Der Mangel - Oskar Roehler - E-Book

Der Mangel E-Book

Oskar Roehler

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Beschreibung

"Oskar Roehler macht seine persönliche Tragödie zu einem Lehrstück über die frühe Bundesrepublik." Die Welt Der Mangel erzählt vom Aufwachsen und Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechzigern, von den Anstrengungen der Väter, Wohlstand, zumindest die Illusion davon, auch für ihre Familien zu schaffen. Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter, die sie vor ihrer Zeit altern lassen. Vor allem aber er erzählt er in Anlehnung an die Kindheit des Autors von dem fundamentalen Wandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft in der Wirtschaftswunderzeit. Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt. Und er entwirft zugleich ein Gegenbild dazu, einen Ausweg sowohl aus dem Mangel wie aus dem Überfluss: die Kunst. So ist Der Mangel auch der persönliche Bildungsroman Roehlers, in dessen Zentrum seine Erfahrung mit der Kunst steht, deren Entdeckung in jungen Jahren sein Rettungsanker für das Überleben geworden ist.

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Der Mangel

Der Autor

Oskar Roehler, geboren 1959, ist Schriftsteller und Regisseur. Seine Romane erscheinen seit 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.

Das Buch

Der Mangel erzählt vom Aufwachsen und Großwerden einer Gruppe von Kindern in den Sechzigern, von den Anstrengungen der Väter, Wohlstand, zumindest die Illusion davon, auch für ihre Familien zu schaffen. Von den Rückschlägen, die sie erleiden. Von den Sorgen und Existenzängsten der Mütter, die sie vor ihrer Zeit altern lassen. Vor allem aber erzählt er in Anlehnung an die Kindheit des Autors von dem fundamentalen Wandel der bundesrepublikanischen Gesellschaft in der Wirtschaftswunderzeit. Vom Übergang einer Mangelgesellschaft, in der es von allem zu wenig gab, in eine Konsumgesellschaft, die den Menschen ihre Würde raubt. Und er entwirft zugleich ein Gegenbild dazu, einen Ausweg sowohl aus dem Mangel wie aus dem Überfluss: die Kunst. So ist Der Mangel auch der persönliche Bildungsroman Oskar Roehlers, in dessen Zentrum seine Erfahrung mit der Kunst steht, deren Entdeckung in jungen Jahren sein Rettungsanker für das Überleben geworden ist.»Oskar Roehler macht seine persönliche Tragödie zu einem Lehrstück über die frühe Bundesrepublik.«Die Welt

Oskar Roehler

Der Mangel

Roman

Ullstein

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ISBN 978-3-8437-2227-8© 2020 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinTitelabbildung: Othmar Zechyr »Berg II«,© Oberösterreichische LandesmuseenAutorenfoto: © Nadine Fraczkowski E-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Die Hut

Die Häuser

Die Vorgeschichte der Väter

Die Freitagabende

Der blaue Teppich

Ode an einen Lehrer

Zusammenhalt

In späteren Zeiten

Klassenverhältnisse

Wertschöpfung

Schisma

Isolierung

Das weiße Blatt Papier

Werk-Charakter

Bibliographie

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Die Hut

Die Hut

Die Lage der Hut bezeichnete schon die Isolation, in der wir aufwuchsen. Uns Kindern kam der Weg hinunter ins Dorf endlos vor. Allein gingen wir ihn nie.

Wenn wir unsere Mütter einmal die Woche zum Einkaufen begleiteten, um vom Metzger frische Gelbwurstscheiben abzugreifen, kamen wir meist erst mit Einbruch der Dämmerung wieder zurück. Wir können uns an diesen Weg hinab ins Dorf allerdings nur erinnern, wie er im Winter war, wo man kaum noch die Hand vor Augen sah und mit der Glätte zu kämpfen hatte, den Eisschollen am Wegesrand, an die man sich, mit schweren Einkaufstüten beladen, mit den Fingern festklammern musste, um überhaupt wieder hinaufzukommen, wobei man sich den versteckten Blicken der Bauern aussetzte, die in ihren feindseligen, hieratischen, uneinsehbaren Höfen lauerten, und sich auf diese Weise für immer der Lächerlichkeit preisgab.

