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Oskar Roehler

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Beschreibung

Familienroman, Künstlerroman und Entwicklungsroman der frühen Bundesrepublik  Eine Familie, drei Generationen, die Geschichte der Bundesrepublik: Robert Freytags Großvater Erich, der Kriegsheimkehrer, der seine Frau an eine andere Frau verliert. Roberts Eltern, die Schriftsteller Nora und Rolf, die über ihrem Streben nach Selbstverwirklichung und freier Liebe zugrunde gehen. Und schließlich Robert selbst, der zwischen der Geborgenheit im Haus seiner Großeltern und dem enthemmten Leben der 68er aufwächst, immer auf der Suche nach dem eigenen Glück, das so schwer zu finden ist. Oskar Roehlers Roman ist die Geschichte einer Familie und zugleich ein sehr persönliches Zeitdokument von großer poetischer Kraft. "Ein Buch, das lesen muss, wer wissen will, woher wir gekommen sind." Der Spiegel  "Ein wütendes Werk, mit großer Wucht und Präzision geschrieben, ehrlich, zornig und schonungslos." Süddeutsche Zeitung  

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Herkunft

Der Autor

OSKAR ROEHLER, geboren 1959, ist Schriftsteller und Regisseur. Seine Romane erscheinen seit 2011 bei Ullstein. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.

Von Oskar Roehler sind in unserem Hause erschienen:Mein Leben als Affenarsch · Selbstverfickung · Der Mangel

Oskar Roehler

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Roman

Ullstein

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Neuausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage März 2022Alle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinTitelabbildung: Oskar Roehler © privatAutorenfoto: © Nadine FraczkowskiE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comISBN 978-3-8437-2735-8

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Inhalt

Titelei

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil eins

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

Teil zwei

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

Teil drei

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

Epilog

Anhang

Dank

Quellenverzeichnis

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil eins

Teil eins

1.

Kurz bevor die Westmächte das Grundgesetz der neuen Bundesrepublik Deutschland genehmigten, bewegte sich mein Großvater Erich Freytag durch die Straßen eines Ortes, den er noch nicht kannte, und näherte sich einem kleinen, verlassenen Provinzbahnhof.

Vor drei Wochen war er aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen worden und hatte Hunderte von Kilometern, teils in klapprigen Bummelzügen, teils zu Fuß, zurückgelegt. Meistens war er allein gewesen und hatte viel Zeit zum Nachdenken gehabt. In dieser Zeit war alles in einer merkwürdigen Schwebe geblieben.

Es schien, als hätte sein entkräfteter Körper sich mit Träumereien über Wasser gehalten. Er konnte sich an fast nichts erinnern. Er hatte auch nur eine sehr verschwommene Vorstellung davon, dass das Land, für das er in den Krieg gezogen war, untergegangen war. Er war nicht dabei gewesen. Er hatte den Showdown verpasst.

Große Teile der Heimat waren weg. Inklusive der eigenen, Thüringen, waren sie an den kommunistischen Pöbel gefallen. Er hatte es nur gerüchteweise erfahren, er war im Lager gewesen. Solange er die polnischen Dörfer durchstreift hatte, ging es noch. Aber nun war er am Ziel angelangt. Was er sah, beunruhigte ihn. Hausfrauen machten Einkäufe, hängten Wäsche auf, Hauseingänge wurden geputzt, Wohnungen gelüftet, man hörte Kindergeschrei. Das Leben hatte offenbar ohne ihn längst wieder angefangen. Er sah sich um und merkte, dass Blicke auf ihm ruhten. Er schämte sich. Und er hatte allen Grund dazu. Er sah aus wie ein Clown. Haare, lang, grau und dünn, hingen an seiner Glatze herunter. Man hatte sie ihnen nicht mehr geschnitten, weil sie eigentlich erschossen werden sollten. Die Zähne waren ihm nach und nach ausgefallen. Der letzte vordere Schneidezahn, der noch die Stellung gehalten hatte, war von einem brutal harten Kanten Brot zur Strecke gebracht worden.

Jetzt würde er das Brot, wie eine Spinne, mit seinen Magensäften zersetzen müssen, wenn er nicht irgendwann ein Gebiss fand. Dazu kam die Ruhr. Er hatte immer noch Dünnpfiff. (Später kam die Verstopfung hinzu, die sich wie ein dicker Riegel vor den Dünnpfiff schob, was ihm mehr Sicherheit gab.)

Unsicher auf den Beinen taperte er auf den kleinen, verlassenen Provinzbahnhof zu.

Nun war er seinem Ziel sehr nahe. Er würde zu der Sammelstelle am Bahnhof gehen und die letzten verbliebenen Anschläge lesen. Es waren nur noch wenige, die an dem großen Brett hingen. Er sah sie schon von Weitem, und seine Anspannung wuchs. Wenn es stimmte, was sein Kamerad gehört hatte, dann war die Familie in diesem Ort gelandet und er würde den Zettel finden.

Der Anblick war trostlos. Etwa zwanzig Papierfetzen, vom Regen und der Sonne ausgeblichen, gaben ihm das Gefühl, viel zu spät aus dem Krieg heimgekommen zu sein. Aber dann fand er den Zettel. Das war die Schrift seiner Frau:

Elisabeth Freytag. Buckenhofen. Kammgasse 3. – sucht ihren Ehemann – in Russland vermisst.

Als er den Zettel abnahm und vor sich hinhielt, begann sich seine Brust auf einmal schwer zu heben und zu senken. Es kam wie von allein, er konnte nichts dagegen tun. Er versuchte das Gefühl in den Griff zu bekommen, aber es überwältigte ihn.

Es war ein komisches Gefühl. Es war, als würde Sauerstoff in einen Stollen gepumpt, oder in eine Gruft. Da er merkte, dass er seinen Körper nicht unter Kontrolle hatte, zog er prophylaktisch den Schließmuskel zusammen. Er wollte keinesfalls beim Anblick der Schrift seiner Frau in die Hose machen. Tränen waren ihm offensichtlich keine gekommen, obwohl er sich nicht einmal dagegen gewehrt hatte. Wahrscheinlich war nicht nur der Rachenraum, sondern der gesamte Schädel bis in die Augenhöhlen hinein vollkommen ausgetrocknet. Als eine Frau auf ihn zukam, um ihm weiterzuhelfen, ergriff er die Flucht.

Während Erich sich der Kammgasse näherte (er hatte niemanden nach dem Weg gefragt), stieg sein Unbehagen. Er hatte stundenlang nach dieser Gasse gesucht. Aber der Name war vollkommen irreführend. Was er hier vor sich sah, hatte mit einer »Kammgasse« nichts zu tun. Stattdessen sah er etwa zehn Wohnblöcke, jeweils mehrere Stockwerke hoch. Sie standen irgendwo, im Niemandsland, auf harter graubrauner Erde.

Eine Woge von Selbstmitleid überrollte ihn plötzlich. Was hatte er hier zu suchen? Was sollte das Ganze? Er war neunundvierzig Jahre alt, fühlte sich aber wie achtzig.

Er hatte keine Zähne und stank aus dem Mund. Er hatte sich daran gewöhnt, im Morgengrauen Maden zu fressen, seinen Urin zu trinken und irgendwann erschossen zu werden. Weshalb, um Himmels willen, sollte er plötzlich ein neues Leben anfangen?

Was für ein schlechter Witz war das? Vermutlich hatte er tatsächlich mit dieser früh ergrauten Frau mit dem ausgemergelten Gesicht und der großen Nase Söhne gezeugt. Das abgeschabte Foto in seiner Tasche bewies das. Aber es war verdammt lange her.

So lange her, dass sich Müdigkeit und Überdruss einstellten, wenn er überhaupt nur daran dachte. Es war bitter, dass er damals so naiv gewesen war, sie für den Führer zu zeugen. Magda Goebbels hatte die Chance gehabt, ihre Kinder zu töten. Er nicht. Er würde nun zusehen müssen, wie sie in eine Judenrepublik hineinwuchsen.

Er wollte sie gar nicht mehr sehen. Der Rückweg war ihm allerdings verschlossen. Wo hätte er hingehen sollen mit seinem Dünnpfiff? Die einzige Chance, die er noch hatte, waren die fünf Schuss in seinem Revolver. Er hätte sie schon vorher nutzen sollen. Dann hätte er sich diese beschissene Reise erspart.

Beim Überqueren des Platzes erkannte er die Wohnung zwischen den Blöcken, gleichsam im Vorbeigehen, an den alten Vorhängen. Sie verströmten ein merkwürdiges, sentimentales Gefühl. Er blieb stehen, mahlte mit dem Unterkiefer und dachte einen Augenblick nach.

Was machte es schon, wenn es schiefging? Was hatte er zu verlieren?

Die Wohnung lag im Hochparterre. Die Tatsache, dass er ins Schlafzimmer blicken konnte, erregte ihn. Plötzlich war, hochgeschossen wie aus dem Nichts, etwas da, das sich wie eine Erektion anfühlte. Er schlich zum Fenster und blickte hinein. Durch die hellen, transparenten Vorhänge konnte er die Konturen des alten Schlafzimmers erkennen, die im Halbdunkel lagen. Ihm fiel ein, wie sich seine Frau immer vor der Kommode wusch, mit einem Lappen, den sie in lauwarmes Wasser tauchte, unter den Achseln und auch zwischen den Beinen.

