Der Mensch Martin Luther - Lyndal Roper - E-Book

Der Mensch Martin Luther E-Book

Lyndal Roper

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Beschreibung

Ein neues Bild Martin Luthers, eine einfühlsame, mehrfach ausgezeichnete Biographie, die uns Luther so nahe bringt wie nie zuvor. Hier erfahren wir, wer Luther wirklich war und warum gerade er zum großen Reformator wurde, der die Welt aus den Angeln hob. Die renommierte Oxford-Historikerin Lyndal Roper hat sich aufgemacht, Luthers ganze Persönlichkeit zu verstehen, seine innere Welt und die Beziehungen zu seinen Freunden nachzuvollziehen. Dafür hat sie seine Schriften und vor allem seine Briefe noch einmal neu gelesen und zahlreiche Dokumente über Luther und sein Umfeld ausgewertet. Sie schildert den Reformator als Mann, der mit beiden Beinen im Leben stand, als Menschen aus Fleisch und Blut. Für Luther waren der Körper und die Sexualität Teil des Mensch-Seins, er wollte den Körper vom Makel der Sünde befreien. Sein Glaube an die Einheit von Körper und Geist führt zum Kern seiner Theologie, der zu einem der großen Streitpunkte des Christentums werden sollte: Luthers unumstößliche Überzeugung, dass Christus bei der Eucharistie leibhaftig anwesend ist. Erst durch die lebendige Darstellung von Luthers innerer Entwicklung wie auch seiner Beziehungen und Freundschaften wird deutlich, warum und wie es zur Reformation kommen konnte. Eine großartige Lektüre, ein Lesevergnügen für alle, die Luther und die Reformation neu entdecken oder erstmals kennen lernen wollen – eine neue Luther-Biographie für unsere Zeit. Opulent ausgestattet mit mehr als 100 Abbildungen in Schwarzweiß und Farbe. »Ein brillanter Blick auf Luther als Mensch.« Professor Dr. Karl-Heinz Göttert »Lyndal Roper bürstet Luther gegen den Strich und legt neue, bislang unerkannte Facetten des großen Reformators frei.« Professor Dr. Thomas Kaufmann »Lyndal Roper ... zählt zu den prägenden Gestalten der internationalen Geschichtswissenschaft.« Aus der Begründung der Jury zur Verleihung des Gerda Henkel Preises 2016 an Lyndal Roper

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Seitenzahl: 1187

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Prof. Dr. Lyndal Roper

Der Mensch Martin Luther

Die Biographie

Aus dem Englischen von Holger Fock und Sabine Müller

FISCHER E-Books

Inhalt

[Widmung]Einleitung[Karte: Kerngebiet der Reformation 1524–1546]Erstes Kapitel Mansfeld und der BergbauZweites Kapitel Der StudentDrittes Kapitel Das KlosterViertes Kapitel WittenbergFünftes Kapitel Reisen und DisputationenSechstes Kapitel Die Leipziger DebatteSiebtes Kapitel Die Freiheit eines ChristenmenschenAchtes Kapitel Der Reichstag von WormsNeuntes Kapitel Auf der WartburgZehntes Kapitel Karlstadt und die Christliche Stadt WittenbergElftes Kapitel Im Gasthof Schwarzer BärZwölftes Kapitel Der BauernkriegDreizehntes Kapitel Hochzeit und SinnesfreudenVierzehntes Kapitel ZusammenbruchFünfzehntes Kapitel AugsburgSechzehntes Kapitel »Eine feste Burg«Siebzehntes Kapitel Freunde und FeindeAchtzehntes Kapitel HasstiradenNeunzehntes Kapitel Der Wagenlenker IsraelsAnhangDankAbkürzungenZum Umgang mit ZitatenBibliographieArchive und BibliothekenPrimärliteraturSekundärliteraturAbbildungsnachweis[Tafelteil]

Für meinen Vater Stan Roper

(21.6.1926–22.5.2016)

Einleitung

Für Protestanten ist es fast ein Glaubensartikel: Die Reformation soll damit begonnen haben, dass der schüchterne Mönch Martin Luther am 31. Oktober 1517, dem Vorabend von Allerheiligen, 95 Thesen an das Portal der Wittenberger Schlosskirche nagelte und damit eine religiöse Revolution in Gang setzte, die das christliche Europa für immer erschütterte. Für Luthers nächsten Mitarbeiter Philipp Melanchthon war Luther derjenige, »der uns (…) das Licht des H. Evangeliums neu entzündet hat«, und ihm verdanken wir die knappe Beschreibung des Ereignisses vom 31. Oktober.[1] In seinem späteren Leben feierte Luther selbst diesen Augenblick als den Beginn der Reformation und stieß gerne mit Freunden darauf an.[2]

