Selbstverfickung - Oskar Roehler - E-Book

Selbstverfickung E-Book

Oskar Roehler

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Beschreibung

Die Hölle ist ein TV-Event aus Deutschland Gregor Samsa ist ein abgehalfterter Regisseur, Ende Fünfzig, ein ramponierter Typ in einer ramponierten Gesellschaft, der sich in Konsumtempeln und Puffs herumtreibt, um seine Zeit totzuschlagen. Dabei lässt er sein verpfuschtes Leben Revue passieren. Die Tatsache, dass er es als "Kulturschaffender" vergeudet hat, trägt nicht gerade zu seiner Freude bei. Mit Hohn und Spott macht er sich über seine Erinnerungen her, über seine falschen Freunde und Wegbegleiter, seine Scheinerfolge und naiven Ambitionen von einst und schreibt dabei seine eigene, sehr schwarze Kulturgeschichte. Eine sarkastische Abrechnung mit der Sinnentleertheit der Medien- und Konsumgesellschaft, ein hemmungsloser, provokanter Roman, der mit drastischer Komik immer auch von der unstillbaren Sehnsucht nach Schönheit erzählt.

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Das Buch

Gregor Samsa ist ein abgehalfterter Regisseur Ende fünfzig, ein ramponierter Typ in einer ramponierten Gesellschaft, der sich in Konsumtempeln und Puffs herumtreibt, um seine Zeit totzuschlagen. Dabei lässt er sein verpfuschtes Leben Revue passieren. Die Tatsache, dass er es als »Kulturschaffender« vergeudet hat, trägt nicht gerade zu seiner Freude bei. Mit Hohn und Spott macht er sich über seine Erinnerungen her, über seine falschen Freunde und Wegbegleiter, seine Scheinerfolge und naiven Ambitionen von einst und schreibt dabei seine eigene, sehr schwarze Kulturgeschichte.

Eine sarkastische Abrechnung mit der Sinnentleertheit der Medien- und Konsumgesellschaft, ein hemmungsloser, provokanter Roman, der mit drastischer Komik immer auch von der unstillbaren Sehnsucht nach Schönheit erzählt.

Der Autor

Oskar Roehler, geboren 1959, ist einer der renommiertesten deutschen Drehbuchautoren und Regisseure. Sein Debüt Herkunft erschien 2011 bei Ullstein, 2015 folgte sein zweiter Roman Mein Leben als Affenarsch. Oskar Roehler ist verheiratet und lebt in Berlin.

Oskar Roehler

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Roman

Ullstein

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ISBN978-3-8437-1662-8

© 2017 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagmotiv: getty images/Miroslav Prouza/EyeEm

E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Alle Rechte vorbehalten

Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, stellte er fest, dass er nicht mehr linksliberal war. Und das war in dieser Gesellschaft schlimmer, als sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt zu haben.

Aschenbach musste noch bis nach Venedig, um die endgültige Wahrheit über sich herauszufinden. Gregor brauchte nur bis zu seinem Kühlschrank zu gehen, wo sich die gesammelten Schlaftablettenvorräte befanden, zehn Packungen à zwanzig Tabletten Zopiclon 7,5 mg. Er hatte sie sich unter verschiedenen Vorwänden bei diversen Ärzten beschafft. Meist hatte er gesagt, er müsse eine Werbung in Wien drehen und bräuchte sie, um zu schlafen. Dabei verachtete er die Werbung mehr als alles andere auf der Welt. Er würde nie eine Werbung drehen.

Mit den Tabletten wollte er sich eines Tages umbringen. Das war eine Lösung, bei der man wenigstens kein Bein verlor, weil man sich vor die U-Bahn warf.

Die Sache war einfach: Er war mittlerweile fast sechzig und spürte, bei allem, was war und nicht mehr war, dass er es nicht noch einmal schaffen würde, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.

Er hatte auch sonst nicht allzu viel Ähnlichkeit mit Aschenbach. Weder war er geadelt worden, noch hatte man seine Texte in den Deutschunterricht aufgenommen. Er hatte sich wahrlich auch nicht zu solch geistigen Höhen aufgeschwungen wie Aschenbach oder gar ein neues Menschenbild entworfen. Er war auf dem Teppich geblieben. Er glaubte nicht an das Gute im Menschen.

Mein Leben ist schwer, dachte Gregor. Ich habe nur, was in meinem Kopf und auf meinem Bankkonto ist. Früher war mein Kopf voll und mein Bankkonto leer. Heute ist es umgekehrt. Das macht die Sache nicht einfacher.

Den gestrigen Tag hatte er mit dem verbracht, womit er in letzter Zeit ständig seine Tage zu verbringen pflegte: Nachdem er um fünf Uhr morgens durch einen abscheulichen Alptraum aus dem Schlaf gerissen worden war, trank er eine Stunde lang bitteren, schwarzen Kaffee. Anschließend rief er ein Taxi und ließ sich in einen Puff fahren, der um diese Zeit bereits offen hatte, um die nächste Stunde zu überbrücken.

Da sein gereizter Ischiasnerv einen Positionswechsel nicht ermöglichte, blieb er beim Vögeln einfach breitbeinig am Bett stehen und überließ es dem Personal des Stammhauses, den entsprechenden Körperkontakt herzustellen, indem es vor ihm auf alle viere ging und ihm schließlich mit einem geschickten Handgriff und etwas Gleitgel half, seinen gerechten Weg zu finden. Mal tiefer, mal weniger tief war sein Motto.

Mit reglosem Gesicht starrte er dabei in den großen Spiegel und beobachtete sich beim Vögeln. Er glich einer Mumie, die ruckartig ihr Becken vor- und zurückzucken ließ. Gelangweilt nahm er zur Kenntnis, dass die Nutte dabei ungerührt ein Kebab verschlang. Nach etwa einer halben Stunde gelang es ihm schließlich dennoch, zum Abschluss zu kommen.

Es war immer noch aberwitzig früh, als er den Puff verließ. Die Straßen waren wie leergefegt. Ängstlich schlich er durch den verkommenen Neuköllner Kiez. Er war viel zu gut angezogen. Die nervöse Unruhe, die ihn so frühmorgens auf die Straße getrieben hatte, prädestinierte ihn dazu, das perfekte Opfer eines Raubüberfalls durch schwulenfeindliche Jugendliche zu werden. Es waren noch zwei zermürbende Stunden zu überstehen, bis endlich die Möbelgeschäfte in der Lietzenburger Straße aufmachten.

Die eigentliche Aufgabe des Tages bestand darin, eine helle Cargo-Hose aus dünnem Leinen zu finden, die unten weit geschnitten war und im Schritt ähnlich viel Platz hatte wie die Nike-Jogginghosen aus der Techno-Ära. Er hatte einen ganz bestimmten Schnitt vor Augen.

Am Wittenbergplatz kam auf einmal die Panik. Sie kam in Wallungen, bei denen ihm schwarz vor Augen wurde. Gregor musste sich an einem Laternenmast festhalten. Ein Wachmann, ein kleiner, südländischer Gorilla, der vor dem Eingang des KaDeWe patrouillierte, hatte ihn bereits auf dem Kieker, aber Gregor war es egal, was dieser Arsch von ihm dachte.

Wovor hatte er eigentlich so eine Angst? Dass er die Cargo-Hose nicht finden würde? Dass es den Schnitt nicht mehr gab? Er wusste, dass er nicht aufgeben würde, die Hose zu suchen, auch wenn er dabei den ganzen Tag verplempern würde. Das war die Krux. Er würde wieder Dinge tun, die absolut sinnlos waren. Weil er es sich in den Kopf gesetzt hatte. Obwohl ihm jegliche Lust dazu fehlte. Es war das gleiche Prinzip wie bei den Nutten. Er ging, obwohl er überhaupt keine Lust dazu hatte, wie ferngesteuert in einen Puff, nur weil Montag war, lustlos wie zu einer Routineuntersuchung.

Es wäre fast schon beruhigend gewesen, zu denken, dass es daran lag, dass er ein Gewohnheitsmensch war und ihm mittlerweile der Wille fehlte, schlechte Gewohnheiten abzulegen (wie das Trinken, wie seine cholerischen Anfälle, etc.). Bei seinem Alter, immerhin ja fast sechzig, wäre das entschuldbar gewesen. Aber das Schlimme, der Aberwitz, der ihm den Schweiß auf die Stirn trieb, bestand darin, dass er nichts Besseres mehr zu tun hatte, als zur Nutte zu gehen oder eine Cargo-Hose zu kaufen. Diese plötzliche Einsicht war es, die ihm den kalten Angstschweiß auf die Stirn trieb. Er seufzte und wischte sie sich mit dem Handrücken ab.

Der als Wachmann getarnte Gorilla starrte immer noch vom Eingang des KaDeWe zu ihm rüber. Gregor löste seinen Griff von der Laterne und schwankte absichtlich direkt auf ihn zu. Der Gorilla erwachte aus seiner finsteren Trance und baute sich vor ihm auf.

»Siehst du nicht, dass noch geschlossen?!«, pöbelte er in gebrochenem Deutsch.

Gregor setzte sein feines, überlegenes Lächeln auf und musterte das Exemplar erst einmal. Es sah von nahem noch mehr wie ein Halbaffe aus, klein, gedrungen, niedrige Stirn, engstehende, böse glotzende Augen. Gregor musste lachen, so stereotyp war seine Erscheinung.

»Was!?«, rief der Mann heiser und starrte ihn drohend und hasserfüllt an.

Gregor bekam Lust, ihn zu foltern. Er stellte sich vor, ihn in einem kleinen, engen Käfig zu halten, natürlich nackt. Sich auszumalen, was er dann mit ihm machen würde, da war seiner Phantasie keine Grenzen gesetzt. Er nahm sich vor, diesbezüglich noch einmal American Psycho und Die 120 Tage von Sodom zu konsultieren.

»Du bist ein Untermensch, weißt du das?«, flüsterte Gregor so leise, dass der andere ihn nicht verstehen konnte. »Deine Stirn ist so niedrig wie die eines Affen. Wo soll da nur der Intellekt eine Chance haben, hm?«

Der Primat starrte böse zurück. Er machte den Eindruck, als wolle er am liebsten sofort zuschlagen. Aber das durfte er ja nicht. Er war schließlich Wachmann und hatte einen Job zu verlieren. Gregor beobachtete genussvoll das Kräftezerren in dessen Innern. Hier konnte man gut den dünnen Firnis der Zivilisation studieren.

»Na, geht’s dir gut?«, fragte Gregor sanft.

»Was?!«, bellte der andere erneut.

»Was, was…«, äffte Gregor ihn nach.

»Verschwinde!«, presste der Wachmann hervor.

»Toller Job, gratuliere«, antwortete Gregor und sah voller Widerwillen an ihm herab. »Du solltest dankbar sein und nett zu den Kunden. Aber vor allem solltest du dir erst mal deinen Bart abrasieren. Oder bist du ein Taliban, oder was?«

Der Atem des Wachmanns ging sichtlich schneller. Er machte Anstalten, Gregor zu stoßen, hielt aber kurz davor inne, denn im selben Moment kam zum Glück ein Anzugträger um die Ecke, der offenbar zum KaDeWe gehörte. Der kleine Gorilla grüßte den Angestellten und beeilte sich, ihm die Tür aufzumachen. Dabei verbeugte er sich leicht und stieß ein scheinheiliges »Guten Morgen, mein Herr!« hervor, das unglaublich gezwungen klang, als hätte man es ihm eingebläut, da er es freiwillig nie sagen würde.

Scheinheilig war es, weil diese Höflichkeitsformel keinerlei Verbundenheit und Freundschaft zum Ausdruck brachte, sondern das Gegenteil davon, Distanz und ein tief verwurzeltes Misstrauen. Sie diente einzig und allein dazu, seine Ablehnung hinter einem Minimum an Höflichkeit zu verbergen.

Gregor hatte diese altmodische Floskel aus dem neunzehnten Jahrhundert schon öfter aus dem Munde solcher Leute gehört, von Kellnern, Ladenbesitzern. Sie sagten sie immer, wenn sie einen nicht mochten, nuschelten sie finster in ihren Bart, ohne einen anzusehen. Doch wer hatte ihnen beigebracht, im 21. Jahrhundert »mein Herr« zu sagen? Ihr Vater in Kreuzberg? Ihre Mutter in Neukölln?