Ihr breites Becken, ihre geigenförmige Figur. Im Lager war ihm das Wichsen vergangen. Jetzt bekam er plötzlich wieder Lust darauf. Er dachte daran, wie er aussah und wie er stank, und empfand diese Gefühlsregung als nihilistisch. Die Tatsache aber, dass er überhaupt einen Gedanken formulieren konnte, egal, wie abwegig er war, erregte ihn. Auf seinen eingefallenen Mund quälte sich ein bizarres Lächeln.

Das Schlafzimmer war leer. Plötzlich hörte er eine Art Schrei. Er fuhr herum.

Vor ihm, wenige Meter von ihm entfernt, stand groß und blond seine verhasste Schwester Marie. Sie überragte ihn noch immer, und in ihren kalten blauen Augen war noch dieselbe Verachtung zu lesen, die sie seit jeher für ihn übriggehabt hatte. Sie schien überhaupt nicht älter geworden. Er fühlte sich wie ein Greis neben ihr.

Als sie siebzehn war, hatte sie begonnen, ihn nachzuäffen. Das ging so weit, dass sie sich Achselhaare abschnitt und als Hitlerbärtchen unter die Nase klemmte, eine braune Uniform anzog und die Reden, die er für die NSDAP auf den Marktplätzen hielt, hinter seinem Rücken zum Besten gab, vor der ganzen Familie, die sich vor Lachen bog.

Wenn er dazukam und ihr die Blätter aus der Hand riss, improvisierte sie einfach weiter.

Er hätte ihr damals am liebsten ein paarmal den Kiefer gebrochen, aber er war machtlos. Sie stand unter dem Schutz seines Vaters, des Patriarchen, der ihn schließlich wegen seiner Parteizugehörigkeit enterbte. Das war auch der Grund, weshalb er in den Krieg gezogen war. Er hatte die Schnauze voll gehabt. Seit dieser Zeit hasste er Marie. Jetzt starrte sie ihn aus ihren kalten blauen Porzellanaugen verwundert an, als wäre die Zeit stehen geblieben.

»Erich?«, rief sie mit ihrer typischen, spöttischen, leicht überdrehten Stimme.

Er hatte niemals damit gerechnet, dass sie in seinem Leben noch einmal eine Rolle spielen würde. Sie wollte früher immer nach Berlin und Schauspielerin werden. Was, verdammt noch mal, machte sie hier?

Er gab dem Impuls, sich größer zu machen, im letzten Moment nicht nach, weil er sich rechtzeitig erinnerte, dass sie das auch immer nachgeäfft hatte. Stattdessen räusperte er sich und fixierte sie unter der Tarnung seiner buschigen, dicht zusammengewachsenen Augenbrauen.

»Ist Elli da?«, nuschelte er.

»Nein, du Schwein, nein, du Schwein, nein, du Schwein«, hörte er sie schon singen, wie früher immer. Stattdessen fragte sie, immer noch erstaunt über seine Erscheinung und Anwesenheit: »Wie bitte?«

Er gab sich Mühe, seine Frage zu wiederholen. Seine Geduld war bereits aufs äußerste strapaziert.

»Nein, sie ist nicht da«, sagte Marie und starrte ihn an. »Sie ist einkaufen gegangen.«

»Und wann kommt sie wieder?«, fragte er.

»Woher soll ich das wissen?«

Erich senkte den Blick und spürte das Eisen seines Revolvers in der Hosentasche. Seine Erektion war abgeklungen. Zum Lustgewinn hatte Marie wahrlich nicht beigetragen.

Er hatte zumindest die Genugtuung, dass er sie, wenn er wollte, einfach abknallen konnte. Erich wartete noch einen Augenblick mit gesenktem Blick auf irgendein Zeichen des Entgegenkommens von ihr, dann schaute er auf und sah sie wieder unter seinen buschigen Augenbrauen hindurch an. Er wusste, dass die Ruhe in seinem Blick und die Tatsache, dass man diesen Blick nicht genau orten konnte, sie verunsichern würde.

»Willst du reinkommen?«, fragte sie, tatsächlich etwas eingeschüchtert.

Er schüttelte den Kopf. »Ich kann warten«, sagte er nur und setzte sich in Bewegung.

Diesen kurzen Zweikampf schien er am Ende möglicherweise gewonnen zu haben.

Marie, die eigentlich einen Wäschekorb dabeihatte, ging wieder hinein. Offenbar hatte auch ihr die Begegnung zu denken gegeben. Sie beherrschte es nur besser, es sich nicht anmerken zu lassen.

Kaum fühlte er sich nicht mehr beobachtet, fiel Erich wieder in sich zusammen.

Er schlurfte über den fest gestampften, geharkten Sandplatz zu einer Bank am Ende der Häuser, die nur auf ihn gewartet zu haben schien. Er nahm den Tornister ab und ließ sich neben ihn auf die Bank fallen. Der Schock, dass seine Schwester da war, saß ihm tief in den Knochen. Er lauerte darauf, dass irgendeine Antwort in seinem leeren Hirn auftauchte. Was er fühlte, war Bedauern, eine tiefe Resignation darüber, dass das Schicksal am Ende seiner langen Reise durch Nacht, Tod und Dunkelheit nun ausgerechnet seine Schwester als Belohnung für ihn bereithielt.

Mit einer tumben Bewegung fischte er nach dem letzten Kanten Brot in seinem Tornister. Er war bereits viel zu hart, um ihn auseinanderbrechen zu können. Erich versuchte, sich den Kanten in den Mund zu schieben, um ihn zu lutschen und langsam aufzuweichen, aber zu seiner seelischen Pein stellte er fest, dass er zu groß war und er ihn nicht ganz in den Mund bekam. Wie ein Pfropfen blieb das Brot zwischen den Lippen hängen. Er blies wütend, mit letzter Kraft, und der Klumpen ploppte schließlich hinaus und landete im Sand.

Wie in einem Vakuum tauchten jetzt vier Gestalten am Rand seines Gesichtsfelds auf und gingen in einiger Entfernung auf das Haus zu. Schon an dem weichen Gang erkannte er seine Frau. Dann mussten die beiden anderen seine Söhne sein. Aber wer war der kleine Vierte im Bunde, dessen schmaler Kopf und Segelohren weithin sichtbar waren?

Wer war das? Hatte er ihn zweiundvierzig, auf seinem letzten Heimaturlaub, noch schnell gezeugt (er konnte sich nicht erinnern), oder war das ein Kuckucksei, das sie ihm da ins Nest gelegt hatten? Er erinnerte sich jedenfalls, nur zwei Söhne zu haben.

Die Sache gab ihm zu denken. Sie hatten ihn nicht bemerkt, steuerten in dem angenehmen Licht, das die späte Nachmittagssonne auf den Platz warf, auf das Gebäude zu und verschwanden schließlich darin. Er rechnete damit, dass seine Frau (immer zur Nachgiebigkeit bereit) spätestens in einer halben Stunde, nachdem Marie ihr alles erzählt hatte, zu ihm kommen und ihn hineinholen würde. Doch nichts dergleichen geschah.

Erich wurde jetzt tatsächlich unruhig. War es möglich, dass Marie nichts erzählt hatte und ihn draußen warten ließ, um einen Eklat zu provozieren? Zuzutrauen war ihr alles.

Aber er glaubte es nicht. Wahrscheinlich saßen sie alle ratlos in der Küche und wussten nicht, was sie machen sollten. Vielleicht hatte Marie ihnen erzählt, dass er gefährlich war.

Ihm brummte der Schädel. So viel auf einmal hatte er seit vielen Jahren nicht mehr gedacht. Er schob sich seine Wumme in der Hose zurecht und stand langsam auf.

Während er den Platz überquerte, wurde es dunkel. In der Küche ging Licht an.

Und tatsächlich, da saßen sie und hielten eine Art Familienrat ab. Im selben Moment warf Marie einen Blick hinaus und zog die Vorhänge mit einer aggressiven Bewegung zu.

Jetzt reichte es ihm. Er marschierte die letzten zwanzig Meter auf das Haus zu und klingelte. Es dauerte, bis jemand kam. Als die Haustür aufging, traf ihn wieder Maries kalter, ungerührter Blick.

»Ah, Erich. Willst du jetzt doch reinkommen?«, fragte sie.

Es kam ihm vor, als wäre sie in den wenigen Stunden wesentlich stärker geworden. Vielleicht hatte sie sich den Rückhalt der Familie gesichert. Er wich ihrem Blick aus.

»Ich hoffe, du hast nichts dagegen«, sagte er und sah sie erst jetzt scharf an.

Sie blickte sofort weg, schien allerdings wieder nicht zu verstehen. Sprach er tatsächlich so undeutlich?

Schließlich hielt sie ihm die Tür auf: »Na, dann komm mal rein.«

Sie ging voran. Im Flur der Wohnung standen die gleichen Möbel wie früher. Sogar der Läufer war noch aus Graubach.

Als er in die Tür trat, war Elli bereits aufgestanden. Auch sie war mindestens einen halben Kopf größer als er. Immerhin machte sie sich sofort schuldbewusst kleiner, als sie es bemerkte. Ihr verging schnell das Lächeln. Offenbar erschrak sie über sein Aussehen.

Ihm fiel auf, dass ihre Haltung schlechter geworden war. Ansonsten war sie ihm erstaunlicherweise überhaupt nicht fremd. Alte Erinnerungen daran, wie unsportlich sie immer gewesen war, kamen hoch. Auch an ihre weiche, selbstvergessene Art zu gehen erinnerte er sich plötzlich wieder. Es schien elektrisch zu knistern, wie früher öfter, wenn er in die Nähe ihrer Aura kam (was nicht bedeutete, dass es zwischen ihnen knisterte, sondern eher, dass es vor Trockenheit Funken schlug).

Offenbar hatte sie ihm die Hand geben wollen oder ihn umarmen oder was man bei solchen Gelegenheiten tat, aber dann wich sie zurück. Auch die Worte waren ihr im Hals stecken geblieben. In der Küche wurde es plötzlich sehr still.

Alle sahen ihn an, als erwarteten sie, dass er den Mund aufmachte und etwas zum Besten gab. Was sollte er sagen? Dass es nicht so gut gelaufen war, wie sie anfangs gedacht hatten? Dass es in Stalingrad nachts ziemlich kalt werden konnte?

Er merkte, dass ihm nichts einfiel. Und kapitulierte. Mit der zunehmenden Stille, die in der Küche einsetzte, wurde ihm schummrig. Er tastete sich zu einem Holzschemel vor, der in der Nähe der Tür stand, und setzte sich erst einmal. Das Rauschen in seinem Kopf fing wieder an. Schemenhaft nahm er den Küchenboden wahr, der in nebulösem Grau vor ihm lag.

Sein Blick suchte Halt auf den klobigen Schuhen der Kinder, die paarweise, ihm gegenüber, regungslos auf dem Boden standen.

»Nun, Kinder, sagt guten Tag!«, rief Marie. »Schaut, das ist euer Papi! Erkennt ihr ihn nicht?«

Sie zeigte mit dem Finger auf ihn. Ihre laute, fröhliche Stimme dröhnte schmerzhaft bis in die hintersten Kanäle seiner Ohren und drohte sein Gehirn in Flammen zu setzen.

Halt dein verdammtes Maul!, dachte er.

Er wusste, dass sie jede seiner Regungen haargenau beobachtete. Unauffällig versuchte er, Luft in die Lungen zu pumpen, aber sein Brustkorb blieb hart wie ein Panzer. Das Rauschen in seinen Ohren schwoll an und ebbte ab wie die Brandung eines Ozeans.

Wenn es abebbte, hörte er irgendetwas. Jetzt zum Beispiel. Es war ein penetrant lautes Flüstern, eine krähende Kinderstimme, die ebenso bohrend war wie die von Marie.

Sie musste seinem jüngsten Sohn gehören, dessen schmaler, länglicher Kopf Ähnlichkeit mit einem Vogel hatte. Jetzt war es ein Schnarren. Was hatte der Junge gesagt?

Er hob den Blick und sah ihn an. Der Junge schaute mit leeren Augen zurück. War er vielleicht debil? Die Augen standen sehr eng zusammen und lagen tief in den Höhlen, wie bei einer Eule. Sein Gesicht war das nicht. Und auch nicht das von Elli. Es gab niemanden in seiner Verwandtschaft oder unter seinen Vorfahren, dem dieses Gesicht ähnlich war. Wann hatte er ihn gezeugt? Wie alt war dieser seltsame Junge?

»Wie alt bist du, Junge?«, hörte er sich flüstern.

Es kam keine Antwort.

Erich senkte den Blick und starrte auf seine klobigen Schuhe, bis sie verschwammen. Er konnte nicht mehr. Er hörte, wie sein ältester Sohn etwas zu seiner Mutter sagte.

Seine Stimme klang dunkel, sonor und weich. Er war ihm vom ersten Moment an sympathisch. Er war der Einzige, über dessen Gesicht ein Lächeln gehuscht war, als er an die Tür trat.

Erich versuchte zu verstehen, was sein Ältester sagte. Er war groß und sah gut aus, wirkte bereits erwachsen. Bestimmt versuchte er seiner Mutter zu verstehen zu geben, dass es an der Zeit sei, ihn endlich nach hinten zu führen, ihm ein Bad einzulassen und ihm das Bett aufzuschlagen, dort, wo sein angestammter Platz war. Ihn schlafen zu lassen und ihm Heiltee hinzustellen gegen die Scheißerei.

Stattdessen hörte er jetzt ganz deutlich die schnarrende Stimme laut krähen: »Der Papi stinkt. Der Papi stinkt.«

Erich blickte auf. Der Kleine fing an, blöde zu kichern. Dabei hielt er sich die Nase zu. Sofort bekam er von dem Zweiten eine gescheuert, dass er fast vom Hocker fiel. »Wie kannst du so etwas sagen!«

Der Kleine rannte heulend aus der Küche, Marie lief ihm hinterher.

So verteilten sich in diesen ersten, entscheidenden Momenten in der Küche nach und nach die Sympathien und Antipathien. Erich wusste jetzt ungefähr, wo er stand – und es ging ihm gleich ein wenig besser. Er fragte den Zweiten nach seinem Alter. Zu mehr fühlte er sich noch nicht in der Lage. Heinz gab ihm bereitwillig Auskunft.

Elli fragte ihn jetzt, ob er etwas trinken wolle.

»Gib mir einen Schluck Wasser«, nuschelte er. Wie er das sagte, klang es nach irgendeinem Kauderwelsch, kaum noch Deutsch. Elli und der Älteste, Rolf, tauschten einen Blick, bevor sie an den Wasserhahn ging und ein Glas darunter hielt.

Sie reichte es ihm. Erich trank es in hastigen Zügen. Dabei merkte er, dass seine Mission für den heutigen Tag beendet war. Es gab nichts mehr zu sagen. Dass er nicht gleich die Knarre herausgeholt hatte, war seiner Frau und seinem Ältesten zu verdanken.

Der Kleine im Hintergrund greinte immer noch laut. Allein das wäre schon Anlass genug gewesen. Das Rauschen in seinem Kopf hatte allmählich aufgehört, und er erhob sich langsam. Er merkte, wie das Wasser in seinem Magen rumorte. Die Ruhr hatte ihn immer noch am Haken.

»Auf euer Wohl.« Er stellte das Glas ab.

»Du willst uns doch nicht schon wieder verlassen?«, hörte er Marie sagen. Sie stand in der Küchentür und hielt den Jungen mit einer solchen Selbstverständlichkeit auf dem Arm, als wäre sie seine Mutter und dies ihr Zuhause.

»Wie lange bist du eigentlich schon hier, Marie?«, hörte er sich fragen.

Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. »Seit wir hier sind, Erich. Seit drei Jahren. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.« Sie sah ihn herausfordernd an. Der Scheinfriede war gebrochen.

»Und was habt ihr gemacht?«, fragte er mit vor Wut zitternder Stimme.

Marie zog ratlos die Mundwinkel nach unten und sah Elli an. »Was wir gemacht haben? Was haben wir gemacht? Wir haben die Zeit totgeschlagen. Was sollen wir sonst gemacht haben? Wir haben amerikanische Krimis gelesen und jüdische Zigaretten geraucht. Und im Bikini in der Sonne gelegen. Und den Rest der Zeit haben wir uns geschminkt, haben uns hohe Schuhe angezogen und sind ausgegangen. Und ja, wir haben mit den Amis Rauschgift genommen. Wir haben viel, viel Rauschgift genommen. Ach, das hätte ich fast vergessen. Dann haben wir es mit ihnen getrieben.«

Der Junge mit dem Vogelkopf fing laut an zu lachen. Marie lachte mit und blickte sich einladend um. Rolf lachte auch, eher aus Hilflosigkeit und weil er glaubte, dadurch die Situation zu retten. Elli fiel vorsichtig in das Lachen ein. Erich stand mit eingekniffenem Mund da und nickte. Es war wie früher. Da hatte sie recht. Er war immer noch der Dumme. Es hatte sich nichts geändert.

Lars, so hieß der Junge, bekam einen Schluckauf. Sein langer Kopf bebte und wurde puterrot. Marie schlug ihm auf den Rücken.

Ich werde mich wohl bei euch fühlen, dachte Erich zynisch. Ihr werdet bestimmt alles tun, um mir das Leben angenehm und erträglich zu gestalten. Du, geliebte Schwester, wirst mir abends, wenn ich nach Hause komme, die Schuhe ausziehen und mir die Füße massieren. Elli wird mir dabei aus der Zeitung die wichtigsten Meldungen vorlesen. Es werden alles gute Nachrichten sein, die davon handeln, wie es in diesem Land wieder bergauf geht.

