Der Mann ohne Gewissen - Max Kretzer - E-Book

Der Mann ohne Gewissen E-Book

Max Kretzer

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Beschreibung

"Der Mann ohne Gewissen" gilt als Kretzers erfolgreichster Roman und befasst sich mit den sozialen Verhältnissen und teils zwielichtigen Gestalten der Gründerzeit.

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Der Mann ohne Gewissen

Max Kretzer

Inhalt:

Max Kretzer – Biografie und Bibliografie

Der Mann ohne Gewissen

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

Der Mann ohne Gewissen, Max Kretzer

Jazzybee Verlag Jürgen Beck

Loschberg 9

86450 Altenmünster

ISBN: 9783849629946

www.jazzybee-verlag.de

[email protected]

Max Kretzer – Biografie und Bibliografie

Deutscher Schriftsteller, geb. 7. Juni 1854 in Posen, verstorben am 15. Juli 1941 in Berlin. Kam früh nach Berlin, wo er auf autodidaktischem Wege seine Bildung erwarb und mit den Romanen und Erzählungen: »Die beiden Genossen« (Berl. 1880; 4. Aufl., Leipz. 1901), »Sonderbare Schwärmer« (Berl. 1881, 2 Bde., u. ö.), »Die Betrogenen« (das. 1882, 2 Bde.; 5. Aufl., Leipz. 1901), »Die Verkommenen« (Dresd. 1883, 2 Bde.; 3. Aufl., Leipz. 1900), »Berliner Novellen und Sittenbilder« (Jena 1883, 2 Bde.) ein entschiedenes Talent für Schilderung des Volkes, aber auch die Neigung zu greller Übertreibung der Sittenschilderung bekundete. Schon die Erzählungen: »Im Riesennest« (Leipz. 1886, 2. Aufl. 1895) und »Im Sündenbabel« (das. 1886), namentlich aber die Romane: »Meister Timpe« (Berl. 1888; 3. Aufl., Leipz. 1901), »Ein verschlossener Mensch« (Leipz. 1888, 2 Bde.; 2. Aufl. 1900) und »Die Bergpredigt« (Dresd. 1890, 2 Bde.; 4. Aufl., Leipz. 1901) zeigten eine bedeutende Klärung und einen innern Fortschritt Kretzers, doch trat auch seine sozialistische Tendenz schärfer hervor. Ferner erschienen von ihm die Romane: »Der Millionenbauer« (Leipz. 1891, 2 Bde.; 2. Aufl. 1896), »Onkel Fifi« (Berl. 1891, 2. Aufl. 1897), »Irrlichter und Gespenster« (Weim. 1892, 3 Bde.), »Die Buchhalterin« (Dresd 1894; kt. Aufl., Leipz. 1901), »Die gute Tochter« (Dresd. 1895; 2. Aufl., Leipz. 1901), »Das Gesicht Christi« (Dresd. 1897), »Verbundene Augen« (Berl. 1899, 2 Bde.), »Der Holzhändler« (das. 1900, 2 Bde.), »Warum?« (Dresd. 1900), »Die Madonna vom Grunewald« (Leipz. 1901), »Die Sphinx in Trauer« (Berl. 1903), »Treibende Kräfte« (das. 1903), »Familiensklaven« (das. 1904); die Novellen: »Das bunte Buch« (Dresd. 1889), »Ein Unberühmter und andre Geschichten« (das. 1895), »Frau von Mitleid und andre Novellen« (Berl. 1896), »Die Blinde. Maler Ulrich« (2. Aufl., Dresd. 1897), »Furcht vor dem Heim und andre Novellen« (Berl. 1897); »Das Rätsel des Todes und andre Geschichten« (Leipz. 1901) u. a. Auch schrieb K. mehrere Schauspiele: »Bürgerlicher Tod« (Dresd. 1888), »Der Millionenbauer« (Leipz. 1891, Bearbeitung seines Romans), »Der Sohn der Frau« (Dresd. 1899), »Die Verderberin« (Berl. 1900) sowie das Possenspiel »Die Kunst zu heiraten« (das. 1900) und die fünfaktige Märchendichtung »Der wandernde Taler« (Leipz. 1902). Vgl. Kloß, Max K. (Dresd. 1895).

Der Mann ohne Gewissen

1.

Draußen war es noch stockdunkel, als August Gläser mit einem lauten Schrei aus einem wüsten Traume erwachte. Im Schlafe hatte er an dem Kreuze eines entsetzlich hohen Kirchturms gehangen, bis er die Kraft verlor und in die fürchterliche Tiefe stürzte. Und so saß er jetzt einige Augenblicke wie gelähmt da, mit dem Gefühle eines Menschen, der einen unheimlichen Druck im Gehirn verspürt, den er erst allmählich überwinden muß.

"Was hast du denn?" fragte Anna Schiman, die den Platz auf dem langen, niedrigen Holzkoffer mit ihm teilte und nun besorgt seine große, knochige Hand mit ihrer kleinen, runden tätschelte. Sie hatte immer warme Hände, die sie während der ganzen Fahrt unter dem dicken Seelenwärmer verborgen hielt. Und so empfand er im Augenblick das Wohlige dieses Streichelns, mit dem sie ihn des Nachts hin und wieder ermuntert hatte, um zugleich immer aufs neue damit anzudeuten, daß er sich ihres unbeschränkten Besitzes erfreuen dürfe.

"Sind wir schon da?" gab er zurück und reckte, nun zur Besinnung gekommen, den langen Hals aus dem dicken, gestrickten Schal hervor, den er sich mehrfach umgewürgt hatte und dessen Knotenenden unter den Knöpfen des dicken Flausrockes verborgen waren.

Sie lachte, denn jedesmal, wenn bei einer Station das Gerassel der Eisenbahn langsam erstarb und der Wagen die letzten Püffe bekam, die sich endlos fortzusetzen schienen, richtete er dieselbe Frage an sie wie jemand, der, fortwährend wie betäubt, nichts versäumen kann, weil eine andere gute Seele ihn stets daran erinnert.

"Es ist noch lange nicht so weit, willst du eine Stulle haben?" sagte sie dann und griff auch sofort in den Klappkorb, der neben ihr stand und in dem sich das Eßmaterial für eine ganze Woche befand.

Er nickte nur, denn stets hatte er Hunger, weil sein unergründlicher langer Magen immer der Arbeit bedurfte, falls die Langeweile nicht durch das Tabakrauchen getötet wurde. Und so biß Gläser gierig in das dick bestrichene Schmalzbrot hinein, dessen Umfang dem eines kleinen Tellers glich. Er sagte kein Wort dabei, ließ aber nun die beweglichen Augen, aus denen er sich den letzten Schlaf wischte, durch den langen Wagen vierter Klasse schweifen, in dem die Fahrgäste, fast unkennbar im trüben Schein der nur winzig brennenden Flamme an der Decke, auf ihren geringen Habseligkeiten wild durcheinander lagen und hockten gleich den Überresten menschlichen Unglücks, die, über der letzten Hoffnung brütend, allmählich sanft entschlummert waren. In dem kahlen Kasten, der keine Bänke hatte, waren Männer, Frauen und Kinder eng zusammengepfercht wie eine einzige große Familie, in der keins auf das andere Rücksicht zu nehmen brauchte. Man hörte das Atmen, ohne die Gesichter zu sehen, denn die strenge Kälte dieser Novembernacht hatte die Reisenden dazu getrieben, sich bis über die Ohren zu vermummen, und so sah Gläser unförmliche dunkle Körper, die äußerlich kein Leben zeigten. Nur gerade unter der Glaskuppel der Lampe schimmerten die bleichen Gesichter zweier Kinder, die Arm in Arm in dem Schoße ihrer Mutter lagen, einer mageren, noch jungen Frau, die, ganz in einen alten Mantel gehüllt, den Rücken gegen eine große Kiste gelehnt hatte und deren Haupt wie das einer armen Madonna weit auf der Brust ruhte.

Trotzdem dieser Anblick etwas Rührendes, fast versöhnendes mit dem Schicksal all der zusammengewürfelten Menschen hatte, empfand Gläser nichts Besonderes dabei. Ein anderer hätte sich an dem unschuldigen Reiz dieser kleinen Wesen erfreut, die einer unbestimmten Zukunft entgegengetragen wurden – er sah nur das alltägliche Leben darin, den Stumpfsinn der Masse, der, ob schlafend oder wachend, sein ewiges Geleise zog.

"Hast du denn ein bissel gedruselt?" fragte er endlich, nachdem er sich mit seinem durchdringenden Blick davon überzeugt hatte, daß die ganze Gesellschaft noch beisammen war.

Anna Schiman verneinte. Einmal sei sie nahe daran gewesen, aber ihr Nachbar habe sie immer wieder munter erhalten. Neben ihr auf einem Sack, gegen die Außenwand gedrückt, saß ein polnischer Jude in langem Kaftan und mit Ohrenlocken, dessen hohler Husten sich wie das verlorene Krächzen eines Raben anhörte. Er kam aus Kattowitz, von der äußersten Grenze Oberschlesiens, und hatte die weite Reise nach Berlin nur zu dem Zweck unternommen, um sich einem reichen, wohltätigen Glaubensgenossen vorzustellen, der ihm die Mittel zur Heilung im Süden geben sollte. Fast jedem der Mitfahrenden hatte er es erzählt, bis er, endlich erschöpft davon, in Schweigen zurückgesunken war, ohne die Ruhe zu finden. Eine mächtige Decke über der Brust, murmelte er nach jedem Hustenanfall etwas Gebetartiges vor sich hin und scheuchte durch seine andauernde Munterkeit die lebhaften Nerven seiner Nachbarin wie eine Schar Vögel auf, so daß sie gleich ihm nicht schlafen konnte.

