Glasaale - Gisela Janocha - E-Book

Glasaale E-Book

Gisela Janocha

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Beschreibung

Episoden Jede der Geschichten leuchtet ins Innere der Gemüter. Mit Witz und Ironie. Eine Kinderliebe geht zu Ende. Was würde Nietzsche sagen. Ist es Zuversicht, die ein Ereignis lenkt? Woran vergessene Männer leiden, die nicht sprechen wollen. Wovon sie sich selbst erzählen. Ein Bedrängter und seine Gedanken. Was alles passiert, bis Reichtum nebensächlich wird. Eine Hass-Liebe und die virtuelle Welt. Dazu ein erotisch verwirrter Mann. Alles, was Musik nur leisten kann. Wenn Irrtum und Verbrechen mit einem Schlag zerfallen.

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Das Unbestimmte

ist reicher an Resultaten.

Wassily Kandinsky

Inhalt

Episoden

Es gibt keine Tatsachen

Freitag, der 13

Nächtlicher Appell

Die Stimme

Wie Oft?

Traum um Traum

Manfred

Steinzeiten

Das heilige Gesicht

Eines Abends

In der Unterführung

Mein neuer Vorsatz

Ich und Bill

Ver-schenkt

Meine Nummer 6

Damals und ein Geheimnis

Von Menschen & Hunden

Ein Cappuccino im Freien

Zu nah am See

Ist das die Polizei?

Notizen aus dem Diesseits

Agapi Mou

Unterm Salz

Der berauschte Baum

Flüchtig im Land

Glasaale

1

Es gibt keine Tatsachen

“Es gibt keine Tatsachen, nur Interpretationen.“

Mir müssen Sie das nicht glauben, aber Nietzsche?

Schon immer war ich verschrien als Wahrheitsfanatiker. Fanatikerin. Dabei wollte ich nur ehrlich sein und erwartete das Gleiche von andern. Weil Ehrlichkeit im Einklang mit der Wahrheit steht.

Meine kleine Cousine, sie war damals schon nicht mehr klein, als sie befand: „Ehrlichkeit ist kein Wert an sich.“ Wenn ich an ihre Mutter denke, meine Tante, ihr Zauberwort hieß Diplomatie.

Zugegeben, ihr Mann war etwas nervös, und so fragte er seine Frau wohl zu häufig, was denn wieder los sei, weshalb die Kleine so laut schreit. Wie oft hörte ich das, damals, als sie mich aufgenommen hatten nach der Scheidung meiner Eltern.

Stets wehrte meine Tante die Frage ihres Mannes ab, „ach nichts“, sagte sie, „was soll schon los sein.“

Vielleicht war‘s in ihren Augen ja nichts, nichts Besonderes. Ihren Mann jedenfalls hat das ziemlich verärgert, mein Onkel schimpfte, auch wenn er gar keine Antwort bekam auf seine Standardfrage.

Grundsätzlich möchte ich den Sinn um die Frage meines Onkels offen lassen. Übrigens war er von der gleichen Wahrheitsliebe wie ich. Oder umgekehrt.

Angenommen, der Grund für den momentanen Krawall wäre der Bruch einer Vase gewesen, einer aus der Ming Dynastie – mindestens aus dem 17. Jahrhundert, die sie zwar nicht hatten, aber nur mal so angedacht. Verständlich, ein solcher Verlust wäre niemandem so ohne weiteres beizubringen. Durch das Schweigen meiner Tante wären freilich beide, sie und ihr Mann, momentan geschont geblieben. In diesem Fall hätte meine Tante vermutlich ganz fix eine Kopie dieser Vase besorgt und wäre damit ganz schön weit entfernt gewesen von der Wahrheit. Aber wie weit eigentlich?

Ist nun die unausgesprochene Lüge keine Lüge? Wie gesagt, nur im Fall solchen Besitzes. Weil es solche Werte in diesem Haushalt aber nicht gab, konnte es deshalb nur um ein bisschen Verschweigen gehen, weil ohne oder geringen materiellen Wert, nur um ein bisschen Lüge?

Sicher war nur, meine kleine Cousine hatte wieder etwas angestellt. Hätte ihr erbitterter Vater nun konkret gefragt: „Ist eben die Ming-Vase von Cornelis Kruys kaputt gegangen?“

Dann allerdings hätte seine Frau bitterböse gelogen, wenn sie diese Ming Vase gehabt hätten und diese kaputt gegangen wäre und mein Onkel mit einem „ach, nichts“ abgespeist worden wäre auf seine konkrete Frage.