Und dann, dann werde ich es mit euch beiden treiben, mit der blonden und der brünetten Ami-Hure und Vaterlandsverräterin. Ich werde das große Ehebett mit euch beiden verwüsten, bis es auseinanderkracht, bis die Nieten aus der deutschen Eiche splittern, wie ich es oft in Polen, in der Ukraine und in Galizien getan habe. (Und sogar in Paris, als ich noch Korpsstudent war.)

»Die Geschichte wiederholt sich, Heidegger«, murmelte er.

Marie konnte wenig mit dem ominösen Satz anfangen. Sie blickte Elli fragend an, ob sie eine Erklärung dafür hatte, was in dem merkwürdigen Kopf dieses stinkenden Halunken vorging. Ellis Mund fiel zusammen. Auch sie trug bereits ein Gebiss.

Erich steckte seine Hände in die Taschen. Er fühlte, dass alles klitschnass war. Wenn er schwitzte, das wusste er selbst, fing er fürchterlich zu stinken an.

»Ich wünsche euch noch eine gute Nacht.« Er merkte, wie die alten Sätze wieder hochkamen, die Sätze von früher. Und er spürte eine trügerische Geborgenheit aufkommen, die nichts mit der kalten Wirklichkeit der Frühlingsnacht zu tun hatte. Er verließ die Küche. Es kostete ihn Mühe, die Beine zu heben, damit er nicht schlurfte. Sie waren schwer wie Blei.

Als er draußen war, blickte er sich noch einmal um. Das Küchenfenster schien plötzlich aufzuklaren und taghell zu werden. Das nüchterne Erscheinungsbild einer schwer erträglichen Situation trat für Augenblicke zutage. Sein Gehör war scharf wie das eines Hundes. Er glaubte, das Atmen jedes einzelnen Familienmitglieds hier draußen zu hören. Vielleicht war jetzt der Moment gekommen, sich umzudrehen und auf die Personen hinter der Scheibe zu schießen. Er tat es nicht. Stattdessen schlurfte er zu der Bank und legte sich sofort flach hin. Es war eine eiskalte Frühlingsnacht. Aber er hatte bereits in Stalingrad bewiesen, dass ihn dreißig Grad minus nicht totkriegen konnten. Er war ein Brocken. Ein ganz harter Brocken. Und er hatte keine Lust mehr, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Ein riesiger Sternenhimmel umfing ihn wie zur Belohnung.

Er war wieder daheim. Daheim! Was für einen schönen, weichen Klang dieses Wort hatte. Es stimmte gar nicht, was gemeinhin behauptet wurde, dass die deutsche Sprache so hart war. Sie war weich, herrlich weich, wenn es um die richtigen Dinge ging.

Er fiel in einen schweren, traumlosen Schlaf, aus dem er erst erwachte, als es bereits taghell war und er jemanden neben sich spürte.

2.

Rolf stand am Küchenfenster und sah seinem Vater nach, bis er in der Dunkelheit verschwunden war. Er wartete, bis die anderen aus der Küche gegangen waren. Dann öffnete er das Fenster, zündete sich eine Zigarette an und blickte hinaus. Er wollte sich noch einen Moment darüber Klarheit verschaffen, was eigentlich in den letzten Minuten passiert war. Seit er damals, im Mai 45, die Familie heil in den Westen gebracht hatte, galt er in gewisser Weise als Familienoberhaupt.

Er war zwanzig und seit geraumer Zeit ein fertig ausgebildeter Mann, von der Natur gut ausgestattet. Er ernährte die Familie, indem er nachmittags Steinplatten für die Gemeinde verlegte. Seit etwa einem Jahr schrieb er regelmäßig Gedichte und Kurzgeschichten, was ihm den Nimbus von etwas Besonderem eingetragen hatte. Und nun kam der eigentliche Ernährer zurück, auf Kleinformat zusammengeschrumpft und aus dem letzten Loch pfeifend.

Marie wollte ihn fallen lassen. Elli stand unter ihrer Fuchtel. Er selbst empfand Marie manchmal als verletzend, weil sie spitze Bemerkungen machte und immer das letzte Wort hatte. Er hasste es sogar, wenn ihre Blicke spöttisch auf ihm ruhten und sie sich darüber mokierte, dass er bereits »ein fertiger Mann war« – denn diesen Ausdruck hatte er von ihr.

Sie hatte es irgendwann mal gesagt und hinzugefügt: »Schau mal, jetzt hat er sogar schon Haare auf der Brust.« Eines Abends vor zwei Jahren hatte er beobachtet, wie die beiden händchenhaltend unten am Fluss spazieren gegangen waren. Seitdem hatte er automatisch darauf geachtet, wenn er nachts in seinem winzigen Zimmer saß und schrieb, wie sich die Türen leise bewegten, wenn Marie heimlich ins Schlafzimmer zu Elli schlich.

Das Zimmer lag direkt neben seinem. Selbst wenn er sich den Heimlichkeiten verweigerte, drängten sie sich ihm manchmal auf. Er hörte die Bettfedern und den erstickten Atem.

Es war schwer, sich dem zu entziehen. Durch seine heimliche Mitwisserschaft, von der die beiden etwas ahnen mussten, lag eine Grundspannung in diesem Dreiecksverhältnis.

Als sein Vater in der Küchentür aufgetaucht war, wusste er sofort, dass er ihn mochte und, was viel wichtiger war, dass er ihn als Familienoberhaupt akzeptieren und sich ihm ohne Zögern unterordnen würde. Bei seinen beiden jüngeren Brüdern hatte das schon ganz anders ausgesehen. Sie hatten ihn kritisch beäugt und sich vor ihm geekelt. Es war unklar, wie sich das Verhältnis zu ihnen entwickeln würde.

Er selbst hätte seinen Vater seltsamerweise mühelos anfassen können. Er war ihm vertraut. Er ekelte sich überhaupt nicht vor ihm. Und die Tatsache, dass er nun erst aus dem Krieg heimkehrte, machte für ihn die Sache besonders dramatisch. Er hatte jahrelang, noch als Vierzehnjähriger, die Spur seines Vaters verfolgt. Irgendwann war sie abgebrochen. Irgendwann hatte ihn das neue Leben vereinnahmt, das Leben mit den Frauen, mit den Brüdern, die Gewöhnung an das neue Land, der Beginn des alltäglichen Lebens.

Nun war plötzlich dieser Mann, den sie längst in einem Massengrab wähnten, bei Nacht und Nebel wiederaufgetaucht. Was für ein kostbarer Moment. Warum freute sich niemand außer ihm? Die Tatsachen lagen klar auf der Hand. Der gesunde weibliche Egoismus wehrte sich gegen ihn. Mit seinem Vater verband sich das Alte. Der uralte Aasgeruch des Todes, mit dem keiner mehr gerechnet hatte: Hier war er wieder. Erich hatte ihn mitgebracht. Er trug ihn auf der Haut. Man wollte ihn so schnell wie möglich loswerden. Aber so einfach ging das nicht.

Rolf wusste, dass sein Vater viel härter war als alle, die nach ihm kamen. Wenn man ihm half, würde er sich in kürzester Zeit erholen und in das Heer der Trevirajacken tragenden Männer einreihen, die jeden Tag über den Platz zur Arbeit liefen. Er war einer von ihnen.

Wenn man ihm nicht half, wusste er nicht so genau, was geschehen würde. Es war vermutlich eine Waffe, die sein Vater bei sich getragen hatte. Eine Waffe war eine ziemlich banale Angelegenheit. Das hatte er leider selbst noch lernen müssen. Sie konnte die Dinge gewaltsam abkürzen. Und sein Vater hatte einen langen Leidensweg hinter sich. Die Frage war, wie viel Geduld er noch hatte. Er selbst wollte an etwaigen vollendeten Tatsachen jedenfalls nicht schuld sein. Er musste also wieder einmal die Verantwortung übernehmen. Es war offenbar die Rolle, die ihm das Leben zugeteilt hatte.

Er warf seine Zigarette nach draußen und kippte das Fenster. Auf dem Weg zu seinem Zimmer hörte er, wie Marie Lars leise eine Geschichte vorlas. Sie tat ihm jetzt schon leid.

Er betrat sein winziges Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

Die Region, in der die Familie jetzt lebte, hieß Unterfranken und war später ein sogenanntes Zonenrandgebiet. Franken war ein verwilderter, unterentwickelter Landstrich, über den die Zeit, nicht aber der Krieg hinweggegangen war. Nürnberg zum Beispiel war vollkommen zerstört worden. Die Ausläufer des Wirtschaftswunders berührten diese Region kaum.

Man konnte die Menschen dort rückständig nennen. Sie sprachen einen Dialekt, der nicht wirklich nachahmenswert war und den Gott sei Dank kaum einer kannte. Es war im Grunde ähnlich wie in der alten Heimat. Die Welt da draußen war den Einheimischen nicht ganz geheuer, und diejenigen, die weggingen, brauchten ihrer Meinung nach auch gar nicht mehr wiederzukommen, falls sie sich danach für etwas Besseres hielten.

