon im Voraus zur Begegnung mit dem biblischen Text wissen, welches dessen Botschaft ist. Er hat sich als Deutender und Suchender den geschichtlich gewordenen Objektivationen der göttlichen Selbstmitteilung im biblischen Text zu stellen als einer Wirklichkeit, die zum eigenen Glaubensleben in Beziehung treten muß. Es darf nicht darum gehen, von einem zementierten Vorverständnis aus die Bibel zu zensieren. Vielmehr muß es darum gehen, daß der biblische Text und die in ihm geronnene Erfahrungsgeschichte zu einem Fortschritt des eigenen Glaubenslebens führen kann. Zu einem solchen Fortschritt gehört immer die Zerstörung festgefahrener Seh- und Deutegewohnheiten. Fortschritt der Erkenntnis gründet immer in der Infragestellung der Gültigkeit bis dahin fragloser Erkenntnisse.42

Ich habe mich dennoch mit Bartholomäi und Tück dazu entschlossen, die alttestamentlichen Aussagen zum Zorn Gottes stärker inhaltlich zu strukturieren. Diese Vorgehensweise ist jedoch nicht der Ausdruck eines zementierten Vorverständnisses, sondern das Ergebnis eines langen, intensiven Studiums dieser Texte. Um einen guten Überblick über die Botschaft vom Zorn Gottes im Alten Testament zu erhalten, scheint mir eine inhaltliche Gliederung sinnvoller und hilfreicher zu sein als eine Darstellung, die sich an der Entstehungsgeschichte der Texte orientiert.

Zur Terminologie des Zorns

Das Alte Testament redet weitaus mehr vom Zorn Gottes als vom Zorn des Menschen. Johannes Fichtner stellt fest: