Der Mann unter dem Polarstern - Diana Smirnow - E-Book

Der Mann unter dem Polarstern E-Book

Diana Smirnow

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Beschreibung

Es gibt einen Grund für all das, murmelt der alte Glasmacher ihm durch den Fensterspalt zu. Einen Grund dafür, dass Noel Zaikow in der Hütte auf dem Meer gefangen ist, von Eis umschlossen. Und während seine Albträume nach und nach in die Realität vordringen und sich sein Leben zwischen den Eisblöcken auflöst, beschließt Noel, diesen Grund zu finden. Doch dafür muss er bis an die Grenzen seines Verstands gehen. Ein Roman über Einsamkeit und Freundschaft, Abhängigkeit und Macht, der den Leser dazu einlädt sich auf eine Reise zu sich selbst zu begeben. Diese Geschichte ist ein Appell an die Kraft, die in uns steckt und eine Erinnerung daran, die Muster in unseren Leben zu deuten und zu verstehen.

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Jedes Bemühen, das darauf abzielt, das Alleinsein zu vermeiden, schlägt fehl und muss fehlschlagen, weil es gegen die Grundgesetze des Lebens verstößt. Nötig ist nicht, dass du etwas hast, was dich dein Alleinsein vergessen lässt; nötig ist, dass du dir deines Alleinseins – deiner Wirklichkeit – bewusst wirst. Und das zu erfahren, das zu fühlen, ist so wunderbar – denn es ist dein Freisein von der Masse, vom anderen. Es ist dein Freisein von der Angst vor Einsamkeit.

- Osho(2002): Liebe, Freiheit, Alleinsein, Goldmann Verlag, S.242

Inhaltsverzeichnis

1 Das Haus auf dem Meer

2 Flut und Frost

3 Das singende Eis

4 Die Stille in der Nacht

5 Ticktack

6 Ich weiß genau, was du brauchst.

7 Nichts hören

8 Im Bad drehen sich die Stunden im Kreis.

9 Lass uns das morgen noch mal machen

10 Der verlassene Thron

11 Hast du es beobachtet, Noel?

12 Ein Lied ganz für dich allein

13 Hast du etwa Besuch?

14 Du musst es aufhalten.

15 Alles zerfloss

16 Möchtest du sie denn erkennen, Noel?

17 Einsame Gestalten

18 Blumensträuße in der Brust

19 Ellies letztes Geschenk

20 Entscheide nun, was zu tun ist

21 Der volle Steg

Epilog

Danksagung

Über die Autorin

1 Das Haus auf dem Meer

„Ist er tot?“, fragte sie.

Er klemmte das Telefon zwischen Schulter und Wange und beugte sich hinunter, berührte vorsichtig den leblosen Körper.

„Noel?“, fragte sie ungeduldig.

„Er rührt sich nicht mehr.“ Das Geräusch des laufenden Motors drang durch die Stille. Noel sah hinauf. „Es sind so viele Sterne hier am Himmel, unglaublich.“

Er hob den toten Vogel von der Straße, legte ihn in das schneebedeckte Gras und sah ihn ein letztes Mal an. Sein Blick blieb eine Weile an den weißen Federn hängen. Für einen Moment vernahm er ein Geräusch in seinem Kopf. Ein Klicken wie das Einrasten winziger Zahnräder in einer Maschine. Es war das Geräusch, das er immer vernahm, wenn sich etwas ankündigte. Noel hatte keine Vorstellung davon, was es sein könnte, doch bis jetzt hatte dieses Geräusch nie etwas Gutes verheißen. Er überlegte kurz, doch sein Kopf blieb leer. Als würde er auf einen schweren, staubigen Vorhang starren, waren die Dinge, die sich dahinter abspielten, nicht greifbar für ihn.

Noel riss seinen Kopf seltsam berührt los, stieg ins Auto und schmiss die Fahrertür hinter sich zu.

„Du wirst die Nächte hier lieben“, sprach er weiter in sein Telefon, wobei er den Motor startete und losfuhr. Während der Fahrt reckte er ab und an seinen Kopf nach oben und spähte durch die Frontscheibe hinauf in den fremden Himmel. Dann sah er schnell wieder auf die Straße, die irgendwann an einer Kreuzung mündete, und er bog links ab.

Noel stellte sich vor, dass sie am anderen Ende der Leitung schmunzelte und sich dabei ihre blassrot geschminkten Lippen ausdehnten und kaum bemerkbare Falten an der Oberfläche entstanden. Aus irgendeinem Grund roch der Lippenstift für ihn nach Sommer, obwohl sie ihn zu dieser Jahreszeit kaum auftrug.

Doch alles, was er hörte, waren Stimmengewirr und Rauschen.

„Also werde ich die Nacht ohne dich verbringen müssen?“ Er lauschte erneut. In seinem Auto war es warm, sein Armaturenbrett leuchtete gegen die Dunkelheit an. Die Landschaft, die durch das Scheinwerferlicht sichtbar wurde, war kahl, weit und schneebedeckt. Er wusste nicht, ob sein Herz wegen der endlosen Weite der Umgebung so heftig gegen seine Brust schlug oder ob es am vierten Kaffee lag. Er fuhr nun schon seit zehn Stunden und seine letzte Pause war eine Weile her. Zum Glück war es nicht mehr weit. In einer halben Stunde würde er laut Navi ankommen.