Sprechen war verpönt. Wer gerne sprach, war ein Schwätzer. So klang der Dialekt auch, als hätte man keine Übung mehr im Sprechen. Worte mit zwei Vokalen wurden so verstümmelt, dass sie mit einem Vokal auskamen. Konsonanten am Ende eines Wortes wurden gleich ganz weggelassen. Umso erstaunlicher war es, wie klar er hier schreiben konnte. In diesem rückständigen Idyll, das er bereits zu lieben gelernt hatte und das sein Vater genauso mögen würde wie er.

»Ins Bett gekommen« hieß zum Beispiel auf Fränkisch: »neis bed neikumma«.

Das alles würde er ihm beibringen müssen. Vielleicht konnte man diese Sprache ohne Gebiss besser lernen. Rolf musste lächeln. Er versuchte sich seinen Vater vorzustellen, wie er, wie früher, durch die Wälder wandern ging, in einer kurzen Lederhose, und aus voller Kehle sang: »Das Wandern ist des Müllers Lust, das Wandern ist des Müllers Lust, das Wahandern.«

Am nächsten Morgen, es wurde gerade hell, lief Rolf wie geplant mit einer Thermoskanne, gefüllt mit schwarzem Kaffee, den er selbst gemahlen und gebrüht hatte, über den sandigen Platz. Sein Vater lag flach auf dem Rücken auf der Bank und hatte die Augen geschlossen.

Rolf kam heran und blieb einen Augenblick unschlüssig stehen. Der kleine Körper, der dort lag, wirkte merkwürdig eingeschrumpft. Sein Vater sah aus wie ein Toter.

Plötzlich richtete er sich reflexartig auf und starrte ihn an. Rolf zuckte zusammen. »Ich habe dir Kaffee mitgebracht«, sagte er.

Erich senkte den Blick, sammelte sich einen Moment, beugte sich dann laut ächzend vor und begann, ohne weiter auf ihn zu achten, sich mit hoher Geschwindigkeit die Waden zu reiben.

Dann stand er auf und trampelte von einem Fuß auf den anderen. Dabei warf er die Arme abwechselnd vor und zurück. Wie ein Indianer beim Kriegstanz.

Sein Sohn sah ihm fasziniert dabei zu. Sollte dies ein letztes Relikt aus grauer Vorzeit sein, das ihm geblieben war, eine Art Frühsportübung, die er über all die Jahre praktiziert hatte, um sich gegen Kälte, Flöhe, Verstopfung, albtraumartige Gebilde und Erinnerungen zu wehren?

Irgendwann hatte der Alte genug, setzte sich wieder hin und starrte auf seine Füße. Er schnaufte ein wenig. Offenbar war ihm die Kraft ausgegangen. Rolf schenkte ihm die Blechtasse voll und stellte sie neben ihn auf die Bank.

Der Kaffee dampfte in der kalten Luft und verströmte sein Aroma. Aber es tat sich nichts. Der Alte starrte nur vor sich hin, als wäre sein Gehirninhalt in der Versenkung verschwunden.

Rolf setzte sich schüchtern. Mit einem gewissen Vergnügen wartete er ab, ob und wann die kurzfingrige behaarte Pranke mit den langen hässlichen Nägeln endlich nach der Blechtasse greifen würde. Es verstrichen lange Sekunden. Offenbar wartete er, bis ihm genügend Blut ins Gehirn gestiegen war. In seinen Gedärmen rumorte es bereits ganz gewaltig. Vielleicht versuchte er ja auch nur, der »braunen Flut« seiner Ruhr etwas Druck entgegenzusetzen, bevor die Dämme brachen. Er wirkte jedenfalls sehr konzentriert.

Irgendwann tastete sich die Pranke dann doch zur Tasse vor, schob sie am Henkel, bis dieser direkt auf ihn zeigte. Dann versuchte er zu greifen. Offenbar ungeschickt in der Handhabung geworden, bildete er zuerst eine Klaue, deren einzelne Finger dann versuchten, in den Henkel zu greifen. Er musste mehrere Anläufe unternehmen, bis es ihm schließlich gelang. Seine Geduld wurde dabei auf eine harte Probe gestellt. Rolf sah, wie kalter Schweiß auf die Stirn seines Vaters trat. Er unternahm dennoch keinen Versuch, ihm zu helfen, weil er Angst hatte, dass sein Vater möglicherweise heftig reagierte, wenn man ihn nicht allein machen ließ. Er wollte nicht riskieren, dass der Anfang ihrer Beziehung durch das Herunterschleudern eines mitgebrachten Geschenks markiert wurde.

Schließlich umschlossen die beiden mittleren Greifer der Klaue den Henkel. Rolf wunderte sich, dass sein Vater im Krieg nicht mal einen Finger verloren hatte, geschweige denn einen Arm oder ein Bein. Da der Henkel immer noch zu heiß war, ließ Erich sofort wieder los.

Rolf erntete einen scheelen, vorwurfsvollen Blick. Dann versuchte es der Alte noch mal. Langsam tastete er sich heran, schob, wie ein Primat beim Onanieren, die Finger am Henkel hinauf und hinunter, mit der gleichen andächtigen Miene. Offenbar wollte er eine Stelle finden, die nicht mehr so heiß war. Schließlich gab er auf und ließ die Tasse stehen. Wieder starrte er vor sich hin. Müde und resigniert. Man hätte den Eindruck haben können, dass er, anstatt es durch das Lager gewohnt zu sein und sich damit abgefunden zu haben, des Wartens ziemlich überdrüssig war, um nicht zu sagen, extrem überdrüssig. Aber vielleicht war er ja einfach auch nur müde und hätte bloß ein Gebiss gebraucht, um seinem Mund den verbitterten Ausdruck zu nehmen.

Rolf blies versöhnlich in den Kaffee, damit er schneller abkühlte.

Schließlich griff Erich, es mochten zehn Minuten dahingeschlichen sein, erneut nach dem Henkel und hob die Tasse zum Mund. Welch ein Triumph! Die erste Schlacht war geschlagen. Sein Vater trank das bittere schwarze Gesöff. Mit schnellen zittrigen Bewegungen, die von Schmerz und Ungeduld sprachen, sog er es in seinen zahnlosen Mund. Dabei schlürfte und schmatzte er laut.

Rolf musste lächeln. Es steckte noch viel Arbeit in dem Projekt, aber es begann allmählich, Spaß zu machen. Der Alte stellte die Tasse ab und starrte wieder ins Leere. Plötzlich riss es ihn hoch, und er rannte hinter das nächste Gebüsch. Ein ungeheures Getöse drang zu Rolf herüber, ein Gurgeln, Blubbern, brachiales Entladen heißer, schwefliger Dämpfe.

Irgendwann kam sein Vater jämmerlich hinter dem Busch vor.

»Willst du noch einen Schluck?«, fragte Rolf, der es für das Beste hielt, den Alten ganz »auszuräumen«. Erich nickte. Sein Sohn schenkte nach.

So ging es eine Weile zwischen Bank und Busch hin und her. Als sein Vater vollkommen entleert war, holte Rolf zur Belohnung ein Stück weißes Brot aus der Tasche. Der Alte fiel sofort darüber her, in einer unberechenbaren Altmännergier, von der er ahnte, dass sie ihm in einer anderen Situation, wo es um das blanke Überleben gegangen wäre, durchaus hätte gefährlich werden können. Ein zäher Knochen. Er sah voller Bewunderung zu, wie sein Vater mampfte und dabei immer bedächtiger wurde, nachdem der erste Heißhunger gestillt war, wie ein Baby. Abschließend wischte er sich mit seinem schmutzigen Ärmel den Mund ab.

Rolf wurde allmählich kalt. Wie konnte sein Vater nur nichts von dieser verdammten Kälte merken? Er machte einen erneuten schüchternen Versuch, die Konversation etwas in Gang zu bringen: »Na, wie geht’s dir jetzt nach dem Kaffee?«

»Dange«, kam es mürrisch zurück, »ich will mich waschn.« Dabei blickte sich der Alte hilfesuchend um. Dass er den beiden Frauen in diesem Zustand nicht über den Weg laufen wollte, begriff Rolf sofort.

Er führte ihn über Steinplattenwege, die er, wie er seinem Vater stolz erklärte, selbst gelegt hatte, zu den Gemeindeduschen, die ein zweifingriger Platzwart betreute.

Als Erich sich in dem mit Holzplanken getäfelten niedrigen Raum mit den Duschköpfen auszog, hing ein aufgeblähter Bauch faltig an dem vollkommen ausgemergelten Körper.

Es musste der sogenannte »Hungerbauch« sein. Die großen schlaffen Eier unter dem langen Schwanz, der eher an einen abgeschnittenen Schlauch erinnerte als an ein Zeugungsorgan, hingen ihm fast an den Kniekehlen.

Sein Vater wusch sich wie ein Faultier, unendlich langsam, unter dem kalten Wasser. Auch diese Angewohnheit würde er beibehalten. Er ließ Rolf warten, als wäre er nicht da.

