Der Mann den er nicht kannte - Gisela Janocha - E-Book

Der Mann den er nicht kannte E-Book

Gisela Janocha

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Beschreibung

Ole ist ein musisch begabter junger Mann. Er möchte Musik studieren, doch sein Vater, ein Pastor, drängt ihn zum Medizinstudium. Ole beugt sich dem Diktat des Vaters und wird Arzt. Bald ist klar, wie untalentiert er dafür ist. Patienten beklagen seine mangelnde Empathie, die Liaison mit einer Assistentin geht in die Brüche. Eine Fehldiagnose hat Folgen, der Kampf mit dem Chef wird härter. Ole fühlt sich wertlos. Doch er gibt nicht klein bei, belegt ein Seminar über Machtstrukturen, lernt Katja kennen, eine selbstbewusste Fabrikantentochter. Ole verändert sich. Doch er ahnt nichts von einem Ereignis, unabwendbar.

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Erfahrung

lehrt uns zwar,

dass etwas so und so

beschaffen sei, aber nicht, dass

es auch anders sein könnte.

Immanuel Kant

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Kapitel 98

Kapitel 99

Kapitel 100

Kapitel 101

Kapitel 102

Kapitel 103

Kapitel 104

Kapitel 105

Kapitel 106

Kapitel 107

Kapitel 108

Kapitel 109

Kapitel 113

Kapitel 114

Kapitel 115

Kapitel 116

Kapitel 117

Kapitel 118

Kapitel 119

Kapitel 120

Kapitel 121

Kapitel 122

Kapitel 123

Kapitel 124

Kapitel 125

Kapitel 126

PROLOG

Das Gebäude kennt er, etwas außerhalb des Städtchens. Vor kurzem war er hier, um es sich anzusehen: Backsteinbau über eine halbe Straßenlänge, umgeben von Grün, solide eingewachsen.

Er zweifelt. Ist ein Bauwerk voller Spezialisten ein Garant für potenziertes Wissen, oder verteilt sich nur die Sorgfalt?

Er nimmt die Treppe in den zweiten Stock, benutzt ungern Aufzüge. Wie es in Arztpraxen zugeht, weiß er nicht wirklich, geläufig sind ihm nur flüchtige Untersuchungen während jährlicher Kuraufenthalte.

Pünktlich sitzt er zwischen anderen und wartet. Weiße Gesichter, minutenlang auf einen Punkt gerichtet, als würden sie ihre Hoffnung auf Besserung beweinen. Er schaut weg. Jetzt wird er aufgerufen, die Assistentin führt ins Sprechzimmer. Er wartet wieder.

Eigentlich ist er nur da wegen seines Versprechens, sich bei diesem Arzt Rat zu holen, das heißt, er hat nicht widersprochen.

Der Arzt kommt. Grüßt, setzt sich an den Schreibtisch gegenüber. Natürlich hat ihn der Arzt nicht erkannt; für ihn ist er nur ein Patient unter vielen – ein Unbekannter. Dabei ist er kein richtiger Patient, eine reine Routineuntersuchung, wie man das einmal macht, nicht mehr gerade jung. Ein wenig knappe Luft beim Bergsteigen, wohl eine vererbte Allergie. Nichts Besonderes.

Wann zuletzt geröntgt wurde?

Bisher noch nie.

Zurück vom Radiologen, zeigt der Screen des Arztes die Aufnahme. Der Arzt bückt sich, zieht eine Schublade auf, legt den Rezeptblock auf den Tisch. Dabei behält er den Patienten im Auge, als könnte der weglaufen. Er tut es nicht. Trotz einer momentanen Schwäche glaubt er unbesehen, was die Aufnahme im Sichtschirm zeigt.

Karg, aber nachdrücklich informiert der Arzt. Nur, ein Laie kann nicht viel damit anfangen, so oft der Kuli auch auf die schwarzen Punkte tippt.

„Das sind Ihre Lungenbläschen, viel ist nicht mehr übrig.“ Der Arzt schaut dem Patienten ins Gesicht, als erwarte er eine Bestätigung seiner Botschaft.

„Sie haben ein Emphysem.“

„Ich sehe, das wird mich umbringen.“ Ein Scherz, ein Lächeln.

Und eine Antwort. „Ja, das wird so sein. Ich kann Ihnen keine neue Lunge geben.“ Der Arzt greift zum Rezept-block. Ruhig und flach der Atem des Patienten, seine Arme liegen auf den Lehnen des gepolsterten Stuhls.

Ein kritzelnder Stift, sonst kein Laut. Mit einem Mal versinkt die Welt des Kranken.

„Hier, ein Rezept für drei Monate. Mehr kann man nicht machen.“ Der Arzt versucht zu lächeln, reicht dem Mann das Rezept, der nicht reagiert, die Augen geschlossen, fahlgelb im Gesicht. Der Arzt stürzt aus dem Zimmer, ruft nach Kollegen, sie eilen herbei und tragen den Mann hinaus.

1

Simon gratulierte Ole per SMS zur Promotion. Ole versteht das nicht. Wäre das ein überzogener Anspruch, seinen Freund zu diesem einmaligen Anlass zu erwarten? Man sollte nicht meinen, dass sie sich seit dem Kindergarten kennen. Damals waren sie ein Herz und eine Seele, meistens jedenfalls, wenn sich Simon nicht wieder als Liebling der Mädchenecke aufspielte. Der struppige, kleine Rotschopf, immer der Lustige, immer der Nette.

Ole kannte ihn anders. Simon konnte schon giftig werden, bekam er seine ausgeliehenen Spielkarten nicht gleich zurück oder ein paar Glasmurmeln, angeblich wertvoll. Allerdings war der Kontakt die letzten Jahre geschrumpft. Aber das lag nicht an ihm, nicht an Ole, Simon hatte sich rar gemacht und das hat nichts mit seiner Uni in Bayern zu tun. Die einzige Erklärung, er habe selbst gerade an seinem Abschluss zu kauen. Ethnografie. Ausgerechnet. Ein besseres Wort für Völkerkunde, nicht viel mehr als Esoterik, ein Gemisch aus Anthropologie und Soziologie. Datenjäger. Striche-Sammler. Wie oft hat Ole ihm das gesagt. Immerhin – Simon dufte studieren, was er wollte. Kaum gibt er noch Bescheid, ist er in der Stadt bei seinen Eltern. Sie würden kommen zu Simons Abschlussfeier, beide, Ole ist ganz sicher. Zu seiner Feier war nur die Mutter da, sie applaudierte nach jeder Rede, bis ihr die Hände brannten. Ole störte ihr verschämtes Gehabe, als sie nicht wagte, ein Häppchen vom Tablett zu nehmen, schon gar nicht nach einem Glas Sekt zu greifen.

Später erzählte sie von ihrem inneren Kampf, wie verloren sie sich vorkam in der Menge. Dass es ihr nicht gelingen wollte, die verhohlen gut gemeinte Frage zu überhören, ‚wie schade, Ihr Mann ist nicht dabei‘; dabei kenne sie doch die mitleidigen Blicke der Kleinstadt, aber sie gewöhne sich nicht daran.

