Der Mächtigen Zähmung - Frank Herrmann - E-Book

Der Mächtigen Zähmung E-Book

Frank Herrmann

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Beschreibung

Faire Löhne, nachhaltige Produkte, klimaneutrales Wirtschaften – viele Konzerne geben vor, die Umwelt zu schützen und Menschenrechte einzuhalten. Doch zwischen Versprechen und Realität klaffen meist große Lücken, globale Ungleichheiten nehmen weiter zu. Die Politik hat diese Entwicklungen begünstigt. Jahrzehntelang hat sie auf Eigenverantwortung der Unternehmen und ihr freiwilliges Engagement gesetzt. Frank Herrmann ist überzeugt: Freiwilligkeit reicht nicht. Wir brauchen mehr Anreize für nachhaltiges Handeln, höhere Standards und bessere Möglichkeiten, Regelverstöße auch zu ahnden. Ein Plädoyer für entschiedenes politisches Handeln, das Ausbalancieren von Wirtschaftsmacht und das Übernehmen von Verantwortung.

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Frank Herrmann
Der MächtigenZähmung
Warum Konzerneklare Spielregeln brauchen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© 2022 oekom verlag, Münchenoekom – Gesellschaft für ökologische Kommunikation mbHWaltherstraße 29, 80337 München
Umschlaggestaltung: Jorge SchmidtUmschlagabbildung: Shutterstock / B CalkinsLektorat: Konstantin GoetschelInnenlayout & Satz: Ines SwobodaKorrektorat: Maike SpechtFürs Lesen und Kommentieren geht ein besonderes Dankeschön an Martina Hahn und Simone Schils.
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
Alle Rechte vorbehaltenISBN 978-3-96238-808-9
Dieses Buch richtet sich an alle Geschlechter gleichermaßen und bemüht sich um eine geschlechtsneutrale Sprache. Leider ist dies aus Gründen der Lesbarkeit nicht immer möglich, sodass in diesem Buch vorrangig die männliche Form benutzt wird. Sämtliche Personenbezeichnungen beziehen sich auf Personen jeglicher Geschlechtsidentität.
Ich widme dieses Buch der ärmeren Hälfte der Menschheit, die nur ein kleines Stück vom Wohlstandskuchen abbekommen hat. Sie leidet unter dem ausschweifenden Lebensstil einer Minderheit, die weit über ihre Verhältnisse lebt. Sie leidet unter Konzernen, die sie lediglich als unerschöpfliches Reservoir an billigen Arbeitskräften sehen und die ihre Ressourcen plündern. Und sie leidet unter den Folgen des Artensterbens und des Klimawandels, zu deren Entstehen sie kaum etwas beigetragen hat.All diese Menschen haben eine bessere Zukunft verdient.

INHALT

Einleitung
1Globale Unternehmen
Viele Freiheiten, wenig Verantwortung
2Ethik, Moral und Freiwilligkeit
Was Konzerne tun – und was nicht
3Das verwaiste Ruder
Die Rolle der Politik
4Zivilorganisationen
Mehr als nur ein Stachel
5(Globales) Gleichgewicht
Wege zu mehr Ausgewogenheit
Ausblick
Anmerkungen
Über den Autor

