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Irene wollte den Berg nur besichtigen – aber nun hat sie sich verlaufen. Ihre Freunde sind plötzlich weg. Dabei ist sie nur ganz, ganz kurz stehengeblieben, um ein winziges, funkelndes Stück Kohle als Andenken aus der Bergwand zu lösen. Aber als sie wieder hochblickt, sind ihre Freunde weg. Stunde um Stunde irrt sie durch die dunklen Gänge des Kohlewerkes, aber sie findet den die Sohle III, den Förderschacht, durch den sie gekommen ist, einfach nicht wieder. Allmählich verirrt sie sich immer tiefer in den Berg hinein, die Gänge und Stollen werden Schmaler und immer noch keine Menschenseele in Sicht. Die Umgebung wird immer unheimlicher, die Beleuchtung matter und die noch vereinzelt brennenden elektrischen Birnen werfen riesenhaft verzerrte Schatten, während ihre Füße durch schwarze Wasserpfützen patschen. Das Abenteuer scheint ernst zu werden und die Gänge werden zunehmends düsterer und verwahrloster, die Luft drückt dumpf gegen ihre Schläfen – alles sieht gleich aus, sie weiß nicht, ob sie im Kreis läuft oder durch neue Gänge. Die Angst sitzt ihr im Genick und sie beginnt zu laufen. "Die Ärmel des schicken "Overalls", den sie vor der Einfahrt angezogen hatte, waren schwarz und schmutzig geworden von den Wänden, an denen sie vorbeistrich. Kohlenstaub lag ihr im Haar. Sie stolperte über Steinbrocken, stieß sich an Balken und Felsblöcken und blieb taub für den Schmerz. Nur weiter, weiter!" Ein kräftiger Schluck Kaffee bringt sie jäh ins Leben zurück – Karl Kühne hält ihr seine Blechflasche hin, aus der der Kaffee schal und ekelhaft schmeckt, aber Irene ist dankbar. Schnell gewinnt sie die Fassung wieder und Karl erklärt ihr den Weg zur Sohle II, die sie direkt zum Schacht und nach oben in die Freiheit führt – Irene jedoch schüttelt sich und weigert sich, auch nur noch einen Schritt allein zu machen. Und so begeben sie sich zu zweit durch die dunklen Stollen... Das Abenteuer erscheint Irene anziehend und, mit einem kurzen Blick in Richtung ihres neuen Kumpanen stellt sie fest, dass er gut aussieht: Breite, massive Schultern, groß, ein scharf gemeißeltes Gesicht, wenn auch von Schweiß und Kohlenstaub etwas entstellt. Und plötzlich muss die "Rettung" gar nicht mehr so schnell gehen...-
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Seitenzahl: 223
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Axel Rudolph
Ein Bergmannsroman
Saga
Der Mann aus der Tiefe
© 1935 Axel Rudolph
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711445099
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Eine Frau irrte unter Tage umher.
Sie tappte mit unsicheren Händen nach den Steinwänden, die naß und glitschig waren, ihre Füße knirschten auf zerbröckelter Steinkohle. Laut und schwer klangen die Schritte in der Stille. Die in großen Abständen angebrachten elektrischen Birnen brannten nur trübe und beleuchteten kaum einen halben Meter im Geviert die Balken der Verschalung.
Der Berg schwieg. Nur, wenn sie stille stand, hörte die Frau wie aus weiter Ferne das dumpfe Klopfen, das durch die Steinwände drang.
Irgendwoher, neben, unter und über diesem einsamen Stollen arbeiteten Menschen, Hunderte von Bergleuten. Aber Stein und Kohle trennen sie von ihr. Nur das dumpfe Klopfen war zu hören.
Frau Irene Sellenthin begann unruhig zu werden. Sie hatte es zuerst nicht weiter tragisch genommen, daß sie hinter ihren Bekannten zurückgeblieben war und den Anschluß verloren hatte. War so etwas wie ein prickelndes kleines Abenteuer, daß man plötzlich ganz allein stand in dieser fremden, unterirdischen Welt, ohne die Freunde und ohne den überhöflichen Bergassessor, den die Grubenverwaltung einem als Führer bei der Besichtigung des Bergwerks mitgegeben hatte.
Frau Sellenthin war stehengeblieben, um ein winziges, glitzerndes Stück Kohle als Andenken aus der Wand herauszuklauben. Es kostete ein paar Minuten Zeit, das festsitzende Stück mit den Fingern aus dem Gestein zu lösen. Niemand von den andern hatte es bemerkt, daß Frau Sellenthin stehengeblieben war. Und als sie ihnen nach wollte, waren sie auf einmal verschwunden, verschluckt vom Berg.