Ein klein wenig historische Entzauberung ist immer heilsam, besonders bei Ereignissen von solcher Tragweite. Wie der katholische Kirchenhistoriker Erwin Iserloh 1962 darlegte, hat Luther selbst das Ereignis nie erwähnt, sondern lediglich gesagt, er habe an Erzbischof Albrecht von Mainz und den Bischof von Brandenburg, Hieronymus Scultetus, Briefe geschickt, in denen er den missbräuchlichen Verkauf von päpstlichen Ablassbriefen offen verurteilte, und seine Thesen beigelegt.[3] Die Geschichte, er habe sie an das Portal der Schlosskirche genagelt, ist uns von Melanchthon und Luthers Sekretär Georg Rörer überliefert, doch keiner von beiden war zu der Zeit in Wittenberg und hatte das Geschehen als Augenzeuge erlebt.[4] Andere haben vermutet, die Thesen seien, weit weniger dramatisch, nicht an die Tür genagelt, sondern geklebt worden.[5]

Ob Luther einen Nagel oder den Leimtopf verwendete, wird man wahrscheinlich nie mit Sicherheit wissen. Gesichert ist jedoch, dass er die Thesen am 31. Oktober an Erzbischof Albrecht sandte, den ranghöchsten Kirchenfürsten in Deutschland. Das Begleitschreiben hatte einen bemerkenswert selbstsicheren, sogar arroganten Beiklang. Nach einer unterwürfigen Eröffnung verurteilt Luther in seinem Brief unverblümt die mangelnde Fürsorge des Bischofs für seine Herde und fordert Albrecht auf einzuschreiten. Andernfalls könne am Ende vielleicht einer auftreten, der mit öffentlichen Schriften die Ablassprediger zum Schweigen bringe, die den Käufern versprechen, dass ihnen die Zeit im Fegefeuer erlassen wird.[6] Einen ähnlichen Brief schrieb Luther an seinen direkten Vorgesetzten, den Bischof von Brandenburg. Diese Briefe stellten eine weit größere Provokation dar als der Aushang der Thesen im Provinzstädtchen Wittenberg, und sie mussten eine Antwort nach sich ziehen. Schon damals wurde eines von Luthers Talenten sichtbar: seine Fähigkeit, ein Ereignis zu inszenieren, etwas Spektakuläres zu tun, das ihm Aufmerksamkeit verschaffte.

Luthers Reformation spaltete die Einheit der katholischen Kirche für immer, und man kann ihr sogar den Beginn des Säkularisierungsprozesses im Westen zuschreiben, denn durch sie verlor der Katholizismus seine Monopolstellung in weiten Teilen Europas. Dabei begann alles an einem ziemlich unwahrscheinlichen Ort. Die winzige neue Universität von Wittenberg kämpfte darum, sich einen Namen zu machen; die Stadt selbst war ein Baugelände mit »verdreckten Häusern, unreinen Gassen, alle Wege und Straßen voller Unrat«. Sie lag am Ende der Welt, wie Humanisten aus dem Süden spotteten, weit weg von großen Reichsstädten wie Straßburg, Nürnberg oder Augsburg mit ihren Verbindungen zum mondänen Italien. Sogar Luther merkte an, sie sei so fernab der Zivilisation, dass nur ein kleines Wegstück fehle, und sie hätte in einem barbarischen Land gelegen.[7] Auch Luther selbst war ein Revolutionär, wie ihn niemand erwarten würde. Kurz nach seinem 34. Geburtstag war er bereits seit zwölf Jahren Mönch, hatte sich im Augustinerorden hochgearbeitet und war zu einem bewährten Provinzialvikar und Universitätsprofessor geworden. Er hatte so gut wie nichts veröffentlicht, und seine Erfahrung als Verfasser von Schriften, die sich an die Öffentlichkeit wandten, beschränkte sich weitgehend auf Thesen für Disputationen, Beiträge zur Bibelauslegung und Predigten, die er als Ghostwriter für faule Kollegen verfasste. Obwohl die Kirche sehr zögerlich reagierte, verbreiteten sich die 95 Thesen in Deutschland wie im Fluge. Ihre Leserschaft war groß, sowohl unter Laien als auch unter Klerikern. In nur zwei Monaten waren sie in allen deutschen Ländern bekannt und bald auch weit über deren Grenzen hinaus.