Einleitung

Fühlen Sie sich auch nicht wirklich ernst genommen, wenn Konzerne vollmundig tönen, wie wichtig ihnen Nachhaltigkeit, Klimaschutz, faire Löhne und Menschenrechte sind – Investigativreporter und Umweltorganisationen dann jedoch das Gegenteil berichten? Wenn sich etwa Bayer und BASF als Vorreiter in Sachen Umweltschutz aufführen – aber weiterhin weltweit Pflanzengifte verkaufen, die in der Europäischen Union längst verboten sind; wenn die Deutsche Bank wieder mal erklärt, endlich sauber zu arbeiten, aber regelmäßig wegen Marktmanipulation zu hohen Geldbußen verdonnert wird; oder wenn Wissenschaftler von Energiekonzernen wie ExxonMobil oder Shell bereits in den 1960er-Jahren auf die negativen Folgen der Erdölförderung für das Weltklima hinwiesen, die Unternehmen aber diese Informationen des Profits willen jahrzehntelang abstritten? Das sind nur einige Beispiele, die zeigen, wie wenig Verantwortung viele Unternehmen übernehmen – trotz anderslautender Versprechen und Ankündigungen. Besonders große und transnationale Unternehmen überbieten sich mit umfangreichen Nachhaltigkeitsberichten, vielfältigen Zertifizierungen, hübschen Websites, Multistakeholder-Initiativen und freiwilligen Selbstverpflichtungen. Die Versprechen lauten etwa, kein Mikroplastik in Kosmetikartikeln zu verwenden, keine Wälder für Palmöl zu roden, nur nachhaltig gefangenen Fisch anzubieten, saubere Dieselmotoren einzubauen oder klimaneutral zu produzieren. Immer höhere Summen fließen in die Werbung, die sich redlich müht, Bilder einer heilen Welt zu projizieren, die es so nicht mehr gibt und oft auch nie gab.
Doch hinter dem PR-Feuerwerk bröckelt ganz oft die Fassade. Sie gibt den Blick frei auf eine Welt schwammiger bis nicht vorhandener Nachhaltigkeitsziele, auf unzureichendes Engagement beim Klima- und Umweltschutz sowie bei der Einhaltung von Menschenrechten. Die Realität hat meist wenig gemein mit den Versprechen der Konzerne. Einer Studie zufolge betreiben fast die Hälfte der befragten deutschen Vorstände und Nachwuchsführungskräfte Nachhaltigkeit lediglich aus Marketinggründen. Der überwiegende Teil von ihnen sieht das Thema vorrangig als Reputationsrisiko an, das es zu managen gelte.1
Die Leidtragenden sind viel zu oft die Menschen am Anfang der globalen Lieferketten, meist auch die Schwächsten und mitunter auch die Jüngsten in den oft armen Erzeugerländern: Sie ernten die Rohstoffe für unsere Lebensmittel oder produzieren unsere Konsumgüter – für Hungerlöhne. Moderne Sklaverei, etwa indische Hausmädchen in arabischen Ländern oder nicaraguanische Erntehelfer auf Ananasplantagen in Costa Rica; digitale Tagelöhner, also Menschen, die freiberuflich um über das Internet vermittelte, schlecht bezahlte Arbeiten – etwa für Meta oder Amazon – konkurrieren, und Kinderarbeit auf den Kakaoplantagen Westafrikas oder den Kaffeefeldern Mittelamerikas sind leider keine Ausnahme. Das Geschäftsgebaren der Konzerne zeigt: Noch immer haben Profit und Shareholder-Value Vorrang vor menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, Umwelt- und Klimaschutz.
Denn große Konzerne haben viele Freiheiten. Das hat ihnen eine Globalisierung ermöglicht, die schlichtweg unzureichend reguliert wird. Die Weltgemeinschaft hat ihnen mit einer Mischung aus Faszination und Gleichgültigkeit dabei zugeschaut, wie sie immer größer und mächtiger wurden und ein »Imperium der Schande«2 errichtet haben, wie es der Globalisierungskritiker Jean Ziegler in seinem gleichnamigen Buch nennt. Mit der Folge, dass immer weniger Konzerne das Marktgeschehen kontrollieren und die globalen Lieferketten dominieren.
Politikerinnen und Politiker haben es als demokratisch gewählte Volksvertreter eigentlich in ihrer Hand, auch große Unternehmen in die Schranken zu weisen. Doch meist lässt die nationale wie internationale Politik die Zügel locker, setzt auf die Eigenverantwortung der Unternehmen und befürwortet freiwilliges Engagement statt klarer Vorgaben. Die Unternehmen wiederum freuen sich über die laxe Hand der Politik, garantiert sie ihnen doch »business as usual« und lässt sie Jahr für Jahr Milliarden sparen. Denn existenzsichernde Löhne, Klimaschutz und Kläranlagen kosten Geld. Während ein großer Teil der Unternehmensüberschüsse in Bonus- und Dividendenzahlungen fließt, überlässt man es gerne dem Steuerzahler, ökologische und soziale Kosten zu begleichen.
Den Machtzuwachs großer Konzerne und ihr Greenwashing kritisieren immer mehr Organisationen der Zivilgesellschaft. Auch wenn sich viele von ihnen als seriöse Informationsquelle erwiesen haben, gehen ihre gut recherchierten Hintergrundberichte oftmals in der allgemeinen Nachrichtenflut unter. Gehör verschaffen sie sich zunehmend mit Zivilklagen gegen große Konzerne, die etwa Vorgaben beim Klimaschutz nicht einhalten – immer öfter auch erfolgreich.
Schafft die Coronapandemie ein Umdenken bei den Unternehmen? Was sind die Folgen für die globalen Lieferketten und die Menschen an ihrem Anfang? Und folgt dem Umdenken auch eine konkrete Handlung? Bislang sind es meist kleinere Unternehmen, die zeigen, dass sich faire Arbeitsbedingungen, Klimaschutz, Gemeinwohl und Profit nicht ausschließen. Es sind Unternehmen, denen das Wohl aller Beteiligten in der Wertschöpfungskette am Herzen liegt und die den Begriff »Nachhaltigkeit« mit Leben füllen. Einige von ihnen werden in diesem Buch stellvertretend für alle vorgestellt.
Damit kleinere Unternehmen weiterhin gegen die Großen bestehen können, braucht es faire Spielregeln. Seitens der Politik und der Zivilgesellschaft wird der Ruf nach einer Entflechtung großer, transnationaler Konzerne immer lauter. Welche Chancen diese Schritte haben und welche weiteren Instrumente Regierungen zur Verfügung stehen, wird ebenso erläutert wie die Stärken und Schwächen des Lieferkettengesetzes, die Bedeutung des Verursacherprinzips, der Weg zu weltweiten Existenzlöhnen und die Notwendigkeit ehrlich berechneter Preise.
Auch Verbraucherinnen und Verbraucher werden nicht aus ihrer Verantwortung entlassen. Schließlich sind sie es, die Produkte großer wie kleiner Firmen nachfragen und Politikerinnen und Politiker wählen. Noch ist es nur ein überschaubarer Teil der Bevölkerung, der nicht nur über Nachhaltigkeit redet, sondern seinen Lebensstil auch entsprechend anpasst. Doch immer mehr Menschen möchten wissen, unter welchen Bedingungen ihre Schokolade oder ihr Shirt produziert wurde.
Damit ist es natürlich nicht getan. Nachhaltiger Konsum zeigt zwar in die richtige Richtung, darf aber nicht der Freibrief dafür sein, weiter wie bisher zu konsumieren – und zu produzieren. Das Märchen vom grünen Wachstum, das Politik und Wirtschaft gleichermaßen verbreiten und das die meisten Verbraucherinnen und Verbraucher gerne bereitwillig glauben, entpuppt sich als trügerische Hoffnung. Es ist an der Zeit, sich dieser Realität zu stellen.
Kapitel 1
Globale Unternehmen
Viele Freiheiten, wenig Verantwortung
»Die Konzerne sind globale Organisationen, die nicht von einem einzigen Staat abhängen. Ihre Aktivitäten werden nicht kontrolliert. Sie sind keinem Parlament und keiner anderen Institution des Allgemeininteresses zur Rechenschaft verpflichtet. Kurz, die ganze politische Weltordnung wird unterminiert.«
Salvador Allende, Chiles Präsident von 1970–1973, Rede vor den Vereinten Nationen am 4. Dezember 1972
Size matters – auf die Größe kommt es an. Das trifft nicht nur auf Parkplätze oder Lottogewinne zu, sondern auch auf globale Konzerne. International operierende Unternehmen wie Google, Walmart oder Volkswagen sind riesig. Und mächtig. Und die »Mega-Companies« wachsen weiter. Gefräßig verschlingen sie Start-ups und Konkurrenten oder fusionieren zu immer größeren Unternehmensgruppen mit immer größerer Marktdominanz.1
Begünstigt hat das Entstehen großer, weltweit operierender Konzerne eine unzureichend regulierte Globalisierung. Fusionen und Übernahmen ließen nur noch schwer zu durchschauende Firmengeflechte entstehen. Das Spielfeld der Konzerne ist der sogenannte freie Markt, ein Geflecht aus bi- und multilateralen Handelsabkommen, Zollsystemen, Freihandelszonen, Normen und Standards. »Die Globalisierung der Märkte hat in den vergangenen Jahrzehnten einen Typus von multi- oder sogar transnationalen Konzernen hervorgebracht, die mit ihren weltumspannenden Geschäftsaktivitäten in fast jeder Hinsicht Grenzen sprengen«, schreibt der Schweizer Wirtschaftswissenschaftler Peter Ulrich.2 Diese Entwicklung sei in der frühen Globalisierungseuphorie vorwiegend begrüßt worden, doch zeigten sich nun immer mehr kaum vorausgesehene, zunehmend als problematisch empfundene strukturelle Auswirkungen.
Der »freie Markt« ist ein Mythos. Es gab ihn nie – und es wird ihn wohl auch nie geben. »Von einer menschlichen Globalisierung mit verlässlichen Regeln«, wie sie der frühere deutsche Bundespräsident Horst Köhler wünschte, scheint die Welt noch weit entfernt zu sein. All das interessiert Konzerne nur am Rand. Es läuft gut für sie.
Der Einfluss global agierender Konzerne hat im 21. Jahrhundert infolge ihrer wachsenden Marktmacht massiv zugenommen. Und der Trend hat sich nach 2010 noch beschleunigt, so der Internationale Währungsfonds (IWF).3 Immer weniger, aber zugleich immer größere Konzerne besitzen enorme Marktanteile in so gut wie allen Wirtschaftssektoren. Besonders eindrucksvoll belegen das Digitalkonzerne. So erreichte die Internetsuchmaschine Google im September 2021 eine Marktdominanz von 89,88 Prozent bei Mobilgeräten und 78,39 Prozent bei Desktop-Geräten.4 In Deutschland kommt die Bürosoftware MS-Office auf einen Marktanteil von rund 85 Prozent.5 Rund 70 Prozent aller Smartphones werden von nur fünf Herstellern gefertigt.6 Der Internethändler Amazon macht in Deutschland mehr Umsatz als seine neun umsatzstärksten Konkurrenten zusammen.7 Und die drei Unternehmensgruppen Booking Group (booking.com, agoda), Expedia Group (expedia, hotels.com, eBookers, Orbitz Travel) und HRS Group teilen sich fast den gesamten Markt (92 Prozent) der Online–buchungsportale für Ferienunterkünfte in Europa. Der Marktanteil des Branchenprimus booking.com allein beträgt dabei fast 70 Prozent.8 Ökonomen zufolge steigt ab einer Marktkonzentration von 40 Prozent die Gefahr, dass Unternehmen den Lieferanten die Preise diktieren können. Sind es mehr als 60 Prozent, spricht man bereits von einem stark konzentrierten Markt.9
Auf dem Nahrungsmittelmarkt ist das längst der Fall: Das globale Ernährungssystem – angefangen von den Saatguterzeugern und Landmaschinenherstellern über die Fleischverarbeiter oder Molkereien bis hin zum Lebensmitteleinzelhandel (s. Kapitel »Aldi, Lidl, Netto & Co. – Umsatz um jeden Preis«) – befindet sich in der Hand weniger Global Player.10 Im Agrar- und Ernährungssektor haben mit den Fusionen von Kraft und Heinz, Dow und Dupont, Anheuser Busch InBev und SAB Miller sowie Bayer und Monsanto fünf der weltweit größten Unternehmensübernahmen der vergangenen Jahre stattgefunden.11 Nach den Megafusionen der letzten Jahre kontrollieren nur noch vier Konzerne mehr als 60 Prozent des kommerziellen Saatgutmarktes.12 Und auch die enorme Markenvielfalt in den Regalen der Supermärkte darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich nur ein knappes Dutzend großer Lebensmittelkonzerne, darunter Nestlé, Unilever, Mars und Coca-Cola, diesen Markt unter sich aufteilen.13