Aber weit davon entfernt, sich darüber zu beklagen, hatte sie jetzt zu ihrem Bräutigam nur Worte des Mitleids bereit, obgleich sie einige derbe Bemerkungen nicht unterdrücken konnte.

August Gläser jedoch, der bei solcher Gelegenheit die schlimmsten Instinkte seiner Kraftnatur walten ließ, spie bezeichnend aus und machte laute Andeutungen darüber, was man sich als viertklassiger Mensch alles gefallen lassen müsse. Er habe für keinen Schweinewagen bezahlt und werde sich bei dem Schaffner beschweren, damit anständige Leute endlich schlafen könnten. Das hatte er bereits mehrmals gesagt, ohne es zu tun, denn stets war er von andern Gedanken in Anspruch genommen worden. Fortwährend dachte er an Berlin, an diese große Stadt, von der er in der Enge seines Heimatsnestes wie von einem Märchenland geträumt hatte und die er erobern wollte mit allen Kniffen seiner natürlichen Schlauheit, wie man eine begehrte Schöne für sich gewinnt, die man durch süße Worte umstrickt und umgarnt.

Anna Schiman sah nicht gern seine böse Seite, und so wollte sie ihn sofort beschwichtigen. "Hast du auch das bissel Geld noch?" fragte sie und tätschelte nun mit beiden Händen seine Rechte, die sie in ihren Schoß genommen hatte. Sie wußte, daß er dann eine andere Miene aufsteckte, wie alle Selbstlinge, die nur fröhlich und guter Laune sind, sobald sie den Mammon klingen hören.

Jetzt lachte August Gläser, aber er lachte anders, als seine Braut vorhin. Es war mehr der Spott über ihre ewige Sorge, während sie seinen wiederholten Fragen nach ihrer Ruhe mehr mit Lustigkeit begegnet war.

"Aber natürlich, Madel, es ist noch da. Tu dir nur keine Gedanken machen!" Und als wollte er sie noch außerdem beruhigen und bei guter Stimmung erhalten, fuhr er mit der Rechten um ihre volle Büste, preßte den warmen Körper an sich und drückte einen langen Kuß auf ihre schwellenden Lippen, den sie mit Glut erwiderte. Noch enger schmiegten sie sich aneinander, und während rechts und links das graue Elend träumte, empfanden sie die Kraft ihrer jungen Jahre und wie das Blut gleich wohligen Wellen durch ihre Körper ging und auf Minuten alle Kälte verdrängte.

August Gläser hätte über die stete Angst seiner Braut, die ringsum Diebe witterte, lachen mögen, denn selbst während er schlief, hatte er immer die linke Hand in der Hosentasche gehabt, festgedrückt auf den Beutel, der Annas Ersparnisse enthielt. Und eher hätte man ihm den Arm zerteilen können, ehe er die Fingerkrallen von diesem Gut gelassen haben würde. Etwas umständlich zog er die billige silberne Uhr, die in einer Hornkapsel steckte, aus der Westentasche und entzifferte mühsam die Zeit. Es war erst kurz vor sechs, also hatten sie noch volle zwei Stunden, bevor sie an ihr Ziel kamen. Laut begann er zu gähnen, während Anna Schiman aus einem Wust von Tüchern eine große Flasche auswickelte, in der sich gemilchter Kaffee befand. Er war noch warm, denn gleich nach Mitternacht hatte sie sich auf einer Station eine Tasse Schwarzen und dazu heißes Wasser geben lassen, womit sie den vorhandenen Rest vermengte. Abwechselnd nahmen beide einen Schluck aus der Flasche, wobei Gläser gehörig den Mund verzog, denn diese Lorche schmeckte ihm doch zu sehr nach gar nichts. Immerhin fühlte er Wärme in seinem Magen, und so erhob er sich etwas angefeuert, um zu sehen, was eigentlich draußen los sei.

Der Zug hielt auf freiem Felde, es mußte also etwas nicht in Ordnung sein. Gläser konnte durch die Scheibe nichts bemerken, und so ließ er das Fenster ein wenig herunter und steckte vorsichtig den Kopf mit dem Vogelgesicht hinaus, nachdem er die Pelzmütze tiefer über den Schädel gedrückt hatte. Die eisige Luft drang ihm entgegen und kühlte mit einem scharfen Winde fast schmerzhaft seine Wangen, trotzdem aber sog er mit vollen Nüstern den frischen Kältegeruch ein, denn drin hatten sich üble Düfte entwickelt, die unerträglich geworden waren.

Eine unermeßliche Schneefläche dehnte sich vor seinem Blick, die aber nichts Leuchtendes hatte, denn fast schwarz wölbte sich der sternenlose Himmel über der grauen Masse, wie bleiern senkte sich das Gewölk zur Erde, als wollte es mit seinem feuchten Dunst die ganze Landschaft erdrücken, um sie noch starrer und trostloser zu machen. Gleich schaurigen Wachtposten ragten zwei einsame Kiefern aus der Öde heraus, kahl und schwarz durch den Sturm geworden, der die letzten Flocken von den Ästen geschüttelt hatte. Der Zugführer und ein Schaffner, die Laterne in der Hand, schritten die Wagen ab, bückten sich, leuchteten und musterten die Räder. Einmal wurde ein Eisen angesetzt; dann standen beide mit einem dritten zusammen und besprachen etwas. Im Lichtschein der Laternen konnte Gläser sehen, wie ihr Atem dampfte, der in hellen Wolken von der Kälte verschlungen wurde. Kein Haus war zu erblicken, nichts, was die Nähe menschlicher Wohnungen verriet. Der lange Zug stand in einer Kurve, und so tauchte hinter ihm der endlose Wald empor, der auf der anderen Seite die Schienen begleitete und nun die Täuschung hervorrief, als hätten sich die unzähligen Wagen aus seiner Tiefe herausgewunden.

"Ist etwas passiert?" ließ sich eine angenehm klingende Stimme hinter ihm vernehmen.

Es war Dolinsky, ein junger, schmächtiger Mann, der an ihn herantrat und nun den Versuch machte, seinen Kopf ebenfalls hinauszustecken. Er war der einzige, der während der ganzen Fahrt immer am gegenüberliegenden Fenster gestanden und, das Gesicht gegen die Scheiben gedrückt, in die Nacht hinausgeblickt hatte, als könnte er sich am besten dadurch die Zeit verkürzen. Fortwährend rauchte er Zigaretten, und kaum war die eine verbraucht, so drehte er sich bereits eine frische, wozu er den Tabak einer Büchse entnahm. Bis jetzt hatte er nur in dumpfem Schweigen verharrt; nun aber schien es ihm Bedürfnis zu sein, einige Worte zu wechseln. Schon im Wartesaal zu Breslau hatte er das Pärchen beobachtet und sich an dem hübschen Gesicht des Mädchens erfreut, das so gesund und munter in die Welt blickte, während ihr Begleiter eine auffallende Verschlossenheit zeigte.

"Oh, es tut sich weiter nichts", gab Gläser kurz zurück, indem er mit Willen diese verrenkte Redensart anwandte, in der er sich manchmal gehen ließ.

"Sind Sie Pole?" fragte der andere wieder, der das gebrochene Deutsch zu erkennen glaubte.

"Nee, noch nicht", sagte Gläser nun lachend. "Ich muß also sehr bedauern, nicht Ihrer Nationalität zu sein", fügte er dann höflich hinzu, um den Gebildeten zu markieren.

Dolinsky bat um Entschuldigung und gab ihm dann die nötige Aufklärung. Sein Vater stamme schon mütterlicherseits von einer Deutschen, und seine Mutter sei ebenfalls eine Deutsche, es könne also höchstens noch ein Achtel Pole in ihm stecken, was vielleicht daher komme, daß er noch polnische Verwandte habe. Trotz dieser Beteuerung hatte er eine zwar durchaus richtige, aber harte Aussprache, wie sie Fremdländern eigen ist, oder doch Menschen, die längere Zeit eine andere Sprache auf sich wirken lassen mußten.

"Sagen Sie, wir werden doch nicht liegen bleiben?" fuhr er nach einem Weilchen fort. "Es wäre mir sehr unangenehm."

"Wollen Sie vielleicht heute noch Hochzeit machen?" fragte Gläser, dem es nun ein gewisser Genuß war, sich mit einem andern Menschen unterhalten zu können. Er hatte das Fenster wieder schließen müssen, weil im Hintergrunde jemand laut über den hereindringenden Zug geschimpft hatte. Auch die Frau unter der Lampe war munter geworden und verhüllte mit den Enden ihres Mantels die Gesichter der noch schlafenden Kinder.