Was sagte es überhaupt über diese Spezies Mensch aus? Dass sie immer noch in einem patriarchalischen Herr/Knecht-Verhältnis gefangen waren, wie zu Hause auch? Dass sie deshalb schreckliche Minderwertigkeitskomplexe hatten und bei der geringsten Kränkung dessen, was sie ihren dummen Stolz nannten, zu allem fähig waren?

Gregor lachte gequält. Es musste schon ziemlich schlimm um das Verhältnis zwischen seinesgleichen und jenen bestellt sein, wenn so ein Auftritt einen solchen Wust unerfreulicher Gedanken in ihm freisetzen konnte.

»Mein Herr, mein Herr!«, äffte er den Primaten nach, inklusive Verbeugung, und ging dann weiter, während ihm dieser böse hinterherstarrte.

Nach wenigen Schritten fiel ihm auf, dass seine Hände vor Wut zitterten und ihm sein Herz bis zum Hals klopfte. So sehr hasste er diese Art von Typen, ihre falsch verstandenen, männlichen Ehrbegriffe, besagte Minderwertigkeitskomplexe, ihre Missgunst, die ganze Scheiße, den diese Idioten mit ihrem Deutschenhass und ihren Ressentiments gegen alles, was der westlichen Kultur angehörte, im Kopf hatten. Sie lebten wahrscheinlich tatsächlich noch in einem finsteren Mittelalter, wie man es ihnen nachsagte.

Er schüttelte angewidert den Kopf, um den ganzen gedanklichen Mist abzuschütteln, mit dem ihn dieser Mensch vergiftet hatte. Der Hass auf diese Affen war da, er war lange gewachsen durch schlechte Erfahrungen mit ihnen. Ja, es waren Affen, allein schon der Haarwuchs an ihrem Körper. Hässliche Affen mit dicken Eiern, böse und dumpf wie ihre sprachliche Ausdrucksweise und ihre Unfähigkeit, sich anzupassen an die hochentwickelte Kultur, in der sie die unterste Stufe einnahmen.

Shame on me, dachte er wenige Minuten später. »Ich bin ein rassistisches, reaktionäres Schwein«, murmelte er zu seiner Entschuldigung. »Ich nehme das alles zurück. Geschieht mir ganz recht, wenn ich eines Tages einen Herzinfarkt bekomme«, fügte er noch hinzu, um Abbitte zu leisten.

Er brauchte etwa zwanzig Minuten, um sich zu beruhigen, und bog schließlich grummelnd, leise Selbstgespräche murmelnd, in die Lietzenburger Straße ein.

Er suchte Zuflucht in einem ihm vertrauten Möbelgeschäft, in dem er schon allerlei unbrauchbaren Mist gekauft hatte. Den Verkäufer kannte er bereits. Er war ängstlich, schwul und unscheinbar. Ein kleiner, brauner Pornobalken klebte an seiner Oberlippe. Gregor hatte schon einmal einen Topper hier gekauft, der viel zu spät geliefert worden war. Deshalb hatte der Schwule offenbar ein schlechtes Gewissen. Misstrauisch blickte er ihm entgegen. Dabei ließ er ein leises, defensives »guten Morgen« hören.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er.

»Ich habe schon einmal einen Topper bei Ihnen gekauft«, sagte Gregor missbilligend, »erinnern Sie sich?«

Der Schwule tat so, als hätte er Gregor noch nie gesehen.

»Wie ist Ihr Name?«, fragte er verlogen.

»Gregor Samsa«, stieß Gregor ungeduldig hervor.

Der Verkäufer scrollte in seinem Computer durch die Kundenliste, um Gregors Aussage zu überprüfen. Gregor trat in der Zwischenzeit ein paar Schritte in den riesigen Raum, in dem es von Matratzen wimmelte. Teils waren sie an den Seiten aufgeschnitten, damit man den Querschnitt ihres Inneren (Rosshaarschichten und anderen Scheiß) bewundern konnte. Die Matratzen kosteten zwischen fünftausend und achttausend Euro.

»Samsa!«, rief unterdes der Verkäufer. »Gregor Samsa, jetzt habe ich Sie!«

Er tat dies aus reiner Bösartigkeit, um Gregor aus seinen Gedanken zu reißen. Gregor ließ sich jedoch ungern von einem Verkäufer in diesem Geschäft stören. Er lief weiter, tat so, als hätte er nichts gehört, und ließ seine Blicke schweifen. Die Matratzen wurden wie Kunstwerke präsentiert. Sie standen auf hohen Sockeln, als stammten sie von Joseph Beuys. Der Verkäufer lief ihm mit seinen Zahnstocherbeinchen entgegen.

»Ich muss mich nochmals entschuldigen wegen der späten Lieferzeit«, sagte er.

Gregor bleckte die Zähne zu einem breiten, zynischen Grinsen: »Und ich bin trotzdem wiedergekommen!«, rief er triumphierend aus. »Sie werden es kaum glauben, ich will noch einen Topper von Ihnen!«

Der Verkäufer lächelte schüchtern und sah zu ihm auf. Nur noch ein Schatten eines echten Lederschwulen, wie es sie früher gegeben hat. Prost Mahlzeit, dachte Gregor. Es war auch wirklich nichts mehr so wie früher.

Er fragte den Verkäufer, ob es auch Matratzen unter fünftausend Euro gäbe. Sofort kam Leben in das Männlein. Es freute sich, Gregor eine neue Aktion präsentieren zu dürfen, die sie letzte Woche hereinbekommen hätten. Diese Matratzen wären von ähnlich guter Qualität, würden aber nur zweitausend Euro kosten.

»Ach tatsächlich!«, rief Gregor, von der überschwänglichen Freude, ja vom Jubel dieses Menschen angesteckt. Der Verkäufer lief herum wie ein Duracellhäschen und ruderte dabei aufgeregt mit den Armen.