Auch in preiswerteren Fällen wäre nicht jeder in Gewissenskonflikt geraten. Mochte meine Tante ihrem Mann etwas nicht sagen, hieß ihre heimliche Devise ‚das kann er sich doch jetzt denken‘.

Ob vage Vermutungen ausreichen, der Wahrheit gerecht zu werden?

Ob es nun um mehr oder weniger Wertvolles geht, das Eigentliche bleibt offen. Eben dann, wenn klar ist, der andere hält nicht das Gleiche für wahr wie man selbst. Nicht offen dagegen blieb die Ansicht meines Onkels in puncto seiner „kleinen Spätlese“, seinem dritten Kind. Für ihn gab es keinen Zweifel an der grenzenlosen Nachsicht seiner Frau gegenüber ihrem einzigen Kind. Sie galt als spät Gebärdende, ärztlicherseits vermutet als Grund für die ziemlich komplizierte Steißgeburt.

Was kann an all dem nun stimmen? Selbst Nietzsche wäre an dieser Stelle in Sachen Interpretationen eher ungeeignet als Ratgeber. Meine kleine Cousine war ein kleiner Besen. Aber das sagten die andern, nicht wir, wir dachten das nicht einmal. Erst später, in der Rückschau, als sie pubertär und unzugänglich geworden war, puzzelten wir uns einiges Ursächliche zusammen, mein Onkel und ich. Macht das nun im Nachhinein den kleinen Besen erst wahr? Oder eben unwahr, weil wir das damals gar nicht empfunden hatten. Trotz der kühnen Erkenntnis meines Onkels, alles habe schon an der verkehrten Geburt gelegen, weil der kleine Besen mit den Füßen zuerst auf die Welt gekommen war, also mit den Borsten. Heutzutage gilt die Steißgeburt durchaus als normal, damit ist der gewagte Rückschluss meines Onkels doppelt hinfällig geworden. Wie auch immer – wir haben sie zu dritt vergöttert, unsere rosige Steißgeburt, mein Onkel, meine Tante und ich. Für sie wäre alles Gesagte komplett verzerrt. Auch mein Onkel würde so manches abschwächen. Und meine Cousine fände vermutlich jede Zeile feindselig. Für sie läge allein die medizinisch dokumentierte Steißgeburt im Bereich des Möglichen. Nur für den Fall, stellte jemand solche Fragen.

2

Freitag, der 13.

Schreibe ich die Zahl 13 in Buchstaben – dreizehn – ist das falsch. Man schreibt die Ziffern 1 und 3 und zwar ab der Zahl 13. Ob ein solcher Fehler schon der doppelte Beginn eines Unglücks sein kann? Für alle Fälle ist die Zimmernummer 13 in Hotels meist nicht zu finden. Dort gibt es auch kein Gericht zum Preis von 13 Euro. Einem Freitag wird das ziemlich egal sein, jedem Freitag, im Gegensatz zu meiner Mutti damals.

„Ach Gott“, sagte sie, „ausgerechnet am Freitag, dem 13. fahren wir.“

Wir saßen im Zug zur Oma und die Wiesen flitzen vorbei wie die Bahnhöfe und Häuser. Wie gebannt schaute ich dem Auf und Ab der Leitungen zu, die plötzlich eins wurden – wo war jetzt bloß das andere Kabel. Einmal sagte die Mutti, das eine ist die Stromleitung, dann wieder, das sind Telefonkabel. Ich kannte nichts von beiden und wir schauten weiter aus dem Fenster. Eine Schafherde. Wieder hörte ich meine Mutti sagen „Schäfchen zur Linken mit Freude dir winken.“ Sie interessierten mich weniger, lieber verschwand ich unter den Sitzen und kam mit schwarzen Händen wieder vor. Weil ich selten brav sitzen blieb, hörte ich immer wieder, dass ich aussehe wie ein Schlotfeger. Das kannte ich schon, ich wusste, der Schlotfeger bringt Glück. Genau wie die vielen Schafe auf den Wiesen, aber nur die auf einer Seite waren gut. Bald kam mir die Ahnung von den anderen Schafen, also denen zur andern Seite. Ich fragte aber nicht, was mit denen wäre. Bestimmt etwas anderes als das mit der schwarzen Katze, die Unglück bringt, wie die Oma sagte, eine weiße Katze hatte ich ja noch nie gesehen. Die Oma sprach aber auch von diesen zwei Seiten, je nachdem von welcher die Katze kam war entscheidend für Glück oder Pech. Mir war das egal, ich hoffte weiter auf eine ganz weiße Katze.