"Das nicht, dazu muß man wohl auch erst verlobt sein", erwiderte Dolinsky gut aufgeräumt. "Ich bin nicht für das zu frühe Heiraten. Man findet auch zu schwer die Richtige, vielleicht ist sie schon in Berlin? Wer kann es wissen!" ergänzte er heiter. "Ich bleibe nämlich dort, Sie auch?" Und als Gläser zur Bestätigung nickte, weil ihm der Hinweis auf die "Richtige" im Kopf herumging, sprach Dolinsky weiter: "Die Sache ist nämlich die, wissen Sie: ich soll mich schon um zwölf Uhr vorstellen. Ich bin Bautechniker und komme aus Münsterberg ... Na, es wird wohl nicht weit sein vom Schlesischen Bahnhof. Da herum soll das Geschäft liegen."

Anna Schiman spitzte die Ohren, denn das Wort "Techniker" hatte ihr Respekt eingeflößt. Ihr Vater war Werkführer in einer Fabrik, und so wußte sie den Beruf des Fremden sofort zu schätzen. Eine gewisse Freude beschlich sie bei dem Gedanken, es könnte zwischen den beiden zu einer Annäherung kommen, die man in der großen Stadt vielleicht fortsetzen würde. Schon längst hatte sie diesen jungen Mann, der sich so auffallend abseits hielt, für etwas Besseres gehalten, nun war sie von Stolz erfüllt darüber, daß er gerade ihren Bräutigam ausgewählt hatte, um sich mit ihm zu unterhalten. Was sonst noch um sie herumlag und sich flegelte, war ihrer Meinung nach doch nur Pack, richtige "Usinger", mit Ausnahme der Mutter vielleicht, deren vergrämtes Gesicht so seine Züge zeigte.

Der polnische Jude neben ihr spuckte wieder, und so benutzte sie das als eine willkommene Gelegenheit, sich nun ebenfalls zu erheben und zu den beiden zu treten. Trotzdem sie kaum bis zur Mittelgröße ragte und durch das dicke Schaltuch über den Schultern sich ungestaltig ausnahm, konnte man ihr doch die Lebhaftigkeit ihrer Bewegungen anmerken, die von Frohsinn und Jugend sprachen. Unter der Kapuze des Tuches brannten die dunklen Augen im geröteten Gesicht, und als Dolinsky sie ansah, erfreute er sich an dem Spiel ihres Blickes, das jedesmal erhöht wurde, sobald sie lächelte und die kernigen Zähne zeigte. Das geschah oft, als wäre es eine liebliche Angewohnheit, unzertrennbar von ihrem frischen Wesen. Schweigend hörte sie den Männern zu.

"Und Sie, was wollen Sie in Berlin machen?" fragte Dolinsky wieder.

"Ich? Ich will es mir kaufen", gab Gläser trocken zurück. Und zugleich bekam er von Anna einen neckischen Schlag, der von den Worten begleitet war: "Ach, du! Hast es wohl schon in der Tasche."

"Hab' ich auch", erwiderte er bedeutungsvoll und fühlte dabei, ob der Beutel noch vorhanden sei.

"Er hat immer soviel Rosinen im Kopf," fuhr sie gutmütig fort, nun zu dem andern gewendet, "er könnte damit handeln gehen, wenn er's nur amol täte." Da sie aber seinen leicht erglühenden Zorn über ihre kleinen Spitzen kannte, hakte sie sich sofort an seinen Arm und drückte heimlich seine freie Hand.

Dolinsky stimmte mit in diesen Scherz ein, indem er abermals begann: "Das ist ein guter Witz. Aber sagen Sie mal, woher werden Sie das Geld bekommen? Berlin hat viele Häuser. Und ich wäre schon froh, wenn ich eins davon hätte."

"Geld, Geld?" gab Gläser mit einem bestimmten Hochmut zurück, "was brauche ich mir jetzt schon den Kopf darüber zerbrechen! Ich bin ja noch gar nicht da. Sehen Sie, in Berlin liegt das Geld auf der Straße. So hab' ich gehört. Man muß nur verstehen, es aufzuheben."

"Ach, so meinen Sie es?" warf Dolinsky lachend ein. "Dann werden Sie sich aber oftmals bücken müssen, ehe Sie genug gegrabscht haben."

"Das werde ich auch tun, verstehen Sie. Das heißt, wenn morgen noch welches da ist. Man kommt ja hier nicht von der Stelle!" Ärgerlich riß er aufs neue das Fenster mit einem gewaltsamen Ruck herunter und schrie laut in die Nacht hinein: "Weiterfahren! Meine Schwiegermutter wartet mit dem Kaffee!"

Irgendwo am Ende des Zuges lachte jemand und fügte hinzu: "Meine auch!" Zugleich jedoch empfing Gläser einen heimlichen Rippenstoß von seiner Braut, der ihn daran erinnern sollte, daß ihre Mutter längst das Zeitliche gesegnet hatte.

Bereits vorher hatte die Todesstille, durch die das gewohnheitsmäßige Rasseln des Zuges abgelöst worden war, verschiedene Schläfer munter gemacht, die sich nun reckten, laut gähnten und mißgestimmt fragten, was der Lärm zu bedeuten habe. Allmählich folgten die übrigen, und bald sah man Säcke und Tücher fallen, bis sich die ganze Gesellschaft wie aus Bergen dumpfer Kleidungsstücke herausschälte und verfrorene Gesichter mit verschlafenen Augen zeigte. Alle fröstelten und rieben sich die Hände, denn nun erst empfanden sie die Strenge des Winters, der sich durch alle Ritzen des Wagens schlich.

Ein untersetzter, rotbärtiger Mann mit krummen Knien, die aus hohen, mit Stroh gefütterten Schmierstiefeln ragten, erhob sich in der Nähe des eisernen Ofens und legte die Hand auf das kalte Rohr, das zur Decke führte.

"Schweinebande! Unsereins kann frieren", sagte er mit seiner vertrunkenen Stimme, nahm einen Schluck aus der Flasche und schlug dann kräftig die Arme zusammen, um die blaugewordenen, steifen Finger zu erwärmen. Dann trommelte er aus Ärger mit dem Stiefelabsatz gegen das große Schutzblech des Ofens, so daß es dumpf dröhnte.

"Bist wohl verrückt geworden?" fragte sein Reisebegleiter, ein riesiger Viehtreiber, der in einem weißen Schafspelz steckte und sich nun ebenfalls in seiner ganzen Länge erhob, so daß er fast oben anstieß.

"Spuck' doch in den Ofen, du hast immer Hitze", gab der andere zurück und schlug die Arme aufs neue zusammen.

"Zieh' doch das Stroh aus den Stiebeln, dann brennt's gleich", sagte der Riese wieder. Und er langte ebenfalls seine Flasche hervor und ließ erst den Korken an dem Glase quietschen, bevor er die Öffnung an die Lippen setzte.

Der Schaffner, eine breite Gestalt im Dienstpelz mit schwarzem Flockenkragen, trat ein und fragte, wer an der nächsten Station aussteige. Alle wollten nach Berlin. Der Rotbärtige fiel sofort mit Worten über ihn her. Es sei polizeiwidrig, die Menschen frieren zu lassen; das Vieh habe es besser, denn es liege auf der Streu. Er werde sich in Berlin das Beschwerdebuch geben lassen und seine Klage vorbringen.

Der Schaffner lachte gutmütig, "Weiter nichts?" sagte er dann. "Das Vieh ist auch manchmal mehr wert als die Menschen."

"Da hast du recht", stimmte ihm der Riese im Schafspelz zu und reichte ihm die Flasche mit den Worten: "Da, beiß' auch einen ab!"

Sie kannten sich schon näher, denn seit langem machte der Viehtreiber diese Fahrt, die sich etwa alle vier Wochen wiederholte. Der Schaffner ging und kehrte nach einem Weilchen mit glühenden Kohlen auf einer Schippe zurück, die er in das Ofenloch warf und denen er dann eine Ladung Koks folgen ließ. Bald knisterte das Feuer lustig und sandte zu seiten des Bleches einen rötlichen Schein in den Wagen. Alles rückte an den Ofen, und es sah wie ein Nachtlager aus, über dessen geheimnisvolle Gestalten feuriger Schimmer tanzte, während in den Winkeln tiefe Schatten gähnten.

Der polnische Jude, der fortwährend fror, hatte brennende Sehnsucht nach dem strahlenden Ofen. Mühsam richtete er sich empor, stöhnend und ächzend wie ein Todkranker, der sein letztes Stündlein kommen fühlt und doch die Lust zum Leben verspürt.

Der Viehtreiber sah es. "Komm', Alter", sagte er und bückte sich, so daß es in ihm wie in einer mächtigen Eiche knackte. "Platz da, Ekel, du kannst mehr vertragen als dieses Häufchen Unglück", rief er dem Rotbärtigen zu. Und er nahm den Kranken an Armen und Beinen und trug ihn wie ein Bündel Flicken an die Wand, dicht neben dem Ofen, wo er ihn sorgsam niederließ. "Nun spuck' mich aber auch dafür nicht an", schloß er lachend. Ein Blick des Dankes traf ihn aus den großen, tiefliegenden Augen, die zeitweilig von den Adern halb verdeckt waren, als bereiteten sie sich langsam auf das Schließen für ewig vor. "Der liebe Gott soll's vergelten, und ich will bleiben immer in Ihrer Schuld", stieß er mit kurzem Atem hervor. Er rückte sich den alten Sack unter seinem Haupt Zurecht, faltete dann die abgemagerten, durchsichtigen Hände über der Leibdecke, schloß die Augen und blieb so liegen, ein wohliges Lächeln um die dünnen Lippen im blassen, seinen Gesicht. Deutlich sah man, wie er die Wärme einatmete, die ihn in Gedanken bereits nach dem Süden führte ...