Am Eingang des Dorfes hatten sie ein riesiges INRI-Kreuz aufgepflanzt, von dem der Heiland auf uns herabblickte und uns Furcht einflößen sollte. Das ragte in den Himmel, wo die Dorfstraße anfing, extrem steil zu werden. Dieses im Winter nahezu unbegehbare Wegstück war einige Hundert Meter lang, steil wie eine Skipiste – und unbefestigt.

Wenn man das fünfte, irgendwann das zehnte, das zwanzigste Mal mit den schweren Einkaufstüten davorstand, wuchs in einem ein Gefühl von Ohnmacht und Empörung heran. Man nahm es den Bauern übel, dass sie der Gemeindepflicht nicht nachkamen, die darin bestand, das Eis zu räumen. Man wusste nicht, warum. Man hatte bereits viele Briefe an den Gemeinderat geschrieben, die alle nicht beantwortet worden waren. Man ahnte allerdings, dass dieser Boykott aus Habgier geschah und dass sie sich zurückzogen, um keine Rechenschaft ablegen zu müssen, und aus einem tief eingewurzelten Misstrauen gegen Fremde, die wir hier waren. Diese im Dunkel liegenden Höfe hatten etwas Gemeines von Häme und Spott; man fühlte sich aus dunklen Fensterhöhlen beobachtet, wenn man das lächerliche Schauspiel des Heraufkraxelns abgab, und wir konnten ihr schadenfrohes Lachen förmlich hinter unserem Rücken spüren. Sie hatten eine Taktik, uns am langen Arm verhungern zu lassen. Mit jedem Monat in den tiefen Winter hinein wuchs unser Ekel und der Widerstand gegen die Zumutung, diesen lächerlichen Aufstieg zu wagen und sich mit der Tüte zwischen den Zähnen in die Eisschollen zu krallen, zu einer nahezu unüberwindbaren psychologischen Hürde. Unser Sinn für Gerechtigkeit, unsere Disziplin, wurde hier auf die allerhärteste Probe gestellt. Wir Kinder führten neben den Müttern, die den Tränen nahe waren, einen regelrechten Veitstanz der Wut vor den Eisschollen auf, trampelten auf dem Eis herum, bis unser Zorn schließlich so weit verraucht war, dass wir uns an den Aufstieg machten, um unsere Vorräte für die Woche – Eier, Kartoffeln, Spinat und Mettwurst – in unsere einsamen, abgeschnittenen Häuser oben am Hang zu bringen. Unsere Wut resultierte vor allem aus der Unfähigkeit zu begreifen, warum man uns nicht half. Immerhin hatten wir die Grundstücke oben im guten Glauben gekauft, dass sie erreichbar wären. Unsere Väter hatten uns früh eingeschärft, dass man half, wenn Not am Mann war, dass man das Haus verließ, wenn eine Frau mit einem kleinen Jungen am Wegesrand stand, die nicht weiterwusste, während draußen die Nacht anbrach.

Anscheinend aus niederträchtigen Beweggründen saßen die Bauern unsere Notlage aus, spekulierten sie doch offenbar darauf, die von ihnen an uns verkauften Parzellen Land um ein Vielfaches billiger zurückzukaufen, falls wir wegen des schlimmen Winters und der damit einhergehenden Versorgungsschwierigkeiten aufgeben sollten. Tatsächlich war dieses Wegstück für ein paar ältere Käufer bereits zum Grund für die Kapitulation geworden, da sie nicht mehr die Kraft besaßen, die Nahrungsmittel vom Fuß des Dorfes, wo sich der Laden des Dorfmeisters Ammon befand, wie Packesel zur Hut hochzuschleppen. Sie kündigten ihre Häuser auf und zogen weg. Hinzu kam das Gefühl der Täuschung, denn im Sommer 1962, als wir das erste Mal hier hochkamen, um die zum Verkauf stehenden Parzellen Land zu besichtigen, hatten unsere Wägen keine Mühe, die Steigung zu überwinden, und als wir dann oben ankamen, bot die Landschaft einen dermaßen überwältigenden Anblick, dass wir, geblendet davon, augenblicklich beschlossen, hier zu kaufen, und als wir erfuhren, dass die Preise erschwinglich waren, hüpfte das Herz unserer Väter vor Glück, auch wenn sie später auf der Rückfahrt schweigsam wurden und darüber nachgrübelten, ob die Sache nicht doch einen Haken hatte.