Sie mußte wohl an irgendeiner Stelle in einen falschen Gang eingebogen sein, denn wie weit sie auch lief, die Freunde blieben verschwunden, und auch andere Menschen kamen ihr nicht zu Gesicht.
Eine Stunde war sie nun schon umhergeirrt, in der Hoffnung, die Sohle III, durch die sie vom Förderschacht her gekommen war, wiederzufinden. Sie war in andere Gänge und Stollen gebogen, sie hatte versucht, zum Ausgangspunkt ihres Irrwanderns zurückzugehen, aber sie hatte sich nur immer tiefer in den Berg hinein verirrt.
Allmählich war die Umgebung immer unheimlicher geworden. Die Gänge und Stollen wurden schmäler, die Beleuchtung matter und vereinzelt, schiefgedrückte, zum Teil lose Stützbalken warfen im schwachen Licht der hier und da noch brennenden elektrischen Birnen riesenhaft verzerrte Schatten. Ein paarmal patschten ihre Füße in schwarze Wasserpfützen.
Das Unheimlichste aber war, daß weit und breit kein Mensch zu sehen war. Sie hörte das Klopfen und Scharren neben sich, unter sich, über sich, aber kein Mensch tauchte auf. Ihre Rufe verschlang der Berg. Niemand hörte sie.
Begann das Abenteuer wirklich ernst zu werden? Einen Augenblick kroch Frau Irene ein kalter Schauer den Rücken hinauf. Sie mußte an die Geschichte denken, die ihr vorigen Sommer jemand beim Besuch der Katakomben von San Callisto erzählt hatte, von den beiden Engländerinnen, die sich da unten verirrt hatten und erst nach Wochen als verhungerte Skelette aufgefunden worden waren.
Gewaltsam schob sie den Gedanken von sich. Das war ja Unsinn. So ein Bergwerk war doch kein Labyrinth von Grabgewölben. Hier arbeiteten doch Hunderte von Menschen. Man mußte doch irgendwo auf einen von ihnen stoßen!
Also weitergehen! Frau Irene stolperte über etwas. Eine Eisenschiene! Na also! Man brauchte nur diesen Schienen nachzugehen. Aber nach einer Viertelstunde stand sie zu ihrem Schrecken vor einer massiven Wand von Kohle und Gestein. Die Schienen brachen jäh ab, als habe die Natur einen Riegel vorgeschoben.
Wieder zurück. Die Schritte der Frau wurden hastiger und nervöser. Die ungewohnte dumpfe Luft drückte gegen ihre Schläfen. Einmal rannte sie mit dem Kopf hart gegen einen hervorstehenden Balken.
Immer sparsamer wurde die Beleuchtung. Kaum noch, daß alle hundert Meter ein Flämmchen glomm. Immer düsterer und verwahrloster die Gänge. Bald führten sie schräg aufwärts und wurden so niedrig, daß sie gebückt gehen mußte, bald wieder ging es abwärts, so daß sie ins Rutschen geriet. Kohle und Stein rieselte dann dumpf mit ihr hinunter.
Sie dachte an die Bergleute, die sie vor der Einfahrt oben im Zechendorf gesehen hatte, verwitterte, krummgearbeitete Gestalten mit blassen, abgearbeiteten Gesichtern, die zur Schicht gingen, mit der blechernen Kaffeflasche in der Rocktasche. Sie waren ihr nicht sympathisch vorgekommen, aber jetzt hätte sie allerlei darum gegeben, wenn nur eine dieser groben Gestalten aufgetaucht wäre.
Da war wieder eine Wand, die den Weg abschnitt! Mit fliegenden Pulsen stand die Frau still und horchte. War sie etwa im Kreis gegangen? Oder aber — gab es nicht so etwas? — hatte ein Bergrutsch die Ausgänge verschüttet? War sie am Ende gefangen in diesen dunklen Gängen, 800 Meter unter der Erdoberfläche?
Sie rief in die Stille hinein und horchte dann angespannt. Keine Antwort. Kein Laut. Und ihre eigenen Rufe klangen dumpf und erstickt. Nur das Pochen und Klopfen jenseits der massiven Wände ging fort, monoton, nervenzerreibend.
Weiter! Frau Irene machte wieder kehrt und begann zurückzugehen. Eine Orientierung war längst unmöglich. Sie wußte nicht mehr, ob sie durch Gänge kam, die sie vorher schon durchwandert hatte, oder in neue Stollen. Die Angst saß ihr plötzlich im Genick. Sie begann zu laufen. Die Ärmel des schicken „Overalls“, den sie vor der Einfahrt angezogen hatte, waren schwarz und schmutzig geworden von den Wänden, an denen sie vorbeistrich. Kohlenstaub lag ihr im Haar. Sie stolperte über Steinbrocken, stieß sich an Balken und Felsblöcken und blieb taub für den Schmerz. Nur weiter, weiter!