2

Momentan will sich Ole nicht beklagen. Er gibt Gas und schaltet in den fünften Gang. Der Abarth Fiat Grande röhrt wie ein Elch, ein kleiner Flitzer, in flotten 7,5 Sekunden auf 100. Er ist kein Autofreak, ein Auto erfüllt seinen Zweck, das genügt. Schon wieder Rot und wieder röhrt der Abarth, elegant und kraftvoll. Unklar, ob jemand in der Praxis das neue Auto mitbekommen hat, er wollte nicht hochschauen, wenn er auch gerne wüsste, ob sie am Fenster stand, als er wegfuhr. Sarah, eine der Assistentinnen, hübsch, mit dunklen Augen und leiser Stimme, stets bereit für eine Antwort. Vielleicht kann er sie irgendwann irgendwohin mitnehmen, nur so gefällig. ‚Ach ja, Sarah, wir haben den gleichen Weg, steigen Sie ein‘, würde er sagen, ganz locker.

Der Vater hat sich das was kosten lassen, spätestens zur Promotion sollte ein Auto vor der Tür stehen – Vorbote war der Führerschein zum Abi. Leistung zählte. Erstens Leistung. Zweitens Leistung. Drittens gab es nicht.

Hatte Ole als Kind Schwierigkeiten mit einem Lerngegenstand, nahm der Vater kein Blatt vor den Mund.

Auch bei flüchtiger Durchsicht der Hausaufgaben, selbst wenn jemand zu Besuch war, der Vater kanzelte ihn ab wegen geringster Fehler. Als wollte er ihm den Stoff lauthals einhämmern, als fühlte sich ein Kind nicht gedemütigt.

Kein großer Akt für den Vater, das Geld der stillen Wiedergutmachung hinzublättern, so teuer war das Auto nicht, aber es war neu, die meisten seiner Kommilitonen fuhren Schrottkisten. Welche Mühe, wenn auch ohne NC-Qualen (dafür eine Aufnahmeprüfung), die endlose Büffelei bis zur Approbation, ein einziger Knochenjob, schlimmer konnte kein Beruf sein. Niemand wollte das nachfühlen, am wenigsten sein Vater, in seiner Komfortzone des Pastors. Wie benutzt fühlt sich Ole als Aushängeschild für den Vater, der insgeheim den Beruf des Pastors weniger schätzt als den des Arztes.

Ein schlechtes Gewissen muss Ole nicht haben, womöglich zu Kreuze kriechen für die großzügige Geste des Vaters. Als könnte ein Auto seine Untaten ungeschehen machen. So leicht ist sein Sohn nicht zu haben.

Nach der Zuweisung von zwei weiteren Gemeinden zog der Pastor ins Pfarrhaus, allein, ohne seine Familie.

Schon deshalb verdient er keinen großen Dank.

Doch, das Auto ist passabel. Die Sportschaltung macht Spaß. Eine enge Kurve, nicht zu leugnen, das kleine, griffige Lenkrad hat null Spiel.

3

Gegen Nachmittag, wenn Ole heimkommt, werkelt die Mutter meist im Garten. Heute nicht. Die Sonne scheint angenehm, nicht zu heiß, ein leichtes Wehen der Tischdecke auf dem Gartentisch. Schildi wandert über den Rasen. Seit Ole denken kann gibt es sie, mindestens 25 Jahre alt. Theoretisch könnte sie ihn locker überleben, seine griechische Landschildkröte kann gut 100 Jahre alt werden. Über weit mehr als empfohlenen zehn Quadratmeter Rasen darf sie spazieren. Er schaut am Gartenrand nach Löwenzahn und Taubnessel, pflückt ein paar Blätter ab und legt sie der Schildkröte vors Mäulchen.

„Hier, Schildi, deine Leibspeise. Weißt du noch, wie ich geweint habe als Kind, als du an einem Füßchen verletzt warst und ich dir nicht helfen konnte. Immer aufpassen wollte ich auf dich, damit nie wieder ein Rabe kommt.“

Schildi kaut und wiegt ihr Köpfchen. Ein Stück Erinnerung an sie wird er mit ins Grab nehmen. Ihre Erinnerung an ihn wird lange nach seinem Tod weggefallen sein. Ob sie jemals etwas davon verspürt, bleibt ihr Geheimnis.

Es ist Frühsommer, eine willkommene Jahreszeit für die Mutter. Beruhigend für ihn, sie hat zu tun und ist entspannt, während sie schneidet und gießt. Ja, er findet ihre Tomaten schon jetzt gut, sogar schmackhaft, eines ihrer Lieblingsworte.

Er geht ins Bad, wäscht sich die Hände, schaut in den Spiegel. So schlecht sieht er doch nicht aus, sein Mund gefiel ihm schon immer, voll und doch leer, er spricht die Mädchen nicht an. Flüchtig kämmt er sein Haar, dunkel, passend zu den Augen. Auch mit seiner Größe ist er zufrieden, allzu groß wäre unbequem. Es kam schon vor, dass ihn Frauen angesprochen haben, er hat auch reagiert, je nach Tagesform.

Er holt sich ein Glas Mineralwasser, geht auf die Terrasse ohne Sonnenschirm, rückt einen zerschlissenen Liegestuhl zurecht, hat das Comic vergessen, geht in sein Zimmer. Ein Zettel von seiner Schwester, komme noch mal vorbei, hast Du Lust zu joggen? Lefke. Überraschend, eine Aufforderung von ihr, etwas gemeinsam zu machen. Er weiß – wann dieses noch mal sein sollte, bleibt ungewiss. Mal vermisst er ihre pragmatischen Antworten, ein andermal denkt er ganze Tage kaum an sie. Als sie vor ein paar Monaten zu ihrem Freund zog, verspürte er einen bitteren Beigeschmack, jetzt wird er den Kummer der Mutter allein auffangen müssen. Lefke scheint glücklich, egal, dass ihr Freund dreißig Jahre älter ist und ständig zum Arzt rennt. Dennoch – er ist vermögend, woher, darüber spricht sie nicht.

Ole darf nicht daran denken – die gemeinsame Wohnung damals in der Stadt – als sie noch eine Familie waren. Die Eltern, Ole und Lefke. Noch heute erdrückt ihn der Gedanke an die Auftritte des Vaters, jede Kleinigkeit brachte ihn aus der Fassung. Und so was ist Pastor! Eine Erleichterung, die heute geteilten Wohnverhältnisse, endlich in Ruhe leben! Wie gut hat sich das gefügt, das Erbe der Großeltern, das Leben in ihrem Haus, dem Vorort einer „norddeutschen Großstadt“. Ein wenig lächerlich, von Großstadt zu reden, dort gibt es nicht mehr als in ihrem Nest. Aber es wohnt sich schön, wenn auch nicht allzu geräumig, der Garten reicht für ein paar Obstbäume, Gemüsebeete und eine kleine Blumenwiese. Nein, sie brauchen ihn nicht, den Patriarchen.