2.

Langsam setzte sich der Zug wieder in Bewegung und allmählich kam er in das alte klappernde Rollen, durch dessen Eintönigkeit die meisten Fahrgäste aufs neue in Sinnen und Schlaf versanken. Nur die drei jungen Leute blieben munter und plauderten zusammen. Das Brautpaar hatte sich wieder niedergelassen, während Dolinsky die unbesetzte Kiste eines Schläfers heranzog und ebenfalls Platz nahm. Er holte ein zierliches Fläschchen mit Likör hervor und bot es Gläser an. Dieser lehnte aber ab; er trank nie Schnaps, weil es einer seiner Grundsätze war, immer einen klaren zu behalten. Sein Vater war am Trunke zugrunde gegangen, und so fürchtete er sich vor jedem Tropfen wie vor einem Feinde, der ihn hinterrücks unterkriegen könnte. Und er sah doch im Geiste schon die ganze Armee, die er besiegen wollte, um wie ein König zu herrschen.

"Sagen Sie, wie wollen Sie das aber aushalten, wenn Sie sich ganz Berlin gekauft haben werden?" fragte der Techniker heiter, als er den deutlichen Abscheu des andern zu verstehen bekommen hatte. "Sie werden doch dann gewiß auch mal Sekt trinken müssen."

Das Mädchen lachte, während Gläser verächtlich erwiderte: "Nur trinken? Die Füße will ich mir drin waschen. Übrigens ist das auch ganz etwas anderes. Schnaps zieht nieder, Sekt macht frei und gibt Gedanken."

"Haben Sie denn schon welchen getrunken?" fragte Dolinsky aufs neue, diesmal mit einem bedenklichen Kopfschütteln.

Gläser nickte. "Einmal, bei der Hochzeit meines Prinzipals, wir hatten selbst ein paar Flaschen im Laden. Ich war nämlich in einem Kolonialwarengeschäft, damit Sie's gleich wissen. ... Na, und ich kann Ihnen sagen, ich habe eine Rede bei Tisch gehalten, eine Rede! Trotzdem ich vorher nie gesprochen hatte. Es kam ganz plötzlich über mich. Und sehen Sie, das hat der Sekt gemacht. Nur."

"Was haben Sie denn gesprochen?" fragte Dolinsky neugierig.

Gläser lachte und zeigte seine spitzen Zähne, die wie die eines Raubtieres groß unter den dünnen Lippen lagen. "Das will ich Ihnen sagen", erwiderte er dann. "Ich habe einfach meinen Prinzipal angeulkt, ohne daß er mich verstand. Der Kerl war viel zu dumm. Ich sprach von seiner gewichtigen jungen Frau – sie ist nämlich eine dicke Person – und wie leicht sie ihm das Dasein machen werde. Und er faßte es immer anders auf. Zum Dank dafür fiel er mir um den Hals und küßte mich, als er genug hatte. Auch eine Hochzeitsgratifikation von zwanzig Mark gab er mir. Sehen Sie, so macht man's. Der Mensch kann alles sagen, wenn er nur die nötige Miene dabei zeigt."

Er hatte die Arme verschränkt, um die verfrorenen Hände zu verbergen, deren Röte aus dem kalten Laden stammte, den er dadurch noch immer mit sich herumtrug. Etwas wie Triumph sprach aus seinen kleinen grauen Augen, die manchmal, versteckt, ganz in den Winkeln lagen, bis sie jäh wieder aufblitzten und beweglich hin und her gingen.

"Sie uzen wohl gern?" fragte Dolinsky harmlos, jedoch mit pfiffigem Gesicht.

"Man muß die Leute zum Narren halten, dann kommt man zu etwas", sagte Gläser, ohne eine Miene zu verziehen. "Und ich will zu etwas kommen. Sehen Sie, das ist mein Wahlspruch: Erst komme ich, und dann die anderen noch lange nicht."

"Ist das wirklich Ihre Meinung?" fragte Dolinsky und blickte dabei prüfend die Braut an, als wollte er aus ihren Zügen lesen, ob diese Lebensweisheit sie nicht stutzig mache. Aber sorglos hatte sie sich mit dem linken Arm wieder an ihren Bräutigam gekettet, und wenn ihre Augen hätten sprechen können, so wäre entschieden daraus zu lesen gewesen: "Ist er nicht ein kluger Mann? Der wird mir goldene Häuser bauen."

"Gewiß ist das meine Meinung. Die Ihrige vielleicht nicht?" gab Gläser gleichmütig zurück. Er hatte dankend eine Zigarette angenommen und zündete sie nun behaglich an, so daß das Seidenpapier aufflackerte.

"Nein, ich kann Ihnen nicht recht geben", sagte Dolinsky dann. "Das wäre doch alles Heuchelei."

"Heuchelei? Aber erlauben Sie mal!" Gläser lachte laut auf. "Was kann ich dafür, wenn die andern sich das gefallen lassen. In dieser Welt ist sich doch jeder selbst der Nächste, und nur die Intelligenz herrscht, wer Bildung hat, der siegt. Na, und die besitze ich. Ich habe die ganze Leihbibliothek in unserem Neste ausgelesen, und da weiß ich, was die Menschen für Finten machen und wie's in allen Erdteilen zugeht. Nicht wahr, Anna?"

Das Mädchen nickte und lächelte glücklich, und diesmal sprach aus ihren klaren Augen etwas wie Bewunderung für ihn. Der Ofen pustete jetzt vor Hitze, und so waren ihre Wangen in einen rosigen Schein getaucht, was Dolinsky ganz besonders gefiel. Immer wieder mußte er sie ansehen und immer aufs neue verglich er sie mit dem andern, dessen pergamentne Gesichtsfarbe dieselbe Strenge angenommen hatte, wie sein ganzes Denken.

"Mag sein, mag sein," sagte er zerstreut, "aber Sie werden zugeben, Bildung verpflichtet auch. Der Intelligente soll dem Minderintelligenten mit gutem Beispiele vorangehen. Nichts ist leichter auszubeuten als die Dummheit der Menschen."

"Das ist richtig, das ist richtig!" warf Gläser wie begeistert ein. "Und da die Dummen in der Mehrzahl sind, so werden es auch immer nur die wenigen sein, die zu etwas kommen. Das wird Ihnen doch einleuchten."

"Leider ist es so", erwiderte Dolinsky lebhaft, da es ihm Befriedigung gab, diesen Gesprächsstoff einmal gründlich behandeln zu können. "Dafür haben die Dummen auch das reine Gewissen."

"Ach, was heißt Gewissen!" wandte Gläser ein, wie jemand, der sich über diesen Punkt längst klar ist.

"Ja, aber sagen Sie – ich verstehe Sie gar nicht!" rief der Bautechniker aufgebracht aus. "Darüber kommen wir alle nicht hinweg."

"Doch, doch!" hielt ihm Gläser hartnäckig entgegen. Die Ausnahmemenschen kommen darüber hinweg, die großen Eroberer, die immer nur den Zweck sehen und niemals das Mittel dazu, wer ein neues Haus bauen will, muß das alte erst abreißen, und wenn auch schöne Erinnerungen darin sitzen. Und sehen Sie, gerade so ist es mit den Menschen. Wer die Schlacht gewinnen will, muß über Leichen reiten, auch wenn vielleicht noch einer liegt, der die Hände zu uns emporhebt. Da heißt's: nicht umsehen, sonst wird der Sieg in Frage gestellt, was uns die Völker lehren, das können wir als einzelne auch befolgen. Alles kommt auf die Tat an. Schon die Natur gab dem Stärkeren das Recht, seine Kräfte auszunutzen."

"Ja, aber sie auch nicht zu mißbrauchen", wandte Dolinsky wieder zähe ein.

"Siehst du!" sagte Anna Schiman mit einer gewissen Bedeutung, auf die aber der junge Mann nicht achtete. Gläser wußte, was sie damit meinte. Kurz vor ihrer Abreise waren sie in Streitigkeiten darüber gekommen, ob sie mit nach Berlin solle oder nicht. Er wollte sein Heil zuerst allein versuchen mit dem Versprechen, sie zur Hochzeit im Frühjahr nachkommen zu lassen. Inzwischen wollte er mit ihrem Gelde die Wohnungseinrichtung besorgen und die angenehme Häuslichkeit vorbereiten. Sie aber hatte Angst, daß er sie sitzen lassen könnte, und so hatte ein Wort das andere gegeben, bis er sich zu einer Ohrfeige hinreißen ließ aus Ärger darüber, daß sie sich nicht fügen wollte und überhaupt wagte, Mißtrauen gegen ihn zu hegen. Dann aber nahm er sie mit, um seine Pläne nicht zerfallen zu sehen, schließlich brauchte man doch den Rock nicht zu verlieren, wenn auch das Anhängsel gelegentlich flöten ging!

