Lore kommt für alles auf- Roman einer Tanzkapelle - Axel Rudolph - E-Book

Lore kommt für alles auf- Roman einer Tanzkapelle E-Book

Axel Rudolph

0,0

  • Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Sie werden schmunzeln und dieses Buch nicht von sich legen können – warmherzig beschreibt es das Leben im Orchester und wie Lore auf ihre "Jungs" Acht gibt, wenn sie sich mal wieder in irgendein Schlamassel verstricken. So wie z.B, als Hans Böge von einer hysterischen Halbpariserin mitten während eines Konzerts aufgesucht wird – sie hat ihm einen Brief geschrieben, der ihm nun in der Westentasche brennt und er ist sich sicher, dass sie ihn erschießen wird. Doch die kluge, witzige Lore weiß immer einen Ausweg und rettet ihren Kammeraden und Schürzenjäger vor dem Desaster und mit List und einem verschmitzten Lächeln löst sie das Unlösbare. Noch am selben Abend geht's ab nach Fanö ins Seebad, wo die Kapelle für den nächsten Monat verpflichtet ist. Schon auf der Fahr geht's heiter her im Abteil – Verwicklungen, Irrungen und Wirrungen – Sie werden sich das Lachen nicht verkneifen können! Lustig und gekonnt schildert Rudolph liebevoll den Alltag und das Wesen der Künstler – Nachteulen durch und durch, auf die die Liebe und das Abenteuer stets hinter der nächsten Weggabelung lauern. Und eines Tages wird der Spieß umgedreht; jetzt braucht Lore die Hilfe ihrer "Jungs", denn der schleimige, abgrundtief unsympathische Manager Mallik will die lebenslustige, sanfte Lore an Senhor Imperiali "vermitteln", ohne ihr Wissen oder Einverständnis, und er lässt nicht Locker, wenn er Geld riecht – koste es, was es wolle…

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 217

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Axel Rudolph

Lore kommt für alles auf

Roman einer Tanzkapelle

Saga

Lore kommt für alles auf- Roman einer Tanzkapelle

German

© 1937 Axel Rudolph

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711445273

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

1. Kapitel

Madame Kerkh dreht das Programmheft nervös in ihren Fingern. Um sie das leise Summen des Geplauders, das Sitzeklappen der von den Wandelgängen hereinströmenden Besucher. Durch die geöffneten Türen dringt das erste lang anhaltende Klingelzeichen, das die Pause beendet.

„Das ist ja längst vorbei!“ ärgert sich der wohlbeleibte, zappelige Herr de l’Orme und greift über Madames Hände hinweg, um die nächste Seite aufzuschlagen. „Hier fängt’s an. Zweiter Teil. Zuerst Mozarts Kleine Nachtmusik. Ich verstehe überhaupt nicht, warum wir jetzt noch hierher mußten, Yvonne! Es war doch so nett in der Eden-Bar!“

Madame Yvonne Kerkh zuckt lächelnd die Achseln und blättert langsam in dem kleinen Heft zurück bis zur Rückseite des Umschlages, auf dem die Namen der Mitwirkenden stehen.

Abschiedskonzert der Kapelle Begas.

Leitung: Silvester Begas.

Albrecht Erlenkamp, Klavier.

Cäsar Testing, Violine, Klarinette.

Hans Böge, Cello, Gitarre.

Urban Kellner, Saxofon.

Beppo v. Pollinger, Violine, Schlagzeug.

Harry Glant, Akkordion.

Max Schamek, Baß.

Das zweite Klingelzeichen. Räuspern und Zurechtrücken.

Mit der Gelassenheit von Leuten, die ihrer Kunst gewiß sind, nehmen die Musiker oben auf der Bühne Platz. Leise beginnen die Instrumente zu zirpen. Bis der schlanke, elegante Silvester Begas dort oben den Bogen hebt. —

Selbst das leiseste Geflüster ist verstummt. Herr de l’Orme hat sonst die ihm oft selbst recht peinliche Angewohnheit, schöne Melodien leise mitzusummen, aber selbst er lauscht stumm den perlenden Tonreihen, die da oben aufspringen. Die Burschen können was. Kein Zweifel, die Beliebtheit, der sich Silvester Begas und seine Kapelle erfreut, ist berechtigt, durchaus berechtigt. Aber hin und wieder muß Herr de l’Orme doch ganz diskret den Kopf zur Seite wenden und seine Dame anschauen. Er tut das mit einem ungläubigen Staunen. Madame Yvonne Kerkh, die nervöse, ewig rastlose, fahrige Yvonne Kerkh, deren Mund selbst bei einer Shakespeare-Vorstellung nicht restlos stillesteht, die es fertiggebracht hat, in der Grand Opéra von Paris mitten im zweiten Akt von Tosca rücksichtslos davonzulaufen — diese Madame Kerkh sitzt regungslos da und starrt schon seit zehn Minuten die Geiger dort oben so entrückt an, als sei man mindestens in der Gralsburg von Bayreuth. Herr de l’Orme versteht das nicht recht, aber er fühlt sich angenehm enttäuscht. Also auch musikalische Tiefen hat die göttliche Yvonne! Oh, er hat ja längst gewußt, daß sie eine wundervolle Frau ist. Die anderen, die sie als fahrig, oberflächlich, manchmal sogar mit dem häßlichen Wort „hysterisch“ bezeichnen, sind Narren und Neider. Aber daß Yvonne auch die Musik so liebt, das ist schön, das ist einfach wundervoll. Es ist sozusagen die einzige Tugend, die ihrem Kranz in de l’Ormes Augen noch gefehlt hat. Voll tiefer Befriedigung versenkt sich Herr de l’Orme ganz in die Töne, die wundersam zart und mit spielerischer Leichtigkeit über den weiten, dichtgefüllten Saal dahintanzen.

Madame Yvonne Kerkh sitzt allerdings so regungslos, wie sie noch nie in einem Konzert gesessen hat, aber an ihrem Ohr gleiten die Töne vorbei, wie die leichten Wellen eines Baches an einer Felsenklippe, wenn es nicht unhöflich und falsch wäre, Madames wirklich reizende, zartgefärbte Ohrläppchen mit einem rauhen Gestein zu vergleichen. Ihre Augen aber bohren sich durch das Dunkel. Keine Sekunde weichen sie von den jungen Männern im Abendanzug dort oben auf der Bühne. Der erste ganz links, das ist er! Hans Böge, der Cellist! Madame Yvonne sitzt in der zweiten Parkettreihe. Befehlend halten ihre Augen den jungen Mann dort oben fest. Ob er weiß ...? Yvonne Kerkh konzentriert ihren ganzen Willen auf ein Ziel, so sehr, daß ihre Züge sich hart spannen, ihr Mund einem schmalen, bösen Strich gleicht. Wie glühende Kohlen brennen ihre Augen. Da! Jetzt hat er sie gesehen! Der Cellist hat eine unwillige Kopfbewegung gemacht, als wolle er etwas wegscheuchen, das gegen ihn anstürmt. Dann sind seine Augen in verwundertem Fragen seitwärts geglitten, hinab in den Saal. — Madame Yvonne kneift die Lippen noch stärker zusammen. Ihre Finger suchen instinktiv in dem auf ihrem Schoß ruhenden Täschchen nach irgend etwas ...

*

Silvester Begas wirft über seine Geige hinweg einen kurzen, unwillig fragenden Blick auf den Cellisten. Hans Böge fühlt ganz genau, daß sein Bogen eben etwas härter über die Saiten ging, als das Piano an dieser Stelle vorsehrieb, und wird unwillkürlich rot. Es ist eine Eigentümlichkeit von Hans Böge, dem lustigsten Schwerenöter der Kapelle Begas, daß er manchmal rot wird wie ein ertappter Schuljunge. Er reißt sich zusammen und beschließt, auf keinen Fall noch einmal in den Saal hinunterzuschauen. Als aber eine längere Klavierpassage kommt, bei der er ausruhen kann, wandern seine Augen doch wieder abwärts.

Sie ist es wirklich! Madame Yvonne Kerkh aus Brüssel! Hans Böge begegnet eine Sekunde ihrem sprühenden Blick und fühlt eine unbehagliche Leere in der Magengegend. Keine Bewegung macht er, und doch meint er den Brief in seiner Brusttasche boshaft knistern zu hören. Diesen Brief, den er gestern aus Brüssel erhalten hat. Wie kommt die Frau so schnell hierher? Der Teufel hole die ganze Fliegerei! Zur Zeit der Postkutsche wäre so eine „angenehme“ Überraschung einfach ganz unmöglich gewesen!

Hans Böge hat dem Brief keine besondere Bedeutung beigemessen. „Ich muß dich wiedersehen. Ich komme zu dir nach Berlin,“ stand darin. Er hat sich darüber nicht aufgeregt. Gestern kam der Brief, heute ist das Abschiedskonzert, und morgen — pah, morgen ist man schon in Dänemark, im Seebad Fanö, wo die Kapelle Begas für den nächsten Monat verpflichtet ist. Aber jetzt — Gottogottogott, sie ist also wirklich schon da, die Liebe, die Teure! Und was soll jetzt ...?