Gregor hatte wirklich Lust, die Matratzen auszuprobieren. Endlich konnte er seine Zeit totschlagen. Er folgte dem Männlein zu den fünf hinteren Betten, die sich in nichts von den anderen unterschieden. Die Atmosphäre in diesem hinteren Teil des Raums war ziemlich deprimierend. Es roch nach Baumwolle, und das Graugelb der Matratzen und des Bodens vermischten sich zu einem diffusen Äquilibrium. Gregor wusste einen Moment nicht mehr, wo oben und unten war. Sein Magen, der noch vom Alkohol der letzten Nacht wund war, drohte sich umzudrehen. Er hatte keine Lust, sein Frühstück wieder auszukotzen.

»Sind das auch Boxspringbetten?«, fragte er würgend.

Der Verkäufer sah ihn besorgt an.

»Alles gut«, sagte Gregor, »Butter Lindner ist auch nicht mehr das, was es mal war.«

»Ja, das sind auch Boxspringbetten.« Der Verkäufer nickte mehrmals vor sich hin.

Gregor, schwach wie er war, ließ sich rücklings auf einer der Matratzen nieder.

»Wow«, sagte Gregor.

»Das liegt an der Kombination Seide – Latex – Seide – Latex«, erwiderte der Verkäufer mit einem feinen, sentimentalen Lächeln. Bei dem Wort Latex allerdings glimmten seine Augen kurz in einem fieberhaften Glanz (HIV-positiv?) auf. »Das Latex stützt, die Seide sinkt – und das in vier verschiedenen Schichten. Und nun legen Sie sich mal auf die Seite. Sie werden sehen, wie gut sich das anfühlt.«

Gregor warf sich mit letzter Kraft herum.

»Oh wow«, stöhnte er nochmals.

Der Verkäufer begann über die Philosophie hinter diesen Matratzen zu referieren. Gregor hing an seinen Lippen. Manche Verkäufer redeten rücksichtslos auf einen ein, obwohl oder gerade weil man den Vortrag gar nicht hören wollte. Sie ließen sich nicht unterbrechen, sie wollten ihre Dominanz unter Beweis stellen, und man musste sie scharf zurechtweisen, was immer in einem Streit eskalierte, in groben Beleidigungen, die zu Hausverbot oder ähnlichen schlimmen Dingen führten. Gregor war traumatisiert in dieser Hinsicht. Von diesem Männlein mit seiner sanften, sonoren Stimme aber ließ er sich gern einlullen. Er war fast eingeschlafen, als dieser ihn bat, sich einmal auf den Bauch zu legen. Gregor konnte sich kaum noch drehen, so müde war er. Der Mann war besser als jeder K.-o.-Tropfen.

»Und?« Der Verkäufer blickte auf ihn herab. Seine Lippen bebten vor freudiger Erwartung. »Was sagen Sie? Wie fühlt sich das an?!«

»Es ist das Beste, was mir je in meinem Leben passiert ist«, hörte Gregor sich sagen. »Es ist wie in Abrahams Schoß, ich fühle mich total sicher, ich will nie wieder hier weg«, flüsterte er.

»Sehr gut«, gluckste der Verkäufer beglückt. »Ich bin auch Bauchschläfer«, rief er schwärmerisch aus, »ich könnte ohne so eine Matratze gar nicht mehr leben! Und nun legen Sie sich wieder auf den Rücken.«

Gregor tat, wie ihm geheißen, und verschränkte zufrieden die Arme unter dem Kopf. Er konnte nur noch ein Grunzen ausstoßen. Er fühlte sich glücklich wie ein kleines Kind.

»Das ist der Wow-Effekt«, sagte der Verkäufer selig.

»Der Wow-Effekt«, wiederholte Gregor und nickte.

»Genau so sollte es sein«, stellte der Verkäufer fest und holte beide durch diese nüchterne Feststellung wieder auf den Boden der Tatsachen zurück, »immerhin verbringen wir ein Drittel des Tages auf der Matratze!«

Gregor seufzte. Er fühlte sich sicher. Und Sicherheit kostete. Dieser Mensch hatte nun schon viel Zeit in ihn investiert. Gregor musste die Matratze jetzt kaufen. Das war er ihm schuldig.

»Ich nehme sie«, sagte er und erhob sich mühsam. »Ich nehme sie«, wiederholte er.

»Wirklich!?«, rief der Verkäufer und strahlte wie ein kleines Kind. Gregor hatte ihn glücklich gemacht.

Auf dem Weg zur Kasse empfand er deshalb ein tiefes Gefühl der Dankbarkeit. Wie schnell hätte das alles schiefgehen, in Beleidigung, hässlichen Streit, Demütigung ausarten können. Nein, sie beide konnten sehr stolz auf sich sein. Gregor hatte es nicht nur geschafft, sich nicht mit dem Verkäufer zu streiten, sondern zugleich sein Herz erobert. Er hatte eine große Verantwortung übernommen: das Glück des Verkäufers immer zu schützen! Gregor fühlte, dass dieses fragile Glück etwas sehr Kostbares, eine wahre Seltenheit war.

Meist versuchte man sich gegenseitig zu dominieren. Besserwisserei spielte dabei die größte Rolle, und das Ganze wurde dann schnell sehr hässlich. Die Menschen in Berlin waren programmiert auf Streit, gepaart mit übelsten Beleidigungen. Das war in die Gene dieser Stadt eingeschrieben und übertrug sich auf ihre Bewohner. Deshalb herrschte am Anfang solcher Verkaufsgespräche immer eine angespannte Atmosphäre, geprägt von Misstrauen und Feindschaft. Schaffte man es allerdings, die Situation zu drehen, dann kam das einer Heldentat gleich. Man merkte an der oft übertriebenen Reaktion des anderen, wie sehr ihn nach Sympathie und Anerkennung dürstete.

In diesen großen, einsamen Bettenläden fristeten die Verkäufer oft ein elendes Dasein. Bösartige Kunden, die es darauf abgesehen hatten, ihren Frust loszuwerden, zerrten absichtlich an ihren Nerven. Reiche Russen, die sich vor ihren operierten Nutten aufspielten, engherzige, geizige Schweizer, reaktionäre Österreicher und aus dem Maul stinkende Provinzheinis, die ihren Porsche vor der Tür parkten und auf übelste Art Schwäbisch »schwätzten«. Mit ihnen musste der Verkäufer tagein, tagaus kämpfen.