Geradezu genossen hat er seinen Umzug ins Pfarrhaus, nur selten kommt er mal vorbei – ein Pseudo-Familienvater nach seinem Gusto – er bestimmt, wann er erscheint. Ole stört das wenig, so bleibt er verschont von lästigen Fragen, wie sich der neue Wagen fährt, was die Praxis macht. Was soll sie schon machen. Das Thema zurzeit, zwar flüchtig, weil er gleich wieder wegmuss, eine Schulstunde halten, die Predigt vorbereiten oder dringend einen Kranken besuchen. Lefke hat den Absprung geschafft, sie hat sich seinem Diktat entzogen.

Dennoch wollte Ole nicht mit ihr tauschen.

Er lässt ihren Zettel auf dem Schreibtisch liegen, schaut im Zimmer umher, als wäre er Gast hier. Eine riesige Landkarte über eine ganze Wand, befestigt mit Tesa und Reißnägeln, ein Regal voller medizinischer Fachbücher.

Bücherverbrennung – manchmal kann er diese Untat nachfühlen. Warum hat er sich das nur gefallen lassen, den Druck des Vaters, Medizin zu studieren. Warum hat er sich nicht durchgesetzt und Musik studiert?

Auf unterem Regal vier seiner Spielzeugautos, heute womöglich etwas wert, ein Poster von Einstein – das Poster, das alle haben, der Schreibtisch, großflächig und massig. Der musste etwas aushalten über die Jahre endloser Kasteiung – alles nur zu seinem Besten. Auch ein Bett, ein bequemes Bett, das Plumeau mit Daunen, ausgesucht von der Mutter und pünktlich in kurzem Turnus überzogen. Nichts hier ist von ihm, nichts, was nicht jeder hat. Da ist noch die ausrangierte Stereoanlage von Simon, die Boxen auf dem Boden, Platzmangel. Sie hatten CDs getauscht, nur Pop, Klassik musste er kaufen.

Bach, Mendelssohn, Brahms, Edward Elgars Cellokonzert, Schostakowitsch – die Suite Nr. 2, die er gern spielt.

Der Flügel im Wohnzimmer, den er möglichst nicht benutzen sollte, Empfehlung des Vaters, der ihn am liebsten im „Studierzimmer“ wusste – noch heute ein Reizwort. Sein Zimmer – zwei Wände vollgestellt mit Kram von gestern, seelenlos. Wie eine Erlösung fällt ihm Charles Bukowski in die Hände.

„Das lachende Herz“.

Dein Leben ist dein Leben

lass es nicht in klamme Unterwerfung prügeln.

Sei wachsam.

Da sind Auswege, da ist ein Licht irgendwo.

es ist vielleicht nicht viel Licht aber

es ist besser als die Dunkelheit.

Sei wachsam.

Die Götter werden dir Angebote machen.

Kenne sie. Nimm sie.

Du kannst den Tod nicht besiegen aber

du kannst den Tod im Leben besiegen,

manchmal

und je öfter du lernst das zu tun,

desto mehr Licht wird da sein.

Dein Leben ist dein Leben.

Kenne es, solang du es hast.

Du bist wunderbar

die Götter warten darauf

sich an dir zu erfreuen.

Das Buch lässt er aufgeschlagen liegen, geht in den Garten. Ohne Comic. Auf seine Schwester wartet er vergebens.

4

Wie so viele, kann gewiss auch Simon nichts mit Schostakowitsch anfangen. Wenn überhaupt jemand, wäre Simon der Einzige, dem Ole von seiner Leidenschaft erzählt.

Ole kennt Dimitri Schostakowitschs Biografie, dessen gebildete und Freiheit liebende Familie. Zunächst ohne Interesse an Musik, war es seine Mutter, die Dimitri heranführte. Dass dessen Schwester lieber Ballerina werden wollte, bedauert Ole so wenig wie er sie darum beneidet, die später erfolgreiche Dirigentin. Hätten ihn seine Eltern frühzeitig gefördert, vielleicht wäre auch aus ihm ein bekannter Pianist geworden. Aber jetzt ist er nicht mehr geworden als ein schlechter Arzt.

Er legt Schostakowitschs 7. Sinfonie auf. Wer versteht das schon, seine Liebe gerade zu dieser Sinfonie. Was er sich überlegt, worüber er nachdenkt. Er ahnt, jeder Versuch, sich zu erklären, muss scheitern. Wozu ein tiefes Gefühl aussprechen und vergeuden, um am Ende in ein ratloses Gesicht zu schauen. Wem sollte er erklären, wie ihn die Jazz-Suite verzaubert, als Walzerchen daher schwebt wie ein erfrischendes Lüftchen. Er legt die „Leningrader“ auf, stellt den Player lauter, legt sich aufs Bett. Nimmt kleinste Nuancen wahr, entdeckt Neues, Eigenwilliges, in Passagen für Hörner und Celli, den Geigensoli. Besonders liebt er die Piccolo-Flöte. Mehr und mehr gelöst saugt er den Klang ein – die Komposition gehört allein ihm. Sie spielt ihm eine Geschichte ins Herz, eine Malerei, die er niemandem hätte erklären können. Und manchmal nur Fakten, die Aufführungen des National Symphonie Orchestra in Kiew. Er muss nach Kiew reisen, sobald es geht, und nach Moskau, zu Dimitris Grab. Erschütternd, schon mit 69 Jahren zu sterben, als Feind Stalins, der seine Musik als subversiv verurteilte, der Künstler zwang sich zu verstecken, Künstler, die lieber mit notdürftigem Gepäck vor dem Haus auf ihre Abholung warteten, als die Familie zu belasten. Nein – er wollte nicht tauschen. Das ist nicht Oles Leben, das doch nicht. Bei all seinen Gedanken gibt es immer nur ein Musikstück für ihn: die Sinfonie Nr. 7, die „Leningrader“ mit einer ausgefallenen Spieldauer von gut eineinhalb Stunden. Nur ungestört in seinem Zimmer vermag er die unerwarteten Flötenkompositionen aufzunehmen, Zeitpunkt der Entstehung: der Überfall Russlands durch die Wehrmacht im Kriegsjahr 1941. Ein Jahr später schrieb die Prawda, Schostakowitsch widme seine Siebente dem Kampf gegen den Faschismus, dem unabwendbaren Sieg über den Feind, die Deutschen, sie ließen Leningrad ausbluten. Er muss mehr erfahren über Dimitri, er muss wissen, wie es ihm ergangen war.

All das kann er nur Simon erzählen. Wie hat der ihm doch gefehlt die letzten Jahre.

5

Betty Kaltofen gehört nicht zu den Frauen, die abends ausgehen. Heute bleibt sie länger aus, die Geschäfte sind bereits geschlossen. Ihre Familie ist längst keine mehr – eine Erkenntnis, die keine sein soll. Die Tochter, nach mäßigem Abitur zu ihrem älteren Freund gezogen, der Mann nur noch Gast. Schaut er überraschend nach dem Gottesdienst vorbei und mimt den Familienvater, hofft sie neu und vermeidet die Bitte um ein Gespräch aus Furcht vor der Wahrheit. Dass sie Ole überfordert mit ihrem Kummer ist ihr bewusst. Sie kann nicht anders.