„Noel?“, kam es plötzlich aus dem Hörer. Mit einem Schlag war er wieder mitten im Gespräch mit seiner Verlobten.

„Ja, Poesie? Kannst du mich hören?“, sagte er laut und hielt sich das Handy dicht an die Lippen. „Wir hätten direkt gemeinsam den Flieger nehmen sollen. Jetzt verpasst du unseren ersten Urlaubstag.“ Ihn überraschte, wie bitter seine Stimme klang.

„Ich bin immer noch auf der Arbeit. Es tut mir so leid, Noel.“

Er stellte sich vor, wie sich ihre Finger mit den zahllosen goldenen Ringen und kleinen Wunden rastlos über einen Stoff hermachten. Er schwieg und nahm die nächste Kurve. Endlich sah er die ersten Häuser und kurz darauf ein Straßenschild mit der Aufschrift Bördon. Erleichtert drehte er seinen Kopf nach links und rechts, um seine versteiften Nackenmuskeln zu entspannen, und sank ein Stück tiefer in den Sitz.

„Ich nehme den Flug morgen früh und bin bald bei dir, ja?“, hörte er Poesie sagen.

Sie schien gegen den Lärm im Hintergrund anzuschreien und ihre sonst so weiche Stimme verzerrte sich unnatürlich. Wahrscheinlich war sie noch auf der Modemesse. Das würde auch den schlechten Empfang erklären. Hastig legte Noel das Handy auf den Beifahrersitz und stellte Poesie auf Lautsprecher.

Bevor er ihr antworten konnte, hörte er sie sagen: „Ich liebe dich und freue mich auf unseren Urlaub.“

Es knackte und die Verbindung war weg. Sie hatte aufgelegt.

Noel seufzte. Nach den letzten Monaten, die er hauptsächlich im Büro verbracht hatte, würde ihm eine Nacht alleine nicht schaden. So könnte er alles sacken lassen, einfach durchatmen. Etwas Musik anmachen, eine heiße Dusche nehmen und ins Bett fallen. Vielleicht gönnte er sich noch ein Glas Whisky.

Trotzdem fand er es schade. Nach der vielen Arbeit hatte er sich auf die gemeinsame Zeit mit Poesie gefreut.

Immer mehr Häuser erschienen. Er ließ das Fenster ein Stück herunter und nahm einen tiefen Atemzug. Selbst im nördlichsten Dorf Schwedens, mitten in der eisigen Märzkälte, roch er das Meer. Er konnte nur einige hundert Meter davon entfernt sein. Erneut sah er hoch zu den Sternen. Seine Vorfreude vermischte sich mit einem seltsamen Gefühl. Es war kein Gefühl im herkömmlichen Sinne. Man hätte es eine Ahnung nennen können, doch zu dieser Zeit existierten in Noel Zaikows Leben noch keine Ahnungen.

„Noel Zaikow?“ Die Frage blieb hilflos im Raum stehen.

Noel stellte seinen Koffer ungeduldig ab. „Genau, ich habe das Haus reserviert, das Haus auf dem Meer.“ Er hob die Hand und zeigte in die Richtung, in der er das Meer vermutete. Allerdings musste er feststellen, dass er in dem engen Raum die Orientierung verloren hatte. Das Gelb der Tapete hob sich von der veilchenfarbenen Tischdekoration der Rezeption und den vielen Holzelementen ab, die den Raum um mindestens 40 Jahre in die Vergangenheit katapultieren.

„Ja, ja, ja. Genau.“ Der Herr hinter der Rezeption nickte mit einem verständnisvollen Lächeln und die beiden Männer sahen sich einen Moment lang still an.

Das Gesicht des Mannes hing genauso ausgezehrt herunter wie sein übergroßes Jackett, das jedoch verblüffenderweise an den Ärmeln zu kurz geraten war. Die hellen Haare zeigten in alle Richtungen und ließen ihn schläfrig erscheinen, als hätte er eben noch ein Nickerchen gehalten. Nur sein dunkler Schnauzer lag stolz über seiner Oberlippe.

Da der Mann nichts sagte, ergriff Noel erneut das Wort: „Dann können Sie mir doch sicherlich den Schlüssel und eine Wegbeschreibung geben? Ich habe eine lange Fahrt hinter mir und würde mich gerne ausruhen.“

Da kam Leben in das Gesicht des Mannes. „Ja, ja, ja. Selbstverständlich.“ Er sprach Deutsch mit einem mittelstarken Akzent und seine Bewegungen wirkten unkontrolliert und schleppend zugleich.

Er sah Noel kurz an und schritt dann mit einer Handbewegung ins Hinterzimmer, die Noel aufforderte, zu warten. Als er wieder auftauchte, hielt er etwas in der Hand.

„Hier ist Ihr Schlüssel, Herr Zaikow, und das ist eine Wegbeschreibung zu dem Haus. Es ist über einen Steg erreichbar und liegt gleich die Straße runter am Strand.“

Noel nahm ihm Schlüssel und das Blatt Papier ab, auf dem eine Zeichnung zu sehen war, die wie die eines Kindes aussah, und hatte es eilig, den Raum zu verlassen.