Hans Böge fährt ein gewaltiger Schrecken in die Glieder. Um ein Haar hätte er seinen Einsatz verpaßt. Ein wahres Glück, daß Begas gerade mit seiner Geige dem Publikum zugewendet steht. Hans beißt die Zähne aufeinander und spielt mit Todesverachtung. Kalter Schweiß beginnt langsam auf seiner Stirn zu perlen. Ob er hinsieht oder nicht, er fühlt immer die glühenden Augen, und mitten in den zarten Geigenklängen hört er eine boshafte, kichernde Stimme in seinem Innern deutlich die Worte zitieren, mit denen der Brief von Yvonne Kerkh schließt:

„Ich lasse dich nicht los! Lieber erschieße ich dich mitten auf der Straße!“

Sie wird doch nicht? Eine Übertreibung, eine von Madame Yvonnes gewöhnlichen hysterischen Phrasen! Aber immerhin — sie wird doch nicht wirklich so von allen Göttern verlassen sein, um ... Seine Augen gleiten wieder seitwärts. Sie sind jetzt schon an das Halbdunkel da unten gewöhnt, so daß er Yvonne Kerkh ganz deutlich sehen kann. Vornübergebeugt sitzt sie, stiert ihn an mit Augen — hu, wie eine Schlange, die ein Kaninchen fressen will! Jetzt hebt sie ein wenig ihre Handtasche, steckt die Rechte hinein, langsam, ohne den Blick von ihm zu lassen. Hans Böge wagt nicht mehr hinzusehen. Vielleicht hat sie einen Revolver in der Handtasche. Der verrückten Halbpariserin ist alles zuzutrauen! Hans blickt starr vor sich hin und spielt, spielt mit der Kraft der Verzweiflung, aber seine Gedanken sind weder bei Meister Mozart noch bei Silvester Begas, der ihm immer schärfere Blicke zuwirft. Gottlob, jetzt nur noch das Letzte, nur noch eine Minute ... Die Töne brausen auf, schlagen in harmonischen Akkorden zusammen. Silvester Begas setzt die Geige ab. Rauschender Beifall brandet im Saal auf ...

*

„Sag mal, Hans, was ist denn heute los mit dir?“

Silvester Begas kommt, die Hände in den Hosentaschen, in die Garderobe geschlendert und pflanzt sich ärgerlich vor seinem Cellisten auf. „Bist du ganz von Gott verlassen?“

„Ich haue ab!“ Hans läßt sich in seiner Tätigkeit nicht stören. Er ist dabei, seine Noten zusammenzupacken, Hut und Mantel liegen bereits auf dem Tisch. Der Kapellmeister betrachtet ihn einen Augenblick unwillig.

„Was soll der Blödsinn?“

„Ich muß fort.“

„Fort? Du bist wohl wirklich ...?“

„Noch nicht, aber wenn ich noch einmal auf die Bühne soll, werd’ ich’s bestimmt! Was kommt jetzt? Mozart! Spiel du mal Mozart, wenn dir jeden Augenblick eine Revolverkugel in den Ohren knallt!!“

„Weinbrand oder gar Hennessy?“

„Nee, nee, Begas, ich hab’ nichts getrunken!“ Graue Verzweiflung steht plötzlich in Hans Böges Gesicht. „Da, lies mal bitte den Wisch!“

Silvester Begas überfliegt den Brief, den Hans aus seiner Brusttasche hervorgezerrt hat, und zuckt die Achseln. „Geschieht dir ganz recht, mein Junge! Brock dir nicht so viele Suppen ein mit den Frauen, dann brauchst du sie auch nicht auszufressen!“

„Bin ich denn schuld daran? Du weißt doch genau, wie so was kommt! In Brüssel ... voriges Jahr ... na, schön, ich habe ein bißchen mit der temperamentvollen Dame geflirtet. Mußte ich ja! Sie strahlte mich doch den ganzen Abend an und — Liebenswürdigkeit gegen die Gäste steht doch in unserem Kontrakt, nicht? Na also! Wir haben dann einen sehr netten Tag zusammen verlebt. Ich hab’ mir, weiß Gott, nichts dabei gedacht. Aber sie! Leider! Sie wollt’ mich vom Fleck weg heiraten.“