Waren wir erst einmal oben angekommen und stellten, vollkommen erschöpft, unsere Tüten ab, um zu verschnaufen, so bildete die »Hut«, die nun in der Dunkelheit vor uns lag mit den wenigen, im Rohbau befindlichen Häusern, einen unvergleichlichen, unheimlichen Anblick. Nackt und kahl, wie eine Schädeldecke, wölbte sie sich zwischen dem sie von allen Seiten umgebenden Wald. Dieses riesige Dach aus Glas, dunkel glänzend, geädert und tief, welches das Eis bildete, übte auf uns in dem Moment, wo die Last des Schleppens von uns abfiel, eine ungeheure Faszination aus. Als wäre die Schädeldecke durchsichtig und wir könnten in das Gehirn der Landschaft hineinsehen.

Es schien hier oben ein ungeheures Beharrungsvermögen zu walten, das die Möglichkeit besaß, die Fliehkräfte, die Unwägbarkeiten und Gefährdungen des Lebens von uns fernzuhalten und uns mit dem Glück einer permanenten Gegenwart voller Sinneseindrücke zu erfüllen, nur unterbrochen durch den Wechsel der Jahreszeiten und den Wechsel von Hell und Dunkel, der unsere kindliche Phantasie beflügelte und uns in einen kostbaren Urzustand versetzte, von dem wir hofften, dass er für immer anhalten würde.

(An einem kalten Wintermorgen im Jahre 1963, mit gestochen scharfen Bildern von Frost und von Raureif, waren wir das zweite Mal auf die Hut hinaufgefahren. Seit langer Zeit hatten wir dort das Gefühl, wieder aufatmen zu können und den Kellergeruch loszuwerden, der uns bereits anzuhaften schien in der engen, bedrückenden Anliegerwohnung mit den niedrigen Decken, in der wir damals lebten.

Wir Kinder stapften mit unseren Schlitten durch den Schnee und ließen den Abhang hinunter eine breite Rodelbahn entstehen, die zwischen den späteren Grundstücken hindurch bis zur Waldgrenze führte. Durch das unermüdliche Hinaufsteigen und Wieder-Hinunterfahren in der Kälte entstand in unseren Ohren eine Art Grundrauschen, wie von feinen Instrumenten, die angestimmt wurden, ein Klangteppich eines langsam anschwellenden Orchesters, das immer rhythmischer wurde und immer höhere und höhere Klangwellen schlug, bis es schließlich zu jubilieren anfing.

Wir jungen Schlittenfahrer bildeten diesen Rhythmus selbst, indem wir immer wieder wie besessen den Hang hinunterfuhren, immer schneller, immer waghalsiger wurden, bis wir schließlich die Waldgrenze durchbrachen und durch den hohen Pulverschnee lautlos zwischen den Stämmen der Baumriesen hindurchglitten und bis zum Schwarzgrund hinunterdrangen, zu einem Punkt absoluter, tödlicher Stille.

Immer wieder taten wir dies und erzeugten dadurch eine Ekstase, die Halluzinationen hervorrief, bis zu einem Punkt, wo sich tatsächlich der Klang in unseren Ohren, das Rauschen von Blut, in den gewaltigen Rhythmus des zweiten Satzes der Eroica verwandelte.