Schnell kommen ihr wieder Bedenken, sie würde seinen Entschluss, auszuziehen, befördern. Sie ahnt, wie belastet er war über die Jahre, jetzt folgt das große Bewähren in der Praxis, ein Dauerstress, was ihm alle Kraft abverlangt. Sie mag sich nicht vorstellen, wie schwer er es haben muss als Neuling unter erfahrenen Ärzten. Wenn er auch immer wieder beteuert, sie müsse sich absolut keine Sorgen machen, er komme bestens zurecht.

Es soll ihr nichts ausmachen, heute einmal nicht rechtzeitig zum Abendessen daheim zu sein. Ole kann sich selbst etwas zurecht machen, Brot mit Butter ist immer da. Wie lange war sie nicht mehr mit Brigitta in der Stadt. Endlich sind sie wieder einmal zusammen, Brigitta kommt mit zum Abendessen.

Betty ruft „Ole!“ Er reagiert nicht, scheint nicht da zu sein. Obwohl eben eine Tür ging. Die beiden hängen ihre Mäntel auf und nehmen die Einkaufstüten mit ins Wohnzimmer. Sie flachsen vom neuen Kaufhaus, vom unermesslichen Warenangebot, man könne dort auf die Welt kommen und sterben, ohne das Haus zu verlassen.

Brigitta Larsson ist Schwedin, etwas jünger als Betty, mit allen nordischen Attributen ausgestattet: groß, schlank, blond, blaue Augen, ovale Kopfform. Und sie ist ein herzlicher Freigeist. Damit in nahezu allen Punkten das Gegenteil von Betty Kaltofen. Sie fühlt sich klein und unbedeutend neben Brigitta, zu dick und blass, blass im Gesicht wie in Worten.

„Zieh doch das Komplet nochmal an“, sagt Betty. Während sie Teewasser aufsetzt, sieht sie Brigitta vor sich: betörend frisch, strahlend schön. Sie versteht sich zu kleiden, für jeden Anlass das Richtige. Betty trägt meist karierte Röcke, gut unterm Knie. Sie hat nicht das natürliche Wesen wie Brigitta, was jeden Neid, gar Eifersucht, verweigert. Auch Ole scheint fasziniert von der Freundin seiner Mutter, er sagt ‚unglaublich, dass sie drei Kinder hat.‘ Nein – das ist ihr nicht anzusehen, aber ihr, Betty, sieht man wohl ihre beiden an. Keinesfalls wird sie ihr neues Kleid jetzt noch einmal anziehen, sie fürchtet, Johannes fände es ohnehin zu jugendlich.

„Habt ihr was Neues an Büchern oder CDs?“, ruft Brigitta.

„Schau ins Regal.“ Brigitta steht auf von der flaschengrünen Couch, etwas durchgesessen, geht die dunkle Bücherwand entlang. Lexika, wie es sich für einen Bildungsbürger-Haushalt gehört: Günter Weiss‘ „Ermittlung“, Aufarbeitung Naziprozess, Grass‘ „Katz und Maus“, Biografien. Jaqueline du Pré, Ehefrau des berühmten Dirigenten Daniel Barenboim., die begnadete Cellistin, mit 42 Jahren an MS gestorben.

„Hast du das von Barenboim und du Pré gelesen?“, fragt Brigitta. Betty bringt ein Tablett mit Tee und Häppchen.

„Nein, das hat Ole Johannes geschenkt“, als spräche sie ein Verbot aus. Sie verteilt die Tassen, setzt sich und schenkt ein.

„Von Ole, oh“, macht Brigitta. Nach einer Pause will sie wissen, weshalb es hier nichts, aber auch gar nichts gibt von schwedischen Komponisten.

„Ich weiß gar nicht – gibt es denn welche?“, fragt Betty.

„Aber ja! Genügend, Olof Ahlström, Magnus Andersson, Carl Christiansen, Gunnar de Frumerie und viele mehr.“ Betty macht „hm“ und neigt den Kopf, Brigitta blättert in der Biografie von du Pré.

„Ihr habt aber auch nur tragische Literatur.“

Dafür sei sie nicht zuständig, sagt Betty und bedankt sich übergangslos für Brigittas Gesellschaft.

„Eigentlich hast du ja einen Mann und du hast deine Kinder. Ole wohnt bei dir – kommt Lefke nicht zu Besuch?“

Betty schaut in ihre Tasse, nippt vom Tee, sagt nichts.

„Was ist, hab‘ ich etwas Falsches gesagt?“

„Nein, nein. Aber deine Kinder sind ganz anders, immer gut gelaunt, immer freundlich. Bei uns ist das nicht so.“

„Das sollst du nicht denken, es gibt schon Ärger, gerade wenn Lars wieder nach einer langen Auslandsreise heimkommt und die Kinder nicht spuren, wie er meint, dann haben sie nicht genügend gelernt und so weiter.“

„Doch, sie sind sogar gut in der Schule und im Studium, du bist zu beneiden.“

„Ole hat doch einen Superberuf, du kannst stolz sein auf ihn.“

„Ja – vielleicht, ja, sollte ich.“

Brigittas Blick kreist im Wohnzimmer, es fehlt einfach an Pep, sie wechselt das Thema. „Ich habe eine Idee: was hältst du von neuen Vorhängen? Wir suchen etwas Frisches aus, vielleicht ein helles Blumenmuster, etwas Leichtes.“

Betty schaut in Richtung Fenster – es sieht wirklich düster aus, die dunklen Vorhänge neben der dunklen Bücherwand. Vorhangwäsche wäre angesagt.

„Ich weiß nicht, was Johannes dazu sagt.“

„Betty! Damit ist jetzt mal Schluss, hörst du?“

Betty schweigt.

6

Ein letztes Mal will es Betty versuchen. Sie weiß jetzt schon, das würde sie nicht erzählen. Ole fände sie lächerlich und Lefke würde kaum hinhören, sie mag ihren Vater. Wer denkt an sie, ihre Mutter, war sie dazu verurteilt Unrecht zu erdulden? Sie findet sich selbst sonderbar, das muss aufhören, endlich und endgültig. Nur wie? Brigitta hat Recht. Eines Tages würde auch sie nicht mehr hinhören, ginge das ewig so weiter, Bettys wechselseitiges Hoffen und Bangen – wird ihr Noch-Ehemann sie beglücken mit seinem Besuch oder nicht.

Einmal, am Ostersonntag nach dem Gottesdienst kam Johannes, plötzlich stand er da. Sicher wäre er zum Essen geblieben, hätte es etwas Richtiges gegeben, es ging ihr nicht gut und es gab eine schnelle Küche.

Nur noch einmal will sie am Sonntag nach dem Gottesdienst auf ihn warten. Ihn einladen zum Mittagessen, überraschend dastehen, wie er das praktiziert. Und diesmal soll es sein Leibgericht geben. Für alle Fälle bereitet sie etwas Besonderes vor – Lamm in Rahmsoße. Johannes liebt Soßen. Den Tisch deckt sie gleich abends, drei Gedecke mit Stoffservietten und dem alten Silberbesteck ihrer Mutter. Zu Ole sagt sie, es komme Besuch.

Sicherheitshalber stellt sie den Wecker auf 7:00 Uhr, was nicht nötig gewesen wäre. Bereits um 6:00 Uhr ist sie wach und frühstückt allein. Ole bleibt am Wochenende lange im Bett.