„Hat sie Geld?“

„Mehr, als erlaubt. Aber, zum Geier, ich kann doch nicht ’ne halbe Millionärin heiraten! Meinst du, die wäre damit einverstanden, daß ich weiter mit dir durch die Welt umherkutschierte?“

Die Anhänglichkeit Hans Böges an die Kapelle versöhnte Silvester Begas. Lächelnd zeigte er seine weißen Zähne. „Na, und nun?“

„Mensch, verstehst du denn nicht?“ Hans Böge packte den langen Silvester an beiden Frackaufschlägen und schüttelt ihn. „Sie ist da! Sie sitzt im Parkett und glupscht mich an! Wie ein Basilisk! Am Ende macht sie wirklich Ernst mit ihrer blöden Drohung! Soll ich mich von ihr niederknallen lassen? Danke für Obst und Südfrüchte! Ich muß weg! Sofort! Ich witsche durch die Hintertür und — wir treffen uns nachher am Lehrter Bahnhof!“

Silvester Begas schiebt seine Hände wieder in die Hosentaschen. „Mehr Zivilcourage, mein Junge! Wir haben noch drei Nummern vor uns. Vollkommen ausgeschlossen, daß du vorher abschwirrst. Das weißt du doch selbst.“

„Es muß gehen, Begas!“

„Ohne Cello? Du bist verrückt. Willst du mir das Konzert umschmeißen?“

„Ich? Madame Kerkh schmeißt dir’s um! Die hat ’nen Dolch im Gewande, — nee, ’ne Pistole in der Handtasche, wollt’ ich sagen. Geh runter in den Saal und sieh dir die Maske an! Furie, sag’ ich dir!“ Aufgeregt rüttelt Hans Böge wieder seinen Kapellmeister. „Begas, wenn du mich nicht fortläßt, prophezeie ich dir das Gräßlichste! Attentat, Mord, Störung des ganzen Konzerts, Skandal ...“

„Was haddu denn, Hänschen?“ klingt eine helle Mädehenstimme von der Tür her. Hans Böge wendet sich um und fährt sich wild mit beiden Händen durch das dichte Haar.

„Angst, Lore! Ich will nicht sterben!“

„Da hast du recht. Wer verlangt denn das von dir?“

„Hier, der Begas, der Sklavenvogt! Ich bin eine erschossene Leiche, wenn er mich nicht sofort gehen läßt!“

„Das mit dem Erschießen ist natürlich Unsinn,“ sagt Silvester Begas ruhig, nachdem er mit ein paar kurzen Worten das Mädchen in die Situation eingeweiht hat. „Hans hat nur Angst vor den Folgen seines Leichtsinns. Er kneift vor der Szene, die ihm die schöne Verehrerin nachher machen wird. Ist seine Sache. Er war vorhin schon sträflich unaufmerksam. Wenn das so weitergeht, vermasselt er uns tatsächlich noch das Konzert. Weißt du einen Rat, Lore?“

Zwei Augenpaare blicken das Mädchen erwartungsvoll an. Lore soll helfen. Das ist immer so. Wenn irgendeiner von der Kapelle Begas nicht aus noch ein weiß, dann muß Lore Glant, Lore, die lustige zwanzigjährige Schwester des Akkordionspielers Harry Glant, einspringen.

Harry Glant ist vielleicht der Ruhigste und Unscheinbarste der ganzen Kapelle, ein zweiunddreißigjähriger, stiller und solider Mensch, der nur für seine kleine, etwas leidende Frau lebt. Silvester Begas hat sich lange bedacht, ihn in die Kapelle aufzunehmen, denn Harry Glant hat so gar nichts von einem Künstler an sich. Er ist ein tüchtiger Virtuose auf seinem Instrument, aber es fehlt ihm das Letzte, das alle anderen der Kapelle mehr oder weniger haben: der göttliche Funke, das Ingenium der Kunst. Harry Glant weiß das wohl, aber er hat in den drei Jahren, die er nun schon bei Silvester Begas ist, in seiner stillen, ernsten Art an sich gearbeitet und sich so gründlich verbessert, daß Begas nichts zu bereuen hat. Außerdem aber hat Glant der Kapelle noch etwas mitgebracht, das einzig ist. Und das ist Lore.