Einmal, als sie atemlos stillstand, kam es ihr vor, als sei das Klopfen und Pochen lauter geworden, aber vielleicht bildete sie sich das nur ein. Einmal kam von fernher ein dumpfer Knall. Eine Sprengung, oder war es gar eine — Katastrophe?
Sie achtete nicht mehr auf den Weg. Sie bog instinktiv in die Stollen ein, die am größten und hellsten schienen. Waren die Lampen nicht näher beieinander jetzt? Oder schien ihr das nur so, weil sie lief?
Wieder bog sie in einen anderen Stollen ein. Er war ganz grade und verlor sich in der Ferne in gähnender Finsternis. Aber aus dieser Finsternis drangen jetzt deutlicher und stärker die Arbeitsgeräusche und da — ganz weit vorne hob und senkte sich ein winziges glitzerndes Pünktchen. Jetzt stand es still. Jetzt bewegte es sich wieder, zweimal, dreimal, stand wieder still. Das konnte keine der fest angebrachten Lampen sein! Die Grubenlampe eines Bergmannes! Ein Mensch mußte da vorne sein.
Frau Irene stieß einen erstickten Schrei aus und taumelte den Stollen entlang, dem Lichtpünktchen entgegen. Ihre Knie zitterten.
*
Der Vollhauer Karl Kühne, der vor Ort arbeitete, ließ einen Augenblick das Gezähe sinken und sah sich verwundert um. Da hatte doch eben jemand gerufen?
Das Licht der Grubenlampe lag auf seinem nackten, schweißglänzenden Oberkörper. Es war heiß hier unten im Stollen, und die Arbeit war schwer. Fast alle Kumpels schufteten hier entblößt bis zu dem ledernen Riemen, der die Beinkleider zusammenhielt.
Karl Kühne spuckte den Kohlenstaub aus dem Mund und sah schärfer den Stollen entlang. Wahrhaftig, da hinten kam jemand! Sein Kumpel, der Schlepper Dombrowski, konnte es nicht sein. Auch der Steiger nicht.
„Nu schlag einer lang hin und steh kurz wieder auf,“ brummte der Hauer, „dat ist doch ’n Frauenzimmer!“ Eine Sekunde starrte er verblüfft auf die schlanke Gestalt, die da herankam. Der Lichtkegel der Lampe an der Wettertür fiel gerade auf den tizianblonden Haarschopf. Dann kam ihm eine Erinnerung. Richtig, ja, der Steiger hatte bei der Einfahrt so etwas gesagt von einer Gesellschaft, die den Pütt besichtigen sollte, Freunde vom Betriebsdirektor oder so was ähnliches. Karl Kühne schnitt eine Grimasse.
„Blödsinniges Volk! Hier unten rumzuspazieren, als ob der Pütt ’ne Ausstellung wär! Und dazu noch ein Frauenzimmer!“
Plötzlich aber wurden seine Augen ganz schmal. Was war denn nun das? Die Frau taumelte ja! Die konnte sich ja kaum noch auf den Beinen halten. Da mußte man wohl mal entgegengehen und ihr helfen. Er wollte sich schon aufmachen, als ein Gedanke ihn stutzen ließ. „Schäm dich wat, Karl! So wie du bist, jeht man nicht zu ’ner Frau!“ Sein Arm langte fast instinktiv in den Querschlag neben seiner Arbeitsstätte. Da hing der pikfeine Staubmantel, den der eitle Jeck, der Steiger Kaminski sich zugelegt hatte und sogar bei der Einfahrt anbehielt, bis er vor Ort kam. Karl Kühne fuhr schnell in die Rockärmel und knöpfte den Mantel über der bloßen Brust zu. Dann war er mit ein paar Sprüngen bei der Frau.
Irene Sellenthins Augen sahen in das Nichts. Sie taumelte vornüber, fühlte sich von zwei kräftigen Armen umschlungen und hatte im ersten Augenblick nur den Gedanken: Ein Mensch! Endlich ein Mensch!
„Nehmen Sie mal ’n Schluck Kaffee,“ sagte der Hauer, als sie die Augen aufschlug, und hielt ihr eine Blechtlasche an den Mund. Hastig trank sie einen Schluck. Er schmeckte schal und ekelhaft, aber er brachte doch die Lebensgeister zurück. Mit einem dankbaren Nicken sah sie zu dem Manne auf, der, fast einen Kopf größer als sie, vor ihr stand.