Konzerne: reicher als viele Staaten

Die Größe der Konzerne manifestiert sich auch in immer höheren Börsenwerten – unbeeindruckt von Corona oder der Klimakrise. Ende März 2021 waren die 100 weltweit wertvollsten Unternehmen 31,7 Billionen Dollar wert – fast 50 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.14 Der Elektronikriese Apple, 1976 von Steve Wozniak, Steve Jobs und Ron Wayne in einer Garage gegründet, sprengte Anfang 2022 als weltweit erstes Unternehmen die Drei-Billionen-Dollar-Marke – in etwa die jährliche Wirtschaftsleistung Großbritanniens.15 Apple gehört zusammen mit Saudi Aramco, Amazon und Microsoft zu den weltweit wertvollsten Unternehmen.16 Wären diese Konzerne Länder, würden sie die meisten Staaten an Wirtschaftsleistung übertreffen. Zu den 200 reichsten Körperschaften der Welt zählten 2018 nach Angaben der Initiative Global Justice Now mit 157 Konzernen weit mehr private Unternehmen als Staaten. So hätten Walmart, Apple und Shell mehr Reichtum angehäuft als wohlhabende Länder wie Russland, Belgien und Schweden.17
Noch verlaufen die Unternehmenskonzentration und Marktmacht in Deutschland – anders als etwa in den USA – moderat, findet die Monopolkommission. Sie sah Mitte 2020 »für die Unternehmenskonzentration in Deutschland weiterhin keinen besorgniserregenden Trend und damit keinen unmittelbaren wettbewerbspolitischen Handlungsbedarf«.18 Das sehen rund dreißig Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter Germanwatch, Lobbycontrol, Foodwatch und die Bürgerbewegung Finanzwende, deutlich anders: Sie forderten 2021 in einem gemeinsamen Positionspapier, große Konzerne zu entflechten (s. Kapitel »Entflechten – aber wie?«), denn deren übergroße Macht schade der Demokratie.19 Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht hält die »Zusammenballung wirtschaftlicher Macht bei wenigen global aufgestellten Großunternehmen und die massive Konzentration wirtschaftlicher Ressourcen in den Händen extrem reicher Vermögensbesitzer« sogar für den wichtigsten Faktor, »der die Demokratie in den meisten westlichen Ländern außer Kraft gesetzt hat«.20 Mit negativen Folgen für Menschenrechte und Umwelt. Denn Großkonzerne nutzen ihren Einfluss zunehmend, um Lieferanten Preise aufzuzwingen, Konkurrenten auszuschalten und Politiker sowie Endverbraucher zu beeinflussen. Die von ihnen verursachten sozialen und ökologischen Kosten wälzen diese Unternehmen auf die Gesellschaft weltweit ab. Doch einen Faktor hatten auch sie nicht auf der Rechnung.

Ändert Corona die Spielregeln?