Er ließ sich durch nichts und niemanden mehr aus der Ruhe bringen, was die wenigen angenehmen Dinge des Lebens anging. Und nach vier Jahren endlich wieder zu duschen gehörte offensichtlich dazu.

Später hieß es immer, Erich würde »genießen«, wenn er etwa ein Glas Bowle langsam, Schluck für Schluck hinuntertrank und sich durch nichts in der großen Familie, die ihn mittlerweile umgab, ablenken ließ, weder durch das Geschrei seiner Enkel noch durch die laute Konversation. Er arbeitete achtzehn, zwanzig Stunden täglich mit der gleichen ruhigen Beharrlichkeit oder saß, über seine Briefmarkensammlung gebeugt, bis in die Nächte hinein und ordnete mit der Pinzette das gesamte Deutsche Reich und die Kolonien.

Was er wirklich bei alldem dachte, wusste niemand. Und ob es Genuss war, wenn er beim Trinken diese kalte innere Ruhe ausstrahlte, wagte Rolf zu bezweifeln. Er erinnerte ihn eher an einen alten Killeraffen, der, in einer Zeitschleife hängen geblieben, irgendwo in Galizien auf der Suche nach dem nächsten Opfer in aller Ruhe durch die Pampa streifte.

Wenn er durch den abendlichen Lärm der Familie hindurchblickte und die minimalen Bewegungen seines Vaters verfolgte, die Hände beobachtete und den Ausdruck auf seinem Gesicht, lief Rolf eine Gänsehaut den Rücken hinunter. Er wusste zwar nicht, was sein Vater im Krieg gemacht hatte, aber in den Bewegungen lag ein Hauch von verräterischem Restbestand, ein Flaum, ein Schatten, eine unheimliche Ahnung, wie kaltblütig er gewesen sein mochte.

Rolf war jedenfalls dabei gewesen, als sein Vater den ersten Kaffee im Westen trank. Vielleicht war es ihm deshalb möglich, tiefer in seine Seele zu blicken. Das Projekt Erich nahm Rolf immerhin die nächsten Tage in Anspruch.

»Besorg mir zum Anziehen«, hieß es als Nächstes. Dann: »Brauche ein Gebiss.«

Er verschluckte Silben oder ließ Pronomen einfach weg, als diktiere er ein Telegramm.

Oder war es eine Art Kauderwelsch aus dem Lager? Er passte jedenfalls wirklich gut in diese Region. Rolf befolgte geduldig seine Befehle.

Ein Arzt drückte seinem Vater schließlich ein Stahlgebiss in die Fresse. Es war das erste Sparkassengebiss der neuen Republik. Er ertrug es, auch als es schon längst bessere gab.

Wie später seine Trevirajacke. Er kaufte sie 1952 von den ersten Einnahmen der Fabrik und trug sie weit über drei Jahrzehnte, bis an sein Lebensende. Dass er nicht auch noch darin beerdigt wurde, dafür zumindest sorgte Elli.

Als Rolf ihm am nächsten Morgen ein Stück Seife mitbrachte, das nach Waldmeister roch, war das Eis zwischen Vater und Sohn gebrochen.

Rolf fragte ihn am Abend eines langen Tages, ob er nicht mit nach Hause kommen wolle.

Sie waren müde, sie hatten die ganze Region durchquert, aber Erich weigerte sich, die Wohnung zu betreten. Warum, war klar. Er ließ es Rolf fühlen. Marie musste weg.

3.

In der Nacht wirkte die Küche wie ein Außenposten. Wenn man aus dem Fenster sah, war da nichts als Dunkelheit. Marie sog an ihrer Zigarette, bis die Glut so stark wurde, dass man die Grasnarbe sah, die unterhalb des Fensters im Sand verlief.

Marie war nervös. Elli wollte schon längst von den Einkäufen zurück sein. Mit jeder Minute wurde der Druck unerträglicher. Sie war todunglücklich.

Nie hätte sie damit gerechnet, dass Erich zurückkam. Es war einfach unvorstellbar für sie. Sie hatte nie wieder an ihren mürrischen Bruder gedacht, der voll mit diesem Nazimist war.

Sie war froh gewesen, dass er tot war, irgendwo verscharrt wie ein Hund, wie er es verdient hätte. Allein diese grässlichen Reden, die er mit verbissenem Ernst auf den Marktplätzen thüringischer Kleinstädte gehalten hatte. Mit seinem Schmiss übers vorgereckte Kinn, mit dieser aufgeplusterten Haltung, um sich etwas größer zu machen: dieser geistige Zwerg, der tatsächlich versucht hatte, sie an einen seiner Kumpel zu verheiraten, einen dicken Typen mit Lorgnon, der so aus dem Mund stank, dass sie ihm ein paarmal fast vor die Füße gekotzt hätte.

Ihr Bruder hatte es nicht mal zu einem Händedruck mit dem Führer gebracht. Sie hasste diesen Versager. Und nun war er plötzlich hier aufgetaucht, wie aus heiterem Himmel.

Mein Gott – es war das Jahr 1949! Wann war dieser Spuk endlich vorbei? Sie war auf einmal sehr wütend.

Warum hatte sie ihn nicht gleich um die Ecke gezerrt, bevor die anderen ihn entdeckt hatten, ihm eins übergebraten und ihn in den Fluss geschmissen? Er war nicht in Schuss. Sie wäre spielend mit ihm fertiggeworden. Was hätte sein sollen? Leichen wurden viele angeschwemmt im Frühjahr in dieser Gegend. Sie hatte sich von seinem Anblick überrumpeln lassen. Jetzt war es zu spät.

Marie spürte schmerzhaft, dass heute der Frühling angefangen hatte. Jetzt wurden die Schuhe aus Zellstoff herausgeholt, und man begann, die Wiesen am Fluss zu durchstreifen.

Am Vormittag hatten die Kinder schon im Garten gespielt. Wenn es warm blieb, würde Heinz in wenigen Tagen in kurzen Hosen herumlaufen und Lars mit dem Wasserschlauch über die Sandpiste jagen, unter dessen lautem Gekrächze.

Heute früh hatte sie die ersten Plastikplanen von den Beeten des kleinen Gartens genommen, den sie hinter dem Haus gepflanzt hatten. Fast vier Jahre war das nun schon wieder her. Elli war nicht dabei gewesen. Sie hatte allein das Reisig von den Beeten entfernt. Damit fing das bleierne Gefühl an, das sich nun schon den ganzen Tag über sie legte. Sie hatte gehofft, dass Elli wenigstens noch rechtzeitig zurückkäme, damit sie draußen auf den Stufen ihre abendliche Zigarette rauchen konnten, bevor die Sonne unterging. So, wie sie es immer getan hatten, sobald es warm genug war. Und das Versäumnis dieser ersten Zigarette in der Frühlingsluft war besonders schlimm.

Maries Augen füllten sich für einen Augenblick mit Tränen. Sie tröstete sich damit, dass sie die Zigarette dann eben später, am Abend rauchen würden. Das würde genauso schön sein. Dann kam wieder der Gedanke, das alles zu verlieren. Er war wie ein schwarzes Loch, das alles in sich hineinzog, und viel schlimmer als ein paar Tränen.

Das gemeinsame Leben war nicht auf Zeit geplant gewesen, nicht, damit es abrupt beendet würde durch diesen Gewalttäter. Sie konnte sich nicht vorstellen, ohne Elli und die Kinder zu sein. Aber Marie wollte auf keinen Fall weinen.

Sie blinzelte, bis die Luftpartikel des Frühlings, die sie zu riechen glaubte, vor ihren Augen zu tanzen begannen, um das kleine Strohfeuer des Glücks zu entfachen, mit dem der Frühling einen immer täuschte.

Im selben Moment hörte sie das laute fröhliche Krähen. Sie rannte hinaus auf den Platz und lief Elli entgegen. Lars sprang ihr auf halbem Weg auf den Arm.

»Engelchen flieg! Engelchen flieg!«, schrie er. Sie musste ihn ein paarmal durch die Luft schwenken. Elli schleppte schwer an den Taschen. Sie hatte säckeweise Kartoffeln gekauft, wie um sich selbst zu bestrafen.

Marie setzte Lars ab und nahm ihr die Taschen ab. »Wo warst du so lange?«, fragte sie.

»Ich habe Lars abgeholt.«

»Mit den ganzen Taschen?«

Elli nickte schuldbewusst.

Marie schüttelte missbilligend den Kopf: »Wieso hast du mir nichts gesagt?«

Elli antwortete nicht. Als sie von Weitem die Bank sah, die Erich für sich gepachtet hatte, wurde ihre Haltung fast ein wenig hündisch. Mit leicht eingezogenem Kopf lief sie an der Stelle vorbei, an der Erich sie hätte sehen können.

In der Küche packten die beiden schweigend die Taschen aus. Irgendwann entlud sich die Spannung. »Was hast du? Wieso redest du nicht mit mir?« Marie schrie fast.