„Danke. Das tat gut.“
Der Blick des Hauers ging über den allzu „schnieken“ Grubenanzug der Dame hinab zu den breiten, amerikanischen Sportschuhen, die unter den Overalls hervorlugten. „Sie sind wohl von der Gesellschaft, die ...“
„Ganz recht.“ Frau Irene nickte hastig. „Die Herren in der Direktion waren so freundlich, uns eine Besichtigung zu gestatten. Aber ich hab’ in diesem Labyrinth von Gängen hier meine Begleiter verloren. Und wenn ich Sie nicht gefunden hätte ...“ Sie zog wie fröstelnd die Schultern hoch.
Der Hauer grinste. „Na, so schlimm ist es nun nicht. Sie hätten schon einen Kumpel getroffen.“
„Sagen Sie das nicht! Ich bin seit zwei Stunden umhergeirrt, ohne auch nur eine Menschenseele zu entdecken. Gerufen habe ich auch umsonst. Nur unheimlich leere, dunkle Gänge waren da.“
Karl Kühne pfiff halblaut durch die Zähne. „Ah so! Da sind Sie wohl in Sohle V geraten. Da ist schon vor zwei Monaten der Abbau aufgegeben worden. Ja, dann ... Da können Sie allerdings von Glück sagen. In dem Teil des Bergwerks hätten Sie tagelang herumlaufen können, ohne jemand zu finden.“
Frau Sellenthin war nicht verweichlicht. Jetzt, wo die Gefahr vorüber war, fand sie auch rasch ihre Nerven wieder. „Jedenfalls habe ich genug von der Besichtigung. Sagen Sie mir bloß, wie ich wieder hier herauskomme.“
„Das ist einfach. Sie gehen den Stollen zurück bis zum zweiten Hauptstollen. Durch den immer die Schienen lang, bis Sie zur Sohle II kommen. Die führt direkt zum Schacht.“
„Allein?“ Frau Irene schüttelt sich. „Nee, danke. Allein geh ich keinen Schritt mehr hier in diesem Irrgarten. Ich bleib lieber bei Ihnen, oder Sie müssen mich schon selber zum Lift bringen.“
Lift? Karl Kühne lächelte in sich hinein über den komischen Ausdruck, den die Dame für den Förderkorb brauchte. Na ja, was wußte die davon! Er überlegte kurz. Der Steiger würde zwar erst das Maul aufreißen, wenn die Förderung knapper wurde, aber wenn er ihm sagte, daß es sich um einen Besuch der Verwaltung handelte, noch dazu ’ne Frau ...
„Also gut,“ sagt er entschlossen. „Ich bring’ Sie hin.“
Sie schritten zusammen durch die Stollen. Frau Irene hatte sich völlig wiedergefunden. Das Abenteuer erschien ihr jetzt schon ganz interessant. Sie warf von der Seite einen abschätzenden Blick auf ihren Begleiter. Der Mann sah gut aus. Breite, massive Schultern, groß, ein scharf gemeißeltes Gesicht, wenn auch von Schweiß und Kohlenstaub etwas entstellt. Ein für die Verhältnisse hier direkt eleganter dunkelgrauer Staubmantel, geschmackvoll sogar: guter Schnitt, Metalleinfassungen um die Knopflöcher, Halsschnallen. — Jedenfalls ein höherer Beamter, der nur zufällig hier unten war.
Eine Begegnung im Hauptstollen, in den sie nun eingebogen waren, bestärkte sie in der Vermutung. Da kam der kleine Schlepper Dombrowski eben mit den leeren Hunden zurück. Karl Kühne rief ihn an.
„Hau man weiter vor Ort, bis ich zurückkomme, Dombrowski. Und sieh zu, daß du was förderst.“
Der kleine Pole riß Mund und Nase auf, als er seinen Kumpel im Mantel des Steigers mit einer Dame daherkommen sah.
„Aber — Steiger hat gesagt, wir müssen ...“
„Der Steiger soll mir den Buckel lang rutschen,“ gab Karl Kühne zur Antwort. „Tu du, was ich dir gesagt hab’.“
„Is gut.“ Dombrowski duckte sich wie ein schweifwedelnder Hund und sandte dem Hauer schräg von unten einen ehrfurchtsvollen Blick. Dann trollte er sich ohne weitere Widerrede mit seinen „Hunden“. Er liebte und bewunderte seinen Hauer. War schon ein Satanskerl, der Kühne! Da lief er einfach von der Arbeit weg und spazierte mit einer Dame im Pütt herum. Noch dazu im Mantel vom Steiger! Der kleine Dombrowski fand das großartig.
„Was ist denn das für eine Tür?“ Frau Irene wies im Weitergehen auf eine verschlossene Tür im Gestein.