Das Virus SARS-CoV-2 hat die Weltwirtschaft ordentlich durchgeschüttelt. Weltweit fielen Ernten aus, standen Fließbänder still, flogen kaum noch Flugzeuge und fuhren nur wenige Lastwagen und Schiffe. Die Folgen für die internationalen Lieferketten bekam (und bekommt) auch die deutsche Wirtschaft zu spüren (s. Kapitel »Wenige Regeln, noch weniger Kontrolle«). In seinem Hauptgutachten 2020 urteilt die Monopolkommission, ein unabhängiges Gremium, das die Bundesregierung und die gesetzgebenden Körperschaften auf den Gebieten der Wettbewerbspolitik, des Wettbewerbsrechts und der Regulierung berät: »Die Corona-Krise wird die deutsche Wirtschaft nachhaltig verändern« – hin zu noch mehr Konzentration.21 Zu erwarten sei, »dass es insgesamt und in einzelnen Wirtschaftsbereichen zu einem Konzentrationsanstieg mit der Folge einer abnehmenden Wettbewerbsintensität kommen wird«.22 Die Marktmacht der großen Digitalunternehmen werde zunehmen und der direkte staatliche Einfluss auf die Unternehmen wachsen, ist das Gremium überzeugt.
Was das bedeutet, ist abzusehen: Je größer, stärker und einflussreicher große Unternehmen werden, desto schwieriger wird es für Politik und Gesellschaft, dafür zu sorgen, dass sie Menschen-, Arbeits-, Umwelt- oder Verbraucherrechte befolgen und einhalten. Wir müssten also dringend einschreiten. Wir tun es aber nicht. »Und der Grund dafür, dass wir nicht handeln, sind das große Geld und die großen Unternehmen, und es ist fehlende Ehrlichkeit«, meint US-Ökonom Jeffrey Sachs, unter anderem Sonderberater für die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen.23
Das auf kurze, schnelle Erfolge ausgerichtete Wirtschaften hat Mark Carney, früherer Chef der britischen Zentralbank, einmal als »Tragik des kurzfristigen Horizonts« bezeichnet.24 Es mag Investoren gefallen, doch für die Zukunft von Mensch und Umwelt ist es pures Gift.

Globale Wertschöpfungsketten – störanfällig, unfair und zu lang

Ich war noch Student, als ich in den 1980er-Jahren erstmals mit Wertschöpfungs- und Lieferketten in Berührung kam. Doch wie komplex das Thema ist und wie es sich auf Mensch und Umwelt auswirkt, wurde mir erst später bewusst. In ihrer 1992 veröffentlichten Diplomarbeit sezierte Stefanie Böge den Weg eines Erdbeerjoghurts – von der Ernte der Früchte bis zum Supermarkt. Schon damals hatte jeder Becher, bis er im Regal stand, eine Strecke von rund 9.000 Kilometern zurückgelegt: Die Erdbeeren stammten aus Polen, die Bakterien aus Schleswig-Holstein, die Aludeckel aus dem Rheinland. Auch der Zucker, die Etiketten, die Transportfolie und die Palette hatten lange Wege hinter sich.25
Seitdem hat die Globalisierung immer mehr, immer komplexere und immer längere Wertschöpfungsketten hervorgebracht. So legt beispielsweise eine Jeans auf dem Weg von der Baumwollplantage bis zum Modegeschäft 50.000 Kilometer und mehr zurück; für Volkswagen produzieren weltweit mehr als 40.000 Zulieferer, die wiederum von zahllosen weiteren Zulieferern auf der ganzen Welt abhängen; ein Passagierflugzeug besteht aus mehreren Millionen Einzelteilen. Da fällt es schwer, sich die Komplexität der dahinter existierenden globalen Lieferketten überhaupt vorzustellen. Möglich gemacht haben die Entwicklung hin zu immer globaleren Wertschöpfungsketten zum einen die Liberalisierung der Güter- und Finanzmärkte und der damit verbundene Abbau von Zollschranken und nichttarifären Handelshemmnissen wie etwa Importquoten. Dadurch vereinfachte sich der Austausch von Zwischenprodukten, Dienstleistungen und Investitionen. Zum anderen erleichterten digitale Lösungen, neue Verkehrswege, günstige Transporte und bessere Logistik den globalen Warenhandel. Parallel entstanden einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen wie beispielsweise internationale Hygienestandards oder die globale Regelung von Patenten und Eigentumsrechten. Nur unter diesen Voraussetzungen und unter Ausblendung der negativen Auswirkungen von Ressourcenabbau, Produktion und Konsum für Mensch und Natur kann es überhaupt sinnvoll scheinen, den gesamten Planeten als Produktionsstätte und Ressourcenlager zu betrachten.
Das ist auch für Deutschland als eine der weltweit größten Exportnationen von Bedeutung. Das Land ist in besonderem Maß von globalen Lieferketten abhängig. Während bei uns laut Ifo-Institut rund 17 Prozent der Produktion durch internationale Wertschöpfung entstehen, liegt der Wert im globalen Durchschnitt bei gerade einmal 12 Prozent.26 Ein knappes Drittel aller deutschen Einfuhren entfallen auf Vorleistungsgüter, die dann in deutschen Betrieben veredelt und teilweise exportiert werden.
Mit der Globalisierung haben sich die Wertschöpfungs- und Lieferketten vor allem seit Beginn des 21. Jahrhunderts immer mehr internationalisiert und fragmentiert.27 Vor allem große Konzerne nutzen die sich von Land zu Land unterscheidenden Wirtschaftsregeln bei der Wahl ihrer Produktionsstandorte aus. Zugute kommen ihnen dabei unter anderem das globale Lohngefälle, unterschiedliche Rechts- und Steuersysteme, Investitionshilfen, staatliche Subventionen sowie privilegierter Zugang zu den Kapitalmärkten.
»[A]rbeitsintensive Tätigkeiten [werden] häufig in Länder[n] mit niedrigen Löhnen, gewinnbringende Tätigkeiten […] in Länder[n] mit geringen Steuern und technologieintensive Tätigkeiten in Ländern mit einer gut gebildeten Bevölkerung konzentriert«, schreiben die Wissenschaftler Jakob Kapeller und Claudius Gräbner in ihrer Untersuchung der Konzernmacht in globalen Lieferketten.28 Das führe dazu, dass Südamerika immer stärker vom Abbau etwa von Rohstoffen wie Gold, Kupfer oder Zink lebe, Südostasien billige Arbeitskräfte mit niedrigen arbeitsrechtlichen Standards und einem moderaten Bildungsniveau anbiete und sich kleinere Ökonomien im globalen Wettbewerb zusehends zu Schattenfinanzplätzen entwickelten (s. Kapitel »Steuertricksereien auf Kosten der Allgemeinheit«).