Dann konnte ich zwischen rechts und links unterscheiden und war verwundert. Auf dem Bauernhof der Oma hatte das Schaf Liesl seinen Stall links vom Haus, aber nur wenn man durch das große Tor hereinkam, ging man wieder, stand die Liesl auf der verkehrten, auf der Unglücksseite. Oft war ich gefasst auf etwas Schlimmes und wartete, aber der Liesl war nichts anzumerken und es passierte auch nichts. Nicht einmal wenn die Liesl im Hof herumlief, und das meistens auf der falschen Seite, tat sich nichts.

Ob Schafe oder Schlotfeger, ob Katze in Schwarz oder Weiß, die Tage verlaufen unaufgeregt. Selbst Freitag der 13. bleibt in Sachen Pech ein lascher Tag. Freilich weiß ich längst, an Pech von rechts und Glück von links ist nichts dran. Außer, dass die 13 die Glückszahl meines Mannes ist. Übrigens ist unser nächstes Projekt auf den 13. datiert.

3

Nächtlicher Appell

Mitternacht. Eine junge Frau ist auf dem Heimweg nach einem Betriebsfest, noch ein paar U-Bahn-Stationen vor sich. Es ist Mai mit ersten Sommernächten, die Fenster sind geöffnet, ein lauer Wind geht durch.

Die U-Bahn hält, ein junger Mann steigt zu. Verfilzte Zöpfchen, in der Hand ein Glas Bier, fast ausgetrunken. Etwa zwei Meter steht er vor ihr und sieht sie an. Er scheint besorgt, endlich sagt er etwas.

„Wissen Sie eigentlich, warum es plötzlich so warm geworden ist?“ Das klang besonders nachdrücklich. „Nein“, sagt sie und ist überrascht, was ihn daran verwundert zu dieser Jahreszeit. Ereifert spricht er weiter. „Weil heute in Pakistan die dritte Atombombe gezündet wurde!“ Die Frau sieht ihn an, wie man einen Spinner ansieht.

„Ich weiß, ich bin nicht besonders glaubwürdig mit meinem Glas Bier in der Hand – aber ich versichere Ihnen, das heißt nichts Gutes!“ Er beugt sich in ihre Richtung, „haben Sie denn noch nichts gehört?“

„Nein“, antwortet sie, „ich werde gleich Nachrichten einschalten, wenn ich Zuhause bin.“

Seine Gesichtszüge sind weich, seine Ausstrahlung ist sanft, trotz seiner Erregung. Für die wenigen Fahrgäste existiert er nicht. Sie steigt aus.

Die erste und ausführlichste Meldung des Nachrichtensprechers betrifft den Atomversuch Pakistans. Es fallen Begriffe wie Moslembombe, Hindubombe. „Christusbombe“ schießt es der Frau durch den Kopf. Es ist schon spät.

4

Die Stimme

Alle saßen bereits. Etwas verstohlen schaute ich in die Runde, musterte die Köpfe. Frauen, Mädchen, wieder in der Überzahl. Die paar Männer, unauffällig. Bis auf einen. Mein Blick hing an ihm. Groß und eher kompakt saß der Mann da, kurzes, brünettes Haar, Kleidung alltäglich. Er wirkte abwesend, fixierte einen Punkt.

Was wollte einer auf einer Weiterbildung, der so ziellos vor sich hinsah? Der achtgeben musste, dass sein offener Mund nicht austrocknete. Dabei war der Mann nicht alt, vielleicht jünger als ich. So lange ich ihn ansah, sah ich einen Behinderten. Ich weiß, nichts ist mehr zu respektieren als ein eifriger Mensch, gerade, wenn ihn jeder Erfolg große Mühe kostet. Er musste Geld haben, bestimmt geerbt, ein Sicherheitsfond seiner Eltern. Wie gut für ihn, er wird das Geld brauchen, die Kosten für Schulung plus Prüfungsgebühren sind nicht ohne, sollte er bis dahin überhaupt durchhalten. Ich wusste nicht, ab dem wievielten Mal ein Gnadengesuch akzeptiert wird.