„Die Wetterführung,“ erklärte Karl sachlich. „Lüftungsanlage. Dahinter staut sich der Luftstrom und der Druck ist so stark, daß zehn Männer die Tür nicht gegen ihn aufdrücken können.“
Die Einsamkeit war vorbei. In Sohle III stießen sie auf Arbeiter, die aus handlichen Spritzen rötlichen Ziegelstaub streuten.
„Vorsichtsmaßnahme,“ erklärte Karl Kühne auf den fragenden Blick seiner Begleiterin. „Der Ziegelstaub dient zum Austrocknen der Luft und zum Auffangen von schlagenden Wettern. Nach dem Reglement soll jeden dritten Tag in den Stollen gestreut werden. Geschieht aber nicht immer.“
„Die Verwaltung vernachlässigt die Sicherungsmaßnahmen? Bei den vielen Grubenunglücken? Das ist doch unverantwortlich!“
Der Hauer zuckte die Achseln. „Die Herren im Büro wissen wenig davon. Oft drücken sich die Kumpels selber vom Streuen. Denken, es geht auch ohne das. Die meisten kriegen nach Gewicht und Förderung bezahlt, und das Streuen kostet Zeit. Ist mit dem Abstützen der Stollen ebenso. Oft wird schlecht versetzt, weil die Kumpels Zeit sparen und möglichst viel fördern wollen.“
„Glück auf!“ grüßt er kurz die arbeitenden Männer.
„Glück auf!“ klang es müde und verdrossen zurück.
Sie schauten den beiden Weiterschreitenden verwundert nach. „Kiek ens,“ höhnt einer, „jetzt laufen se schon mit Weibern hier spazieren!“
Frau Irene verstand nicht alles, was ihr Begleiter ihr erklärte, aber sie empfand doch, daß er ein Mann war, der den Betrieb hier genau kannte und sich zu Hause fühlte in diesen Stollen und Gängen. Unwillkürlich dachte sie an den etwas geschniegelten Bergassessor, der sie vorhin geführt hatte, und seine unbestimmten, manchmal etwas verlegenen Erklärungen. Der hier sprach ganz anders: kurz, sachlich, bestimmt. Konnte also wohl kaum einer von den Herren des Büros sein, die nur bei besonderen Gelegenheiten mal in die Tiefe stiegen. Sie wollte ihn schon danach fragen, aber da waren sie am Schacht.
Ein paar Männer kamen ihr schnell entgegen.
„Berendt, Reviersteiger,“ stellte der eine sich hastig vor. „Gott sei Dank, daß Sie da sind, gnädige Frau. Wir suchen Sie schon seit zwei Stunden.“
„Ja, ich hatte mich verirrt. Und die andern?“
„Assessor Reiz hat die Herren hinaufgebracht, gleich nachdem Ihr Fehlen entdeckt war. Er selber ist sofort wieder eingefahren und sucht Sie mit einer Kameradschaft in allen Sohlen.“
Noch mehr Leute kamen hinzu und drängen sich um die Wiedergefundene: der Fahrtsteiger, ein Schießmeister, ein paar Kumpels, die eben von erfolgloser Suche im gegenüberliegenden Stollen zurückgekommen waren.
„Wir bringen Sie gleich hinauf, gnädige Frau.“ Der Reviersteiger rief über die Köpfe der Frau Irene Umdrängenden dem Mann am Förderkorb zu: „Lassen Sie die Kohlenförderung einstellen, Pinz! Seilfahrt!“
„Na, ich hab’ mich da schön verlaufen!“ Frau Irene hielt die geschwärzten Hände in komischem Entsetzen von sich ab und schaute an ihrem beschmutzten Overall hinunter. „Wenn der Herr sich meiner nicht angenommen hätte ...“ Sie hob den Kopf und sah sich erstaunt um. „Ja, wo ist er denn geblieben?“
Karl Kühne war nicht mehr da. Er hatte sich, als die Steiger Frau Irene umdrängten, sachte gedrückt und war schon wieder im Stollen, auf dem Rückweg zu seiner Arbeitsstätte.