„Stage mother“ nennt der Schlagzeugmann Beppo von Pollinger, der stolz auf seine gute Schulbildung ist, die kleine Lore. Es ist etwas daran, denn wenn Lore Glant auch erst zwanzig Lenze zählt und ein junges, frisches Mädchen ist, ihren „Jungs“ gegenüber hat sie etwas Mütterliches. Die „Jungs“, das sind alle Mitglieder der Kapelle, Silvester Begas einbegriffen. Lore Glant hat in diesen drei Jahren ihren Bruder begleitet, wohin immer das Engagement die Kapelle verschlug. Sie hat ihre Jungs bemuttert und umhegt, ist Vertraute, Schwester, Beraterin, Wirtschaftsführerin gewesen, ohne irgend jemand zu bevorzugen oder gar zu vernachlässigen. Sie hat die Gabe, ebenso ernst mit einem der „Jungs“ das in Unordnung geratene Budget zu beraten, wie nach vollbrachtem Tagewerk in einer Kneipe zu sitzen, fröhlich zu sein mit den Fröhlichen und die erregten Nerven zur Ruhe zu bringen. Lore Glant ist ebenso weit entfernt vom Muckertum und von jeder Prüderie wie von kokettem Wesen. Vor allem aber hat sie Herz und Mund auf dem rechten Fleck, findet immer und in allen Lagen den rechten Ton und das richtige Wort. Wer von der Kapelle Begas etwas auf dem Herzen hat, sei es lustig oder traurig, der geht zu Lore Glant.

„Du hast heute miserabel gespielt, Hans,“ sagt Lore, nachdem sie die Worte Silvesters ein wenig in ihrem hellen Köpfchen hin und her gewälzt hat. Hans Böge wühlt heftig in seinen Noten.

„Davon verstehst du nichts, Lore!“

„Von eurer Musik nichts,“ lacht das Mädchen. „Aber das macht, bitte, fast gar nichts. Ich habe gesehen, wie du dauernd mit den Augen geblinkert hast. Dabei kann keiner richtig spielen.“

Silvester Begas sieht hastig auf seine Uhr. „Sage uns lieber jetzt, ob du einen Rat weißt, Lore!“

„Natürlich helfe ich euch. Hans Böge hat’s zwar nicht verdient, aber — damit das Konzert nicht darunter leidet. Wo sitzt die Dame?“

„Zweite Parkettreihe,“ sagt Hans, hoffnungsfroh den Kopf hebend. „Sie heißt Madame Kerkh, sehr blond, groß, schmal, etwa — hm — nach ihrer eigenen Angabe, fünfunddreißig Jahre alt.“

„Die mit dem schwarz-weißen Komplet?“

„Ja.“

„Dann weiß ich Bescheid. Sie ist sehr geschmackvoll angezogen. Man kann dir gratulieren, Hans.“

„Geh zum ...“

„Zur — heißt es, Hans. Zur Madame Kerkh gehe ich.“

Silvester Begas nimmt die Hände aus den Taschen und knackt mit den Gelenken. „Was willst du machen. Lore?“

„Jedenfalls dafür sorgen, daß Madame den Saal verläßt. Wie, das wird sich finden. Weiß ich selbst noch nicht. Aber es wird sich schon geben.“

Die Klingel schrillt. Silvester Begas gibt seinem Cellisten einen Stoß in die Rippen.

„Los, Mensch! Und nimm dich gefälligst zusammen! Lore wird’s schon machen.“

‚Lore wird’s machen.‘ Hans Böge klammert sich, während er seinen Platz einnimmt, krampfhaft an diesen Gedanken, obwohl es ihm unmöglich erscheint, daß Lore Glant in diesem Falle etwas ausrichten kann. Noch sitzt Yvonne Kerkh steif und mit verkniffenem Gesicht da unten auf ihrem Platz. Noch hat die Musik nicht begonnen. Noch suchen da unten die Nachzügler geräuschvoll ihre Plätze. Da — Hans Böges Augen werden ganz rund vor Spannung — einer der Platzanweiser ist an Madame Kerkh herangetreten, flüstert ihr etwas zu. Madame Kerkh scheint erst erstaunt, dann beruhigt. Sie wechselt ein paar Worte mit dem neben ihr sitzenden Herrn, erhebt sich — wahrhaftig, sie geht! Alle guten Geister seien gepriesen, sie geht wirklich! Der dicke Herr neben ihr ebenfalls!

Musik! Hans Böges Bogen streicht weich und zärtlich über die Saiten. Silvester Begas braucht nicht mehr zu ihm hinzusehen. Der Bann ist gebrochen. Hans Böge spielt hingebend wie sonst. Nur eine leise, leise Frage ist in ihm zurückgeblieben, eine Frage, die seine Augen öfter als sonst abwärts in den Zuhörerraum gleiten läßt. Ob sie wiederkommen wird?