Aber dieser Mann hier war kein Kämpfer und schon gar kein Sieger. Jahrelang hatte er unendliches Leid in sich hineingefressen und war nun überschwänglich, ja kindisch dankbar dafür, dass Gregor so nett mit ihm umgegangen war. Das sah man an seinem abgehärmten, unglücklichen Lächeln, das an ihm haftenblieb wie eine Prothese. Gregor hatte ein kleines Wunder an dem Verkäufer vollbracht: Freundlichkeit in Berlin! Und es beschämte ihn, wie abartig viel Glück das in seinem Gegenüber hervorrief.

Während der Verkäufer den Auftrag in seinen Computer eingab und Gregor die Anzahlung machte, sprach man noch über das Wetter und wie schrecklich die Lage in Syrien war. Das erhebende Gefühl, das ihnen ihre Begegnung bescherte, die der Übermüdung und der Leere der Konsumgesellschaft förmlich abgetrotzt war, wurde leider ein wenig relativiert von dem üblichen Schuldgefühl, dass man faul und dekadent war und nicht genug gegen das Elend in der Welt tat, das sich jeden Tag im Fernsehen vor einem abspielte. Man wusste, dass man irgendwann dafür die Quittung bekommen würde, wusste aber auch, dass man weiterhin trotzig seinem Hedonismus frönen würde, solange es ging.

Die beiden sahen sich an: Beide waren schon seit Ewigkeiten in Berlin und hatten am Schicksal der Stadt Anteil gehabt. Sollten sie sie nun den Horden von Neuberlinern überlassen, die alles niederzutrampeln versuchten mit ihren Kinderwagen, ihrer Rücksichtslosigkeit und ihren abscheulichen Dialekten? Diese Spießer musste man aufhalten, bevor sie jeglichen Ehrenkodex und Zusammenhalt durch ihren kindischen Egoismus zerstören konnten. In diesem Sinne musste der gute, alte Westberliner Stil aufrechterhalten werden, der sich dadurch auszeichnete, dass man zwar nach links und rechts beleidigte und pöbelte, was das Zeug hielt, aber im inneren Kreis eisern zusammenhielt.

Gregor klopfte dem Verkäufer sanft auf die Schulter. Er konnte dessen intensiven Blick, der von sentimentaler Trauer durchdrungen war, kaum noch ertragen. Ja, ja, es stimmte schon. Sie waren eine Notgemeinschaft geworden, nicht gewappnet, mit Gewalt, rapidem Niedergang und Barbarei zurechtzukommen, aber das war kein Grund, am frühen Morgen schon so sentimental zu werden. Der Verkäufer bemerkte sofort Gregors Irritation und beeilte sich, stumm, mit bewegter Miene zur Kasse vorauszueilen, um das Geschäft abzuschließen.

Er versicherte Gregor nochmals seines Stolzes und seine Freude, ihm diese Matratze verkauft zu haben, und schüttelte ihm freudig erregt die Hand. Das schlechte Gewissen, weil beide nichts taten, um die Welt besser zu machen, war verflogen. Ihrer beider kurzes Geplänkel war ja nichts anderes als ein Weltverbesserungsakt, ein Ringen um das Gute in dieser Stadt. Man hatte der Welt ihre alte Freundlichkeit abgetrotzt. Das musste vorerst reichen als Beitrag im Kampf gegen das Böse. Mehr war nicht drin in der Lage, in der sie sich befanden.

Gregor befreite sich schließlich aus dem feuchten Händedruck, mit dem der Verkäufer ihn noch immer umklammert hielt, und verließ gutgelaunt den Laden.

Die Aussicht, die Klamottenläden wegen der Cargo-Hose abzuklappern, machte Gregor nicht gerade glücklich. Früher hätte er um diese Zeit längst am Schreibtisch gesessen. Aber ein innerer Zwang trieb ihn dazu, diese Cargo-Hose zu finden. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt. Es war genau wie bei den Nutten. Selbst wenn er überhaupt keine Lust auf Sex hatte, trieb es ihn in einen bestimmten Puff. Es reichte bereits die Tatsache, dass er zu Hause sein Mundspray einpackte, und er wusste im gleichen Augenblick, dass jetzt kein Weg mehr an den Nutten vorbeiführte. Sonst hätte er das Mundspray ja umsonst eingepackt. Und das würde er niemals tun, haha.

Das Mundspray einzupacken war der erste zwingende Handlungsschritt, der ihn unweigerlich zur Nutte führte, und das wusste er. Es war eine Art Prävention gegen seine klinische Entscheidungsunfähigkeit. Denn hätte er das Mundspray nicht eingepackt, müsste er die ganze Zeit darüber nachdenken, ob er nun gehen sollte oder nicht. So lag es schwer und fühlbar in seiner Tasche und erinnerte ihn an den Vorsatz, zur Nutte zu gehen, hielt ihn im Zweifelsfall sogar von pathologischem Fehlverhalten ab wie plötzlichem Kehrtmachen auf dem Weg zur entsprechenden U-Bahn, etcetera ecetera.

Es konnte allerdings auch sein, dass er zur Nutte ging, obwohl er absichtlich zu Hause das Mundspray nicht mitgenommen hatte. Manchmal, wenn er das Mundspray eingepackt hatte, langweilte ihn das Programmierte daran, und er ging nicht. Ging aber schließlich dann doch. Manchmal präparierte er sich, um jeden Zweifel zu tilgen, indem er Mundspray, Kondome, Gummihandschuhe und Gleitcreme einpackte. Das setzte in seinem Gehirn einen noch radikaleren Mechanismus in Gang. Seinen Knirps-Regenschirm nahm er zusätzlich mit. Man konnte ihn als Regenschirm, aber eben auch als Dildo einsetzen, gelegentlich sogar als Schlagstock, frei nach dem Motto: »Du gehst zum Weibe, vergiss den Knirps nicht.«

Ähnlich ging es ihm mit der Cargo-Hose. Er musste sie suchen gehen, auch wenn er den ganzen Tag Läden abklappern würde.

Für die Suche nach der Cargo-Hose würde er sich möglicherweise einem ungeheuren Stress aussetzen, wie er ihn früher nur während der Dreharbeiten gehabt hatte. Es konnte sein, dass es die Hose, die seinen Vorstellungen entsprach, nicht mehr gab. Er würde sich damit verausgaben, Geschäfte abzuklappern mit der geringen Hoffnung, am Ende ein zufriedenstellendes Resultat zu bekommen, genau wie er früher Take um Take gedreht hatte, ohne dass die Schauspieler dadurch besser geworden waren.