Vorstellungsrunde. Wir sagten alle unsere Namen auf, Herkunft, Alter, Familienstand. Jetzt war er dran, dem vermutlich schon jetzt die Rolle des Außenseiters zukam. Er stand auf. Er war als einziger aufgestanden, stand kerzengerade, begrüßte die Dozentin, drehte sich den Teilnehmern zu, begrüßte uns. Es wurde ungewöhnlich still im Saal. Worte schwangen, erhaben, bescheiden erhaben, nachdrücklich und klar seine Stimme. Nur er erzählte von seinem Job, von seinen Mitarbeitern, auf dem Gebiet der Buchhaltung versierter als er. Deshalb nimmt er an dieser Fortbildung teil, ohne unbedingt die volle Zeit abzusitzen.

Der Raum war erfüllt von etwas Einzigartigem, von der Stimme dieses einen Mannes.

5

Wie oft?

Zu selten erlebe ich das wie jetzt. Sollte ich zu Protokoll geben müssen, wie oft, würde ich sagen, etwa 1 x die Woche. Sonst Halbdunkel. Zugegeben, ich höre sie reden, und manchmal mehr als das. Ob das unterhaltsam ist? Ach wissen Sie, in meinem nicht gerade kurzen Leben bin ich kühl geblieben, so bin ich beschaffen. Anspruchslos. Kennen Sie das Wort kontemplativ? Ich kannte es auch nicht, bis mir das Herr Löffler von nebenan erklärt hat. Dass er mir damit vorkam wie einer, der jede Not zur eigenen Tugend macht, behielt ich freilich für mich. Ach ja, so ging es mir mit vielem. Es verwundert Sie, etwas (noch) nicht zu wissen, nein, Sie genieren sich sogar dafür? Ich bitte Sie, denken Sie an mich! Einmal die Woche sehe ich etwas Licht, natürlich oder künstlich – das kommt ganz auf ihre Stimmung an und vor allem darauf, worüber sie redet, und mit wem sie telefoniert. Woher soll ich mehr wissen als ich höre? Ich wohne hier, quasi zur Untermiete und umsonst. Aber ich habe ein Plus, sagen wir, einen gemachten Vorteil. Erschrecken Sie nicht: Es ist mein Stachel, vielleicht gefällt Ihnen Dorn ja besser. Aber niemals steche ich zu ohne Anlass, ohne Auftrag. Ob ich zweckmäßig bin – ließe sie mich sonst hier? Ich weiß von brutalen Säuberungsaktionen früherer Nachbarn (Frau Gabler könnte viel erzählen), vom Abschieben ins Niemandsland. So habe ich mich auch schon gefühlt, vergessen, unnütz, allein gelassen. Nein, noch blüht mir das Ende nicht. Vielleicht bald? Wer will schon wissen, wie lange ich hier noch zu Diensten sein darf, wenigstens einmal die Woche. Sie meinen, ich werde zusehends mehr begehrt sein? Danke, das tut mir gut. Damit haben Sie nicht einmal Unrecht, ich höre sie ja diskutieren über den teuren Strom, Energiewende sagen sie dann immer. Meine Wirtin ist zum Glück eine, die Manuelles Elektrischem vorzieht. Immer morgens, wissen Sie, öffnet sie die Schublade und nimmt mich heraus. Sie legt mich auf die Dose, drückt meinen Dorn hinein und klack – fließt die Kaffeesahne. Das war’s – bis nächste Woche.

6

Traum um Traum

Ich träume nicht wie andere. Mein Mann, der sich von einem Schloss ins andere träumt bis Versailles. Der ganze Filme abspult über reale Politiker. Oder mein Bruder, der von einer Weissagung in die andere taucht, aber keine befolgt.

Ich dagegen träume eher gar nicht und wenn, Banales, allenfalls ein wenig schräg. Lieblingsstellen des 2. Klavierkonzerts von Camille Saint-Saëns. (Dabei scheiterte ich am Klavierunterricht.) Dass ich schwerelos aus dem Fenster fliege, seit langem wieder einmal seit der Kindheit. Dass ich auf irreal hohem Gebäude stehe, das immer enger wird und mich immer höher drängt. Ich weiß, was Psychologen jetzt denken. Aber ich weiß nicht ob mir dieser Traum lieber ist als eine leere Wohnung. Eben gemietet, kaum eingerichtet, muss ich ausziehen. Oder mir kommen selbst Bedenken – habe ich richtig gehandelt, richtig entschieden? Sollte ich nicht besser die vorige Wohnung behalten haben? Ginge ich zurück, was schwer möglich wäre, mir blieb nicht mehr, als zwei leere Wohnungen.