Mißgestimmt über ihre Andeutung, machte er eine unruhige Bewegung, empfand aber zugleich, daß er sich in eine Sackgasse hineinreden würde, aus der er nicht mehr herauskommen könnte, wenn der andere sich ihm weiter so entgegenstellte. Und so versuchte er plötzlich, der ganzen Sache eine scherzhafte Wendung zu geben, indem er die Bemerkung machte, daß das ja schließlich alles nur Ansichten seien, wie man sie so habe, um sich die Zeit zu vertreiben. Seine Schlauheit drängte ihn dazu, denn er befürchtete, er könnte sich hinreißen lassen, noch mehr aus sich herauszugehen, und dann würde er seiner Braut immer deutlicher den Weg zeigen, auf dem er selbstsüchtig allein in die Zukunft wollte.

"Ja, man drischt nur leeres Stroh, wenn man sich darüber streitet", stimmte ihm der Techniker bei. "Wenn es auf die Kraftprobe ankommt, dann, wissen Sie, werde ich wohl ewig ein armer Teufel bleiben."

"Klugheit ist auch Kraft", warf Gläser nochmals ein, aber doch schon in der Art eines Menschen, der keine Lust mehr hat, sich weiter darüber zu ereifern.

Dolinsky stieß einen leichten Seufzer aus. "Ja, wissen Sie, daran gerade hat's mir immer gemangelt", sagte er wieder.

"Dann wärst du ja auch mein Mann", dachte Gläser und ließ ein Lächeln spielen, wobei er in der Regel den Mund schief verzog.

"Ich könnte Ihnen Geschichten erzählen, wenn ich wollte!" fuhr Dolinsky fort, indem er tief Atem holte. "Ein Bautechniker ist doch eigentlich nur ein besserer Arbeiter, dafür trägt er aber auch einen Kragen."

Das Mädchen lachte, während Gläser wieder sagte: "Wenn Sie das Zeug dazu haben, können Sie aber mal Architekt werden, vielleicht ein großer. In Berlin ist doch alles möglich."

"Danach strebe ich ja," erwiderte Dolinsky bescheiden, "wenn ich auch nur ein kleiner bleibe."

"Na, sehen Sie," fuhr Gläser fort, "dann wollen wir uns also nicht aus den Augen lassen. Geben Sie mir Ihre Adresse. Sobald ich Millionär geworden bin, bauen Sie mir meine Villa. Und ein Mausoleum will ich haben, wissen Sie, ein großes, prachtvolles Mausoleum mit kleinen Kirchenfenstern, wie es sich nur die ganz reichen Leute gestatten können. Bei Lebzeiten will ich mich schon daran erfreuen, und das können Sie mir dann ebenfalls bauen. Eventuell."

Dolinsky fand das alles so komisch, daß er in große Heiterkeit geriet. Er hatte wieder zwei neue Zigaretten gedreht, reichte dem andern eine davon und wandte sich an Anna: "Sie können sich jetzt schon darauf freuen, einmal darin beigesetzt zu werden. Das heißt – ich wünsche Ihnen ein langes Leben ... Aber sagen Sie, wie steht's mit den Baugeldern?" sprach er wieder zu dem Bräutigam. "Können Sie mir nicht gleich eine kleine Rate Vorschuß geben? Sehen Sie, das ist die Hauptsache in unserem Gewerbe. Ich könnte ja einstweilen immer mit den Zeichnungen beginnen. Die paar Behm in meiner Tasche reichen nicht."

"Darüber sprechen wir noch", erwiderte Gläser gewichtig mit der Miene eines Menschen, dem es durchaus ernst um die Sache ist. "Geben Sie mir nur erst Ihre Adresse."

Während Anna aufs neue lachte, langte Dolinsky ein großes, abgenutztes Notizbuch hervor, legte es auf die Knie, kritzelte beim Stoßen des Wagens rasch einige Zeilen auf das Blatt, riß es aus und überreichte es Gläser mit der Bemerkung, daß er vorläufig bei seinem Onkel wohne und dort zu finden sein werde. "Also ein Millionär wollen Sie werden! Eine hübsche Sache, im Ernste", sagte er dann gutmütig. "Sie sind ein ganz merkwürdiger Mensch."

"Ja, das ist er", warf Anna ein. "Was er will, das will er."

Gläser nahm das Blatt, warf einen Blick darauf, faltete es zusammen und verbarg es vorsichtig mit einem Dankeswort. Dann endlich nannte er ebenfalls seinen Namen und stellte auch die Braut vor.

Der Zug hielt wieder und hatte längeren Aufenthalt, weil an dieser Station mehrere Güterwagen angekoppelt werden mußten. Gläser stieg aus. Nach einem Weilchen folgte ihm Dolinsky, um eine Tasse Kaffee zu trinken, wie er zu dem Mädchen sagte. Im Osten graute bereits der Tag, der mit seiner noch fahlen Riesenstirn langsam zum Himmel strebte, um die Nacht zu vertreiben. Sonst aber herrschte noch Dunkel, das hier, wo die Schienen zwischen Kiefernwaldungen eingeengt waren, noch beängstigender auf die Seele wirkte. Eine einsame Öllaterne stand auf dem Damm, und in ihrem rötlichen Lichtschein glitzerte der festgefrorene Schnee und ließ die unzähligen Eiskristallchen wie Diamantsplitter leuchten. Es sah aus wie ein herrliches Diadem, das die Nachtkönigin über den Pfahl gestreift hatte, um ein trügerisches Spiel zu treiben. Dolinsky, der Augen für solche Dinge hatte, erfreute sich einige Sekunden daran und lief dann dem Bahnhof zu, der unten am Ende des Zuges lag und aus dem die erleuchteten Fenster lockten. Vereinzelt nur waren die Reisenden zu sehen, denn alles wartete auf die große Stadt. Rasch stürzte er den heißen Kaffee hinunter und packte sich ein paar Würstchen ein, die er im Wagen verzehren wollte.

Dann sah er sich nach Gläser um, aber er fand ihn nicht. Endlich, wieder draußen, entdeckte er ihn hinter dem Bahnhofsgebäude, wie er den Fuß auf einem Stein hielt und etwas in den Schaft des Stiefels hineinpreßte mit aller Sorgfalt, als hätte er eine Kostbarkeit zu verbergen; dann nahm er eine Schnur, band sie oben um den Schaft herum und knotete sie umständlich zusammen. Und, fertig damit, streifte er das Beinkleid wieder herunter, stieß mit dem Fuß auf den Boden auf, machte einige heftige Armbewegungen und sprach wie erregt vor sich hin: "Du kannst dich fest darauf verlassen, es kann nur dort gewesen sein. Nirgends wo anders. Ich bin ja unglücklich, tief unglücklich darüber! Es ist schrecklich, schrecklich! Aber was ist zu machen!" Und er arbeitete mit den Händen in der Luft herum und murmelte noch etwas vor sich hin, was der Lauscher nicht mehr verstehen konnte. Fast sah es aus, als übte er sich auf etwas ein, was er bei irgendeiner Gelegenheit zum besten geben wollte.

Dolinsky lachte still in sich hinein und dachte: "Daß eine Schraube bei ihm los ist, das habe ich längst gemerkt. Woher wohl sonst sein Größenwahn? Mag er machen, was er will." Der Techniker kannte die Leute, die ihr Geld in die Stiefel steckten, und so fand er nichts Besonderes darin. So etwas sah man am besten nicht, um dem andern nicht die Freude zu verderben. Was ging ihm das auch alles an! Leid tat ihm nur das arme Mädel, das sich an einen so verrückten Menschen gehängt hatte, der jedenfalls aus seinen Wahnideen nicht herauskommen und ihr dadurch nur üble Stunden bereiten würde. Und trotzdem glaubte sie an ihn und hoffte von der Zukunft! Er hatte es wohl bemerkt, mit dem Blicke des begabten Mannes, der alles hört und sieht, auch wenn er nur einen unscheinbaren Eindruck macht. Und diesmal hatte er aufmerksam beobachtet, weil es sich um ein rundes, frisches Ding handelte, das, wenn auch unbewußt, ihn in ihren reizvollen Bann gezogen hatte. Und so war es gar nicht merkwürdig, daß er gerade jetzt die Sehnsucht empfand, mit ihr ein paar Worte zu wechseln, ohne daß der andere sie hörte.

So machte er denn Kehrt, bevor Gläser ihn bemerken konnte, und lief eiligst nach dem Wagen zurück.

"Wo ist er?" fragte Anna Schiman.

"Er wird schon kommen, er steckt im Wartesaal", gab er zurück, ohne ein Wort darüber zu verlieren, was er gesehen und gehört hatte; dann beruhigte er sie durch den Hinweis, daß man ihn sicher nicht zurücklassen werde. "Und wenn er sie verlassen sollte, na, dann bin ich ja noch hier, um Sie zu beschützen", schloß er lachend, "wissen Sie, ich würde es für ein Verbrechen halten, sich solch einer hübschen Braut nicht beizeiten zu erinnern."