Da setzte der Mann erneut an: „Sollten Sie Wünsche haben, verlangen Sie einfach nach Finn Nilsson. Das bin ich.“

Noel nickte, und sie gingen auseinander, während Noel mit Mühe aus dem Zimmer fand.

Draußen begrüßten ihn die eisige Luft und der intensive Geruch des Meeres. Er atmete ein paar Mal tief ein und aus. Ein seltsamer Ort. Alles wirkte ein Stück weit verloren.

Der Preis und die Beschreibung der Ferienhütte auf dem Meer hatten nach ausgezeichnetem Service und einer gut entwickelten, touristisch hergerichteten Gegend geklungen. Noel blickte sich skeptisch um. Im Moment fehlte davon jede Spur.

Die Fassaden der Häuser waren grau und an manchen Stellen heruntergekommen, obgleich sie mit ihren roten Dächern durchaus Farbe besaßen. Die fast schon unnatürliche Stille schien dem Ort jede Lebendigkeit zu rauben und die Laterne über seinem Kopf flackerte müde.

Noel fragte sich, wie es gewesen wäre, wenn er früher angereist wäre. Hätte er eine belebte Straße vorgefunden, mit Familien, die plaudernd vorbeizogen? Würden die Häuser bei Tageslicht anders zur Geltung kommen? Oder wäre es auch still und verlassen?

Er wandte seinen Blick ab und lief mit seinem Koffer die Straße hinunter. Keine Menschenseele war zu sehen und in den Fenstern brannten keine Lichter. Bald erreichte Noel den Strand. In völliger Dunkelheit lag der Steg und das Rauschen des Meeres schien seine einzige Gesellschaft in dieser eisigen Bucht sein. Das Haus sah er noch nicht. Die Finsternis hatte es verschluckt.

Kurz stieg das Gefühl in ihm auf, am falschen Ort zu sein. Er wollte sogar umkehren, merkte jedoch selbst, wie abwegig dieser Gedanke war. So blieb er stehen und dachte nach: Was ist, wenn ich ins Wasser falle? Der Steg war möglicherweise glatt oder machte mittendrin eine gefährliche Kurve.

Er schaute sich um. Weit und breit niemand da und Herr Nilsson würde ihm wohl kaum behilflich sein. Er holte sein Handy raus und schaltete die Taschenlampenfunktion an. Das würde er schon irgendwie schaffen. Er wäre ja nicht der Erste, der diesen pechschwarzen Steg beschritt.

2 Flut und Frost

Das Bett war riesig und weich und das Haus mit seinem breiten Flur und dem wenigen Mobiliar durchaus geräumig. Ein ordentliches Bad gab es ebenfalls – mit frei stehender Badewanne und Regendusche. Er hatte direkt heiß geduscht und jetzt lief Jazz im Hintergrund. In der Minibar gab es nur Sekt in kleinen Fläschchen, also öffnete er eine, räumte seine Sachen in den Kleiderschrank und legte sich nur mit einem Handtuch um die Hüften auf das Bett.

Während er so an die Decke sah, merkte er, wie die Anspannung des Tages nachließ und sich der Sekt trüb um seine Gedanken legte wie eine dicke Wolke. Seine dunklen Haare hinterließen eine kühle Nässe auf dem Kissen und die letzten Wassertropfen von seinem Rücken sogen sofort in den Stoff der Decke. Die Fenster waren groß, doch leider gab es kein Dachfenster – sonst hätte Noel hinauf in die Sterne blicken können. Trotzdem war er zufrieden.

In der ersten Nacht an einem neuen Ort verfiel Noel stets in eine besondere Stimmung. Und da das gewöhnlich nur eine Nacht anhielt, lehnte er sich entspannt zurück und ließ sich mitreißen.

Er erreichte einen Schwebezustand. Einen Ort außerhalb seiner Realität, in einer Lücke zwischen Vergangenheit und Zukunft. Ein kleines Vakuum, das Platz für Illusionen schuf. Platz für die Frage: Was könnte passieren, wenn ich morgen meine Augen öffne?

Gerne malte er sich aus, dass außerhalb seines routinierten Lebens alles möglich war. Theoretisch könnte ihm morgen alles passieren. Allein dieser Gedanke erfüllte ihn mit Aufregung. Gleichzeitig stieß er auf seine Vergangenheit. Wie ein schwerer Sack lag sie vor der Tür der Hütte, in Dunkelheit gehüllt.

Aus dieser Distanz heraus, in diesen ersten Nächten an fremden Orten, gelang es Noel, sein bisheriges Leben von einem Schleier der Nostalgie umhüllt zu betrachten.

Er ließ die bunten Bilder wie eine Filmvorschau vor seinem inneren Auge ablaufen und versuchte, sich ein Urteil über sein Leben zu bilden.

In dieser Nacht stellte er fest, dass er alles erreicht hatte, wofür er bislang gekämpft hatte: Er war nun 30 Jahre alt, leitete ein Unternehmen, hatte eine hinreißende Verlobte an seiner Seite, und bald schon würden sie eine Familie gründen.