Sie nimmt ihren Sommermantel aus dem Schrank, hält ihr blaues Hütchen dagegen – die Farbe passt. Das neue Kleid bleibt besser im Schrank. Vor dem Spiegel neigt sie den Kopf und drückt das Hütchen in die Stirn. Weshalb keinen Lippenstift und etwas Rouge – zu lange hat sie nichts davon benutzt. Eigentlich ist sie gar nicht so unzufrieden mit ihrem Aussehen, einige Kilo weniger würden nicht schaden. Ab Montag wird sie intensiv fasten, alle Süßigkeiten rigoros streichen.

In zehn Minuten geht der Bus. Das macht ihr nichts aus, Johannes braucht das Auto dringender als sie, seine Krankenbesuche, verstreut über viele Kilometer, sein Beistand für Sterbende, alles bedeutender als ihre Belange. Einkäufe besorgt sie mit dem Fahrrad. Zur etwa zehn Kilometer entfernten Kirche fährt sie mit dem Bus, schon wegen der Kleidung, und weil sie frisch und nicht abgekämpft ankommen will. Zwar kennt sie die Leute dort nicht, allenfalls kommen ihr ein paar Gesichter vage bekannt vor. Um sicher zu gehen, schaut sie noch einmal in die Zeitung, welcher Pastor heute den Gottesdienst hält: Pastor Johannes Kaltofen – ihr Mann wird heute in der weit und breit schönsten Kirche predigen.

Betty kontrolliert ihre Handtasche, Brille, Geldbörse, Taschentücher, schließt leise die Haustür. Es ist warm, ein leichter Nieselregen, ohne Schirm fürchtet sie, ihr Haar könnte sich kräuseln, etwas, was Johannes nicht gefällt.

Langsam füllen sich die Reihen, der Gottesdienst beginnt in fünf Minuten. Johannes wird sie nicht sehen können in der letzten Bank hinter einer Säule. Wie feierlich das Glockengeläute, der Blumenschmuck um den Altar. Manchmal vermisst sie die katholischen Rituale, die Ministranten mit ihren Glöckchen, den Weihrauch, sogar die Kniebänke. Wirklich bereut hat sie es nie, sie war aus der katholischen Kirche ausgetreten und zum evangelischen Glauben gewechselt. Anders wäre das nicht zu machen gewesen, eine andere Konfession hätte die Kirchengemeinde nicht toleriert. Doch Betty war eine ziemlich schlecht bezahlte Arbeitskraft, die tapfer Gemeindearbeit geleistet hat wie eine Angestellte. Ohne Bescheid zu wissen über die evangelische Kirche wäre auch das nicht zu machen gewesen. Den Kirchenchor hat sie geleitet und zwei Jugendgruppen. Das fehlt ihr, seit die Gemeinde am Ort aufgelöst und mit anderen zusammengelegt wurde.

Johannes hat die Veränderung gerne angenommen.

Immer wieder kommt in ihr ein beklemmendes Gefühl hoch – hat sie sich für die Gemeinde mehr engagiert als für ihre Kinder? Dabei hält sie sie doch bis heute zum Glauben an, Wahrheit und Treue gerecht zu werden, sich an christlichen Werten zu orientieren. Lefke interessierte das nie groß, Ole reagiert immer abweisender, kommt das Gespräch auf Religion. Ohne Rücksicht auf seinen Vater. Von Harmonie keine Rede. Konnte das der Grund sein, weshalb sich Johannes abwandte, allein ins Pfarrhaus zog?

Jetzt verstummen die Glocken, die Orgel setzt ein – Johannes tritt aus der Sakristei, groß und breitschultrig, meliertes Haar, ehrfürchtig den Kopf gesenkt. Nach einigen Riten beginnt die Predigt, sie darf ihn hören, entfernt, von der Kanzel aus, nah dem Altar. Über die Lebenswelt und die ursprüngliche Bibel spricht ihr Mann zu den Gläubigen. Wieder appelliert er an Treue und Menschlichkeit. Eine gute Viertelstunde. Betty bewundert seine klare und eindringende Stimme. Am Ende beginnt der Organist zu improvisieren. Betty lässt sich Zeit, in etwa weiß sie, wie lange es dauert, bis Johannes die Sakristei verlässt.

7

Am Vormittag steht Ole auf. Von den drei Gedecken räumt er eines zur Seite und breitet sich aus, Toast, Butter, Marmelade, zwei gekochte Eier. Der Esstisch ist nicht groß, eigentlich zu klein, wie die Küche. Er weiß nicht, wer heute zu Besuch kommen soll. Brigitta kaum, sie bleibt bei ihren Kindern, vielleicht ist ihr Mann schon wieder zurück. Allein der Gedanke an Brigitta wühlt ihn auf. Nein, das soll keine Rolle spielen. Es ist ruhig im Haus, zu ruhig. Ole schaltet das Radio ein, die Nachrichten sind vorbei, der Wetterbericht, weiter Temperaturen von fünfundzwanzig bis dreißig Grad. Er geht ins Wohnzimmer und setzt sich ans Klavier. Ein Flügel, Petrof. Von seinen Eltern vor etwa fünfzehn Jahren über eBay gekauft, 7.000 Euro, Nussbaum, 160 Zentimeter, mindestens zwanzig Jahre alt. Immer wieder musste der Stimmer kommen, nie war der Vater zufrieden, dabei spielte er selbst nicht, manchmal die Mutter. Ole versucht, eine Jazz Suite auswendig zu spielen. Die Jazz Suite Nr. 2. Nicht zufriedenstellend. Kein Wunder, er hatte ja nicht lange Unterricht. Inzwischen scheint ihm unwürdig, im Wohnzimmer zu spielen, muss er sich konzentrieren, wird die angemessene Hingabe blockiert. Obendrein ist der Resonanzboden im Bassbereich beschädigt, zu trocken die Luft. Vielleicht ein irreparabler Schaden. Auch jetzt scheint die Sonne unmittelbar auf den Flügel. Früher hatten sie einen Luftbefeuchter, den muss der Vater mitgenommen haben, wohin auch immer, wofür auch immer. Ole klappt den Deckel zu und geht in sein Zimmer. Er lässt sich aufs Bett fallen.

Die Mutter ist noch immer nicht da.

Morgen ist Montag. Morgen werden ihm wieder komplizierte Leute mit komplizierten Fällen begegnen. Sein Boss, der große Internist will gefragt sein, sich produzieren mit klugen Antworten auf banale Fragen seines Facharztassistenten Kaltofen. Manchmal kommt es ihm vor, als wäre er noch Assistenzarzt in der Klinik und müsste um jeden Schein buckeln. Aber er wird Sarah sehen, sie kennt sich aus, vielleicht gibt sie ihm Tipps, wie er sich am besten verhält. Zum Dank würde er sie zum Essen einladen, in ein Lokal ihrer Wahl, das klingt nicht gleich nach Anmache. Nur nach Mut, der ihm fehlt, wie heute die Muße für Musik. Er ruft Simon an. Endlich wieder einmal. Simon ist nicht erreichbar. Die Haustür schlägt, die Mutter kommt. Er geht nach unten, fragt, wer denn zum Essen käme. „Niemand“, sagt sie, legt ihr Hütchen ab und zieht den Mantel aus. Sie räumt das dritte Gedeck ab, geht in die Küche und wärmt das Essen. Beide setzen sich an den Tisch, schauen in ihre Teller und verzehren ein Leibgericht.