Wenige Regeln, noch weniger Kontrolle

Welche Mindeststandards zum Schutz der Umwelt und welche Menschenrechte für Konzerne gelten, ist durchaus geregelt (s. Kapitel »Globale Rahmenvereinbarungen – zahnlose Tiger«), allerdings überwiegend auf nationalstaatlicher Ebene. Da sich aber Wertschöpfungs- und Lieferketten in den vergangenen drei Jahrzehnten immer mehr internationalisiert haben, profitieren Unternehmen bei der Wahl der Produktionsstandorte vom starken Gefälle bei den jeweiligen rechtlichen Vorgaben und ihrer Durchsetzung. Der Wirtschaftswissenschaftler Sebastian Krautheim von der Universität Passau spricht in diesem Zusammenhang von einem »regulatorischen Vakuum«.29 Besonders in Staaten mit schwachen rechtsstaatlichen Institutionen und laxen Gesetzen können selbst Mindeststandards leicht umgangen werden. Oftmals drücken Länder aber auch ein Auge zu, um Investoren, die Arbeitsplätze versprechen, nicht zu vergraulen. Zudem machen die verschachtelten, aus vielen Einzelunternehmen bestehenden Konglomerate Regierungen und staatenübergreifenden Bündnissen die Kontrolle nicht gerade einfach.
Die Folgen sind gravierend: Soziale, Umwelt- und Klimaschäden werden von den Global Playern bislang gar nicht oder nur unzureichend eingepreist, ihre Prävention ist die große Ausnahme. Das zeigt auch eine Studie, in der die befragten CEOs großer Konzerne sich zwar über die Relevanz von Nachhaltigkeit für den langfristigen Geschäftserfolg einig waren, aber zugaben, der Umsetzung der bis 2030 weltweit vereinbarten Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) hinterherzuhinken.30 Für das Klima ist das verheerend: Allein die Lieferketten für Lebensmittel, Bauwesen, Mode, kurzlebige Konsumgüter, Elektronik, Automobilbau und gewerbliche Dienstleistungen sind für rund 50 Prozent der globalen Emissionen verantwortlich, analysiert das Weltwirtschaftsforum.31
Über Nachhaltigkeit und Klimaschutz reden zwar viele Unternehmen gern und häufig, als Imperativ für zukünftiges Wirtschaften verstehen sie beide Felder aber nicht. Für sie scheint es sich lediglich um Hindernisse zu handeln, die Profiten im Weg stehen. Geld regiert noch immer die Welt. Über allem stehen die scheinbar in Fels gemeißelten Größen Gewinnmaximierung, Wachstum, Ausbau von Marktanteilen und Shareholder-Value. »Die moderne BWL hat sich somit von der Moral losgelöst und verfolgt mit der Gewinnmaximierung ein ausschließlich materielles Ziel, das durchaus unmoralisch sein kann: wie das Geld verdient wird, spielt keine Rolle«, bringt es der Volkswirt Christian Conrad auf den Punkt.32
Seit dem Frühjahr 2020 stellt das Coronavirus die globale Wertschöpfung auf eine harte Probe. Der Zusammenbruch internationaler Lieferketten und schwer passierbare, mitunter geschlossene Grenzen haben viele Unternehmen kalt erwischt. Ob Computerchips für Spielekonsolen, Ersatzteile für Fahrräder oder Papier für Bücher: Unter stockenden Logistikketten und fehlenden Vorprodukten litten und leiden etliche Branchen.33 Eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags ergab, dass 2020 nur 14 Prozent der befragten Unternehmen von einer Lieferkettenunterbrechung verschont geblieben waren. Zwei von fünf deutschen Unternehmen mit Auslandsgeschäft hatten unter unterbrochenen Lieferketten und gestörter Logistik zu leiden. Betroffen waren vor allem der Groß- und Einzelhandel sowie die Automobilindustrie.34 Die Folge: zweistellige Milliardenverluste35 für die Wirtschaft, die trotz gefüllter Auftragsbücher nicht liefern konnte, Kurzarbeit bei vielen Herstellern und frustrierte Kunden.
Die gnadenlose Optimierung der Lieferketten der vergangenen Jahre fordert ihren Preis. Die Globalisierung ist an ihre Grenzen geraten. Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo spricht vom »Labil-Kapitalismus«: Kommt nur ein wenig Sand ins globale Räderwerk, gerät das System sofort und gründlich ins Stocken.36
Ob und wie schnell sich die Wirtschaft erholen wird, bleibt abzuwarten. Einen Trend aber sagten die Experten von der Monopolkommission schon im Herbst 2021 voraus: Infolge der Pandemie werden Unternehmen nach weiterer Konzentration streben – und damit nach noch größerer Marktmacht.
EIN LIEFERKETTENSIEGEL
Passend zur Einführung des Lieferkettengesetzes (s. Kapitel »Lieferkettengesetz: Licht am Ende des Tunnels«) erblickte 2021 das Label »We Care«37 das Licht der Welt. Das Siegel soll nachweisen, dass zertifizierte Unternehmen »vom Anbau in den Ursprungsländern […] bis zum heimischen Unternehmensstandort […] umfassende ökologische und soziale Kriterien einhalten«,38 so das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) Deutschland, der Träger des neuen Standards. Eine unabhängige Zertifizierungsstelle überprüft 164 Kriterien in den Handlungsfeldern Unternehmensführung, Lieferkettenmanagement, Umweltmanagement und Mitarbeiterverantwortung. Die Überprüfung der Lieferanten erfolgt dabei stichprobenhaft.
Warum es bei der bereits herrschenden Siegelfülle im Lebensmittelbereich eines weiteren Standards bedarf, wird von We Care damit begründet, dass man eine Lücke schließe, indem bereits existierende anspruchsvolle Einzelsiegel integriert und diese sinnvoll ergänzt würden. Mit dem Siegel schmücken sich bereits Unternehmen wie Alnatura, Peter Riegel Weinimport oder Lebensbaum. Ihr Sortiment muss dafür zu mindestens 80 Prozent bio und gentechnikfrei sein.

Marktmacht und die Folgen

Die Macht und der Einfluss großer Konzerne und der hinter ihnen stehenden Investoren waren schon vor Ausbruch der Coronakrise enorm. Und wer Macht hat, neigt dazu, sie zu seinen Gunsten zu nutzen und auszudehnen. Das geschieht auch, ohne dass Unternehmen gegen gesetzliche Normen verstoßen, indem sie beispielsweise die staatlichen Funktionen wie die Finanzierung von Bildung und Sicherheit oder die Grundversorgung ganzer Dörfer übernehmen, Pflanzenbestandteile patentieren, die Indigene bereits seit Jahrhunderten zur Herstellung von Medikamenten verwenden, Babynahrung aggressiv vermarkten oder massiv Einfluss auf die Politik nehmen, um die weitere Zulassung von giftigen Pestiziden zu erreichen.39
Wie wir sehen werden, schädigen große Konzerne rücksichtslos die Umwelt, beuten Menschen aus, verschieben Gewinne in Steueroasen, diktieren Lieferanten ihre Bedingungen, hebeln Menschenrechte aus, bilden Kartelle, verklagen Staaten, belügen und täuschen Verbraucherinnen und Verbraucher.