Es waren die Kräfte in uns, die sich zu diesem Rhythmus steigerten, der uns alles um uns herum vergessen ließ bis auf das Weiß des Schnees, das direkt unter unseren Köpfen vorbeiraste, die fast am Boden, tief zwischen den hochgewölbten Kufen des Schlittens lagen, während unsere Hände, taub bereits von der eisigen Kälte, diese umklammerten und unsere Körper sich auf das Holz des Schlittenkorpus pressten und unsere Zähne sich in die Bastkordel der Leine verbissen, die uns als Trense und als Steuerrad diente.

In diesem Winter fuhren wir lange Nachmittage hinunter, die immer dämmriger wurden, bis der Schnee zu flimmern anfing und löchrig vor unseren Augen wurde. Diesen Automatismus trieben wir bis zur Weißglut, bis die ungeduldig oben wartenden Erwachsenen uns gewaltsam von unseren Gefährten lösten und wir schließlich, auf der Rückbank, in der Wärme der Autos, vor Erschöpfung augenblicklich tief einschlummerten.

Diesen Vorgang planten wir jedes Jahr zu wiederholen, wenn der nächste Schnee auf der Hut fallen würde; voller Vorfreude dachten wir bereits im Herbst des kommenden Jahres daran, wie wir unsere Schlitten aus der Garage holen und uns auf den Weg machen würden.)

Bevor wir unsere Tragetüten wieder aufnahmen, um über den breiten Schotterweg zu gehen, von dem die Trampelpfade zu unserem Häuschen führten, warfen wir noch einen Blick auf den Himmel, der noch zeichnete, bevor es vollkommen dunkel wurde. Die Häuser hatten noch kein elektrisches Licht und wirkten verlassen. Die Hochspannungsmasten der Überlandleitung, die uns eines Tages den Strom bringen sollte, ragten bereits in den Himmel. Sie zogen sich weit über die Wälder hinweg bis zum Horizont und gaben uns das Gefühl, dass irgendwo da draußen das Leben stattfand, an anderen Orten, in anderen Städten, aber nicht hier. Ein plötzliches Gefühl des Verlassenseins und der Trostlosigkeit überfiel uns bei dem Gedanken an den Vater, der da draußen irgendwo unterwegs war, in diesen Städten, die wir nur von den Photos auf den Postkarten kannten, die er uns unter der Woche schickte, bevor er am Freitag nach Hause kam. Aber dieses Gefühl auf dem Weg durch die nächtliche Finsternis, bevor wir das Haus erreichten, war nur kurz und eines von vielen, die kamen und gingen. Oft lagen diese Gefühle auch nah beieinander. Freude war mit Beängstigung gepaart, Hoffnung mit Hoffnungslosigkeit – als stünde die Dynamik unserer Gefühle in einem krassen Gegensatz zu dem fortwährenden Stillstand, der hier oben herrschte, und kreiste ständig um sich selbst.

Um die Masten flogen Krähenschwärme und stießen herab in den Schnee. Den ganzen Winter über zogen sie ihre beunruhigenden Kreise in der Düsternis der Abenddämmerungen, und wenn sie auf dem weißen Grund tief unter ihnen etwas erspähten, das im Dunkel schimmerte, stießen sie herab wie paranoide Gedanken.

Unten am Fuß des Masts lagen eingerollt die mächtigen, faustdicken Kabel der Oberlandleitung, die von den Montagearbeitern tagsüber in schwindelerregender Höhe und in einer unglaublich mühsamen Bewegung Stück für Stück immer weiter in der Trasse montiert wurden.

Als ich zwischen vier und sechs Jahre alt war, interpretierte meine Phantasie unablässig die unterschiedlichsten Bedeutungen in die Dinge hinein.