"Ei, wie keck er jetzt reden kann", dachte Anna, ließ sich aber diese offene Schmeichelei gerne gefallen. Sie konnte sich nicht entsinnen, daß ihr Bräutigam seit einem Jahre etwas Ähnliches gesagt hätte; stets hat er nur die praktische Seite dieses Verhältnisses im Auge gehabt und sie wie eine Sache behandelt, die zu dem Gepäck des Mannes auf seinem Lebenswege gehöre. Und sie hatte sich daran gewöhnt, ihm dereinst Köchin und Dienerin zu sein, und war froh, daß sich ein Reeller gefunden hatte, der die beste Absicht zeigte, ihr den Ring auf den Finger der rechten Hand zu stecken. Denn das war doch schließlich der Wunsch aller Mädchen, dem sie nachjagten, ob sie nun hoch oder niedrig standen.

Dolinsky hatte sich wieder zu ihr gesetzt, diesmal wirklich angenehm berührt durch das Schnarchkonzert, das sie umgab. Auch der Viehtreiber, der vorhin aufgestanden war, hatte sich wieder auf seinen Pelz hingeworfen, den er nun als Kopfkissen benutzte; und selbst der polnische Jude, der sonst die Ruhe nicht finden konnte, lag nun mit geschlossenen Augen da, die wie weiße Kuppeln in den Höhlen saßen. Sie alle schliefen und träumten noch einmal von der Heimat, bevor sie unsanft aufgerüttelt würden, um den Kampf mit dem neuen Dasein aufzunehmen.

"Er wird mich schon nicht vergessen", sagte sie einfältig, in dem Gedanken an den Schatz, den er bei sich führte. Zugleich aber stellte sie heimlich einen Vergleich an zwischen ihrem Bräutigam und diesem jungen Manne, dessen offenes Gesicht mit den sinnenden Augen und dem blonden Schnurrbärtchen ihr besser gefiel als die langen harten Züge ihres Verlobten, in die die Unzufriedenheit mit dem Dasein deutlich ihre Merkmale geschrieben hatte. Dieser hier zeigte sich äußerlich nicht so vorwitzig wie der andere, dafür sprach aber Klugheit aus seinem Antlitz und eine gesunde, lustige Lebensfreude. Dabei schien er es gründlich mit der Ehrlichkeit zu halten, denn nichts von dem war ihr entgangen, was er gesprochen hatte.

Den ganzen Wagen durchzog der Geruch von Armut, den die Wärme noch besonders aufgerüttelt hatte. Dolinsky zog ein kleines Fläschchen aus der Westentasche, öffnete es und hielt es gegen die Nase. Tränen traten ihm in die Augen, aber er sog tapfer weiter mit einem gewissen wohltuenden Gefühle. "Wollen Sie auch einmal? Es ist Salmiakgeist", sagte er dann. "Wenn man auf dem Lande in die Bauernstuben kommt, ist es immer gut, wenn man so was bei sich hat. Na, und hier riecht's noch schlimmer." Und er fügte hinzu, daß sein Vater Maurermeister auf einer kleinen ländlichen Besitzung sei und daß er, sein einziger Sohn, den ganzen Sommer über in den Dörfern auf eigene Faust gebaut habe, um seinen Alten, der immer am Zipperlein leide, zu vertreten. Natürlich sei das keine Kunst gewesen, Baracken aus rohen Steinen zu errichten, aber es habe wenigstens gesunde Bewegung gemacht. Nun sei er froh, sich in Berlin weiterbilden zu können, denn er habe nur eine einfache Baugewerkschule besucht, strebe aber danach, sein Zeichentalent weiter auszubilden.

Er hielt ihr das Stärkungsmittel ebenfalls hin, und sie roch gleich ihm daran.

"Das tut mal wohl, 'n bissel erfrischt's doch", erwiderte sie und wischte sich das Naß aus den Augen, die ihr übergegangen waren.

"Mit diesem hier dürfen wir nicht so leicht umspringen", sagte er wieder und zeigte ihr ein anderes Fläschchen, das, verkapselt und versiegelt, bis zur Hälfte mit einem weißglitzernden, trockenen Inhalt gefüllt war, den er wie Salz hin- und herschüttelte. "Ein paar Körnchen davon genügen, und wir sind hinüber. Sie müssen nämlich wissen, es ist Arsenik, das schärfste Gift, das es gibt."

Sie schlug die Hände zusammen. "Und so was tun Sie bei sich tragen? Wenn Sie's nu mal verwechseln ..."

Er lachte. "Kann gar nicht vorkommen. Und ein anderer wird sich schön dafür bedanken. Sehen Sie, das Etikett ist drauf, mit der Warnung ... Sie können es dreist anfassen. Davon stirbt man noch nicht."

Erst nach einer gewissen Überwindung nahm sie das Fläschchen und betrachtete neugierig das Etikett mit der Aufschrift "Gift" und mit dem Totenkopf, der auf zwei gekreuzten Knochen ruhte. Und als sie sich überzeugt hatte, daß bei diesem Betasten nichts Gefährliches passieren könne, wollte sie wissen, weshalb er sich nicht davon zu trennen vermöge. Und so erzählte er ihr mit kurzen Worten, daß er als Zwanzigjähriger in die Nichte des Dorfpastors verliebt gewesen sei und aus Verzweiflung über ihre Gleichgültigkeit sich habe das Leben nehmen wollen. Sein Vater sei aber dahinter gekommen und habe ihm einen so gründlichen Denkzettel gegeben, daß er von seinem Lebensüberdruß sofort geheilt worden sei. Dazwischen lägen nun schon vier Jahre, und wenn er jetzt an die dumme Geschichte denke, müsse er lachen. Aber das Fläschchen trage er immer noch als Spielzeug bei sich, eigentlich mehr als eine Art Kraftprobe auf sich selbst, denn er könne ja doch nie wissen, ob er nicht noch einmal in eine ähnliche Lage käme.

Dabei sah er sie so sonderbar an, daß sie seine scherzhafte Andeutung hätte verstehen müssen, wenn sie im Augenblick nicht von einem andern Gedanken geplagt worden wäre. "Nein, das dürfen Sie nicht! Machen Sie sich bloß nicht wieder solche Gedanken, das ist ja schrecklich!" rief sie erregt aus. "Wie kann solch junger Mensch nur an so was denken! Wegwerfen werde ich es nachher."

"Aber erlauben Sie mal –", wandte er mit komischer Verblüffung ein.

"Ach, da gibt's gar nichts zu erlauben, das gehört jetzt mir." Plötzliche Willenskraft sprach aus ihr, die er diesem lustigen Ding bisher nicht angemerkt hatte. Er wußte nicht, sollte er lachen oder sich ärgern über diese Vorenthaltung seines Eigentums. Es war so warm geworden im Wagen, daß sie sich bereits vorher das wollene Brusttuch abgebunden hatte; jetzt nestelte sie an den oberen Knöpfen ihrer Taille, und ehe er es verhindern konnte, hatte sie das Fläschchen in der Öffnung verschwinden lassen.

"Das ist ja Diebstahl!" rief er aus, ohne es ernst zu meinen.

"Ich werde 's schon verantworten", gab sie zurück und hielt die Hände schützend über die Taillenöffnung, da er rücksichtslos zugreifen wollte.

Der polnische Jude hatte alles gehört, trotzdem er so tat, als wenn er schliefe; und wie im Selbstgespräch sagte er, immer noch mit geschlossenen Augen: "Der liebe Gott wird's danken, daß Sie ihm haben genommen das Gift. Andere möchten behalten gerne ihr Leben, und er will den Tod herausfordern. Es ist schon schwer, daß man ihn mit sich tragen muß gegen seinen Willen."

"Ach, laß deine abgestandene Weisheit", sagte Dolinsky aufgebracht.

"Was Gott gegeben hat, soll man behalten, bis er's wieder nimmt", klang es tonlos am Ofen weiter.

Das Mädchen war rot geworden, denn sie hatte Dolinskys Finger auf ihrer Haut verspürt. Unwillkürlich stieß sie einige Worte auf polnisch hervor, und sogleich antwortete er in derselben Weise, aber nicht so fließend wie sie, denn er konnte sich nur mit einiger Mühe verständigen. Sie äußerte jedoch ihre Freude darüber und belehrte ihn, daß ihr Bräutigam nur deutsch verstünde. Während sie rasch die Knöpfe wieder schloß, nun froh darüber, den Sieg erfochten zu haben, kehrte Gläser gerade in dem Augenblick zurück, als Dolinsky einen letzten Versuch machte, sein Eigentum wiederzuerlangen.

"Na, was hast du denn?" fragte Gläser und maß den andern mit einem geringschätzigen Blick, als wollte er sagen: "Was machst du? Ich bin dir nicht nur geistig, sondern auch körperlich überlegen." Er war hager, aber knochig, und schon oftmals hatte er Kraftproben seiner Muskeln abgegeben.

Anna merkte ihm die schlechte Stimmung sofort an, und so erwiderte sie schüchtern: "Was soll ich haben? Nichts habe ich."