„Gottlob, daß Sie da sind!“
Auch oben im Zechendorf wiederholte sich der Ausruf, als Frau Irene, von dem Reviersteiger begleitet, aus dem Förderkorb stieg. Die Herren von der Verwaltung fühlten sich wirklich erleichtert. Ob nun den Assessor, der unten im Bergwerk den Cicerone gemacht hatte, das Verschulden der Unachtsamkeit traf oder nicht, — es wäre jedenfalls mehr als peinlich gewesen, wenn einem Gast, der zum Bekanntenkreise des mächtigen Industriellen Körner gehörte, ausgerechnet hier im Pütt etwas zugestoßen wäre. Die jüngeren Herren, die Frau Irene im Triumph zum Waschzimmer des Verwaltungsgebäudes führten, strahlten. Nur der Betriebsleiter, der bärbeißige, stiernackige Bergrat Scholz sah ihr und ihrem Gefolge von seinem Bürofenster aus brummig nach. Diese Besuche! Er, Scholz, wies sonst grundsätzlich alle Leute ab, die um Erlaubnis zur Besichtigung der Grube nachsuchten, selbst die Herren von der Presse. Besichtigung der Anlagen über Tage, des Förderturms und der Kokereien — herzlich gern. Aber einfahren ist nicht! Der Pütt da unten ist eine Arbeitsstätte, kein Tummelplatz für Neugierige! Aber da telefoniert einem von Dortmund aus der Geheimrat Körner, daß einige Freunde ihn gebeten hätten, bei der Durchreise einmal ein Bergwerk besichtigen zu dürfen. Was kann man da machen. Man muß den Liebenswürdigen spielen und dem Wunsch des „alten Mannes“ nachkommen. Na, dem Himmel sei getrommelt und gepfiffen, daß die Geschichte gut ausgegangen und nun zu Ende war.
Da kam die Dame ja schon aus dem Haus zurück, frisch gewaschen und leidlich frisiert. Ohne den „kleidsamen“ Arbeitsanzug. Donner ja, schick und elegant sah sie schon aus. Und hübsch war sie auch! Das sorgsam abgetönte Rotblond des Haares, die geschmeidige Gestalt, das ausdrucksvolle Mienenspiel ihres schmalen Gesichtes, — na, die würde noch manchem Kopf und Kragen verdrehen im Leben.
Bergrat Scholz fand es nicht für nötig, sich persönlich von den Besuchern zu verabschieden. Das mochten die jüngeren Herren des Büros machen. Er hatte seine Pflicht getan, den Freunden des Chefs die Einfahrt in den Schacht erlaubt. Und er war froh, daß das jetzt erledigt war. Vor dem Zechentor wartete ja schon das Auto der Gesellschaft.
Es waren nicht viel Leute um diese Zeit im Zechenhof. Ein paar Mechaniker und Monteure in blauen Arbeitsanzügen sahen einen Augenblick neugierig aus dem Kesselhaus heraus, als die kleine Gesellschaft über den Hof schritt. Und vorne, unter dem grauen Torbogen, über dem in rauchgeschwärzten, kaum noch leserlichen Buchstaben der Name „Zeche Constantin VIII“ stand, lungerten ein paar halbwüchsige Kinder herum, und zwei junge Frauen, die Markttasche am Arm, musterten mißmutig den großen, eleganten Tourenwagen, der da vor dem Zechentor hielt.
Eine dieser beiden Frauen war Paula Becker, die Tochter des Schießmeisters August Becker. Sie war einkaufen gewesen und hatte beim Rückweg vom Kaufmann festgestellt, daß nur noch zwanzig Minuten bis zum Schichtwechsel fehlten. Da konnte man ja gleich auf den Vater warten. Und auf Karl Kühne, der schon seit zwei Jahren als Untermieter beim alten Becker wohnte.
Frau Irene Sellenthin achtete nicht auf das Mädchen in dem billigen Kattunkleid, an dem sie vorüberschritt. Paula Becker aber sah sie sehr gut. Allerdings, sie sah etwas ganz anderes als der Bergrat, der vom Fenster her den Besuchern nachschaute. Sie sah mit dem scharfen Blick der Frau sofort jede kapriziöse Einzelheit der Kleidung, die diese Fremde trug: das hechtgraue Kostüm, dessen flaumige Weiche man ahnte, auch ohne es zu befühlen, die schwere Seide der Bluse, die unter dem kurzen Jäckchen hervorblitzte, das Gefunkel der winzig kleinen Brillantuhr am Handgelenk, die merkwürdig geschwungene, goldschwere Spange an dem verwegenen, kappenförmigen Hütchen.
Paula Becker war ein nüchternes Kind der Roten Erde, ohne falschen Ehrgeiz und ohne Illusionen. Sie empfand keinen Neid und keine Sehnsucht beim Anblick dieser Herrlichkeiten, nur einen leisen Unwillen: Was will denn die hier im Pütt? Die soll doch bleiben, wo sie hingehört.
Das Auto fauchte und zwitscherte davon.
Zehn Minuten später saßen Frau Irene und ihre Begleiter bereits im Restaurant des Park-Hotels, in einer Umgebung, die durch nichts mehr an die düstere Kohlenwelt der Zeche erinnerte. Aber selbstverständlich bildete Frau Irenes Erlebnis unter Tage immer noch den Gesprächsstoff.