Am Ende der Lietzenburger brach ihm wieder der Schweiß aus. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er musste einen Augenblick stehen bleiben und sich an einer Hauswand festhalten. Die nächste Panikattacke kündigte sich an. Ihn entsetzte die Erkenntnis, dass das, was er vorhatte, die gleiche Plackerei war wie früher die Dreharbeiten. Nur noch viel sinnloser. Früher hatte er wenigstens hinterher einen Film in der Hand gehabt. Und was hatte er heute, wenn er Glück hatte: eine Cargo-Hose! Er brauchte einen Moment, um sich von dieser Erkenntnis zu erholen und weitergehen zu können.

Er ging schließlich in zehn verschiedene Läden, fand aber die Hose nicht. Der Verkäufer des letzten Ladens, in dem er gewesen war, einem sehr exklusiven Herrenausstatter, hatte von Anfang an den Kopf geschüttelt.

»Nein«, hatte er gesagt, »eine solche Hose führen wir nicht mehr. Diesen Schnitt gibt es schon lange nicht mehr. Aber fragen Sie mal im Schloss nach. Früher hat es solche Hosen für Landvermesser gegeben. Es könnte gut sein, dass ein paar von ihnen aufgehoben wurden, für den Fall, dass sich eines Tages ein Museum für die Zeit interessiert, in der diese Cargo-Hosen, wie Sie sie suchen, noch getragen wurden. Ich kann Ihnen aber jetzt schon sagen, dass es sehr lange dauern kann, bis Sie von der Schlossverwaltung eine Antwort bekommen. Und auch dann ist überhaupt noch nicht sicher, ob es eine solche Hose überhaupt noch gibt oder jemals gab.«

Gregor war mittlerweile am Alexanderplatz und ging von dort aus Richtung Friedrichstraße. Er hatte seine Suche aufgegeben. Eines war klar: Es war wesentlich einfacher, eine passende Nutte zu finden als eine Cargo-Hose. So etwas würde er nicht wieder machen. In Zukunft würde er sich aufs Kerngeschäft konzentrieren.

Berlin war ein hässlicher Moloch, der überflutet wurde von Flaschensammlern, die sich ihren Weg zwischen Plattenbauten entlang sozialer Brennpunkte bahnten. Die meisten trugen Kapuzenjacken, damit man ihre Gesichter nicht sah. Die Harmloseren sahen aus wie Frührentner und waren gekleidet wie Erich Honecker. Man konnte wenig über ihre Geistesverfassung aussagen. Sicher war, dass sich keine hübschen Mädchen in kurzen Röcken unter ihnen befanden, denn das Leben in diesen Zeiten war ernst.

Die Grünen hatten durch die Einführung des Flaschenpfandes eine veritable Freizeitbeschäftigung ins Leben gerufen, die viele davon abhielt, sich in ihren Plattenbauwohnungen umzubringen. Denn daher kamen vermutlich die meisten, aus dem »Osten«, der in seiner unbezwingbaren Trostlosigkeit manifest wurde, sobald man aus Versehen auf eine dieser riesenhaften Straßen geriet, die vom Alexanderplatz abzweigten. Die schlimmste Straße war die Mollstraße. War man sie einmal einen Kilometer entlang der Plattenbauten gelaufen, ließ man jede Hoffnung fahren.

Die Gemeinde der Flaschensammler war in den letzten Jahren beträchtlich angewachsen. Es herrschte Konkurrenzdruck, Hass, Aggression. Auch hier hatte sich das Recht des Stärkeren durchgesetzt. Manche plünderten wütend, mit hochkonzentrierten, finsteren Gesichtern die Abfalleimer. An manchen Stationen, wie zum Beispiel am S-Bahnhof Friedrichstraße, bildeten sich mittlerweile Schlangen aus vermummten, vor Ungeduld bis zum Zerreißen angespannten Typen, die mit dumpfen Schreien und Drohgebärden ihrem Unmut Luft machten. Dass es bisher noch nicht zu Schlimmerem gekommen war, wunderte einen.

Tschetschenische und jugoslawische Killer in Kampfanzügen mit weit ausladender, aggressiver Gebärdensprache hatten im Verdrängungswettbewerb, zusammen mit Messerstecher-Typen aus dem Sinti- und Roma-Lager, gegen die alten, blutleeren Ossis gewonnen, die sich hier, an den üppig gefüllten Müllstationen der Friedrichstraße, nicht mehr blickenließen. Die Killer brüllten laute, bedrohliche Wortkaskaden in ihre Handys, stießen Passanten zur Seite, die ihnen in die Quere kamen, und lebten ganz ungeniert ihren Stil, den sie in den Killing Fields des Kosovo oder sonst wo gelernt hatten.

Es war mitunter ein herrliches Schauspiel, denn natürlich erregten diese testosterongesteuerten Typen die Gemüter der wohlerzogenen deutschen Passanten, die sich kopfschüttelnd abwandten, aber auch die Wut in einem selbst, eine ohnmächtige, in gewisser Weise neidische Wut auf die Muskelpakete und Kampftechniken des Primaten, der einen, ohne mit der Wimper zu zucken, beim geringsten Anlass mit den Worten »Ich zerstör dich, du Opfer« krankenhausreif schlagen konnte. Dass sie die hübschen Mädchen, die mit ihren Prada-Täschchen vor ihnen gingen und Zero-Cola-Döschen wegwarfen, noch nicht alle vergewaltigt hatten, war bei dem Mangel an Polizei, der überall in Berlin auf beängstigende Weise herrschte, ein wahres Wunder.

Der allgemeine Schlendrian, mit dem das Flaschensammeln einst begonnen hatte, war jedenfalls dahin.

Gregor war so alt wie Aschenbach damals, als dieser Bilanz zog. Wie jeder, der kein kompletter Idiot war, wurde auch er mit fast sechzig in jeder Hinsicht gezwungen, der Wahrheit darüber, was aus ihm geworden war, ins Gesicht zu sehen.