"Da hast du eigentlich recht", dachte Gläser, aber er meinte damit etwas anderes. Mit seinem Scharfsinn erriet er sofort die Tändelei, und so bedachte er sie mit einem kalten Blick. Aufs neue suchte sie nach Worten, aber schon kam Dolinsky ihr zuvor, indem er einwarf: "Ich wollte mir mal das schöne Kreuz ansehen, aber denken Sie, sie läßt es zu?"

"Recht so", sagte Gläser, darauf eingehend, und trat sich rücksichtslos die kaltgewordenen Füße warm, so daß die Diele des Wagens zitterte. Der Viehtreiber fluchte und legte sich dann auf die andere Seite.

Als sie sich vorhin am Halse zu schaffen machte, war das einfache goldene Schmuckstück zum Vorschein gekommen, das sie an einem schwarzen Bande auf der Brust trug. Auf dieses Kreuz, das ein Einsegnungsgeschenk ihrer Mutter war, hatte ihr Gläser feierlich schwören müssen, sie nie in der großen Stadt zu verlassen, denn mit Angst und Bangen sah der alte Vater sie unverheiratet fahren.

"Na, was sieht man auch daran, es ist ein Kreuz wie jedes andere", sagte sie gleichgültig und stopfte den blanken Gegenstand wieder in den Halsausschnitt des Kleides hinein. Innerlich aber war sie erfreut, daß sich Dolinsky so fein ausgeredet hatte.

"Man muß nicht alles sehen", fiel Gläser unfreundlich ein.

"Das dachte ich auch, als ich vorhin draußen war", sagte Dolinsky kurz, um ihn zu ärgern.

Gläser stutzte. "So, Sie waren auch draußen?" fragte er und sah ihn prüfend an.

"Ich mußte Sie doch suchen, der Zug hätte ja abgehen können", log Dolinsky tapfer. "Aber ich sah Sie nirgends."

Gläser traute ihm aber trotzdem nicht, sondern fühlte sich erst beruhigt, als er die Braut beiseite genommen und vorsichtig ausgehorcht hatte; dann stellte er sich wieder ans Fenster und ließ die beiden weiter plaudern, denn so wurde Anna davon abgelenkt, die ewige Frage nach dem Gelde an ihn zu richten.

"Geben Sie doch das Fläschchen wieder!" sagte Dolinsky leise auf polnisch, unter dem erneuten Rasseln des Zuges.

"Sie sollen es ja haben, warten Sie nur", erwiderte sie zu seiner Beruhigung. "Wenn er's sieht, wird er eifersüchtig. Dann gibt's gleich Kloppe in Berlin." Sie band sich den Seelenwärmer wieder um, als befürchtete sie, dieser kecke Mensch, der schon eine unglückliche Liebe mit sich herumtrug, könnte sich zu einer neuen Dummheit hinreißen lassen. Denn sie war doch schon vergeben, für immer und ewig.

Dolinsky tröstete sich mit dieser Ausrede und sprach nicht mehr davon. Als Gläser etwas von ihrem Polnisch aufschnappte, riß ihn das aus seinem Gedankengang.

"Sprich doch deutsch, hörst du?" schnauzte er sie an. "Du kannst es doch."

Dolinsky wollte ihr keine Unannehmlichkeiten bereiten, und so erhob er sich und suchte den Platz am gegenüberliegenden Fenster auf, wo er vorher stundenlang gestanden hatte.

Beide Männer blickten in den grauen Morgen hinein, dessen fahles Licht allmählich Himmel und Erde voneinander loslöste und dem Schnee die Leuchtkraft des Tages gab. Deutlicher konnte man die vorübereilende Landschaft beobachten, von der sich bereits erkennbar die winzigen Dörfer abhoben, sobald sie nicht zu weit in der Ebene lagen. Denn hinten wogte noch der letzte Dunst der Nacht, den erst die sieghaften Sonnenstrahlen verdrängen sollten. Häuser huschten vorüber, ganze Wälder blieben zurück, oben weiß gekuppelt, in ihrem Inneren voll tiefer, gähnender Schatten. Ein Schnellzug brauste vorbei, gleich einem Teufelsspuk, der mit einem raschen Schall davonfliegt. Man merkte schon die Nähe der großen Stadt, die ihre steinernen Fühlhörner nach jeder Richtung sandte. Die Schlote einsamer Fabriken dampften, feurige Fensteraugen blinkten in den Schnee hinaus, und abgerissene Straßenzüge mit riesigen Mietskasernen deuteten die Vororte an, die jäh auftauchten und wieder verschwanden. Die Arbeiter zogen schon zum Werk. Wie ein Gewirr von dunklen Punkten strebten sie dem roten Hause zu, das einsam auf winterlicher Flur lag. Eine Menschenherde schien sich in den Stall zu ergießen, der Futter und Wärme für den Tag gab. Wagen und Schlitten hielten an der gesperrten Barriere, hinter der die kahlen Bäume in zwei endlosen Reihen, immer kleiner werdend, sich im Schnee verloren. Der Riesengasometer einer Gasanstalt zeigte sich wie ein schwarzer Koloß, ganz nahe der Bahn. Dann wieder Fabriken, Häuserblöcke und endlich Schienenstränge, die nun zwischen halbbebauten Straßen lagen. Man verspürte die Stadt, ohne daß man sie sah.

Als der erste Kirchturm auftauchte, dachte Gläser an seinen Traum. Weshalb hatte er gerade an einem Kreuze gehangen, hoch oben in den Lüften? War es vielleicht, weil seine Braut so an ihrem Kreuzlein hing, fromm wie eine einfältige Kirchgängerin, und weil er seine Finger beteuernd darauf gelegt hatte? Sollte ihm das eine Warnung sein, mit dem Heiligsten nicht zu spielen, nach dem alten Sprichworte: "Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein?"

Mit den neuen Eindrücken vor seinen Augen verflogen auch diese Gedanken. "Dummheit", dachte er. "Eine hübsche Deutung für Schwächlinge, aber nicht für Leute mit starken Nerven." War es nicht ganz natürlich? Er hatte vor dem Einschlafen an den seltsamen Schwur gedacht, und so war alles mit seinem Traume verwoben worden. Was träumte der Mensch nicht alles zusammen, wenn er sich den Magen vollgeschlagen hatte!

Die Fahrgäste waren munter geworden und packten ihre Habseligkeiten zusammen, denn schon befand man sich mitten im Schienengewirr des Rangierbahnhofes. Der Zug fuhr langsamer; Männer und Frauen drängten sich an das Fenster. Alle fröstelten aufs neue, weil das Feuer allmählich wieder erloschen war. Aus den übernächtigten Gesichtern sprach mehr Spannung als Freude, denn nun trat allmählich die Ernüchterung ein. Die meisten hatten geglaubt, ein Paradies zu sehen, und nun erblickten sie nur graue Häuser, die traurig ihre Häupter reckten. Der dunkle Wintermorgen ohne Sonne lastete auf dem Gemüt und ließ die Sehnsucht nach der warmen Stube der Heimat noch einmal still erwachen.

"Ist das Berlin?" fragte die blasse Frau, die sorgsam die noch halbverschlafenen Kinder in Mützen und Schals vermummte. Man sah jetzt erst, daß sie in Trauerkleidung war und daß sie gerötete Augen hatte, wohl vom letzten Weinen unter ihrer Kapuze.

"Immer noch, Madamm", erwiderte der Viehtreiber gemütlich und zündete sich die Pfeife an.

Keiner sprach mehr ein Wort; niemand zeigte Teilnahme für den andern, ein jeder hatte den Blick auf seine Siebensachen gerichtet.

3.

"Berlin! Alles aussteigen!"

Das Dampfroß fauchte noch einmal schwach, wie ermattet nach Stunden schwerer Arbeit, und aus seinem vielgegliederten langen Leib, der schneebedeckt und bereift den Winter in die Halle getragen hatte, entleerte sich der dunkle Schwarm der Fahrgäste, der gleich menschlichen Bienen emsig durcheinanderwimmelte. Man stieß und drängte sich und gebrauchte tapfer die Ellbogen, als gälte es jetzt schon, den Nächsten zu überflügeln.

Gläser und Anna hatten ihren Kasten erfaßt, und, in der freien Hand die sonstigen Kleinigkeiten, beeilten sie sich, von dannen zu kommen, wobei er immer voraus war, während das Mädchen Mühe hatte, gleichen Schritt mit ihm zu halten. Sie hörten nur noch, wie der polnische Jude fast kindisch um Beistand bettelte, und sahen dann, wie der Viehtreiber ihn samt der alten Reisetasche aus dem Wagen hob. Eigentlich hatte der Kranke sich an Gläser gewandt; dieser aber hatte jetzt andere Dinge im Kopfe.

"Vorwärts, vorwärts!" war seine Parole. Kaum daß er Dolinsky noch bemerkte, der, sein kümmerliches Köfferchen in der Hand, hinter ihnen herschritt.