Plötzlich drängte sich der tote Vogel auf der Straße wieder in seine Gedanken. Die weißen Federn lagen kreuz und quer auf dem matschigen Boden verteilt.

Noel legte das Handtuch weg und kroch unter die Decke. Morgen wartete ein neuer Tag auf ihn.

Als es das dritte Mal klopfte, zwang sich Noel verwirrt, seine Augen zu öffnen. Im Raum war es schon hell und er brauchte den Bruchteil einer Sekunde, um sich zu erinnern, wo er sich befand. Das passierte ihm oft. Die vielen Reisen als Unternehmensberater brachten ihn hin und wieder durcheinander. Nach und nach flatterten die Erinnerungen des gestrigen Abends herein.

Es klopfte erneut. Langsam richtete Noel sich auf und sah sich um.

„Moment!“, rief er benommen und fragte sich, wer das wohl sein konnte. Vielleicht war Poesie schon angereist.

Es pochte ein weiteres Mal, und nun hörte er, dass das Klopfen nicht von seiner Tür, sondern vom Fenster kam. Erschrocken zog er sich die Decke hoch.

„Was zum Teufel machen Sie da?“ Er wickelte sich die Decke um die Hüfte und sprang aus dem Bett – weg vom Fenster.

Finn Nilsson winkte ihm zu und blickte ihn mit seinem straußenartigen Gesicht aufgeregt an. Als Noel nicht reagierte, zeigte er auf den Fenstergriff.

Langsam wurde das Bild schärfer und Noel erkannte, dass Finn Nilsson nicht wirklich an seinem Fenster stand. Nein, er befand sich knapp unter dem oberen Teil des Fensterrahmens. Zumindest hockte er dort auf einer riesigen Schicht Eis, die das Fenster blockierte, und schaute auf Noel herunter, was nur bedeuten konnte, dass-

„Was ist hier los?“, rief Noel alarmiert.

Finn zeigte erneut auf den Fenstergriff.

Noels Blick huschte durch die Gegend, dann trat er zum Fenster und zog mit aller Kraft an dem Griff. Anfangs klebte die Scheibe am Eis fest, doch Noel riss das Fenster schließlich auf und blickte hoch.

„Was ist hier los?“

„Oh, wie ich sehe, trainieren Sie fleißig!“, rief Finn Nilsson beschwingt. Er hockte auf der Eisoberfläche, die sich circa einen halben Meter über Noels Kopf befand, und sprach durch einen Spalt zwischen Fensterrahmen und Eisblock zu ihm, der als Einziger vom Frost verschont geblieben war.

Noel zog fragend die Augenbrauen hoch.

Finn zeigte auf seinen nackten Oberkörper und grinste.

„Ich… gelegentlich. Was machen Sie da oben?“

„Ja, ja, ja, genau. Deshalb bin ich hier, Herr Zaikow. Hören Sie mal, heute Nacht kam die Flut – im Bottnischen Meerbusen ist das sehr ungewöhnlich. Na ja, immer mal wieder haben wir hier Ebbe und Flut, aber da handelt es sich nur um Zentimeter. Und der März, ach, der März ist so kalt. Mittwoch, ganz ungünstiger Tag, um so prekäre Neuigkeiten zu überbringen, sagte meine Mutter stets: – Gott hab sie selig. Aber na ja, in Ihrer Lage wäre es wohl egal, an welchem Wochentag ich Ihnen diese Nachricht überbringe. Also, wie auch immer. Die Flut kam heute Nacht und der größte Teil des Wassers in dieser Bucht ist nun zugefroren – wie Sie sicher sehen können“, beendete Finn schließlich seine Rede und zeigte auf die dicke Eisschicht unter seinen Füßen.

Noel strich mit dem Finger über das Eis, als müsste er sichergehen, dass er nicht benebelt vom Sekt auf dem Bett lag und schlief. Gestern hatte er noch in die pechschwarze Nacht und auf die groben Konturen der Tundra blicken können. Nun starrte er auf einen stahlblauen Eisblock. Nur oben durch die Lücke, durch die Finn zu ihm heruntersah, konnte man einen weißen Himmel erkennen. Schweißtropfen bildeten sich auf seiner Stirn.

Wortlos lief er aus dem Zimmer hinaus in den Flur zur Haustür und zog mit aller Kraft daran. Sie rührte sich nicht.

„Die Tür müsste ebenfalls vom Eis bedeckt sein!“, hörte er Finn rufen. „Und selbst wenn nicht, würde ich das an Ihrer Stelle nicht tun, denn sollte es durch ein Wunder genau dort nicht gefroren sein, würde das eiskalte Meereswasser zu Ihnen hereinfließen.“

Sofort ließ Noel von der Tür ab und stolperte einige Meter von ihr weg. Finns Worte wurden in seinem Kopf zu einem einzigen, hochfrequenten Geräusch. Keuchend lief er zurück zum Fenster.

„Sie müssen mich hier rausholen!“

„Ja, ja, ja. Genau, daran arbeiten wir schon. Ich denke nur, die einzige Möglichkeit besteht darin, abzuwarten, bis das Eis schmilzt und die Flut verschwindet. Durch diese Fensterlücke passen Sie nicht und die Tür ist versperrt.“

Noel fuhr sich mit einer Hand über sein Gesicht, von der Stirn hinunter zu den Wangenknochen, wo seine Haut im Moment seltsam spannte. Mit der anderen Hand hielt er sich die Decke um die Hüften.