Woher kommt das nur. Sie waren gut eingerichtet, alle meine Domizile, sogar Refugium sind sie für mich. Kaum hatte ich Probleme mit Entscheidungen. Da ist der Vorwurf meines Bruder, ich ginge immer den leichteren Weg. Den Weg des Opportunisten, das sprach er nicht aus. Und ich fand, er macht sich das Leben selbst schwer und ich sprach es aus.

Einmal stand ich vor einer Entscheidung, keine fürs Leben, ich dachte darüber nach. Dann träumte ich von einem Waldweg. Wir liefen nebeneinander entlang, mein Bruder und ich, was im Leben kaum vorkam. Diesmal hatten wir eine gute Stimmung, wir redeten, er erzählte mir, das Wetter war angenehm. Auf einmal lag ein riesengroßer Erdhaufen vor uns, mitten am Weg. Ich stockte, völlig überrascht, erschrocken, woher diese Masse kam. Jetzt gab mein Bruder mir einen Rat. Er sagte‚ ‚geh einfach außen herum‘.

7

Manfred

Sie waren noch nicht einmal halb erwachsen. Aber jede sprach schon von ihrem Freund. Nur Anke nicht. Immer wieder drängte ihre Mutter – es wäre höchste Zeit die Puppen samt Spielzeug auf den Speicher zu bringen.

Während Ankes Aktion trafen sich die Mitschülerinnen im Park mit Mitschülern und andern Jungs. Es soll bereits gegen Abend gewesen sein, sogar unanständig wäre es zugegangen. Sehr sogar, tadelte die Lehrerin am nächsten Morgen. Anke verstand nicht – was konnte falsch daran sein, sich im Park zu treffen. Und wie kam die Lehrerin dazu, auf einmal das Vorlesen zu streichen. Jede Woche durften sie ein paar Mal lauschen, wenn Frau Mallich während der letzten Viertelstunde vorlas aus einem Buch, das die Klasse selbst ausgesucht hatte. Jetzt nicht mehr, sagte Frau Mallich. Das hörte sich an wie eine Strafe. Anke verstand nichts. Die andern Mädels wie die Jungs schauten auf den Schultisch vor sich und schwiegen. Auch Manfred wusste wohl Bescheid, der nie mit den Jungs zu sehen war. Anke sagte nichts und fragte nichts. Alle wussten wohl, worum es ging. Nur Anke nicht. Die Einzige, die noch keinen Freund hatte. Aber Anke hatte Linne, ihre beste Freundin. Wenn sie auch heute nicht mitkam ins Freibad.

Anke ging allein. Wechselte zuvor ihre Unterwäsche gegen den Badeanzug, hängte ihre Badetasche ans Fahrrad und fuhr los. Schade, dass Linne nicht kommen konnte. Dafür saß Manfred wie immer auf seinem Handtuch am kleinen Hang und schaute aufs Wasser. Nie hatte er ein Buch mit, auch kein Comic, Manfred saß einfach da. Er sah auch so aus, als freute er sich, als Anke kam. Er lächelte und es war klar, dass sie sich zu ihm setzte. Sie stellte ihre Tasche ab und breitete die Decke aus. Ob Manfred mit ins Wasser kommt? Ja, sagte er. Und die beiden schwammen ein paar Runden im Natur-Bad, einem See. Das heißt, Anke schwamm, Manfred wollte nach einer Runde wieder zurück auf sein Handtuch. Nie wollte er länger schwimmen. Heute fragte Anke, weshalb eigentlich, weil sie etwas fragen wollte. Und Manfred erzählte von seinem Herzfehler. Sie ließ sich nichts anmerken, dachte, so muss sich ein Schock anfühlen, kürzlich hatten sie in Biologie davon gehört.

Ob Manfred Schmerzen hat, fragte sie. Nein, er darf sich halt nicht anstrengen. Anke dachte an die Jungs, die über Manfred lachten, die erzählten, dass er beim Sport immer nur auf der Bank sitzt und kneift. Weshalb er den andern nichts sagt von seinem kranken Herzen, fragte Anke. Weil er sich schämt, sagte Manfred, er will nicht immer anders sein. Nun wusste sie Bescheid. Nie sprach sie darüber, auch nicht mit Linne. Jetzt war Manfred Ankes Freund. Im Bad, auf dem Schulhof. Manchmal gingen sie nach der Schule ein Stück gemeinsam, manchmal einen Umweg über die Wiese und erklärten sich gegenseitig, was sie noch wussten vom Unterricht: dass Insekten immer sechs Beine haben, dass die Bienen mit ihrem Schwänzeltanz andere informieren, wo es Blüten und Nektar gibt. Dass sich Mauersegler paaren in der Luft und im Fliegen schlafen können; der Mauersegler war Vogel des Jahres.