Schluß. Beifallsstürme. Blumen. Verneigungen. Die Zuhörer jubeln und verlangen stürmisch eine Zugabe. Silvester Begas muß mit seinen Leuten noch einmal herein. Zwischen Bühne und Kulisse steckt ein Angestellter des Konzerthauses Hans Böge einen Zettel zu. Während drinnen der Beifall nach Silvester Begas ruft, liest Hans hastig die hingekritzelten Bleistiftzeilen. Sein Kapellmeister schaut ihm dabei lächelnd über die Schulter.

„Ich beschäftige Madame, damit sie Dich nicht am Bahnhof erwischt. Sage Harry, daß ich morgen nachkomme, falls ich selber den Zug nicht mehr erreichen kann.

Lore.“

Strahlend nimmt Hans Böge seinen Platz ein, faßt mit kosender Hand sein Instrument. Silvester Begas, vom Beifall umbrandet, muß sich immer wieder verneigen. Dann ein Umwenden, ein leise hingeworfenes Wort an die Getreuen — die Geigen setzen ein, nach dem klassischen Programm ein schlichtes deutsches Volkslied. Die Geigen beherrschen Bühne und Saal. Die Kapelle Begas aber summt unhörbar zu dem bekannten Volkslied vor sich hin einen etwas variierten Text, den jeder von ihnen längst kennt:

„Am Brunnen sitzt die Lore ...“

Es ist keine Verhöhnung des schönen Liedes, denn die Geigen klingen nur noch zärtlicher und sehnsüchtiger dabei, und zart und sehnsuchtsvoll sind auch die Gedanken, die sie begleiten.

„Unsere Lore!“

*

Vier Minuten vor Abgang. Die Musiker spähen, aufgeregt sich um die Abteilfenster drängend, den Bahnsteig entlang. Ob sie noch kommt? Die schwere D-Zug-Lokomotive schnaubt und prustet schon. Umarmungen, Küsse, lustige Abschiedsworte ringsum. „Bier, belegte Brötchen, Obst, Schokolade!“ — „Einsteigen!“ Die Zugbeamten schließen die Türen. Aus seinem Dienstraum tritt der Mann mit dem Befehlstab. Da flitzt es heran durch die Sperre, ein wehender beigefarbener Mantel, ein keck aufs Ohr gestülptes Hütchen.

„Lore! Hierher, Lore!“

Lore Glant sieht sich eine Sekunde suchend um, findet die Rufenden, Winkenden, hastet den Zug entlang. Der Stationsvorsteher hebt den Stab. Tür wird aufgestoßen! Sechs, acht Hände ziehen Lore hinein, führen sie im Triumph zu den beiden belegten Abteilen. Atemlos, erschöpft läßt sie sich auf den Sitz fallen. Ihre Augen strahlen und lachen die „Jungs“ an. —

„Uff! Abgehängt! Was bin ich, Kinder?“

„Unsere Lore!“ lacht und jubelt es lärmend um sie, während der Zug aus der Halle gleitet.

2. Kapitel

Ganz abgesehen davon, daß die Kapelle Begas Schlafwagen als einen unnötigen Luxus betrachtet, es denkt niemand daran, diese nächtliche Bahnfahrt zu verschlafen. Musiker sind nun einmal Nachteulen. Der Beruf zwingt sie meist, bis ein Uhr nachts zu spielen, und dann — na ja, dann will man gern noch ein oder zwei Stündchen „zivil“ beisammen sitzen in irgendeiner soliden, billigen Bierkneipe. Kein Wunder, daß man unter den Menschen dieses Berufes wenig Frühaufsteher findet.

Die Lichter von Wittenberge flitzen bereits draußen vorbei, und immer noch sind die beiden von der Kapelle Begas belegten Abteile voller Lärm und Lachen. Lore Glant weigert sich hartnäckig zu erzählen, wie sie es angestellt hat, die überspannte Dame aus Brüssel abzuhalftern.

„Geschäftsgeheimnis,“ lacht sie, als die „Jungs“ zum fünfundsiebzigsten Male in sie dringen, einen ausführlichen Bericht vom Stapel zu lassen. „Aber soviel will ich euch verraten: Ich hatte einen Bundesgenossen dabei. Der wohlproportionierte Herr, der sie begleitete — Delorme oder so ähnlich nennt er sich — war ganz konsterniert, als er erfuhr, was Madame im Berliner Konzerthaus zu bestellen hatte. Er sekundierte mir mit Begeisterung, und ich glaube, Madame selber legte einigen Wert darauf, ihm zu beweisen, daß Hans Böge ihr nicht so unentbehrlich sei.“

„Das walte Gott!“ seufzt Hans Böge herzlich. Lore blitzt ihn herausfordernd an.