Elli zuckte zusammen. Unglücklicherweise konnte sie ihre Gefühle nicht in Worte fassen, wenn sie unter Druck stand. Das führte immer wieder zu Missverständnissen. Sie wollte dann einfach nicht reden, und es war kein Wort aus ihr herauszukriegen.

»Hast du Angst?«, fragte Marie.

Elli räumte weiter Sachen in die Speisekammer.

»Was ist es dann?«

Dass Elli immer noch keine Antwort gab, brachte Marie auf die Palme. Sie packte sie am Arm und drehte sie zu sich. »Willst du alles aufs Spiel setzen?«, rief sie. »Warum redest du nicht mit mir?«

»Lass mich bitte los«, sagte Elli.

Marie schoss einen Blick wie ein Flammenwerfer auf sie, ließ sie los und wandte sich resigniert ab. Elli hörte auf zu räumen und setzte sich auf einen der Schemel am Tisch.

»Du hast Angst vor ihm, stimmt’s?«, fragte Marie mit einer Spur von Herablassung.

»Nein, ich habe keine Angst vor ihm, wenn du es genau wissen willst. Er würde mir nämlich nie etwas tun. Das weiß ich. Ich bin es, die ihm etwas antut! Er ist seit vier Tagen hier, und ich habe mich kein einziges Mal bei ihm draußen blicken lassen.«

»Ach das ist es!«, rief Marie sarkastisch. »Dein Mann tut dir leid?«

»Ja, das tut er wohl«, sagte Elli kleinlaut. Es hatte keinen Sinn, die Diskussion fortzusetzen. Marie hasste Erich. Sie würde nie verstehen, dass sie sich verantwortlich für jemanden wie ihn fühlte, egal wie wenig sie noch für ihn empfand.

Aber empfand sie wenig für ihn? Als er plötzlich vor ihr in der Küchentür gestanden hatte, war ihr einen Moment das Herz aufgegangen. Zumindest wusste sie sofort, was er ihr signalisierte: dass er alle Strapazen der Welt auf sich genommen hatte, nur um wieder bei ihr und den Kindern zu sein. Sein Blick, die Art, wie er wegsah, machte ihr klar, dass es nur von ihr abhing, ob er blieb oder nicht.

Eines hatte sie jedenfalls sofort begriffen: dass Erich sich nicht mehr davon erholen würde, wenn man ihn im Stich ließ. Rolf hatte das auch sofort begriffen. Er war jetzt so etwas wie ihr verlängerter Arm, ohne dass die beiden ein Wort darüber verlieren mussten. Allein diese stumme Übereinkunft sprach dafür, dass sich das Blatt gegen Marie zu wenden begann. Elli wollte an all das nicht denken. Sie lächelte Marie kurz an. »Komm, wir decken den Tisch«, sagte sie und holte ein paar Teller aus der Vitrine.

»Kannst du dir denn vorstellen, wieder mit ihm zusammenzuleben?«, fragte Marie sanft.

Elli kamen die Tränen. Sie stellte den Rest der Teller ab, eilte zu Marie und ließ sich von ihr in den Arm nehmen.

»Aber nein«, schluchzte sie, »natürlich nicht.«

Marie streichelte sie, bis Elli sie ansah. In ihren Augen glitzerten Tränen. Marie küsste sie zärtlich weg.

Sie stellten das Essen auf den Tisch, Marie rief die Kinder. Als sie sich wieder zur Küche umwandte, fiel das nackte Deckenlicht auf ihr Gesicht. Elli sah, dass Marie auch geweint hatte, offenbar beim Tischdecken. Sie hatte es nicht einmal bemerkt. Sie wollte sie in den Arm nehmen, aber es war zu spät.

Der Kleine kam angetrabt und rief: »Tante Marie, Tante Marie!« Marie wischte sich die Tränen aus den Augen, drehte sich zu ihm um und ging in die Hocke. »Ja, was ist denn, mein Kleiner?«, turtelte sie.

Er warf seinen kurz geschorenen Kopf in ihren Armen hin und her und versuchte dann, ihn an ihren Busen zu drücken. Marie lachte. Ihn könnte Elli ihr ja wenigstens geben, dachte sie sarkastisch, er war ja eh nicht von ihm.

Rolf verhielt sich neutral. Er wollte nicht zwischen die Fronten geraten.

Die Familie war noch beim Essen, als er am gleichen Abend nach Hause kam. Er verschwand mit der Ausrede, noch arbeiten zu müssen, nach hinten in sein Zimmer.

Er wusste, dass sie ihm das übel nahmen, weil sie erwarteten, dass er ihnen berichtete. Aber er hielt sich bedeckt. Er wollte die Stellung seines Vaters so weit als möglich ausbauen, ohne dass ihn jemand dabei störte. Er wollte, dass sein Vater dablieb. Dazu gehörte, dass er ihm alles zeigte. Sein Vater, der es in den Genen hatte (drei Generationen von Fabrikanten in der Provinz), schnüffelte bereits in der Gegend herum, streunte über das Brachland und hielt Ausschau nach passendem Gelände für eine Firma.

Spät am Abend klopfte Marie an seine Zimmertür.

»Ist er immer noch da?«, fragte sie.

»Tut mir leid, liebe Tante«, antwortete er mit der üblichen leisen Arroganz, die er ihr gegenüber in solchen Fällen an den Tag legte, »aber er ist nun mal mein Vater. Wer soll sich denn um ihn kümmern, wenn ihr es nicht tut?« Er wandte sich wieder seinem Buch zu.

»Du verbündest dich mit ihm gegen mich«, sagte Marie verletzt.

»Nein, das tue ich überhaupt nicht.« Er fühlte sich überlegen, und Marie merkte das.

»Du konntest mich ja noch nie leiden«, rief sie und schlug die Tür hinter sich zu.

Rolf wusste, dass er Frauen ärgern konnte. Es machte ihm in gewisser Weise Spaß und schmeichelte seiner Eitelkeit. Sie kamen offenbar an ihm nicht vorbei.

Es lag auch daran, dass sie ihn anziehend fanden. Seine Mutter sagte häufig, dass er sehr gut aussehe, und verglich ihn mit Gary Cooper. Maries Blicke ruhten manchmal auf ihm.

Er war der Prinz, der Stolz der Familie. Er zündete sich eine Zigarette an, legte die Füße auf das Fensterbrett und sah zum halb offenen Fenster hinaus. Immer öfter in letzter Zeit hatte er Anfälle einer heimlichen, völlig unbegründeten Lebensfreude, die gar nicht zu seinem nachdenklichen Wesen passte. Sie stieg verheißungsvoll in ihm auf, und sie schien überall enthalten zu sein. Alles schien kostbar, nichts machte Mühe. Das Schreiben breitete sich wie eine geheimnisvolle Kraft in ihm aus.

Vielleicht war es die Einfachheit des gewöhnlichen Lebens, mit der diese Epoche anhob, die alles so leicht machte. Wenn es der Sog der Zukunft war, dann musste sie vielversprechend sein.

Irgendwann waren die Kinder im Bett, und eine kurze Stille setzte ein. Dann gab es ein heftiges Türenschlagen. Im Schlafzimmer hörte er, wie die beiden Frauen mit unterdrückten Stimmen miteinander zankten. Ein offener Streit brach los. Marie schrie:

»Und was bitte schön soll ich ihm sagen? Na, wie war es in Russland? Hat es Spaß gemacht, die Juden totzuschlagen? Wie viele hast du denn erwischt?«

Die Schlafzimmertür schlug zu. Er hörte, wie Marie in der Küche bitterlich weinte, und dann, wie seine Mutter auf leisen Sohlen durch den Flur ging. Das Weinen beruhigte sich.

Sein Vater tat strategisch genau das Richtige. Er ließ die Frauen im Ungewissen. Er belagerte sie und ließ sie schmoren. Er wartete, bis sie sich aufgerieben hatten. Wahrscheinlich hörte er die Ausläufer des Streits sogar bis hinüber zu seiner Bank.

Er hatte offenbar in den Schützengräben gelernt, wie man den Feind ausblutet.

Rolf tat seine Mutter leid. Sie war ein harmoniebedürftiger Mensch, der solchen Kämpfen gar nicht gewachsen war. Sie hatte sich Marie irgendwann unterworfen. Er hatte das Verhältnis nur so lange gebilligt, bis er eines Nachts mitbekam, dass zwischen den beiden noch etwas anderes lief. Warum hatte sich Elli nur auf so etwas eingelassen?

Rolf versuchte, ein bisschen zu schlafen. Um drei Uhr nachts wachte er, wie gewöhnlich, aus einem leichten Schlaf auf. Er setzte sich hin und begann, in sein Oktavheft zu schreiben. Es ging direkt vom Gehirn aufs Papier. Die ersten Zeilen des Gedichts lauteten:

Wir brachen das Eis der Vergänglichkeit Mit dem feinen Silberlöffel der Worte Brachen es wie Brot in der Dämmerung Horchten …

Das Gedicht widmete er seinem Vater und dessen Freund Anton, den er aus der Kindheit noch gekannt und nach dem er seinen Vater am Vormittag gefragt hatte. Er hatte gewusst, dass Anton ihn den ganzen Russlandfeldzug hindurch begleitet hatte, bis sich ihre Spur verlor.