Jeden Tag waren Anke und Manfred zusammen. Bis er im nächsten Jahr immer häufiger im Unterricht fehlte. Es war noch eher Winter, ein sonniger Tag, als die ganze Klasse schweigend hinter Manfred herlief.

8

Steinzeiten

Die Farbe ist auffallend. Zwischen vielen andern, fahlen, entdecke ich ihn. Er wird nicht dazugehören, ursprünglich. Irgendjemand könnte ihn hineingeworfen haben, weil er ihn loswerden wollte oder weil von ihm auch etwas ins Meer kommen sollte. Irgendwann. Und irgendwann hat ihn die Strömung angespült, mir fast vor die Füße, dass ich nicht weitergehen mag.

Ich halte ihn in der Hand. Seine Kanten sind rund, wohl nach einer ordentlichen Strecke. Von einer Amphore wird er kaum stammen, trotz mancher Ausgrabungen, nah unserer Stadt. Am liebsten würde ich ihm ein Kompliment machen wegen seiner zurückhaltend rötlichen Naturfarbe und weil seine Form so gut in meiner Hand liegt. Überall ist er abgeschlagen, abgerundet, mein kleiner Findling.

Jetzt erinnert er mich an den Steinbruch, von dem mir meine Tante oft als Kind erzählt hatte, zu Zeiten, als sie und ihr Mann das Haus bauten. Mit einfachsten Mitteln hätten sie die Steine aus dem Steinbruch geschlagen und zum Ort ihres künftigen Heims transportiert. Wie anstrengend das gewesen sei, sagte sie, wieviel Kraft und Verzicht ihr neu gebautes Haus gekostet habe.

Ich wusste nicht was das ist, ein Steinbruch, aber es musste das Schwierigste sein, was ein Mensch nur leisten kann. Immer wieder einmal war mir das in den Sinn gekommen, die Geschichte mit dem Steinbruch.

Das Haus meiner Tante und meines Onkels war sehr schön geworden, es lag am Hang, hatte eine Veranda und einen großzügigen Blumengarten mit einer Treppe davor. Wie oft war ich als Kind da hoch gelaufen, um mit meinen drei Cousins zu spielen. Wie oft waren wir durch die Weinberge gestreift. Es war hügelig, felsig, wir stibitzten Trauben und schauten ins Tal zum glitzernden Fluss.

Spätestens um 3:00 Uhr nachmittags rief meine Tante nach uns, sie hatte Brote geschmiert, dick mit Butter und Marmelade. Stets standen zwei große Teller auf der schmalen Mauer der Veranda.

Wie traurig sieht die Veranda heute aus, fahl und abgeblättert der Putz. Sie sind gestorben, gar nicht alt, erst mein Onkel, ein Jahr später meine Tante. Bald wird ihre Enkelin dort einziehen, sie ist schwanger und heiratet nächsten Monat. Vielleicht wird es wieder Blumen im Garten geben. Das junge Paar ist voller Freude auf das Baby. Das Kind wird erwachsen werden, wohl heiraten, Kinder bekommen. Vielleicht werden auch sie in diesem Haus aufwachsen. Vom Steinbruch wird keiner mehr sprechen. Und vom Stein in meiner Hand weiß niemand.

9

Das heilige Gesicht

Als Kind hatte ich eine große Schwester. Ich habe sie noch immer, aber ich bin kein Kind mehr und Silvie ist einfach meine Schwester.

Damals, als ich in Silvie noch die Große sah, vertraute ich ihr manches an und ich musste wissen, was sie dachte. Ob sie meine neue Freundin in Ordnung findet oder meine Lehrerin, ob ihr der Hit auf Nummer 1 auch so gut gefällt wie mir. Nein, antwortete sie meistens. Ich hörte auf sie, denn sie wusste immer mehr als ich. Sie war auch informiert über den Tod des Papstes. Ein ganz besonderer Papst, wie sie sagte, und sie wusste, wann die Trauerfeier im Radio übertragen wird. Es war an einem Freitag, zum Glück, denn freitags ging unser Papa in seinen Schach-Club und wir konnten ungeniert Radio hören. Diesmal waren es nicht die Hits der Woche.

Silvie hatte ihren Stuhl vors Radio gestellt, saß stumm da und trauerte. Ich aber konnte mich nicht entscheiden, wie ich mich verhalten sollte,