„Dir wünsch ich noch ’ne ganz andere Frau als Madame Kerkh, die vielleicht ’n bißchen verdreht, aber sonst ganz passabel ist! So eine, die ’ne Hand hat wie der Dönhoffplatz, die dich am Schlafittchen kriegen und schütteln kann, bis du die Engel im Himmel Ciribiribin heulen hörst! Eine, die dich an der Strippe hält, die jedem Abend mit dem Punktroller hinter der Tür steht, wenn du ’ne halbe Stunde zu spät heimkommst, eine, die ...“

„Kurz — ne Schwester von Auguste Erlenkamp!“

Die „Jungs“ lachen schallend zu dem Zwischenruf und blinzeln dem Klavierspieler Erlenkamp zu, der außerhalb seines Berufs immer ein Gesicht macht, als wollte er irgend jemand totschlagen. Es ist allgemein bekannt, daß seine Frau, die würdige Auguste Erlenkamp, ein richtiges Hauskreuz ist. Auch Lore lacht mit, wendet sich aber dann gleich wieder hitzig an den sorglos grinsenden Hans Böge.

„Ich kann doch nichts dafür,“ verteidigt der sich. „Die gute Yvonne läuft mir ...“

„Ach was, ich red’ gar nicht von der Belgierin! Bei dir ist ja immer ein halbes Dutzend Mädel im Fahrwasser! Du weißt ja nie, ob dich die Luise in der Charlottenstraße erwartet oder umgekehrt, und wenn man dir zu nahe kommt, riechst du wie’n Lawendelbeet! Von all den rosa Briefchen, die du in den Taschen hast! Pfui Deubel! Geh in dich, Hans, und bessere dich! Oder heirate in Gottes Namen! Ich hab’ dir heut’ zum letztenmal geholfen, darauf kannst du sämtliche Gifte nehmen!“

„Bravo, Lore! Gib ihm Saures!“

„Ach, Quatsch! Es verlohnt sich ja nicht. Ich red’ lieber gar nicht mehr mit dem Herrn.“ Lore wirft Hans Böge noch einen vernichtenden Blick zu und sieht sich im Abteil um. „Wo ist denn Kellner?“

„Sitzt allein nebenan und komponiert: Kleopatras letzter Seufzer, Opernmusik mit achtundzwanzig Fagotten!“

„Dann geh’ ich ’nüber zu ihm. Laßt mich mal durch!“

Lore entwindet sich der lustigen Gesellschaft und findet wirklich mutterseelenallein den Meister des Saxofons, Urban Kellner, der stumm und gedankenschwer den Kopf in die Hand stützt. Urban Kellner leidet schwer unter der Last des Lebens. Schon der Name allein, den sein Vater ihm auf den Weg gegeben hat, quält ihn. Kommt er mal in ein Lokal, wo die Kameraden sitzen, so brüllen ihm jedesmal ein halbes Dutzend Kehlen entgegen: „Kellner! Zahlen!“ Der Witz ist abgestanden, aber unsterblich in der Kapelle Begas. Und Urban Kellner fährt jedesmal ein Schrecken in die Glieder, wenn er unvermutet den befehlenden Ruf hört. Denn zu wirtschaften versteht er nun einmal nicht, und unbezahlte Rechnungen hängen immer wie Damoklesschwerter über seinem Haupte. Doch das ist das Wenigste. Viel quälender und bitterer sind die Schatten, die seine Seele umdüstern. Urban Kellner ist ein anerkannter Meister seines Instruments, ein Künstler von Gottes Gnaden. Alle, auch Silvester Begas, erkennen das an. Er selber aber träumt von viel höheren Dingen. Urban Kellner ist davon überzeugt, daß in ihm ein Beethoven oder doch zürn mindesten ein Strauß schlummert. Sein Hirn steckt voller Kompositionen. Wenn man nur Zeit hätte, sie zu Papier zu bringen! Die Kameraden lachen gutmütig darüber. Selbst Silvester Begas hat eine Sinfonie, die er einmal in Schmerz und Nöten geboren und die er seinem Kapellmeister vorgelegt hat, nur kurz betrachtet und die Brauen hochgezogen. Nun ja, mag sein, daß die Sinfonie nicht ganz wohlgelungen war. Man kann nicht arbeiten, wenn man Abend für Abend in einem Hotelsaal spielt und bei Tage dann todmüde ist. Die Kameraden sind gewiß gute Kerle, aber das Höchste, das Beste verstehen sie nun einmal nicht. Urban Kellner ist dankbar, daß Lore da ist. Lore Glant versteht es, ihm ernst und ruhig zuzuhören, wenn er von seinen Träumen spricht. Sie macht keine billigen Witze darüber, sondern bemüht sich wenigstens, ihn zu verstehen und mit ihm zu sprechen.