„Ich hätte wirklich gern gewußt, wer mein Führer da unten gewesen ist, der sich ohne Abschied auf einmal verzogen hatte,“ sagte Frau Irene nachdenklich. „Ein Kavalier war er jedenfalls, aber einer, der da unten Bescheid wußte.“
Einer der Herren setzte ein wissendes Gesicht auf. „Ich glaube, da kann ich Ihnen dienen, gnädige Frau. Nach allem, was Sie von dem Herrn erzählen, kann ich nur annehmen, daß Sie an Willy Körner geraten sind, Körner junior, den einzigen Filius unseres verehrten Geheimrats.“
„Lächerlich! Der junge Körner wird Besseres zu tun wissen, als da unten in den Gruben seines alten Herrn herumzukriechen!“
„Sagen Sie das nicht, Verehrteste,“ mischt sich nun auch der lange Baron Rottländer in das Gespräch. „Ich kenne den jungen Herrn zwar persönlich ebensowenig wie Sie. Man sieht ihn ja nie bei den Gesellschaften des Geheimrats. Aber man spricht um so mehr von ihm. Soll ja so ’ne Art Sonderling sein. Arbeitsfanatiker, sozialer Reformer und so weiter. Er begnügt sich nicht damit, die Berg-Akademie zu besuchen. Er arbeitet praktisch in den Gruben, genau wie jeder andere Bergmann. Wäre schon möglich, daß Sie ihm da unten begegnet sind.“
„Aber — dann hätte er sich doch vorgestellt!“
Der Baron wiegt den Kopf. „Möchte ich auch nicht ohne weiteres annehmen. Nach allem, was ich von dem jungen Körner weiß, legt er wenig Wert auf gute Gesellschaft. Selbst auf die Gesellschaft einer so wunder-wunderschönen Frau.“ Er küßte Frau Irene flüchtig die Hand und fuhr dann achselzuckend fort: „Er geht vollständig in seiner Arbeit auf. Das Bergwerk und die Bergarbeiter — etwas anderes gibt es für ihn kaum. Soll sogar einem ‚on dit‘ zufolge monatelang in einer Arbeiterkolonie gewohnt haben, um die sozialen Verhältnisse dort zu studieren.“
„Also gut.“ Frau Irene lacht belustigt. „Nehmen wir an, daß mein Führer der Sohn vom Geheimrat Körner persönlich war. In diesem Falle kann der alte Körner stolz sein. Guter Schlag, sein Junge. Ich werde es ihm bei Gelegenheit sagen.“
„Wir könnten ja einen Abstecher nach Dortmund machen und den alten Körner besuchen. Er wollte doch Ende dieser Woche aus Schweden zurück sein.“
Frau Irene klopft energisch mit ihrem Ring an die Tischplatte. „Keine Extratouren, lieber Freund. Wir halten uns an unser Programm. Von hier geht’s nach Pyrmont. Der Doktor hat mir nun mal die vierwöchentliche Kur verschrieben und würde mich schon mächtig anfauchen, wenn er wüßte, daß wir erst diese Fahrt durch Westdeutschland gemacht haben. Im übrigen — nach dem heutigen Erlebnis in dieser finsteren Unterwelt hab’ ich wirklich genug von dem Kohlenland hier. Ich will Sonne, Wald, Grün und Ruhe.“
Der lange Baron erhob sich phlegmatisch. „Dann will ich den Wagen nachsehen. Erledigen Sie inzwischen die Rechnung, lieber Joachim.“
*
„Wo steckst du, Kumpel? Steiger hat schon zweimal nach dir gefragt!“
Der Schlepper Dombrowski empfing seinen Hauer mit bedenklichem Gesicht und schlenkerte erschrocken mit der Hand, als habe er sie verbrannt, als er den Mantel betrachtete, den Karl Kühne auszog, um ihn wieder in den Verschlag zu hängen. „Au weh! Was hast du gemacht mit Mantel, Kumpel? Ist sich ja großes Loch drin!“
„Tja.“ Karl Kühne besah tiefsinnig den langen Riß, der sich über die halbe Seite des Mantels hinzog. „Wie ich eben zurückging durch den Hauptstollen, bin ich mit dem dämlichen Ding an einer der Hunde hängen geblieben. Hoffentlich merkt der Steiger nix.“
Die Hoffnung erwies sich als trügerisch. Karl hatte kaum den Mantel fortgehängt, als Dombrowski einen scheuen Blick rückwärts warf und ihn anstieß:
„Der Jagdhund!“
Da war auch schon der Steiger Kaminski. Er gab sich kaum Mühe, das übliche „Glück auf“ zu brummen.