Selbstbedienungsladen Erde

Wem gehört die Erde? Der Menschheit? Allen Lebewesen? Niemandem? Oder einer Handvoll Großunternehmen, die sich nehmen, was sie wollen, um das zu produzieren, was ein Teil der Menschheit zu brauchen glaubt? Und welche Rolle spielen die Menschen in den reichen Industrienationen und die Oberschichten ärmerer Staaten, die sich durch ihren rücksichtslosen Konsum überproportional an den globalen Ressourcen bedienen?
Am Anfang der »Wertabschöpfungskette« – wie der Kabarettist Max Uthoff sie nennt – stehen Rohstoffkonzerne. Sie bauen die Ressourcen ab – meist weit entfernt von uns und zulasten der Menschen vor Ort. »Die übermäßige Ausbeutung von Umweltressourcen führt immer zu Negativauswirkungen für die Bevölkerung am Ort der Extraktion«, konstatiert Klimaaktivist Florian Hurtig.40 Die räumliche und personelle Trennung von Negativauswirkungen und Profiten präge die gesamte Geschichte der Umweltzerstörung. Im Klartext: Wir sehen die Schäden nicht, die unser Konsum anrichtet, und wir wollen es lieber auch nicht so genau wissen.
MÄCHTIGE UNTERNEHMEN – KEINE ERFINDUNG MODERNER ZEITEN
Im Jahr 1885 gründeten der Schiffskapitän Lorenzo Dow Baker und der Hafenspediteur Andrew Preston zusammen mit weiteren Partnern die Boston Fruit Company. Sie verkauften Bananen aus Jamaika, Kuba und der Dominikanischen Republik in die USA. Um die steigende Nachfrage zu befriedigen, begann die Firma, Land für eigene Bananenplantagen in Mittelamerika zu kaufen. 1899 schlossen sich die Boston Fruit Company und der Eisenbahnkonstrukteur Minor Keith zur United Fruit Company (UFCO) zusammen, Spitzname El pulpo, die Krake – vor allem in Guatemala. Denn dort musste die UFCO keine Steuern bezahlen. Sie wurde zum größten Arbeitgeber, Landbesitzer und Exporteur des Landes. Als Guatemalas Präsident Jacobo Árbenz Guzmán 1953/54 brachliegendes Land der UFCO im Zuge einer Landreform beschlagnahmte, protestierte kurioserweise nicht das Unternehmen, sondern das Außenministerium der USA gegen die angeblich kommunistische Regierung. Da die Nordamerikaner ihren politischen und wirtschaftlichen Einflussbereich gefährdet sahen, unterstützten sie 1954 den Sturz der Regierung Árbenz. Aufgrund internationalen Drucks distanzierte sich Washington allerdings bald von der United Fruit Company. Das US-Justizministerium initiierte ein Antitrusverfahren gegen die Monopolgesellschaft. Die Prozesse, die sich bis 1958 hinzogen, führten schließlich zur Auflösung der Firma. Aus den Überresten entstand Chiquita Brands International, heute einer der weltweit größten Fruchtkonzerne.