Am Abend konnte ich nicht schlafen. Wenn ich die Augen schloss, beunruhigte mich eine Flut von Eindrücken, die sich auf der Netzhaut festgesetzt hatten. Wie ein Diavortrag, den ich nicht anhalten konnte, erschien Bild für Bild in seiner ganzen statischen Grausamkeit. Und ich erschrak jedes Mal, wenn mein Gedächtnis wieder mit einem Ruck ein neues Detail zum Vorschein brachte, das ich vergessen hatte, ein Büschel Gras, das sich im Wind bewegte, eine einsame Parkbank am Waldrand, eine Böschung, die halb schon im Schatten lag. Ich wachte dann jedes Mal, obwohl ich gerade fast schon eingeschlafen war, durch diesen Ruck wieder auf, mit dem mein völlig überladener Apparat das nächste Bild vor mein inneres Auge schob. Ich öffnete dann die Augen und starrte an die Decke. Manchmal huschte der Schatten eines auf der Schotterpiste vorbeifahrenden Wagens übergroß an der Decke vorbei. Dann wurde es wieder still, und das einzig Heimelige in der sich immer mehr entblößenden Hohlheit und Substanzlosigkeit der Welt war der alte Vorhang mit seinen verblichenen Blumenmustern, dessen Saum sanft über dem Fensterbrett schaukelte.

Morgens erwachte ich nach einem langen, tiefen Schlaf mit dem köstlichen Vorgefühl, dass der ganze Tag mir gehörte und ich ihn bis zur Neige auskosten konnte.

Vor unserem Haus breitete sich eine Fläche aus, die sich nach allen Seiten über mehrere Quadratkilometer bis zum Waldrand erstreckte. Dieses sogenannte Baugelände, auf dem in den nächsten Jahren die Siedlung entstehen sollte, war im Jahr zuvor von Baggerfahrzeugen planiert worden, die Felder und Wiesen abgetragen hatten, sodass der nackte Lehmboden darunter zum Vorschein kam.

Der Tag fing damit an, dass ich diese riesige Fläche überquerte, um zu den Wiesen am Waldrand und in den Wald zu gelangen. Mit dem Weg dorthin, dem Aufenthalt im Wald und der Rückkehr füllte ich die Zeit bis zum frühen Abend.

Jeden Tag besuchte ich zur gleichen Stunde die gleichen Orte, wie ich es auch später, egal, wo ich lebte, tat. Anderen mochte es langweilig sein, ihre Tage einer so perfekten Routine zu unterwerfen, wie ich es tat, und immer nach der gleichen Gewohnheit zu leben. Für mich war es eine Conditio sine qua non. Fast zwanghaft schon befasste sich mein Vorstellungsvermögen mit dem, was es kannte und was es erwartete. Es irritierte mich furchtbar, wenn der Ablauf des Tages nicht stimmte, weil irgendetwas dazwischengekommen war und anders verlief, als ich es mir vorgestellt hatte. Ich fühlte mich dann herausgeschleudert aus meinem magischen Kreislauf und wurde furchtbar ungehalten, quengelig und verärgert, weil ich nicht das bekam, auf was ich mich schon so gefreut hatte. Es konnte mir zum Beispiel nie passieren, dass ich zur Unzeit abends nach Hause kam und die geliebte Schattenlinie verfehlte, die das Haus gegen die zunehmende Dämmerung warf. Es musste auch schon das gedämpfte Flurlicht brennen, und der Trampelpfad unter meinen Füßen durfte kaum noch erkennbar sein. Selbst der Putzlappen an der Schwelle des Eingangs, auf den das Flurlicht durch die bunten Glasbausteine neben der Tür fiel, war ungeheuer wichtig. Der große Busch neben dem Wasserhäuschen, in tiefen Schatten getaucht, musste bereits seinen kühlen Duft von Jasmin verströmen, der sich erst in der Nachtluft entfaltete. Und manchmal, an manchen Tagen, verfluchte ich sogar die Leuchtkäferchen, weil sie nicht, wie erhofft und erwartet, kamen. Außerdem musste ich – im Sommer – einen bestimmten Grad von Sonnenbrand haben; es musste ein bisschen kitzeln und brennen, um dem Gesamtbild, das ich mir von meiner Rückkehr ins Haus gemacht hatte, eine noch größere Authentizität zu verleihen. Auch die Ungewissheit, die ich über allem spürte und die meine Zuversicht minderte, durfte nicht fehlen, um die Grundspannung zu halten, in der sich mein Universum befand.