Sie waren auf der Straße, die hier draußen im äußersten Osten der Stadt keinen angenehmen Eindruck machte. Es war gegen Ende der siebziger Jahre, zur Zeit, als Berlin sich erst zu entwickeln begonnen hatte. Man sah nur Bretterzäune und alte Häuser mit langweiligen Fronten, ohne jeden Schmuck. Hin und wieder ragte schon eine neue Mietskaserne zwischen den Baracken empor, als wäre mitten aus plundrigem Gemäuer ein frischer Keim steinern aufgeschossen. Nicht weit entfernt lag der unfertige Bau der Stadtbahn, der nun bei der Kälte öde und verlassen sich zeigte, eingeengt von zerrissenen Häusern, die dieser rote Mauerblock kraftvoll durchschnitten hatte. An einer abgetrennten Wand hing noch die blaue Tapete und nahm sich aus wie ein Stück künstlichen Himmels an diesem grauen Tage. Große Schneehaufen waren zusammengekehrt und harrten der Abfuhr. In den Läden der Häuser brannte noch Licht, das wie Irrflammen hinter den gefrorenen Scheiben glänzte.

Das Pärchen ließ den Holzkoffer auf den Steinen nieder und schöpfte Luft. "Ja, wohin nun?" sagte Gläser verdrießlich, ohne es jetzt noch eilig zu haben. Fortwährend wurde er von einem häßlichen Gedanken geplagt, den er als das große Ereignis dieses Tages ausspielen wollte. Nicht weit von ihnen stand ein Schneeschipper, ein bärtiger Aushilfsmann, der sich mit seiner Arbeit durchaus nicht übereilte.

"Ja, nu heißt's wohin?" plärrte er das Pärchen an, das er nicht für etwas Besseres hielt. "So sagt ihr alle, wenn ihr ankommt. Was wollt ihr hier? Es gibt schon genug Arbeitslose, das seht ihr ja. Bleibt hübsch zu Hause!"

"Halten Sie Ihr Maul, sonst hol ich gleich 'n Schutzmann", rief ihm Gläser zu. "Belästigen Sie keine Bürger!"

"Maul halten? Na ja, das will ich auch tun", erwiderte der Schneeschipper, verblüfft über diese Kühnheit, und kratzte mit seinem Eisen weiter auf den Steinen.

"Da haben Sie's, so muß man auftreten, um sich Respekt zu verschaffen", sagte Gläser mit einer gewissen Befriedigung zu Dolinsky, der sich auf einen großen Abschied vorbereitete. "Ist das nicht ein guter Einzug in Berlin?"

Dolinsky lachte und stimmte ihm scherzhaft bei; dann rief er plötzlich aus: "Aber sagen Sie mal, – Sie sehen ja gar nicht das Geld auf der Straße, und hier liegt es schon." Er bückte sich und hob einen schwarzen Pfennig auf, der vor ihm im festgefrorenen Schnee lag und den irgend jemand erst frisch verloren haben mußte.

"Ei, das wird Glück bringen", warf Anna lächelnd ein.

"Das meine ich auch, und deshalb will ich ihn behalten", fuhr Dolinsky fort und bespuckte den Heller erst mehrfach, bevor er ihn wegsteckte. "Wenn ich ihn heute noch auf Zins anlege, dann bin ich in hundert Jahren sicher ein Großkapitalist ... Sie lachen natürlich."

"Na, wenigstens sehen Sie, daß ich recht hatte mit meiner Prophezeiung", sagte Gläser und reichte ihm zum Abschied die Hand, um ihn loszuwerden.

"Ich geh ja schon, ich geh ja schon", sagte Dolinsky etwas ärgerlich. "Na, dann also auf baldiges Wiedersehen, ich wünsche Ihnen beiden alles Gute, Ihnen, Fräulein, ganz besonders." Sie fühlte seinen heißen Handdruck, und als sie den letzten Blick austauschten, sah sie, wie seine Augen aufflackerten und die wortlose Sprache redeten, die ein Weib immer versteht, wenn es weiß, daß es einem Manne nicht gleichgültig ist.

Gläser nickte nur nachlässig, denn ihm dauerte dieses Gerede schon viel zu lange. Am liebsten hätte er sagen mögen: "Scheren Sie sich zum Teufel und suchen Sie sich eine andere zum Anschmachten aus!"

"Na, dann also Adieu zum letzten Male", sprach Dolinsky aufs neue. "Und was ich Ihnen noch sagen wollte, mein Bester. Wenn Sie sich Berlin erobern, denken Sie daran: alle großen Eroberer sind einsam gestorben. Ich könnte Ihnen eine ganze Menge Namen nennen, sie fallen mir nur nicht gleich ein. Machen Sie es nicht ebenso. Etwas Liebe muß der Mensch immer haben. Und dann vergessen Sie mir das Mausoleum nicht. Das will ich bauen."

Er hatte sich schon vorher bei den Bahnbeamten erkundigt, welchen Weg er zu nehmen hätte, und so zog er nun den Hut und ging die nächste schmale Straße entlang, ohne sich noch einmal umzusehen. Das Brautpaar blickte ihm nach, aber mit verschiedenen Gefühlen. Gläser wollte ihn erst aus den Augen haben, Anna Schiman jedoch war von einem gewissen Weh erfüllt, wie man es bei der Trennung von rasch liebgewordenen Menschen empfindet.

Vor dem Bahnhof stand ein gelber Omnibus, der soeben leer angelangt war, während der andere, voll besetzt, sich bereits davongemacht hatte. Die blasse Witwe, die ihre Reisegefährtin war, stieg mit den Kindern ein, geleitet von einem alten Manne, der sie in der Halle in Empfang genommen hatte.

"Die fahren auch, siehst du", redete Anna ihrem Bräutigam zu, als er noch immer zögerte. "Komm, es ist noch Platz." Gerne hätte sie gleich etwas von dem großen Berlin gesehen, denn immer hatte sie von den "Linden" sprechen gehört, und so glaubte sie, man könnte in den Omnibus mit Sack und Pack hinein.

"Dummchen, wo soll der Koffer bleiben? Das geht doch nicht", murrte er mit seltsamem Gesichtsausdruck. "Eine Droschke werden wir uns nehmen."

Im geheimen hatte sie auch schon daran gedacht, ohne den Mut zu finden, es zu äußern, denn sie hatten sich vorgenommen, die Groschen zusammenzuhalten. Nun aber stimmte sie ihm freudig zu, denn es wurde ja von ihren Mitteln bezahlt. Plötzlich wühlte er in seinen Taschen, blickte sie wie sprachlos an und wühlte dann aufs neue los wie ein Verrückter. "Das Geld! Du, das Geld!"

"Mein Gott ... Hast du es nicht?" Der Atem stockte ihr, und im Augenblick wich alle Farbe aus ihrem Gesicht.

"Ja, wo ist es denn?"

"Mein Gott, sieh doch ordentlich nach! Es wäre ja schrecklich!"

Er knöpfte sich den Flausrock auf, suchte und wühlte immer aufs neue; er kehrte die Hosentaschen um, – er fand es nicht. Tränen traten ihr in die Augen, und leises Jammern kam über ihre Lippen, in das sich verhaltenes Schluchzen mischte.

"Warte hier!" rief er aus und eilte in den Bahnhof zurück.

Ganze fünf Minuten stand sie so, einsam und verlassen, mit kalten Füßen und einem unbeschreiblichen Gefühl im Herzen. Keinen Augenblick dachte sie an Täuschung, nur der Schrecken peinigte sie bei dem Gedanken, was nun werden würde, wenn er den Beutel mit den Goldstücken nicht mehr fände, oder wenn man ihn gestohlen hätte. Und sie kam sich wie in ein fremdes Land versetzt vor, wo nur Öde und Starrheit auf sie warteten. Langsam rollten ihr große Tränen über die Wangen, die sie mit dem Ärmel ihrer dicken Jacke trocknete. Ein Mann mit hagerem Gesicht, der fast wie ein Herr gekleidet war und schon eine Zeitlang am Eingang des Bahnhofs gestanden und die Herauskommenden gemustert hatte, trat an sie heran, zog ein wenig den Hut und erkundigte sich nach ihrem Schmerze.

"Suchen Sie Unterkunft? Bei anständigen Leuten?" fragte er mit blecherner Stimme, wobei der Zigarrenstummel in seinem Munde hin- und herrutschte. "Kann Ihnen eine brave Familie empfehlen, wo Sie gut aufgehoben sind. Wenig Kostgeld. Stellung wird Ihnen auch besorgt ... Haben Sie nur den einen Koffer, he? Dann kommen Sie rasch! Ich helfe Ihnen tragen, es ist nicht weit."

Es war einer von jenen Gaunern, die sich vor den Bahnhöfen herumtrieben und sich unter der Maske der Menschenfreundlichkeit zugereisten Provinzmädchen näherten, um sie liederlichen Wirtsleuten zuzuführen, wo sie gründlich ausgeplündert wurden und in steter Frone blieben, bis die Verzweiflung sie auf schlechte Wege trieb. Dieser hier hatte es nur auf das Gepäck abgesehen, denn Annas Sauberkeit, die einen gewissen Wohlstand verriet, hatte ihn dazu gereizt. So wollte er sie erst in einer anderen Straße haben, um sie, nach einem bekannten Kniff, mit Bestellungen in ein Haus zu schicken und dann eiligst mit dem Koffer zu verschwinden. Öfters diente auch ein Eckgebäude mit zwei Ausgängen dazu, vor dem man das Mädchen unter der Ausrede warten ließ, die Sachen einstweilen in gute Hände zu geben, womit man aber nur bezweckte, in der andern Straße zu verschwinden.