»An der Ruhr krepiert«, war die kurze bittere Antwort gewesen. Er hatte noch zu fragen gewagt, wann, und hatte erfahren, dass Anton drei Monate vor ihrer Entlassung gestorben war, was die Sache noch bitterer machte. Dann hatten sie lange geschwiegen. Erich hing seinen dunklen Gedanken nach. Er war mit den Toten beschäftigt. An ihnen hingen seine Erinnerungen. Ihr Leben, schicksalhaft, wie es war, zog an seinem inneren Auge vorbei – von ihrer frühen Jugend bis zu ihrem frühen Tod. Sie waren seine Kameraden gewesen. Es würde keine neuen Freunde mehr geben.

Während Rolf spürte, dass das tiefe Schweigen, das seinen Vater umgab, wohl für den Rest seines Lebens anhalten würde, nahm er sich bereits vor, diesem Schweigen eines Tages eine Stimme zu leihen: die Stimme eines Romans. Das hielt er für seine Aufgabe, da er ja ein angehender deutscher Schriftsteller war. Nach all diesen Gedanken über die letzten Tage schlief er ein.

Als er wenige Stunden später aufstand, sah er, dass die Tür zum Schlafzimmer halb offen stand. Die beiden Frauen lagen in ihren Nachthemden in inniger Umarmung auf dem Bett und schliefen. Sie hatten, nervlich am Ende, wie sie waren, offenbar vergessen, die Tür richtig zu schließen. Der Wind, der durch das offene Fenster drang, bewegte die weißen Vorhänge nach innen wie zwei Schleppen. Rolf schloss die Tür leise, ging in die Küche und brühte Kaffee.

Als er an der Bank ankam, hatte sein Vater schon die Klamotten an, die sie tags zuvor auf dem Markt gekauft hatten, eine braune Trainingshose, ein kariertes Hemd und braune Sandalen. Mit seinen kurz geschorenen Haaren, dem eckigen Schädel mit dem flachen Hinterkopf und der niedrigen Stirn sah er aus wie ein Savannenbewohner. Er lutschte bereits seine Kohletabletten.

Den Tipp bekamen sie von dem Tankstellenbesitzer, obwohl Tankstelle vielleicht ein zu großes Wort für die einsame Zapfsäule war, die da an der Landstraße stand.

Sie überquerten die nahezu unbefahrene Straße. Der Teer war gerade frisch über den Schotter gewalzt worden. Er war noch weich und roch in der Sonne. Sie ließen ein Stück Brachland hinter sich, auf dem Zäune und Autoreifen herumlagen, und kamen an die Fabrik.

Das lang gestreckte, barackenähnliche Gebäude lag direkt am Fluss. Aus den zerschlagenen Fenstern strömte noch die Kühle des Winters.

Erich war auf den Fabrikhof getreten und taxierte das Gebäude in seiner üblichen Haltung: Bauch rein, Brust raus, das Kinn nach oben gereckt, die Hände auf dem Rücken, schritt er langsam, alles begutachtend, um das Gebäude herum.

Rolf ließ ihn allein und ging hinunter zum Fluss, um die Schönheit der offenen, zum großen Teil noch unerschlossenen Landschaft auf sich wirken zu lassen. Vorne, an der Biegung, wurde der Fluss breiter. Trauerweiden standen auf der anderen Seite des Ufers und tauchten ihre langen Zweige ins Wasser. Der Platz schien ideal.

Als Rolf die Fabrik wieder betrat, sah er seinen Vater auf der Balustrade im ersten Stock stehen und auf die Halle hinabsehen, als würde er den Betrieb bereits überblicken. Es gefällt ihm hier, dachte er.

Am Abend, als die beiden Frauen vom Einkaufen zurückkehrten, fanden sie einen Briefumschlag auf dem Küchentisch. Er trug Erichs kleine harte Männerschrift, es stand nur ein Wort darauf: Elli.

Die Frauen blieben einen Moment wie gebannt stehen.

Dann sagte Marie: »Na komm, mach ihn auf. Worauf wartest du?«

Elli nahm das Kuvert, öffnete es und las die wenigen Zeilen mit der akribischen Buchhalterhandschrift. Erich schrieb folgende Worte:

Ich warte draußen auf der Bank auf Dich. Ich warte bis morgen früh.

Wenn Du bis dahin nicht gekommen bist, gehe ich wieder. Dann weiß ich, dass Du es nicht anders gewollt hast.

Die Zeilen verfehlten ihre Wirkung nicht. Auf diese Art Sätze, die sie von früher her von ihm kannte, aber vergessen hatte, war sie nicht vorbereitet. Lange hatte ihr niemand mehr Konsequenzen angedroht und sie vor vollendete Tatsachen gestellt.

Marie nahm Elli den Brief aus der Hand und lachte laut auf.

»Was für eine Anmaßung!« Sie zerknüllte das Papier und warf es in eine Ecke.

»Das ist unsere Chance«, sagte sie dann kaltblütig. »Lass ihn gehen.« Als sie merkte, dass Elli nicht reagierte, packte sie sie am Arm, dass es wehtat.

»Sei einmal mutig«, sagte sie. »Sieh mich an!«

Elli gehorchte sofort. Marie wirkte auf einmal groß wie ein Engel. Fast Furcht einflößend. Für einen Moment schien es möglich, sich unter ihren Schutz zu flüchten.

Dann verließ sie wieder der Mut. Sie sackte in sich zusammen. Es gab keinen inneren Kampf. Die Sache schien von vornherein entschieden. Tief enttäuscht wandte Marie sich ab. »Ich geh die Kinder ins Bett bringen«, sagte sie tonlos und verschwand aus der Küche.

Elli hörte sie wie immer rufen: »Ab ins Bett. Zähne putzen.«

Sie musste sich setzen. Alles Leben war aus ihr gewichen. Ihr war klar, dass sie im Begriff war, die falsche Entscheidung zu treffen. Sie blieb einfach sitzen, in der Hoffnung, dass mit ihr etwas passierte oder Marie alles in die Hand nahm, aber Marie kam nicht mehr in die Küche. Sie zog sich die Schuhe an und ging hinaus, verschwand in der Dunkelheit.

Elli hielt es nicht länger auf ihrem Stuhl. Ratlos und unschlüssig, wie sie war, zog sie sich ebenfalls die Schuhe an und ging hinaus. Selbst auf dem Weg zu Erichs Bank wusste sie nicht, ob sie zu Marie gehen sollte oder zu ihm. Wäre Marie plötzlich in der Dunkelheit vor ihr aufgetaucht und hätte sie mitgenommen, wer weiß: Vielleicht wäre sie mitgegangen.

Erich erhob sich, als er Elli sah. Seine Genugtuung merkte man ihm nicht an. Aber er hatte auch nichts Liebenswertes. Sein Benehmen war schroff und abweisend. Elli wagte nicht, etwas zu ihm zu sagen. Ihr fiel nur auf, wie klein er war. Sie gingen schweigend über den Sandplatz zurück. In der Wohnung sah er sich um.

»Wo ist das Schlafzimmer?«, fragte er kurz. Gleich darauf verzog er sich nach hinten. So sollte es von nun an sein. Sie hatte sich unterworfen, er strafte sie mit Verachtung.

Marie kam wenig später und ging ins Wohnzimmer, wo man sie kramen hörte. Räumte sie bereits ihre Bücher ein? Elli wagte es nicht, nach ihr zu sehen.

Kaum war Marie verschwunden, kam Rolf zurück. Wie ein Heckenschütze hatte er den ganzen Ablauf beobachtet, hatte erst Marie, dann seine Mutter über den Platz gehen sehen, hatte alles registriert. Sein Vater hatte nichts davon gewusst, dass er ebenfalls auf dem Platz war. Es gab kein abgekartetes Spiel.

Aber Tatsache war, dass Rolf sich für jemand hatte entscheiden müssen. Und er hatte sich gegen seine Mutter, deren Glück auf dem Spiel stand, und für seinen Vater entschieden. Warum? Er wusste es nicht. Vielleicht hatte es mit männlicher Solidarität zu tun. Er würde später über solche und ähnliche Dinge nachdenken.

Als er die Wohnung betrat und den Tornister seines Vaters dort stehen sah, tat er zunächst verwundert. Es war vielleicht der erste sichtbare Anfang seiner Lügen, die ihn später wie Spinnweben einhüllen sollten.

»Ist Papi da?«, fragte er, als seine Mutter in die Küchentür trat. Sie nickte.

»Und Marie? Alles in Ordnung?«

Sie nickte wieder und wandte sich ab. Offensichtlich war sie ihm böse. Warum, wusste er nicht.

Er ahnte allerdings, dass es schnell vergessen sein würde. Seine Mutter konnte ihm nie länger böse sein.

»Ich geh in mein Zimmer«, sagte er reserviert.

Er konnte in dieser Nacht, während sein Vater im Zimmer neben ihm lag, sehr gut schlafen.