8

Ole hat Vormittagsschicht. Oft ist Sarah vor ihm da, heute hat er sie noch nicht gesehen. Auf die Kollegen achtet er kaum. Auch sie gehen vorbei, ohne ihn zu bemerken. Jetzt, nach gut vier Wochen, sagt ihm der Chefarzt morgens, er solle doch in den großen Besprechungsraum kommen, es werde ja höchste Zeit.

Da steht er, neben dem Boss, Chefarzt, Professor Dr.

Schreiner, im Halbkreis von gut zehn Personen in Weiß, gesetzten Ärzten, jungen Assistentinnen. Mit großzügiger Geste deutet der Prof auf den neuen Kollegen.

„Das ist Ole Kaltofen, unser zweiter Facharztassistent fürs Innere. Und – er ist bereits promoviert.“ Nach ein paar Worten über den neuen Kollegen und der Bitte, ihn in allen Fragen zu unterstützen, nicken sie ihm zu. Auf Erläuterungen über Räumlichkeiten und deren Funktion (was er bereits wusste) folgt die Frage, wie ihm die dezenten Lichteffekte in Blau gefielen, das hätten sie ausgesucht, um die Praxis ansprechender zu gestalten, weniger steril, dennoch hygienisch. Höflich signalisiert Ole Kaltofen seine volle Zustimmung. Mit dem Wunsch auf viel Erfolg geht man auseinander. Dr. Schreiner ruft noch: „Ach, Kaltofen, haben Sie schon unseren „Ethos“? – Nein? Gehen Sie zu Sarah und lassen sie sich das geben.“

Erst zwei Tage später ist Sarah wieder im Haus. Praktisch, die Gelegenheit, mit ihr ins Gespräch zu kommen.

Ole muss aufpassen, nicht zu interessiert zu wirken, eine Gratwanderung. Wie stellt er es am besten an? Des Öfteren in der Teeküche auftauchen – wann? – er hat keine Ahnung von ihren Gewohnheiten, unklar, was sie überhaupt bevorzugt. Nichts weiß er über sie, liiert, gar verheiratet ohne Ring, nicht einmal, wie alt sie ist. Er schätzt, höchstens 23, einige Jahre jünger als er. Was er sieht, genügt für seine Sympathien, die Kopfform ein Herz, das dunkle Haar kurz geschnitten, leicht gebräunter Teint. Nicht übermäßig groß, sportlich, schlank. Was ihn fasziniert ist ihr offener Blick.

Unerwartet klopft Sarah an und kommt ins Sprechzimmer, legt den „Ethos“ auf den Tisch.

„Bitte schön.“ Sie steht, er sitzt. Eine eigenwillige Haltung, er kann nicht aufstehen, ohne sie zurückzudrängen.

„Haben Sie sich schon etwas eingewöhnt?“, fragt sie.

„Etwas, ja“, sagt Ole Kaltofen, und dann, „ich bin Ole.“

„Ich bin Sarah. Ich glaube gerne, dass es nicht so einfach ist, sich in einer großen Organisation einzufinden.“

„Naja“, meint Kaltofen, „die Uniklinik ist um einiges größer.“ Sie schaut, er kommt sich dumm vor.

Dann sagt sie „viel Erfolg“, deutet auf die Broschüre, „das sind die Idealfälle“, zieht die Mundwinkel zu einem Lächeln, wünscht viel Spaß beim Lesen. Und geht.

Die Situation ist verpatzt. Ein irritiertes Gefühl – eine verpasste Chance, wie unumkehrbar. Sarahs sportlicher Gang, ihr achtsamer Blick – ihm war, als wäre sie noch im Raum, als hätte sie ihm etwas zurückgelassen.

Warum nicht den anderen Facharzt-Assistenten ein wenig aushorchen, wenn sie sich auch nur kurz gesehen haben. Beide teilen sich das Sprechzimmer während unterschiedlicher Schichten, jeder hat seinen eigenen Schreibtisch. Wie es aussieht, gibt es in der Praxis kaum eine Begegnung mit seinem Kollegen. Auch von der Uni kennen sie sich nur flüchtig. So wissen sie nicht viel mehr als ihre Namen, der andere heißt Peter Seiler, noch ohne Promotion.

Der nächste Patient ist eine Frau. Nur mit Mühe gelingt es Kaltofen, Sarah aus dem Gedächtnis zu streichen, er konzentriert sich auf die Patientin.

Er wünscht „guten Tag“ und liest den Bogen der Anamnese. Im Bildschirm bisher kein Eintrag.

Die Patientin klagt über Herzstechen.

„Wann tritt das auf?“

„Das kann zu jeder Zeit sein.“ Sie sieht ernst aus.

„Wo spüren Sie das?“

„Hier, links.“ Sie deutet auf die linke Brustseite.

Die Frau ist mittleren Alters, wirkt mittelmäßig fit. Kaltofen vermutet einen psychischen Hintergrund.

„Ich schau mir die Organe an. Sind Sie einverstanden mit einer Ultraschalluntersuchung?“

Sie bejaht.

Die Untersuchung ergibt keinen Befund.

„Die Rechnung von 60 Euro können Sie an der Anmeldung bezahlen.“ Die Frau sperrt Mund und Augen auf.

„60 Euro? Ich bin Kassenpatientin.“

„Das ist keine Kassenleistung.“

Die Frau steht auf, „danke schön, Wiedersehen.“

Kaltofen tippt noch einen Eintrag in den Laptop, schon kommt eine Assistentin, reklamiert die Rechnung. Kaltofen ist doppelt verunsichert. Er habe erklärt, das sei keine Kassenleistung.

„Vielleicht nicht rechtzeitig. Wir müssen die Patienten vor der Behandlung über Kosten aufklären, das ist Vorschrift, nicht jeder weiß Bescheid über IGeL.“ Kaltofen nickt. Sarah kommt dazu, lächelt, sie hätte jetzt ein paar Tage frei und wünsche ihm einen schönen Abend.

„Ebenfalls, und schönen Urlaub“, auch er lächelt, etwas mehr gezwungen als Sarah.

Die Sache mit IGeL scheint nicht eindeutig geklärt, es liege im Ermessen des Arztes, ob medizinisch notwendig. Er ruft einen Kollegen an. Ob er kurz Zeit hätte? Immer gerne, nur im Moment wäre es schlecht. Besser, sagt er, wäre morgen. Doch halt, morgen hätte er frei.

9

Dass Simon bewusst nicht erreichbar ist für Ole, hält er für unwahrscheinlich. Beim zweiten Versuch bittet er um Rückruf. Der erfolgt am übernächsten Tag. Simon hätte nicht viel Zeit, stecke noch immer im Prüfungsstress. Aber in etwa zwei Wochen wäre das Gröbste erledigt. Ja, ihm ginge es gut, bis dann. Ja, Simon rühre sich, sobald er bei seinen Eltern sei. Bestimmt.