»Heavy Metal« – gierige Rohstoffkonzerne plündern den Planeten

Im Megablockbuster Avatar – Aufbruch nach Pandora baut ein Rohstoffkonzern im Jahr 2154 auf dem erdähnlichen Planeten Pandora einen begehrten Rohstoff ab. Die Ureinwohner Na’vi wehren sich gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen – mit Erfolg. Doch ein solches Happy End gibt es in der Realität für viele Menschen, die in der Nähe von Rohstoffvorkommen leben, nicht: Internationale Bergbaukonzerne plündern die Ressourcen ihres Landes, kontaminieren Seen und Flüsse und verseuchen den Boden mit giftigen Abfällen – meist ohne die Anrainer um Erlaubnis zu bitten oder das Vorhaben auf Umweltverträglichkeit zu prüfen. Wer sich dagegen wehrt, dem machen Polizei oder vom Auftraggeber angeheuerte Sicherheitsfirmen oft das Leben zur Hölle. Manche verlieren es sogar. Häufig werden Aktivisten entführt, bedroht, schikaniert, werden die lokalen Vertreter von Medien oder NGOs gekauft oder mit weniger angenehmen Mitteln zum Schweigen gebracht. Sind die Vorkommen ausgebeutet, hinterlassen die Rohstoffkonzerne neben Mondlandschaften meist vor allem Armut, Zerstörung und Hoffnungslosigkeit.
Auch die EU ist durch Steuergelder an massiven Umwelt- und Arbeitsrechtsverletzungen durch Minen beteiligt, wie ein aktueller Bericht von Bankwatch belegt. Etwa in Bulgarien: Da beim Goldabbau in der Chelopech-Mine EU-Grenzwerte für Arsen überschritten werden, schickt man den Rohstoff zur Weiterverarbeitung nach Namibia, von wo das Edelmetall in verarbeiteter Form zurück in die EU gelangt. Finanziert werden solche Abbaupraktiken auch von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung sowie von der Europäischen Investitionsbank.41
Selbst die Tiefen der Meere sind vor dem Abbau mineralischer Rohstoffe wie Manganknollen oder kobaltreichen Eisenkrusten nicht mehr sicher. Die Internationale Meeresbodenbehörde (ISA) hat bis heute mehr als 30 Konzessionen für eine Gesamtfläche von rund einer Million Quadratkilometern im Pazifik vergeben, darunter auch eine Konzession an Deutschland sowie neun an private Investoren.42 Derweil verhallen die Warnungen von Umweltschützern und Wissenschaftlern vor irreparablen Schäden am marinen Ökosystem seit Jahren ungehört.43
Und wofür das alles? Damit vor allem der reichere Teil der Menschheit vernetzte Kaffeevollautomaten, intelligente Kühlschränke und sprechende E-Autos nutzen kann. Moderne Technik ist darauf angewiesen, dass spezialisierte Unternehmen Metalle aus dem Erdinneren extrahieren, raffinieren und für die Produktion zur Verfügung stellen. Die Geräte enthalten wertvolle Metalle wie Gold, Silber oder Kupfer, aber auch Kobalt, Lithium, Wolfram und Neodym. Der Rohstoffhunger der Menschheit scheint unersättlich. Allein Deutschland importiert jährlich mehr als 400 Millionen Tonnen Rohstoffe aus der ganzen Welt, darunter Erdöl, Erdgas, Stahl, Eisen, Nichteisenmetalle (Kupfer, Aluminium, Zink etc.), Edelmetalle, aber auch Kohle, Steine und Erden, Industrieminerale und Torf.44 In den vergangenen Jahrzehnten haben große Konzerne Extraktion, Weiterverarbeitung und Transport übernommen. Schlagzeilen machen diese Rohstoffgiganten außer mit hohen Umsatz- und Gewinnzahlen häufig auch mit Menschenrechts- und Umweltskandalen. Im Januar 2019 etwa brach in Brasilien ein Damm einer Eisenerzmine des Bergbaukonzerns Vale. Die Schlammlawine begrub in Brumadinho mindestens 272 Menschen und zahlreiche Gebäude unter sich. Das Ökosystem des Flusses Paraopeba wurde zerstört. Der deutsche TÜV Süd hatte zuvor die Sicherheit des Dammes zertifiziert und sitzt inzwischen zusammen mit Vale auf der Anklagebank.45
Negative Schlagzeilen machte 2020 auch Rio Tinto: Um Eisenerz abzubauen, hatte das Bergbauunternehmen zwei seit etwa 46.000 Jahren bewohnte heilige Felsnischen australischer Ureinwohner in der Juukan-Schlucht gesprengt. Als Konsequenz mussten der Konzernchef Jean-Sébastien Jacques und zwei weitere Topmanager ihren Hut nehmen.46
Als besonders skrupellos gilt ein in Deutschland wenig bekannter Rohstoffkonzern. Glencore, mit Sitz in Baar im schweizerischen Steuerparadies Kanton Zug, gehört zu den großen Fünf der Branche und ist dem Umsatz nach das größte Unternehmen der Schweiz. Die Geschichte von Glencore liest sich als Aneinanderreihung von Umweltzerstörung, Menschenrechtsverletzungen, Steuermanipulationen, Korruptionsskandalen und Strafverfahren. Doch während Glencore in seinem Nachhaltigkeitsbericht Verantwortung als einen der Kernwerte des Unternehmens bezeichnet,47 sprechen zahlreiche Vorfälle eine andere Sprache. So leitete die Schweizer Bundesanwaltschaft 2020 ein Verfahren gegen Glencore wegen Korruptionsfällen in der Demokratischen Republik Kongo ein.48 Denn der Konzern muss dort bemerkenswert wenig Lizenzgebühren für die Schürfrechte seiner Mine Katanga zahlen. Dem ohnehin von Armut und Bürgerkrieg gebeutelten Land entgingen durch zu niedrige Gebühren Einnahmen in Höhe von zehn Prozent des staatlichen Haushaltsbudgets, schreibt die Schweizer NGO Public Eye.49 Bei einem Besuch der in der Nähe der Mine gelegenen Stadt Kolwezi zeigte sich Glen Mpufane von der Globalen Gewerkschaftsföderation IndustriALL schockiert über die Armut der Menschen in Kolwezi und den Mangel an Entwicklung und Infrastruktur: »Der Kontrast zum enormen Reichtum von Glencore ist krass. Es liegt eine große Ironie in der Tatsache, dass umweltbewusste Käufer von Elektroautos sich auf eine Lieferkette verlassen, die auf Glencores ökologischer und sozialer Plünderung beruht.«50
NACH DER ROHSTOFFPARTY – WER ZAHLT FÜRS SAUBERMACHEN?
Rohstoff- und Energiekonzerne machen mit den Schätzen des Planeten kräftig Umsatz. Aber bei der Beseitigung der Abbau- und Nutzungsschäden halten sie sich meist zurück. Auch in Kanada: Dort entweichen seit vielen Jahrzehnten klimaschädliches Methan und andere Schadstoffe aus aufgegebenen beziehungsweise stillgelegten Öl- und Gasquellen. Dort sind neben 160.000 aktiven Quellen rund 98.000 weitere Anlagen inaktiv, weitere 30.000 Anlagen liegen brach. Das dürfen sie seit 2000 laut Gesetz auf unbestimmte Zeit. Doch mit zunehmendem Alter steigt das Risiko von Leckagen, verursacht durch Erosion, Salzwasser, korrosive Gase und Erdbeben. Nun soll ein Fonds über 1,7 Milliarden Kanadische Dollar helfen, diese inaktiven Quellen in Kanada endgültig stillzulegen. Das Gros der Kosten tragen nicht etwa die Rohstoffkonzerne, sondern der Steuerzahler. Zwar wurden die Unternehmen im kanadischen Bundesstaat Alberta 2020 verpflichtet, vier Prozent ihres jährlichen Aufräumungsbudgets für die fachgerechte Stilllegung von Quellen auszugeben. Aber Fristen werden ihnen nicht gesetzt. Mehr noch: Die Kontrollen wurden an die Landbesitzer delegiert, die den Zustand der Quellen melden sollen. Dabei gehört den Farmerinnen und Farmen nicht einmal das, was unter ihrem Boden gefördert wird.51