Auch jetzt nickt er ihr dankbar zu, als sie die Abteiltür hinter sich zuzieht und sich ohne Umstände neben ihn setzt.

„Störe ich, Kellner? Wieder in höheren Regionen?“

Der zukünftige Musikheros schüttelt den Kopf. „Ich versuche es, Lore, aber es will nicht gehen. Es geht überhaupt nicht, solange ich bei der Kapelle bin.“

„Solange ...?“ Lore erschrickt. „Was soll das heißen? Du willst doch nicht etwa fort von uns?“

„Es wäre das Beste,“ sagt Urban Kellner nachdenklich. „Sieh, Lore, Silvester Begas ist sicherlich ein tüchtiger Musiker ...“

„Ach nee! Du merkst auch alles!“

„Und die anderen auch,“ fährt Kellner fort, ohne den Einwurf zu beachten. „Wir sind beliebt, eine Kapelle, die sich sehen lassen kann. Ich bin sogar überzeugt, Silvester Begas könnte sich ruhig mit Barnabas von Geczy oder Johst messen. Aber es ist doch nicht das Richtige für mich. Ich gehöre hinter den Schreibtisch, ans Notenpult, und dann ...“ Urban Kellners Augen glänzten — „... dann in die Philharmonie oder — die Oper! Hier ersticke ich und mit mir all das Ungeborene, das in mir gärt und pocht!“

„Immer langsam mit die jungen Pferde!“ Lore hat seine Hand ergriffen und hält sie eine Weile fest. Ganz ernst und sachlich, ohne jede Ironie ist ihre Stimme. „Mag schon sein, daß du ’ne fabelhafte Nummer bist, Kellner. Ich versteh’ ja nichts davon. Aber daß du von uns fort willst, sieh mal, das ist blanker Unsinn. Wovon willst du denn leben? Ich hab’ mir sagen lassen, daß auch berühmte Komponisten zuweilen jahrelang sich durchschlagen müssen, ehe ihr Genie sich in bare Münze umsetzen läßt. Bei Silvester hast du dein festes Gehalt, bist gesichert, weißt, wo du hingehörst. Wer hindert dich daran, außerdem zu Hause auf deiner Bude die tollsten Opern und Sinfonien zu komponieren?“

„Meine Umgebung, Lore,“ sagt Urban Kellner gequält. „Ich brauche Zeit, Ruhe, Sammlung, Einsamkeit!“

„Mein Bruder Harry ist zwar kein Genie, aber er hat auch kämpfen müssen,“ gibt Lore ernst zurück. „Der Junge hatte schon als Kind keinen anderen Gedanken, als Musiker zu werden. Vater wollte ihm die Idee austreiben. Klavierstunden? Unterricht auf der Geige? Keinen Pfennig für solche ‚Firlefanzereien‘, wie er das nannte. Mit vierzehn Jahren ist mein Bruder von zu Hause getürmt und hat erst mal bei einem Dorfküster Trompete blasen gelernt. Weißt du, so in Wind und Wetter oben vom Turm herab. Dann ist er mit der Fiedel als wandernder Musikant auf die Dörfer gegangen und hat zur Kirchweih aufgespielt. Du weißt ja, was er kann. Meinst du, Harry hätte Zeit, Ruhe, Sammlung, Einsamkeit gehabt, um sich zu einem guten Musiker auszubilden? Aber erreicht hat er’s deshalb doch. Heute braucht er nicht mehr Mtata, mtata zu machen in irgendeiner Dorfwirtschaft. Du, Kellner, willst noch höher hinaus. Aber, glaub’ mir, wenn du’s nicht schaffst, auch unter schwierigen Verhältnissen, dann schaffst du’s überhaupt nicht.“ Und Lore fügt einen Satz hinzu, der nicht aus ihrem Köpfchen, sondern aus ihrem Herzen kommt: „Jedes Genie muß durch Dornenhecken gehen, ehe es in den Rosengarten kommt!“

*

„Recht hat sie jedenfalls, das mußt du zugeben, Hans.“