Simon fehlt Ole. Er versteht Simons Prüfungsstress. Bisher war Ole kaum bewusst, wie alleingelassen er ist.

Mehr als das. Niemand fällt ihm ein, an den er sich halten könnte, jemand, der ihn gedanklich getröstet hätte, nur durch seine Existenz, und sei es noch so entfernt. Er mag Simon seine Einsamkeit nicht gestehen. Wenn doch, wäre das eine Blamage für Ole oder eher eine Hilfe, könnte er sich überwinden und offen mit Simon darüber sprechen? Natürlich würde er seine Mutter angeben bei der Frage, welche Person im Ernstfall zu benachrichtigen sei. Tatsächlich will er auch ihr nicht sein tiefes Empfinden vermitteln, ohne sich selbst dabei fremd vorzukommen. Wie banal klänge die Frage, weshalb die Kollegen unzugänglich sind, weshalb sie ihre Informationen für sich behalten. Oder stellt er es falsch an, ist er zu wenig verbindlich, ein Klotz, wie die Mutter den Vater einmal nannte? Hat Ole eine Entwicklungsstufe verpasst? Als sie noch zusammenwohnten, sprach der Vater zu ihm, ja, er redete, aber er sprach nicht mit ihm. Er ordnete an, was zu tun sei und was zu lassen, bestimmt auch in guter Absicht. Womöglich hat der Vater gar nichts zu sagen, vielleicht gibt es nichts, was ihn im Unklaren lässt, nichts, worüber er sich austauschen möchte, keine ungeklärte philosophische Frage. Pastoren bleibt nichts anderes, als Unbestimmtes hinzunehmen. So wird er auch die Mutter gepolt haben. Zweifel besprechen war nicht vorgekommen. Ole fällt Sarah ein – unerklärlich, weshalb erst jetzt? Weil kein Flirt einen langjährigen Freund ersetzen kann, vielleicht schafft das nicht einmal eine langjährige Beziehung. Es bleibt nichts anderes, als zu warten, geduldig auf Simon zu warten, bis er auftaucht in seiner frischen und leichten Art. Vielleicht gehen sie Billard spielen und Simon zeigt ihm wieder, wie das geht. Oder ihn interessiert Schostakowitsch ja doch und sie haben ein gutes Gespräch. Diese Hoffnung macht die Arbeit in der Praxis leichter.

10

Sarah ist noch nicht aus dem Urlaub zurück. Sonst gibt es nichts, was Ole Kaltofen in die Praxis gezogen hätte.

Er bezwingt sich, schreibt seine Unlust der Jahreszeit zu, die Räume sind aufgeheizt von der Sonne, die Patienten aggressiv, apathisch, je länger sie warten müssen. Unstimmigkeiten im Wartezimmer. Medizinisch gibt es bisher nichts Besonderes, eine Handvoll einfacher Symptome mit einfacher Diagnose.

Der nächste Patient, ein kleiner, stämmiger Mann von gut sechzig Jahren. Gepflegter Bart, Pomade im Haar, fremder Akzent, unsicher woher, etwa Balkan.

Stockend und verschämt versucht er zu beschreiben, worum es geht.

„Ich bin erstes Mal in Praxis. Möchte gerne Salbe gegen Hämorrhoiden, habe schon gehabt.“

„Welche Salbe war das?“

„Name habe vergessen.“ Er schaut leidend mit kleinen Augen.

„Eigentlich ist das kein Fall für den Internisten, dafür ist der Proktologe zuständig“, erklärt Kaltofen. Das wüsste er, sagt der Patient, nur bekäme er keinen Termin.

„Machen Sie sich bitte frei und legen Sie sich auf die Liege, Schuhe können Sie anbehalten.“ Kaltofen untersucht.

„Sie können sich wieder anziehen.“

Der Mann fragt kleinlaut: „Ist nix schlimm?“

Kaltofen schüttelt den Kopf, „es sieht nicht danach aus“, setzt sich an den Schreibtisch und schlägt eine Heparin-Salbe vor.

„Kriege ich Rezept?“ Kaltofen bejaht und stellt das Rezept aus.

Für Kaltofen ist der Fall erledigt. Nicht für den Patienten.

Nach etwa einer Woche muss Kaltofen zum Chef. Noch zwei Patienten sitzen im Wartezimmer. Kaltofen ruft den ersten ins Sprechzimmer, auch der zweite ist zügig behandelt, nicht länger als die kalkulierten vierzehn Minuten. Kaltofen geht zum Chefzimmer, klopft vorsichtig. Wartet. Klopft noch einmal, etwas kräftiger. Keine Reaktion. Er steht unschlüssig da, fragt die Sekretärin.

Der Professor sei heute schon weg.

Kaltofen geht heim. Ein ungutes Gefühl nimmt er mit.

Zur Sicherheit liest er abends nochmal den „Ethos“ durch, um für den nächsten Tag gewappnet zu sein.

11

Am nächsten Morgen steht Kaltofen wieder an der Tür des Professors und klopft an.

„Ja!“ Kaltofen öffnet die Tür, der Chef telefoniert, macht eine flüchtige Handbewegung Richtung Stuhl. Kaltofen nickt, setzt sich und wartet im sterilen Zimmer, alles in Weiß. Tatsächlich sitzt er einer grauen Eminenz gegenüber, wenn auch nicht gerade alt, auffallend groß, mit etwas Bauch, vorherrschend ist die laute Stimme. Wohl eben ein privates Gespräch, schließlich legt der Chef auf.

„N‘ Morgen, Kaltofen. Ich hatte Sie gestern schon erwartet.“

„Guten Morgen, Herr Professor, entschuldigen Sie, ich hatte noch zwei Patienten und –

„Schon gut.“ Er winkt ab. „Sie erinnern sich an den Patienten mit der Hämorrhoiden-Salbe letzte Woche?“

Kaltofen muss gar nichts sagen, der Chef spricht gleich weiter. „Sagen Sie, was haben Sie sich dabei gedacht, einem Muslim Heparin zu verschreiben?“

Kaltofen versteht nicht. „Wie meinen Sie das?“

„Sie erinnern sich nicht?“ Der Chef legt ein Blatt Papier auf den Tisch, lesbar für Kaltofen. Schwierig, die kleine Schrift zu entziffern, vermutlich ein Beschwerdebrief.

„Wissen Sie, woraus Heparin besteht?“

Kaltofen überlegt. „Ja, doch, aus Darmschleimhaut.“

„Richtig! Und aus welcher – aus Darmschleimhaut von Schweinen! Können Sie sich vorstellen, dass ein Muslim so was anwendet?“

Kaltofen schaut verdutzt, dann fällt ihm das Gespräch ein. „Das habe ich mit dem Patienten besprochen, er war einverstanden.“

„Kaltofen, Sie müssen lernen, Patienten sind dumm, die haben keine Ahnung. Wir müssen uns auskennen, wozu lernen wir zwölf Jahre!“ Er macht eine Pause.