„Was fällt Ihnen denn ein, Kühne! Fortlaufen, mitten in der Schicht! Der Dombrowski hat seit ’ner Stunde nichts als Dreck gefördert!“
„Mußte ’ne Frau zum Schacht bringen, die sich verirrt hatte,“ brummte Karl, ohne mit der Arbeit innezuhalten.
„Besuch vom Alten.“
„So?“ Kaminski stemmte die Arme in die Hüften. „Und da ziehen Sie sich einfach meinen Mantel an? Hab’ schon vom Schachtmeister gehört, wie Sie angegeben haben!“
„Na, sollt ich mich vielleicht nackt vor die Frau hinstellen?“ Karl hieb auf den Fels ein, daß die Gesteinsbrocken dem Steiger um die Ohren spritzten. Kaminski setzte ein höhnisches Gesicht auf.
„Hab’ ich gar nicht gewußt, daß Sie so feinfühlig sind.“ Er holte den Mantel aus dem Verschlag und begann plötzlich wütend zu zetern. „Also das ist doch ... so was von Frechheit! Der Mantel ist ja kaputt! Sie haben meinen Mantel zerrissen, Sie ...! Vorgestern hab’ ich ihn erst gekauft! Kostet zwoundzwanzig Mark! Jawohl! Zwoundzwanzig! Und Sie ...“
Karl Kühne spuckte aus. „Wat brauchen Sie auch so ’n Dings mit unter Tag zu nehmen, Steiger! Konnten Sie ja in der Waschkaue lassen!“
Kaminski fluchte wie ein reaktionärer Alttürke. „Geht Sie gar nichts an, Kühne! Ich kann anziehen, was mir paßt! Ich tu meine Arbeit darum genau so gut wie Sie!“
„Hat ja keiner was von gesagt.“ Karl griff wieder nach der Hacke, aber der Steiger hielt seinen Arm fest.
„Zwoundzwanzig Mark! Sie werden mir den Mantel ersetzen! Einen zerrissenen Mantel kann ich nicht brauchen! Schadenersatz, oder ich melde Sie beim Reviersteiger!“
„Häng dich auf, du dämlicher ...“
„Sechs Uhr, Steiger,“ unterbrach der kleine Dombrowski freundlich seinen Kumpel und drängte sich, seine dicke, altmodische Zwiebel emporhaltend, vor den Steiger hin. „Acht Stunden von Seilfahrt bis Seilfahrt. Die Schicht ist rum.“
„Wir sprechen uns oben noch, Kühne!“ Der Steiger knüllte den Mantel zusammen und schob ihn unter den Arm. Seine Schritte verhallten im Stollen.
Karl Kühne packte bedächtig sein Gezähe zusammen, zog sich an und machte sich ebenfalls auf den Weg zum Schacht. Wie ein treuer Hund trippelte auf seinen kurzen, krummen Beinchen der Schlepper Dombrowski neben ihm her, leckte sich unterwegs das Blut von der Hand, wo ihn bei der Arbeit ein spitzer Steinbrocken getroffen hatte.
Die Schritte der beiden knirschten auf dem Kohlenbelag der Sohle. Aus den Nebenstollen tauchten tanzende Fünkchen auf, verdrossenes, mürrisches „Glück auf“, Kumpels mit hängenden Schultern, geschwärzten, schweißtriefenden Gesichtern und Nacken sickerten aus den Gängen, wurden zu grauen Klumpen, zu einem Strom, der sich durch den dunklen Leib des Berges dem Schacht entgegenwälzte, von dem schon ein anderer grauer Strom entgegenflutete, die Schichtablösung.
Karl Kühne machte lange Schritte, um nicht in das Gedränge hereinzukommen. Der kleine Dombrowski konnte kaum mit. Dann hockten sie mit vierzig anderen Kumpels im Förderkorb. Fünf Schläge. Aufwärts ging die Fahrt. Wer’s nicht gewohnt war, dem verschlug’s den Atem. Aber wer war das nicht gewohnt?
Grubenlichter flogen vorbei, triefende Verschalung. Wenn jetzt das Seil riß! Ist oft genug schon vorgekommen, daß der Förderkorb in die Tiefe gesaust ist und zermalmt hat, was drinnen war. Aber niemand von den Männern denkt daran. Man fährt ein, man fährt aus. Und wenn es so sein soll, dann bleibt man eines Tages da unten bei der Kohle. Bergmannslos.
Die Fahrt wurde langsamer. Mit einem harten Ruck hielt der Förderkorb über Tage. Karl Kühne blinzelte aus schmalen Augenlidern. Es war nur die matte, kraftlose Sonne des Kohlenlandes, die aus halbverhangenem Himmel schien. Den Männern der Tiefe aber war es, als ob ihnen das grellste Tropenlicht in die Augen knallte.