Was hatte man erreicht? Hatte am Ende all die Mühsal nichts gebracht als schlechte Leberwerte und permanente Übelkeit, die von einer möglichen Gastritis kam? Er selbst verglich sein Leben gerne mit einem rohen Ei, das überall angeschlagen war. Von jedem Stoß blieben feine Risse zurück, die dann gepampert werden mussten, mit professioneller Hilfe in Gestalt einer gutgebauten Russin oder Polin, auf deren Zärtlichkeit er angewiesen war, deren Körper er (rein hellenistisch im Aschenbach’schen Sinne betrachtet) auskosten und anbeten konnte, um für eine Stunde zu vergessen, was das Leben ihm angetan hatte. Der einzige Vorteil, den diese Stadt hatte: Puffs gab es wirklich genug.

Hätte er damals, mit Anfang dreißig, schon gewusst, was er heute wusste, nämlich dass es überhaupt keinen Sinn hatte, sich anzustrengen, dann hätte er viel Energie gespart, die er heute brauchen könnte und nicht mehr hatte. Aber nein, er war zu dumm gewesen. Er hatte tatsächlich eine Weile geglaubt, Idealist und Romantiker sein und einen »auf Kunst« machen zu müssen.

Was für ein bemitleidenswertes, ambitioniertes Würstchen war er doch gewesen und wie langweilig und durchschnittlich war das, was er hervorgebracht hatte, gemessen an den enormen Ambitionen, die er einst gehabt hatte. Mein Gott, hatte er sich damals angestrengt! Die Spuren seines »künstlerischen Schaffens« standen verstaubt in seinem Regal, DVDs seiner Filme, die wahrscheinlich niemanden mehr interessierten. Dabei hatte er damals tatsächlich gedacht, sie seien für die Ewigkeit.

Der Tag war im Grunde gelaufen. Er stornierte den Auftrag auf die Matratze wieder, nahm zwei Schlaftabletten und legte sich ins Bett.

Wie Aschenbach hatte er schlecht geschlafen. Er hatte den ewig gleichen Traum geträumt, der sich in letzter Zeit permanent wiederholte: Er selbst, uralt, schleppte sich nachts eine Autobahn entlang. Er hatte einen halb gefüllten Plastikbeutel an sich hängen, der in der Leistengegend an ihm herabbaumelte. In der Dunkelheit konnte er nicht genau erkennen, was sich darin befand. Etwas schwamm in dem Beutel, das aus irgendeinem Grund wichtig war. Der Beutel zog an seinen Eingeweiden. Er hatte die Befürchtung, dass das kurze Stück Schlauch, an dem er hing, direkt an seinen Darm geklammert war und dass dadurch der ziehende Schmerz hervorgerufen wurde, der ihn vorantrieb.

Er wusste, dass seine Situation ausweglos war. Er ging trotzdem immer weiter, in eine amerikanische Dunkelheit hinein, wie man sie aus Horrorfilmen kannte. Ein Streifen roten Lichts fiel über die Steppe neben der Autobahn.

Er wusste, dass er jetzt, bevor es zu spät war, in den Beutel greifen und das Ding, das da schwamm, herausholen musste. Es war sein Handy, schwer und alt, groß wie ein Rasierapparat. Er hatte es seit ewigen Zeiten nicht benutzt. Die Tasten waren verklebt, aber ein rotes Licht flackerte im oberen Teil, die Batterie funktionierte offenbar noch schwach. Jetzt musste er nur noch wählen. Wie war doch gleich die Nummer von ihr, jener tief in seiner Erinnerung verschollenen Person, die er auf seinem langen Irrweg verloren hatte? Während er verzweifelt die Tasten seines Handys drückte, liefen ihm die Tränen hinunter. Vielleicht war es bereits zu spät. Viele Jahre waren vergangen. Die Spur des Glücks, in zauberhaftes Licht gekleidet, war längst verschlungen von der ewigen Nacht.

Oh Jammer, wie war er alt und unglücklich geworden ohne jenes Geschöpf! Wie ein Gaukelspiel sah er eine feenhafte Gestalt, dort, an der Schwelle der Träume; zaghaft fiel das gedämpfte Licht der späten Nachmittagssonne auf den schmalen Rücken des Mädchens. Dort stand sie, im Weichzeichnerlicht, am offenen Fenster, in einem weißen Nachthemd. Sie war sehr jung. Immer wieder verschwamm das Bild, das die Erinnerung ihm vorgaukelte, und löste gleichzeitig eine entsetzliche Sehnsucht in ihm aus.

Noch einmal gelang es ihm, das Bild des Zimmers heraufzubeschwören. Das Mädchen stand noch immer am Fenster. Ihr langes, braunes Haar wehte sanft im Wind. Er konnte erkennen, dass es den kräftigen, weißen Hals ihres Pferdes streichelte, eines Schimmels, genauso zart wie sie, das draußen in der nebligen Atmosphäre des Apfelgartens auf sie wartete und schnaubte. Es roch im Zimmer nach dem Atem des Tieres, nach Stroh und frischen Äpfeln. Nun wusste er, wer das Mädchen im weißen Nachthemd war. Es war Bilitis. Es musste ihm gelingen, Verbindung zu Bilitis aufzunehmen. Sie würde ihn aus diesem immerwährenden Alptraum des Alters und des elenden Todes erlösen.

Er wählte einzelne Ziffern, von denen er glaubte, dass sie richtig waren. In seiner Verzweiflung hackte er nach der Trial-and-Error-Methode auf die Tasten des alten Handys ein. Während er immer verzweifelter wurde, sah er in der Ferne, wie das Mädchen mit der ganzen Grazie und Leichtigkeit ihrer Jugend aus dem Fenster stieg und sich auf den Rücken ihres weißen Pferdes setzte, das mit ihr davongaloppierte. »Nimm mich mit, Bilitis!«, schrie er in seine Nacht hinaus, aber das Bild erlosch bereits; und in der Hand hielt er das große, alte Handy mit der zerbröselten Tastatur. Schweißgebadet wachte er auf, mit beiden Händen seine Morgenlatte umklammernd, in die sich die Fingernägel gruben.