„Aber wie ist das passiert? So was müssen Sie doch wissen. Ich meine, ist das jemals vorgekommen?“

„Nein, nein, nein.“ Finn schüttelte den Kopf. „Wissen Sie, Sie sind unser erster Gast. Ich konnte ja nicht ahnen, dass aus heiterem Himmel die Flut kommt und zeitgleich die Bucht zufriert. Aber in ein paar Wochen wird das alles vorbei sein. Denke ich.“

Finns Worte hallten zuerst dumpf und dann nah und laut in Noels Kopf nach. Wochen?

„Ich bin Ihr erster Gast? Wie ist das möglich? Wissen Sie, was ich für diesen Urlaub bezahlt habe? Er wurde mir als Luxusurlaub von meinem Reisebüro vorgeschlagen.“

Noels Atem ging zu schnell, sodass er kurz innehielt, um kontrolliert Luft zu holen.

„Wissen Sie überhaupt, wer ich bin?“, stieß er dann hervor. Langsam wich der erste Schreck aus seinen Knochen und Wut breitete sich in ihm aus.

„Ja, natürlich, ich habe ja Ihren Ausweis gesehen, Herr Zaikow“, antwortete Finn unbeirrt.

„Das meine ich nicht. Noel Zaikow? Internationale Unternehmensberatung. Ich leite die gleichnamige Firma. Und jetzt verraten Sie mir bitte, wie ich das von hier aus machen soll? Ein paar Wochen eingesperrt in dieser Hütte!“

„Das ist natürlich nicht gerade ein idealer Ort zum Arbeiten, aber Sie sind ja auch hier, um Urlaub zu machen. Was sind da schon ein paar Wochen mehr?“

Das verschlug Noel die Sprache. Mit offenem Mund starrte er den Mann an.

„Wir haben dem Reisebüro gesagt, dass wir nicht adäquat ausgestattet sind für Touristen. Dieses Haus war eigentlich nur ein Experiment. Ein kleiner Nebenverdienst. Ich weiß nicht, wie wir in die Rubrik Luxusurlaube fallen konnten, vor allem in so eine Preisklasse“, plapperte Finn weiter.

Das Netz aus Schweißperlen auf Noels Stirn löste sich und lief über sein Gesicht. Als er einige Tropfen mit seinen Fingerspitzen auffing und betrachtete, schimmerten sie im gedämpften Tageslicht. Wie um alles in der Welt konnte das passieren? Sein Herz raste plötzlich wie verrückt, als hätte es den Ernst der Lage endlich begriffen, während seine Finger taub wurden und zu kribbeln begangen.

„Ich glaube, ich bekomme gleich einen Herzinfarkt. Also gehen Sie jetzt bitte“, sagte Noel ruhig und scheuchte Finn mit einer Geste fort.

Finn Nilsson machte einen überraschten Gesichtsausdruck. „Das würde ich Ihnen nicht empfehlen. Vom Fenster aus können wir Sie bestimmt nicht wiederbe-“

„Gehen Sie jetzt! Ich will mir wenigstens etwas anziehen, bevor ich sterbe!“, rief Noel wütend und griff sich an die Brust. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Er hatte das Gefühl, dass die Luft im Raum immer dünner wurde. Zwar war er dieses Jahr erst 30 geworden, daher war die Wahrscheinlichkeit eines Herzinfarkts gering. Trotzdem gefiel ihm die Vorstellung nicht, tot und nackt aus dieser Hütte herausgeschleppt zu werden.

Finn stammelte etwas vor sich hin, was Noel nicht verstand, und verschwand schließlich.

Atmung ist der Schlüssel zur Selbstbeherrschung, hatte Noel einmal gehört. Und genau die schien ihm einige Meter unter dem Meeresspiegel, eingepfercht zwischen dicken Eisblöcken zu entgleiten.

Sowieso ein seltsames Konstrukt, diese Selbstbeherrschung, dachte Noel sich. Im einen Moment hatte man sie noch und in der nächsten Sekunde saß man schnaubend auf einer Bettkante und hauchte sein Leben aus.

Er nahm einen tiefen Atemzug durch die Nase, hielt die Luft einige Sekunden in der Lunge, bis er den Druck in seinem Inneren spürte, und presste die Luft geräuschvoll über den Mund wieder aus. Einatmen. Ausatmen. Das wiederholte er ein paar Mal.

Wütend schlug er mit der Faust auf die Matratze ein. Kurz kam der verrückte Impuls in ihm hoch, die Tür einzuschlagen oder das Fenster. Es gelang ihm nicht, die Wucht an Gedanken, die ihn zu überfluten schien, zu unterdrücken. Auf der einen Seite war er sicher, dass ihn jeden Moment jemand herausholen würde. Doch je länger er seine Optionen abwog, desto mehr wich dieser Optimismus und eine Ohnmacht breitete sich in ihm aus.