Sonst wäre mir alles unecht erschienen, hätte ich nicht diese Ungewissheit gespürt. Sie war im Geruch des feuchten Zements, der überall noch im Haus hing, und oft holte ich mir eine Überdosis davon, wie ein Schnüffler, wie ein Süchtiger, der an einer Plastiktüte mit Patex hängt, was zur Folge hatte, dass diese Ungewissheit mich nachts, wenn ich nicht schlafen konnte, wie eine Geruchshalluzination überfiel und mich in meinem kleinen Schlafzimmer mit einer Art trostloser, selbstquälerischer Sehnsucht nach dem Unbekannten erfüllte.

Ich wurde nicht, wie andere, durch Routine erstickt, sondern sie schaffte mir Freiräume im Denken. Wenn Unvorhergesehenes geschah, war es aus mit der Freiheit, und ich musste die Umstände neu tarieren, wenn beispielsweise ein fremder Mensch zu Besuch kam, mit dem wir einen Ausflug machten, und wir uns nach diesem fremden Menschen richten mussten oder wenn wir andere Orte besuchten als diejenigen, die wir schon auswendig kannten, und uns von daher neu orientieren mussten. Das war jedes Mal schrecklich für mich. Es brachte nur unnötige Unruhe und machte überhaupt keinen Spaß. Außerdem beinhaltete es die unausgesprochene Drohung, dass Dinge sich ändern konnten, was ich keinesfalls wollte.

Als ich zum Beispiel den Schweinebraten mit Kartoffelklößen und Rotkohl entdeckt hatte, wollte ich nie wieder etwas anderes essen. Wenn wir, was manchmal an den Wochenenden geschah, in die fränkische Schweiz fuhren, nach Egloffstein oder nach Kirchehrenbach, und dort die immer gleichen Landgasthöfe besuchten, konnte ich nicht begreifen, warum die Erwachsenen sich der aufreibenden und lästigen Tätigkeit widmeten, in die Speisekarte zu blicken und diese sogar noch zu studieren, obwohl ja jeder wusste, dass es den phantastischen Schweinebraten gab, den am Ende sowieso jeder essen würde. War er einmal aus, dann machte mich das sehr wütend, weil die Gewohnheit unterbrochen wurde. Ich wollte dann gar nichts mehr essen.

(Später kam noch ein zweites Gericht hinzu, das ich sehr mochte, den gebackenen Karpfen mit Kartoffelsalat, ebenfalls ein regionaltypisches Gericht.)

Waren die fünf Gänse nicht da, die normalerweise immer mit lautem Gackern auseinandertrieben, wenn wir den winzigen Steg über den Kirchehrenbach zum Gasthaus hin überquerten, war das für mich eine Veränderung in der Routine, die mich düster stimmte. Ging damit doch die Befürchtung einher, dass dies ein Vorzeichen dafür war, dass gleich etwas viel Schwerwiegenderes schiefgehen könnte, nämlich dass der Schweinebraten aus war. Das hätte mir dann den ganzen Tag verdorben.

So war ich angewiesen auf die einzelnen Punkte der von mir festgesetzten Alltagsroutine und durch nichts davon abzubringen. Ich hangelte mich daran durch den Tag, bis ich ihn endlich hinter mir hatte. Daran würde sich nie etwas ändern.

Andererseits gab ich jede Verantwortung für die restlichen Dinge des Alltags ab, die nicht in mein System gehörten. Ich überließ es den Erwachsenen, über Wanderkarten zu brüten. Sie waren es schließlich, die aus dem Wald herausfinden mussten. Ich dackelte lediglich hinter ihnen her, um mir keine Gedanken darüber machen zu müssen. Da ich mich weigerte, mir über all diese Lappalien den Kopf zu zerbrechen, blieb ein großer Teil meines Gehirns in einer wunderbaren schöpferischen Leere. Ich war ein Mensch ohne Neugier. Und ohne Neugier schien ich bereits auf die Welt gekommen zu sein.