Was immer am 31. Oktober 1517 tatsächlich geschehen ist, an der Bedeutung der Thesen selbst gibt es keinen Zweifel: Ein einziger Text wurde zum Zündfunken für die Reformation. Thesen waren Listen mit durchnummerierten, für die akademische Debatte bestimmten Behauptungen, wenngleich eine Debatte in diesem Fall nie stattfand und Luther wahrscheinlich nie die Absicht hatte, eine solche zu initiieren. Thesen wurden nicht in zusammenhängender Prosa verfasst, und sie beanspruchten auch nicht, die Wahrheit wiederzugeben: Thesen waren hypothetische Behauptungen, die durch eine anschließende Beweisführung überprüft werden sollten, und sie waren so knapp und zugespitzt formuliert, dass es schwer war, sie zu verstehen. Nur wenige zeitgenössische Drucke von Luthers Text haben überdauert, darunter keiner aus Wittenberg selbst.[8] Einseitig auf ein großes Blatt Papier gedruckt, waren sie dazu bestimmt, an einer Wand angeschlagen zu werden – was darauf hindeutet, dass an der Geschichte mit der Kirchentür etwas dran ist –, wenngleich es bei der Größe des Schriftbilds schwer gewesen wäre, Luthers Thesen zu lesen. Darüber aber befand sich in größeren Buchstaben eine Einladung im Namen Luthers, über diese Thesen in Wittenberg zu diskutieren.[9]

Die erste These beginnt mit den Worten »Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht ›Tut Buße‹ usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben des Gläubigen Buße sein soll.« Das Lateinische legt die Betonung auf das Hauptverb voluit (»wollte er«), also darauf, was das Leben der Gläubigen nach Gottes Willen sein soll. Diesen Gedanken führt Luther ohne Umschweife weiter, indem er meint, man könne dies nicht so auslegen, als müsse man lediglich die frommen Bußübungen vollziehen, die einem der Priester auferlegte, etwa beten oder Ablassbriefe kaufen. Die scheinbare Schlichtheit dieser Aussage ist trügerisch; sie ist in Wirklichkeit eine Generalkritik am gesamten Gebäude der spätmittelalterlichen Kirche.[10]

Wie konnte eine so einfache Botschaft solche Auswirkungen haben und einen solchen Tumult auslösen? Luther war nicht einmal der Erste oder der Einzige, der die Ablassbriefe kritisierte. Luthers Beichtvater etwa, der Augustiner Johann von Staupitz, hatte dies in Predigten im Jahr 1516 ebenfalls getan. Wie dieser formulierte Luther lediglich einen alten Standpunkt in Bezug auf die Natur der Gnade, der auf Augustinus zurückging: die Vorstellung, dass wir unser Heil nie durch unsere eigenen guten Taten sichern können und dass wir ganz auf Gottes Gnade vertrauen müssen. Luther jedoch klagte darüber hinaus an, das Bußsakrament sei pervertiert und von einer geistigen Übung zu einem Geldgeschäft geworden. Auslöser seiner Wut waren, wie er sich später erinnerte, die Predigten des Dominikanermönchs Johannes Tetzel in der nahe gelegenen Stadt Jüterbog, der behauptete, seine Ablässe seien so wirksam, dass sie selbst jemandem, der der Jungfrau Maria Gewalt angetan habe, vollständige Vergebung und Begnadigung vom Fegefeuer garantierten. Das Problem der Ablässe war ein vieldiskutiertes Thema in theologischen und politischen Debatten, und ursprünglich sahen manche im Streit um den Ablass kaum mehr als einen der häufigen Schlagabtausche zwischen den Mönchsorden, eine Episode in der seit langem bestehenden Rivalität zwischen den Dominikanern und den Augustinern, zu denen Luther gehörte.

Doch es war weit mehr als das. Mit dem Argument, Christen könnten sich weder durch gute Werke noch durch den Anblick von Reliquien oder den Erwerb von Ablassbriefen vom Fegefeuer befreien, griff Luther die Behauptung der mittelalterlichen Kirche an, sie sei durch das Spenden der Sakramente imstande, Vergebung zu gewähren und die Erlösung zu erleichtern. Für Luther zeigten diese Praktiken, dass die Natur der Sünde, der Buße und der Erlösung grundlegend missverstanden wurde. Der Chronist der Protestanten Friedrich Myconius berichtete später, einige von Luthers Gemeindemitgliedern hätten sich beschwert über Luther und seine Weigerung, ihnen die Sünden zu erlassen – »da wollt sie, weil kein rechte Buss noch Besserung da angegeben wurd, der Doctor nicht absolvieren« –, und sie seien mit Ablassbriefen von Tetzel angekommen, da »sie weder von Ehebruch, Hurerei, Wucherei, unrechtem Gut und dergleichen Sünd und Bosheit nicht ablassen wollten«.[11]