Er musste an Poesie denken, an seine Arbeit. Dann sprangen seine Gedanken zu den möglichen Gefahren. Tatsächlich konnte er hier keine medizinische Hilfe erhalten. Niemand konnte zu ihm rein. Sollte etwas passieren, war er ganz auf sich allein gestellt. Wie würden sie ihn mit Essen versorgen? Wie kalt würde es werden?

Auf einmal wirkte die Hütte winzig. Eng. Als schrumpfte sie vor seinen Augen zu einer Miniaturversion zusammen, bis erst seine Arme und dann seine Beine sich gegen die Wände und Fenster drückten. Er kniff die Augen heftig zusammen und das Bild verschwand.

Nachdem Noel sich schließlich angezogen und etwas beruhigt hatte, tauchte Finn mit einigen Dorfbewohnern an seinem Fenster auf.

„Herr Zaikow, wir haben uns beraten und folgenden Vorschlag für Sie“, fing er an. „Doch zuerst müssen Sie prüfen, ob die Leitungen für das Bad und die kleine Kochnische zugefroren sind. Das würde unseren Plan etwas verkomplizieren.“

Noel runzelte die Stirn. Die Leitungen, klar. Die Klospülung und das Wasser für die Dusche, der Wasserhahn in der Küche. Wieder schlug sein Herz schneller. Fehlendes Wasser würde seine Situation tatsächlich um einiges verschlimmern.

Er lief hastig ins Bad und legte die Hand an die Klospülung. Er war nicht gläubig, doch gerade war ihm sehr nach Beten zumute. Langsam drückte er die Hand auf das Plastik. Jeder seiner Finger zögerte diesen Moment damit hinaus, dass der Druck bedächtig ausbalanciert wurde. Das erhoffte Geräusch erklang augenblicklich. Dann hörte er, wie Wasser in den Spülkasten nachlief.

„Es funktioniert!“

Er schaltete die Dusche an und ließ sie laufen, bis das Wasser wärmer wurde. Dasselbe tat er mit dem Wasserhahn an der Spüle. Schließlich schaute er nach, ob er noch Strom hatte.

„Es funktioniert alles!“, rief er und atmete aus.

„Ja, das haben wir bereits vermutet. Die Leitungen sind besonders tief verbaut, da es häufig vorkommt, dass die Bucht gefriert. Nur auf die Flut waren wir nicht vorbereitet. Gut, zu unserem Plan“, sagte Finn unbeeindruckt.

Noel trat keuchend ans Fenster und stützte die Hände an den Oberschenkeln ab.

Die zwei älteren Frauen und der Mann, die Finn gefolgt waren, blickten verdattert in seine Hütte. Sie trugen dicke Skijacken und Mützen. Nur Finn war in eine dünne Winterjacke gehüllt, die genau wie das Jackett am Vortag zu locker an ihm herunterhing.

„Wir werden Ihnen drei Mal am Tag Essen durch das Fenster reichen. Wir haben schon eine Liste erstellt. Es haben sich einige Bewohner freiwillig gemeldet, die Sie versorgen. Und sobald das Eis schmilzt und die Flut verschwindet, holen wir Sie sofort raus.“

Noel legte die Stirn in Falten. „Das ist Ihr Plan?“

„Genau, das ist unser Plan. In seiner Gänze.“ Finn nickte und alle schauten erwartungsvoll zu Noel herunter.

„Auf keinen Fall, Herr Nilsson! Sie werden mich heute noch aus dieser Hütte befreien. Holen Sie die besten Handwerker des Dorfes oder die Feuerwehr. Ich werde jetzt meinen Assistenten anrufen. In ein paar Stunden bin ich hier raus!“

Finn schüttelte mitleidig den Kopf. „Wir sind ein kleines Dorf, Herr Zaikow. Diese Leute, die Sie hier sehen, sind unsere besten Handwerker und die Feuerwehr.“ Finn zeigte auf die älteren Damen und den Herren neben ihm.

Sie winkten Noel etwas unbeholfen zu. Ein Schauer lief über Noels Rücken. So langsam wurde ihm kalt, immer mehr arktische Luft sickerte von Sekunde zu Sekunde durch die Lücke in den Raum.

„Als letztes Jahr durch einen Schneesturm ein Strommast zusammenbrach, haben wir acht Wochen auf Hilfe gewartet“, erklärte Finn weiter und alle nickten zustimmend.

„Das mag ja sein“, erwiderte Noel mit einem skeptischen Blick und verschränkte die Arme, „aber ich bin nicht irgendjemand. Viele Menschen haben ein Interesse daran, dass ich hier rauskomme. Und ich habe die nötigen Mittel, das zu arrangieren.“

Mit diesen Worten drehte er sich vom Fenster weg und wählte die Nummer seines Assistenten.

Er würde das selbst in die Hand nehmen.

Noch nie hatte das Telefon so lange geklingelt. Jeder Piepton schnürte Noel die Kehle ein Stück weiter zu.

Was konnten diese Dorfleute schon tun? Natürlich. Es lag an ihm. Er würde sich selbst hier herausholen. Immerhin war er es gewohnt, Probleme zu lösen. In seiner Firma tat er den ganzen Tag nichts anderes. Das Gewicht, das sich durch all die Blicke auf ihn legte, wenn eine wichtige Entscheidung getroffen werden musste, trug er schon seit Jahren mit sich herum. Es war nur eine Frage des Auftritts. Und im Augenblick ruhten die Blicke der Dorfbewohner auf seinem Rücken. Er konnte sie deutlich spüren, jeden Einzelnen.