Aldi, Lidl, Netto & Co. – Umsatz um jeden Preis

Seit sich der Erfinder von »billig« – der Lebensmitteldiscounter Aldi – 1961 in Aldi Nord und Aldi Süd aufteilte, hat sich beim Verkauf von Lebensmitteln so ziemlich alles verändert. Große, global agierende Supermarktketten wie Walmart aus den USA, Carrefour aus Frankreich oder Tesco aus Großbritannien haben neben deutschen Unternehmen die Kontrolle über die globalen Lebensmittel-Wertschöpfungsketten übernommen.
In Deutschland konzentriert sich das Big Business mit Lebensmitteln nach dem Verkauf der 271 Real-Supermärkte Mitte 2020 an den russischen Investor SCP auf vier Konzerne: die Edeka-Gruppe (mit Edeka und Netto), die Schwarz-Gruppe (mit Lidl und Kaufland), die Rewe-Gruppe (mit Rewe und Penny) und die Aldi-Gruppe (mit Aldi Süd und Aldi Nord). Zusammen beherrschen sie laut Bundeskartellamt mehr als 85 Prozent des deutschen Lebensmittelmarkts.52
Gewinne erzielen sie aber nicht nur mit dem Verkauf von Nahrungsmitteln. Ihr Sortiment umfasst ferner Laptops und Freizeitgeräte, Mobilfunkverträge, Onlinekonten, Reisen und Zugtickets. Aldi und Lidl gehören zudem zu den größten Textilhändlern Deutschlands. Beide sind auf dem gesamten Globus in Dutzenden Ländern mit Tausenden Filialen vertreten, neben Europa auch in den USA, Australien und China. Sogar mit der Müllentsorgung verdienen die Discounter inzwischen Geld.53
Die Umsätze der Handelsriesen sind gewaltig, ihre Besitzer gehören zu den reichsten Deutschen: »Ein Arbeiter auf einer Kaffeeplantage in Brasilien müsste mehr als achteinhalb Millionen Jahre arbeiten, um so viel als Lohn zu erhalten, wie Lidl-Eigentümer Dieter Schwarz an Vermögen besitzt«, schreibt die NGO Oxfam in einer Studie.54 Und die Coronakrise hat sie noch wohlhabender gemacht: 2020 konnten die Discounter kräftige Zuwächse im Vergleich zum Vorjahr verzeichnen, bei Lidl waren es neun Prozent, bei Aldi Süd acht und bei Norma sogar zehn Prozent.55
Wer Lebensmittel produziert oder konsumiert, kommt an den Supermarktkonzernen nicht vorbei. Sie stellen die gigantische Maschine dar, die die Produkte von Hunderttausenden Herstellern an Millionen Verbraucher verteilt. Wer als Produzent nicht bei Aldi & Co. gelistet ist, hat es schwer; und wer bei ihnen gelistet ist, akzeptiert besser ihre Konditionen – oder er fliegt wieder raus.
Wer Vertragsbedingungen diktieren kann, neigt zu Machtmissbrauch und unfairen Handelspraktiken. 40 von 100 dokumentierten Konditionen hat Oxfam in einer »Knebelliste« veröffentlicht.56 Sie dokumentiert den Preisdruck, den Supermarktketten auf ihre Lieferanten systematisch ausüben, indem sie sie beispielsweise zur Übernahme von Kosten zwingen, die sie eigentlich selbst tragen müssten. Dazu zählen Ausgleichsrabatte, Bürgschaftsgebühren oder rückwirkende Konditionenänderungen. »Auch starke Unternehmen, die Lebensmittel produzieren, sind vor Preisdrückerei und Erpressung von Sonderleistungen nicht gefeit«, schreiben die Forscher Francisco Marí und Rudolf Buntzel.57
Dass ein ausgeprägter Wettbewerb um Listungen und die besten Konditionen zwischen den vier großen Supermarktketten stattfindet, bestätigt auch das Bundeskartellamt.58 Große Supermarktketten rechtfertigen diese harten, ihrer Meinung nach fairen Praktiken mit dem großen Konkurrenzdruck, dem sie ausgesetzt seien. Und mit dem Argument, man reiche die Preisvorteile schließlich an die Endverbraucher weiter.
Mit der zunehmenden Expansion digitaler Großkonzerne wie Amazon, Alibaba & Co. hat sich der Kampf der Giganten weiter verschärft. Denn die neuen Akteure schneiden sich immer größere Stücke vom Konsumkuchen ab, zulasten etablierter Supermarktketten, denen nicht nur beim Verkauf von Kleidung und Elektronikartikeln ein immer schärferer Wind ins Gesicht bläst, sondern auch in ihrem Kerngeschäft, dem Lebensmittelhandel.
Der gnadenlose Kampf um Umsatzanteile und niedrige Preise, in dessen Folge weit gereiste Avocados bei Netto gelegentlich für 43 Cent, Mangos bei Penny für 44 Cent oder Ananas bei Rewe für einen Euro angeboten werden, kommt uns teuer zu stehen. Die Umwelt am Produktionsort wird zerstört, Menschen werden ausgebeutet und saubere Alternativen im Keim erstickt. Der »Umweltatlas Lieferketten« weist für den deutschen Lebensmitteleinzelhandel die höchsten Umweltwirkungen der acht untersuchten Branchen auf: Der Sektor ist mit 8.900 Millionen Kubikmetern der größte Wasserverbraucher. Er emittiert jährlich 110 Millionen Tonnen CO2 und nimmt weltweit eine Fläche von 22 Millionen Hektar in Anspruch – das entspricht fast zwei Dritteln der Fläche der Bundesrepublik.59 »Der Einfluss des Einzelhandels auf die weltweite Lebensmittelproduktion […] schafft die unsicheren Bedingungen, unter denen Zwangsarbeit grassiert«, mahnt der Ernährungswissenschaftler Sébastien Rioux. »Zwangsarbeiter sind keine Opfer habgieriger und moralisch bankrotter Einzelpersonen. Sie sind die menschliche Realität brutaler wirtschaftlicher Rahmenbedingungen, bei denen die steigenden Gewinne und die zunehmende Macht der Lebensmitteleinzelhändler Hand in Hand mit der chronischen Unsicherheit und Armut der Lebensmittelproduzenten gehen.«60
Pestizidgeschwängerte Monokulturen, unterbezahlte Bauern, ausgebeutete Leiharbeiter, knappes Wasser, zerstörte Regenwälder, schuftende Kinder: Von den Umweltschäden und der menschlichen Ausbeutung durch eine global ausgerichtete, industrialisierte landwirtschaftliche Produktion vor allem in Ländern des Globalen Südens bekommen die Verbraucher in Deutschland wenig mit. Dabei sind »illegale Beschäftigung und sogar Zwangsarbeit in der Landwirtschaft die Regel und nicht die Ausnahme«, so der Frontlines-Bericht des Internationalen Gewerkschaftsbunds. »Die Produkte, die die Supermärkte verkaufen, sind weit davon entfernt, frei von Ausbeutung zu sein und alles andere als das harmonische Idyll, das uns vorgegaukelt wird.«61
Noch immer lassen sich die meisten Konsumenten von den bunten Werbebildern der Branche einlullen, von ländlicher Idylle, lächelnden Kaffeepflückern und glücklichen Kühen auf der Weide. Die Werbung der Supermärkte suggeriert »ein Gefühl der Gemeinschaft und des Zusammenhalts: von der Landwirtschaft nahtlos auf den Teller der zufriedenen Verbraucher, mit glücklichen Familien, die dankbar für ein gutes Essen zu einem erschwinglichen Preis sind«.62 Denn letztendlich ist es meist der Preis, der für die Kunden zählt. Und sooft diese auch beteuern mögen, ihnen sei Nachhaltigkeit beim Einkauf wichtig und die Ausbeutung der Arbeiter doch ein Skandal – viel zu oft greifen sie dann doch wieder nach dem vermeintlichen Schnäppchen.
Doch nun geloben Supermärkte Besserung: Während der Berliner Grünen Woche Anfang 2020 unterzeichneten Vertreter von Lidl, Rewe, Aldi Süd und Aldi Nord, Kaufland, dm und Tegut das Living Wage Commitment. Dieses verspricht bis 2030 existenzsichernde Löhne und Einkommen entlang der landwirtschaftlichen Lieferketten – zumindest bei den Eigenmarken der Supermärkte.63

Faire Produkte im Supermarkt – reicht das?