„Also merken Sie sich die Unterscheidungen halal und haram. Halal heißt erlaubt, haram heißt verboten und Schweinedärme sind nun mal haram. So schwer ist das nicht. Das Gleiche gilt für alkoholhaltigen Hustensaft und Kapseln mit Schweinegelatine. Wir haben einige muslimische Patienten, Männer wie Frauen, die peinlich genau darauf achten, die machen uns die Hölle heiß.“

Ein Ruck mit dem Kopf deutet auf den Brief. Kaltofen weiß nicht, was nun sein Part sein soll. Besser fragt er nicht und tut es doch.

„Soll ich mich entschuldigen?“

„Ist schon passiert.“ Der Professor schaut ihn an. Ole Kaltofen fühlt sich von oben bis unten gecheckt, jede seiner Körperzellen steht zur Schau.

„Also, passen Sie künftig auf. Wenn Sie Fragen haben oder unsicher sind, kommen Sie zu mir, dafür bin ich da.“

„Ja, danke.“ Kaltofen steht auf.

„Und seien Sie pünktlich am Donnerstag zur Lehrveranstaltung.“

„Natürlich.“

12

Den restlichen Tag ist Ole Kaltofen völlig klar: Er hat nichts gelernt in all der Zeit. Nichts in der Schule, nichts im Studium. Abends, in seinem Zimmer, holt er den „Ethos“ vor, die Checkliste für den Arzt. Er blättert, liest kreuz und quer.

Halten Sie Blickkontakt, sprechen Sie langsam, klar und deutlich über mögliche Maßnahmen. Machen Sie Sprechpausen, Ihr Gegenüber muss das Gehörte erst verarbeiten, es kann dauern, bis er antwortet. Bereiten Sie sich auf den Typ Patient vor, wie stark/schwach ist er? Stellen Sie sich auf sein Sprachniveau ein, er kann Ihre Fachbegriffe so wenig kennen, wie er Latein beherrschen muss. Vielleicht denken Sie, dass alle Menschen sich einander ähnlich sind? Dies ist ein weit verbreiteter Irrtum. Tatsächlich gilt, dass wir Menschen auf eine dramatische Weise verschieden sind. Wie groß die Ausprägungen der charakterlichen Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind, hängt ganz davon ab, welche Persönlichkeitstypen Sie vor sich haben. Schauen wir uns dies im Folgenden genauer an: Unser eigenes Modell der Welt ist geprägt von Erfahrungen, Werten, Sozialisation, Erziehung, und wir können niemals in jedweder Art der zwischenmenschlichen Kommunikation davon ausgehen, dass unser Gegenüber das gleiche Modell der Welt in sich trägt. Ziel ist es im Kontakt mit Patienten, sich dieses Landkartenwissens bewusst zu werden und die Landkarte des Gegenübers zu erforschen.

Idealistisch. Davon hatte er in der Uni nichts gehört, so wenig wie in der Praxis, jedenfalls bisher. Freilich sind für ihn Begriffe wie Erfahrungen, Werte, Sozialisation kein Novum. Er schaut in seinen Schrank mit dem Stapel Broschüren; es muss doch etwas geben, was ihm vertraut ist.

Außerdem ist es wichtig, dass Ärztinnen und Ärzte unabhängig von eigenen Interessen und Interessen Dritter informieren. Denn: Werbung ist zwar heutzutage allgegenwärtig – in eine Praxis gehört sie allerdings nicht; schließlich geht es um Gesundheit und nicht um den Verkauf von medizinischen Leistungen und Mitteln.

Er schlägt auch dieses Heft zu. Noch ein paar markige Überschriften auf zwei Cover fallen ihm ins Auge:

„Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance.“

„Die Verantwortung für die Kommunikation liegt beim Sender.“

Dass er nicht der große Kommunikator ist, das weiß er selbst, dafür hat er sich auch nie gehalten. Sein Studium heißt nicht Kommunikationswissenschaften, sondern Medizin. Für heute hat er genug.

13

Seit einige Pfarreien zusammengelegt wurden lebt Pastor Kaltofen hier. Er fühlt sich wohl im Pfarrhaus mit genügend Platz für die Belange seiner Gemeinde. Wenn ihm auch manche Tage lang erscheinen, zu lang für seine fünfundfünfzig Jahre, das ist kein Pappenstiel.

Er achtet auf sich, vermeidet ein zweites Bier gegen den sprichwörtlichen Bierbauch. Störend findet er lediglich sein etwas schütteres Haar, dagegen ist nichts zu machen. Betty beruhigte ihn immer wieder, ihr fiele das nicht auf. Jetzt wohnt sie mit den Kindern im Haus ihrer verstorbenen Eltern. Ohnehin lag eine Veränderung an, der empfohlene Wechsel einer Pfarrgemeinde nach zehn Jahren. Jetzt hat er vier Gemeinden gleichzeitig zu betreuen, zwei kleine, zwei größere. Anstandslos gestand man ihm eine Pfarrsekretärin zu. Nicht dass er mit Bettys Arbeit unzufrieden gewesen wäre – sie bemühte sich nach Kräften – aber Elisabeths professionelle Arbeit entlastet. Er ist sehr zufrieden, die Arbeitstage verlaufen ungestört.

Die Uhr schlägt siebenmal. Er räumt den Frühstückstisch ab, eine große Teetasse, das Glas Marmelade, die Butterdose. Das Telefon klingelt. Um diese Zeit ist das Pfarrbüro noch nicht besetzt, variiert Elisabeth mit den Zeiten, laufen die Telefonate bei ihm auf. Nicht ungewöhnlich, ein Anruf vom örtlichen Krankenhaus, dennoch erschrickt er. Ein junger Mann wünsche die Krankensalbung, ob der Pastor kommen könne. Selbstverständlich. Er notiert Namen, Station, die nötigsten Angaben des Sterbenden.

Keine halbe Stunde später sitzt Pastor Kaltofen am Bett des jungen Mannes, allein im Zimmer bei zugezogenem Vorhang, ein Gebot des Schweigens.

Leicht erhöht, mit Kissen im Rücken, kauert der junge Mann im Bett, abgemagert, das Haar ausgefallen. Siebenundzwanzig Jahre, so alt wie Ole. Verschränkt liegen die Hände auf der Brust, tiefe Augenhöhlen zwischen den Backenknochen zeichnen den Tod.

„Ich bin Pastor, Sie haben um die Krankensalbung gebeten.“ Als Pastor spricht Johannes Kaltofen leise, fragt, ob ihn der Kranke verstehe. Der Junge nickt, flüstert „ja“, sieht dem Pastor in die Augen, der beginnt die Versehgarnitur aufzubauen, das Kreuz, die Schälchen, das Öl.

„Möchten Sie jemanden benachrichtigen, gibt es etwas, was Sie klären müssen?“

„Nein, meine Mutter ist auf dem Rückflug.“

„Sonst noch irgendjemand?“ Der Pastor wartet. Wie oft mochte der Junge mit seiner Mutter geweint haben, sein Leben muss zu Ende gehen, noch nicht richtig begonnen.

„Nein. Niemand.“

„Ihr Vater …“

Der Junge schüttelt den Kopf. Stille. Auf die wiederholte Frage nach dem Vater kommt diesmal ein entschlossenes „Nein.“

„Vielleicht wäre es sein größter Wunsch, Sie zu sehen.“