„Herr Zaikow?“, meldete sich endlich eine Stimme am Ende der Leitung. „Ich habe nicht mit Ihrem Anruf gerechnet.“

„Anas!“, stieß Noel erleichtert hervor und fasste sich schnell wieder. „Sie müssen mir einen Gefallen tun.“

„Herr Zaikow, was Sie wollen! Aber sind Sie nicht mit Frau Ebenburg in Urlaub geflogen?“, sagte Anas mit seinem unverkennbaren Akzent.

Noel lief unruhig durch den Raum und strich sich das dunkle Haar nach hinten. „So war es zumindest geplant. Aber es ist etwas-“, setzte Noel an.

„Dazwischengekommen?“, unterbrach Anas ihn.

„Nicht ganz. Kommen Sie nach Schweden.“

Auf der anderen Seite wurde es still.

Anas war ein junger Syrer, der vor einigen Jahren als Flüchtling nach Deutschland gekommen war. Er hatte seinen Master in Wirtschaftspsychologie mit Bravour bestanden und sich in Noels Firma schnell hochgearbeitet – was erstaunlich war für seine jungen 25 Jahre. Sein Deutsch war nicht einwandfrei, dafür war er überaus engagiert und zuverlässig. Ebenso war er geschickt im Umgang mit schwierigen Kunden und war stets loyal.

Anas arbeitete als Assistent in Noels Firma, aber beide wussten, dass diese Bezeichnung seinen Aufgaben nicht gerecht wurde. Stillschweigend war klar, dass Anas mehr so etwas wie Noels rechte Hand war.

„Sie möchten, dass ich zu Ihnen in Urlaub komme? Wenn es etwas im Büro zu erledigen gibt-“, brachte Anas endlich heraus.

„Nein, nein. Ich brauche Sie hier. Sie werden es verstehen, wenn Sie da sind. Ich buche Ihnen ein Ticket. Wann können Sie fliegen?“

Anas schwieg. Geräusche waren zu hören, dann ein Gespräch auf Syrisch.

„Buchen Sie mir ein Ticket, ich kann in zwei Stunden am Flughafen sein.“

„Danke, Anas. Ich bin Ihnen etwas schuldig.“ Noel legte auf und drehte sich wieder zu den Dorfbewohnern um. „Sehen Sie. Mein Assistent wird in einigen Stunden eintreffen, und dann werden wir schauen, wie es weitergeht. Und jetzt hätte ich gerne mein Frühstück. Ich habe immerhin mit Vollpension gebucht.“

3 Das singende Eis

Der Frost ruhte über der Tundra. Ohrenbetäubend thronte er auf den kahlen Gipfeln. Totenstill herrschte er zwischen den Bäumen. Im Wasser breitete er sich aus – dort in der nachtblauen Finsternis, wo sich kein Lebewesen hin verirrte.

„Wusstest du, dass das Eis singen kann?“

„Hörst du es singen, Noel?“

Noel schreckte hoch. „Poesie?“

Ihre Stimme war ganz nah an seinem Ohr. „Hörst du es singen?“

Noels weit aufgerissene Augen huschten suchend in dem Raum umher, der durch das Eis vor den Fenstern in einer seltsam sterilen Dämmerung lag. Niemand war da. Es war nur ein Traum. Er musste eingeschlafen sein, während er auf den Anruf von Poesie gewartet hatte. Er hatte einige Male versucht, sie zu erreichen, doch sie war nicht rangegangen.

Etwas benommen stand er auf und betrachtete das Zimmer: das große Bett, den Kleiderschrank aus warmer Eiche, die beigefarbenen Wände. Gänsehaut lief seine Arme entlang, also holte er sich einen dunkelgrauen Baumwollpullover aus dem Schrank und zog ihn über.

Dann sah er zum Fenster. Das Eis war immer noch da, die Oberfläche befand sich vielleicht eine Handbreit unter dem Sturz. Unentschlossen blieb er vor dem Fenster stehen, doch letztlich öffnete er es und legte den gefrorenen Eisblock frei. Mit den Fingern strich er über die glatte Fläche. Es musste bis weit unten zugefroren sein.

Es war dunkel, fast schon schwarzblau. Einige helle Linien verliefen wie Adern durch den starren Block. Hier und da hatten sich weiße Kristallblüten verirrt: Es sah aus wie ein Gemälde. Das Eis wirkte eine seltsame Anziehung auf ihn aus. Er bekam Lust, in die tieferen Schichten hineinzublicken, zu erfahren, welche verborgenen Symbole und Muster sich ihm offenbaren würden. Gleichzeitig zog sich alles in Noel zusammen. Die Unerschütterlichkeit und Kälte, die von dem Eisblock ausgingen, fütterten die Angst in ihm, längere Zeit in der Hütte gefangen zu sein.

Hörst du es singen?

Noel lauschte. Sein Atem ging ganz flach, um möglichst wenig Geräusche zu machen. Langsam lehnte er seinen Kopf nach vorne, hielt sein Ohr an den kalten Block und hörte genau hin. Nichts.