Diesen Autobahntraum hatte er in letzter Zeit ständig, und er begann ihm allmählich auf die Nerven zu gehen. Wahrscheinlich durfte er sich nie wieder Lost Highway angucken und auch nie wieder die Mollstraße hinuntergehen. Bett und Laken waren so nasskalt, dass er sofort aufstand, obwohl er noch todmüde war.

Es war kurz nach fünf, wie so oft in letzter Zeit.

Er machte Kaffee und hockte sich an den Tisch. Nur die Augen brannten, der Rest war kalt wie ein Leichnam. Unter einer Reihe sehr teurer Designerspots starrte er ins Leere. Was war passiert? Wohin war sein Leben verschwunden?

Ja, er hatte Filme gemacht, eine ganze Reihe von Filmen, die er lächerlicherweise seine Kinder nannte, Kinder, die im wirklichen Leben nie eine Chance gehabt hätten.

Und was hatte er sonst noch getan? Zumindest hatte er nie etwas für andere getan. Das war der einzige Trost. Zumindest damit hatte er seine Zeit nicht verplempert.

Es gab in seinem Leben nur noch sehr wenige Menschen, die er im weitesten Sinn Freunde nennen konnte. Einer davon war seine Agentin, die er immer noch mochte – was an ein Wunder grenzte –, eine absolute Ausnahmeerscheinung in der Welt da draußen.

Der andere war ein alter Kumpel, sein Produzent, der wie eine menschgewordene Riesenkakerlake aussah. Er und sein Compagnon schmissen den Laden, für den er seit Jahren seine Filme machte. Film war ein schmutziges Geschäft. Um sich zu wappnen, hatten sie sich einen Panzer aus Körperfett zugelegt, der sie wie Amphibien im Filmsumpf oben schwimmen ließ. Jahr um Jahr waren sie dicker geworden. Gemeinsam schaufelten sie sich durch den Schlamm des Filmgeschäfts. Mittlerweile konnte man sie kaum noch voneinander unterscheiden. Sie liebten ihren Beruf, trotz vieler Misserfolge, auf unbeirrbare Weise und hatten nicht den geringsten Zweifel an dem, was sie taten.

Sollte man sie bewundern für dieses sture Durchhaltevermögen? Wofür war es symptomatisch? Für einen Mangel an Selbstzweifel? Für Gier nach Anerkennung? Für innere Leere? Ihm kam das Filmgeschäft immer mehr wie lächerlicher Dreck vor, und er hatte keine Lust mehr, sich die Finger schmutzig zu machen.

Diese beiden Menschlein, die noch treu zu ihm hielten, irrten aufgeschwemmt, apoplektisch, kurzsichtig und gutherzig in dieser schrecklich öden, korrupten Filmlandschaft herum und versuchten, ihre an der Kinokasse zum Scheitern verurteilten Projekte an den Mann zu bringen. Dabei floss viel Alkohol durch ihre Adern und viel Junkfood wanderte durch ihre Speiseröhren. Im Grunde ernährten sie sich von den Abfällen der Fleischindustrie. Sie fraßen das Gleiche wie die Kakerlaken. Deshalb seine Vermutung, dass sie diesen Viechern immer ähnlicher sahen und genauso resistent wurden.

Allein wie viele Flugstunden sie wöchentlich zurücklegen mussten, um von einer Fressorgie zur anderen zu kommen, von einem Abendessen, von einem Stehempfang zum nächsten, von Filmball zu Filmball und dann völlig verkatert zum nächsten Branchentreff, von Brunch zu Brunch, von Lunch zu Lunch. All das Gewimmel und Gewusel, und das ständig! Es musste unvorstellbar anstrengend sein.

Einmal rannte der Kakerlak, als er kein Taxi bekam, die ganze Potsdamer Straße hinunter. Er kam gerade noch rechtzeitig, bevor die Türen geschlossen wurden, ins Berlinale-Festivalpalais, wo Gregors Film im Wettbewerb lief, ließ seinen kolossalen Körper auf den Sitz neben ihm krachen und nahm seine Hand, weil er wusste, wie aufgeregt Gregor war und wie viel für ihn auf dem Spiel stand. Diese zutiefst menschliche Geste hatte Gregor ihm nie vergessen. Allerdings hörte der Produzent nicht mehr auf, laut zu keuchen und zu schwitzen, was dazu führte, dass sich ständig Leute nach ihm umdrehten, weil sie Angst hatten, dass er gleich einen Gehirnschlag oder Herzinfarkt erlitt. Dazu war ihm der Schweiß ausgebrochen und rann ihm ununterbrochen über das kalkweiße, dicke Gesicht, das wie das einer Karikatur von George Grosz aussah.

Das alles beeinträchtigte die Aufmerksamkeit des Publikums für den Film erheblich und gab Gregor das bedrückende Gefühl, dass dieser sehr schlecht ankam.

Der Mann neben ihm war zu einem bedenklichen Störfaktor geworden. Irgendwann hörte der Schweiß auf zu rinnen, und das reglose Gesicht mit dem halb geöffneten Mund und den glasig zur Leinwand blickenden Augen wirkte vollkommen leblos. Gregor dachte für einen Augenblick, er sei tot. Dann fing sein Produzent leise zu schnarchen an. Gregor konnte dies immerhin unterbinden, indem er fest die dicke Hand drückte, die immer noch in der seinen lag.

Diese Episode lag bereits lange zurück und war das eigentliche Fundament ihrer Freundschaft. Hoffentlich machte es der Kakerlak noch eine Weile. Denn was auch immer an ihm auszusetzen war, er war der letzte Mitstreiter, den er noch hatte.

Die meisten der übrigen Produzenten, die er ab und zu anrief, hielt er für Lügner und ungebildete, dumme Karrieristen, die von Erfolgssucht, Eitelkeit und Geltungssucht getrieben waren. Er verachtete sie dafür, dass sie immer nur guckten, wer gerade Erfolg hatte, wer oben auf der Bestsellerliste stand, egal, ob es sich um eine feministische Autorin oder um irgendwelche proletenhaften Komiker mit wirklich niedriger Gesinnung handelte, oder um einen langweiligen Klassiker, dessen Titel als nationales Kulturgut verkauft werden konnte. Sie waren völlig gewissenlos, was Geschmack anging. Hauptsache, der Dreck machte irgendwie Kasse. Alles geschah nur aus Berechnung.

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