Die Bauernhöfe, die entlang der Steigung bis nach unten zum Fuß des Dorfes lagen, waren immer in einen Nebel gehüllt, der abgestanden, nach Verwesung roch, mal stärker, mal weniger stark, mal nach Waschküche, mal nach Schlachtung, mal nach Fäkalien. Die Bauern ließen sich niemals blicken, auch beim Dorfmeister Ammon nicht und auch nicht beim Fleischer, den sie zwar belieferten, aber bei dem sie nicht kauften, um ihre Autarkie zu unterstreichen. Während der Jahre der frühen Kindheit haben wir die Bauern kein einziges Mal zu Gesicht bekommen, vielleicht mal den einen oder anderen vereinzelt weit entfernt auf den Feldern auf seinem Traktor gesehen. Sie hatten sich nach dem Verkauf der Grundstücke jeder Verantwortung entzogen. Nur einmal brandete ihre Wut auf, als sie in einem Fall ihre Interessen nicht durchsetzen konnten, und da bekam man zu spüren, wie tief ihr Hass saß und wie roh und primitiv sie ihm Ausdruck verliehen.

Wie eine Wehr umstanden die Höfe und Bauernhäuser die katholische Kirche, die nur durch ein Labyrinth schmaler Gassen zu erreichen war. Eingeschüchtert schlichen wir durch diese bedrückende Atmosphäre zum Geschäft des Dorfmeisters Ammon, das hinter der Kirchhofsmauer lag, wo, vor dem Eingang zum Kirchhof, ein weiterer, großer INRI, dem das Blut aus den Augen tropfte, aufgepflanzt war.

Der Dorfmeister Ammon war und blieb für uns eine schimärenhafte, dickliche Gestalt mit wässrigen, hellblauen Augen und einem rötlichen Flaum auf dem Schädel, auch er in einen diffusen Nebel aus Kältedampf und Fleischgestank gehüllt, in dem er hantierte, hinten im Kühlraum, wo die Schweinenacken hingen, aus dem er dann schließlich mit ungeschlachten Bewegungen heraustrat, um die Wurst vom Haken zu reißen und vor der Auslage in dicke Stücke zu schneiden, die er uns dann mit seinen Wurstfingern überreichte, damit er uns dabei zusehen konnte, wie wir sie gierig hinunterschlangen. Der Dorfmeister Ammon, dessen unterdrückte Gewalttätigkeit sich in jeder seiner Bewegungen manifestierte, war der einzige Dörfler, den wir je leibhaftig zu Gesicht bekamen. Oft verschwamm sein Gesicht vor unseren Augen, als käme er aus einem Alptraum, der immer undeutlich blieb.

Das Dorf war und blieb in unserer Erinnerung menschenleer. Feuchte Pflastersteine, zugezogene Vorhänge vor den kleinen, zur Gasse gelegenen Fenstern – Totenstille.

Und wenn man sich beweisen wollte, dass diese Kulisse bewohnt war, dann musste man warten bis zum Geläut der Messe, bis die Kirchenglocken mit immenser Wucht und Lautstärke über den Häusern geschlagen wurden und das Pflaster erschütterten. Unter diesem pathetischen, furchterregenden Lärm, der alles Leben im Keim erstickte, strömten sie dann, in der Masse, alle in Schwarz, klein und gedrungen, Richtung Kirche, angeführt von einer Schar uralter, vermummter Weiber in bodenlangen schwarzen Kleidern, deren runzelige Gesichter und scheelen Geieraugen unter Schleiern und Kapuzen verborgen waren.

Weiter als bis zu den hellen Scheiben des Herrn Ammon haben wir uns nie ins Innere des Dorfs vorgewagt. Und jedes Mal atmeten wir auf, wenn wir es wieder verlassen hatten, die letzten Bauernhöfe hinter uns ließen und uns am Eis der unbefestigten Straße festklammern konnten, das aufblitzte wie ein Zeichen von Freiheit.

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