Plötzlich klingelte das Telefon. Noel zuckte zusammen und fuhr herum. Was für ein Schwachsinn! Was tat er denn da? Schnell lief er zum Bett und nahm den Anruf an.

„Hallo? Poesie?“

„Hey, wie geht es dir?“

„Wo bist du? Bist du auf dem Weg? Hör zu, es ist etwas passiert …“

„Ich weiß, ich habe es schon gelesen.“

„Über Nacht kam die Flucht, und die Bucht ist eingefroren und hat die Ferienhütte umschlossen. Es ist kaum – Warte. Was meinst du damit, du hast davon gelesen?“ Er lief unruhig durch den Raum.

„Ich habe es in den Nachrichten gelesen. Es steht überall“, sagte Poesie. Plötzlich fiel Noel auf, wie still es bei ihr war.

„Wie ist das denn an die Presse gekommen?“ Der Kragen seines Pullis fühlte sich auf einmal eng an und er fing an, an ihm zu zerren. Seine Lage war also so ernst, dass schon die Presse davon Wind bekommen hatte.

„Ich weiß nicht. Vielleicht hat es jemand ausgeplaudert. Womöglich redet das ganze Dorf darüber.“

Noel stellte sich vor, wie Poesies Rehaugen beim Sprechen umherhuschten und wie sie dabei mit einer ihrer rotbraunen Locken spielte. Sie wickelte sie mit dem Zeigefinger auf und wieder ab.

„Wo bist du gerade?“, fragte er erneut.

„Ich wollte heute den Flug nehmen, aber die Stoffe, die wir bestellt haben, haben nicht die richtige Waschung, also mussten wir alles zurückschicken und neu bestellen. Wir haben nicht mehr viel Zeit, daher werde ich bleiben, bis die Kleider fertig sind“, erklärte sie.

Das hieß, sie war im Büro. In ihrem Atelier. Deshalb die Stille im Hintergrund.

Poesie war einer der Menschen, über die man sagen konnte, dass sie ihre Berufung gefunden hatten. Ihre Kollektionen waren der Spiegel ihrer Seele. Sie entwarf aufwendige Kleider, bestickte sie von Hand, Perle für Perle fein säuberlich aufgefädelt, ohne Murren oder ein nervöses Zucken. Seide, Tüll, Samt, Spitze waren ihre Welt. Die Wände des Ateliers waren mit Fotocollagen beklebt. Es handelte sich um Bilder von bläulich schimmernden Wäldern mit märchenhaften Tierwesen. Darauf waren Brombeerbüsche zu sehen, die sich in das Bild drängten – warme Farben von melancholischer Düsterheit. Menschen mit dramatischen Gesten, deren Augen sich aufgequollen zum Himmel reckten, hinter ihnen überladene Barockkulissen oder Frauen in ihren aufgeplusterten Kleidern, die sich tuschelnd die Hände vor die Lippen hielten.

Jedes Foto wurde von Poesie aufgehängt und mit angehobenem, spitzem Kinn gemustert, um die inspirierende Wirkung sicherzustellen.

Noel musste diesen Meisterwerken, die sie Kleider nannte, zahlreiche Tage und Nächte abtreten. Manchmal beneidete er Poesie dafür, mit wie viel Hingabe sie sich ihrer Tätigkeit widmete. Ganz anders als er, der an manchen Tagen dem Feierabend regelrecht entgegenrannte.

„Außerdem kann ich ja nicht zu dir rein, also kann ich dich genauso gut am Telefon unterstützen“, sprach sie weiter.

Am Telefon. Diese zwei Wörter kamen wie zwei dunkle Gestalten durch die Tür geplatzt und starrten grinsend auf Noel herab. Natürlich konnte sie nicht zu ihm in die Hütte. Trotzdem hatte Noel sich gewünscht, dass sie sich ein Zimmer im Dorf buchen würde und ihn am Fensterspalt besuchen käme. Jetzt jedoch, wo die zwei Wortgestalten ihn höhnisch von oben musterten, erlosch seine Hoffnung.

Wieso sollte sie in die arktische Kälte zu einer eingefrorenen Hütte kommen und dort stundenlang an einem Fensterspalt sitzen? Er hätte es ganz sicher getan, aber natürlich würde er das nicht von ihr einfordern. Er sackte auf die Bettkante. Obwohl ein Teil von ihm es seit dem Morgen gewusst hatte, hatte er den Gedanken bis zum jetzigen Zeitpunkt erfolgreich von sich wegschieben können. Nun betrat eine weitere Gestalt vor Noels innerem Auge den Raum: Allein.

Allein stellte sich gebückt zu den anderen beiden und faltete die verschwitzten Hände zusammen.

Er war eingesperrt, gefangen. Es gab nichts weiter um ihn herum als Schicht für Schicht unnachgiebiges, hartes Eis. Meterweit unter dem Meeresspiegel. Abgetrennt von allen Menschen. Hier war kein weiterer Puls, kein weiterer Herzschlag – nur sein eigener.

Beklemmende Panik, die er bis jetzt in Schach gehalten hatte, machte sich in ihm breit. Wie Feuer brannte sie sich durch seine Brust.