Mit seinem Angriff auf das Verständnis von Buße traf Luther unausgesprochen das Herz der Papstkirche und ihr gesamtes ökonomisches und soziales Gefüge, das auf der systematischen Vermarktung einer Methode zur kollektiven Seelenerlösung beruhte, die es ermöglichte, dass Menschen für andere beteten und damit deren Zeit im Fegefeuer verkürzten. Dieses System finanzierte die Heerschar des klerikalen Proletariats aus Priestern, die dafür bezahlt wurden, dass sie für die Seelen der Verstorbenen jährlich am Todestag Messen lasen. Es finanzierte fromme Laienhelferinnen in Armenhäusern, die Gebete für die Seelen der Toten sprachen, um ihnen den Gang durchs Fegefeuer zu erleichtern. Es finanzierte religiöse Bruderschaften, die für ihre Mitglieder beteten, Messen lasen, Prozessionen veranstalteten und besondere Altäre finanzierten. Kurz, dieses System strukturierte das religiöse und soziale Leben der meisten Christen im Mittelalter. In seinem Zentrum stand der Papst, der einen »Gnadenschatz« verwaltete – aus dem andere gute Taten bezahlt werden konnten. Ein Angriff auf den Ablass musste daher früher oder später zur Infragestellung der päpstlichen Macht führen.

Niemand zwang die Menschen, Ablassbriefe zu kaufen, doch der Markt für sie war groß. Wenn der Ablassverkäufer in die Stadt kam, »so trug man die Bulla auf einem sammet oder gülden Tuch daher, und gingen alle Priester, Mönch, der Rat, Schulmeister, Schüler, Mann, Weib, Jungfrauen und Kinder mit Fahnen und Kerzen, mit Gesang und Prozession entgegen. Da läutet man alle Glocken, schlug alle Orgel, geleitet ihn in die Kirchen, richtet ein rot Kreuz mitten in der Kirchen auf, da hängt man des Papstes Panier an usw.«[12] Das System war so gut durchorganisiert, dass die Ablassbriefe sogar vor Ort auf Pergament gedruckt wurden, auf dem man nur noch den Namen der Person eintragen musste, zu deren Gunsten sie gekauft wurden.

Die Explosivität von Luthers Thesen ergab sich aber teils auch aus dem Zeitpunkt, zu dem er sie öffentlich machte. An Allerheiligen stellte man die prachtvolle Reliquiensammlung von Kurfürst Friedrich III., dem Reichsfürsten von Sachsen und Luthers Landesvater, in der Schlosskirche von Wittenberg für Pilger aus der weiteren Umgebung aus, und jedem, der sie sah, wurde ein Ablass gewährt. Die Thesen wurden wahrscheinlich während oder unmittelbar vor dieser Feier angeschlagen. Zwar konnten ungebildete Pilger sie nicht lesen; und selbst die gebildete Stadtbevölkerung dürfte Mühe gehabt haben, sie zu verstehen. Doch die Empfänger von Luthers Brief dürften die Bedeutung des Zeitpunkts im vollen Umfang begriffen haben, ebenso seine theologischen Kollegen in Wittenberg. Für die Letztgenannten kratzten die Thesen am eigenen Auskommen, da die Universität von zwei Geldquellen abhängig war: von dem, was die »Allerheiligen«-Stiftung durch das Lesen von Messen für die Toten erwirtschaftete, und von dem, was die Pilger zahlten, die kamen, um die Reliquien zu sehen, damit ihnen Zeit im Fegefeuer erlassen wurde.

Zu diesem Zeitpunkt wusste Luther freilich nicht, dass der besondere »Ablass-Skandal«, gegen den er sich wendete, weit mehr umfasste als die unverfrorenen Predigten Johannes Tetzels, dessen Werbespruch angeblich sinngemäß lautete: »Sobald der Gülden im Becken klingt, im huy die Seel im Himmel springt.« Tetzel speiste mit seinem Ablasshandel eine ganze Reihe von grundlegenden Praktiken, die die Kirche finanzierten. Das Geld, das der Priester einsammelte, sollte angeblich für den Wiederaufbau des Petersdoms nach Rom gehen. In Wirklichkeit floss die Hälfte direkt an die Bankiersfamilie Fugger in Augsburg, das reichste Handelshaus jener Zeit. Ihnen schuldete der Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg Geld. Als jüngster Sohn einer mächtigen Fürstenfamilie war Albrecht im Alter von 23 Jahren Erzbischof von Magdeburg geworden. Doch dann stand überraschend das Erzbistum Mainz zur Disposition, das reichste Bistum Deutschlands. Diese Gelegenheit wollte sich Albrecht nicht entgehen lassen. Der Heilige Stuhl versuchte jedoch, die Ämterhäufung von Bischöfen zu unterbinden, und nach Albrechts Amtsübernahme in Magdeburg war zudem angeordnet worden, dass künftige Bischöfe mindestens 30 Jahre alt sein mussten.[13] Der Streit wurde zu Albrechts Gunsten beigelegt, als dieser sich bereit erklärte, mit einer Summe von 21000 Dukaten zum Neubau des Petersdoms beizutragen – Geld, das er nicht hatte. Er lieh es sich von den Fuggern, obwohl deren frühkapitalistischer Handel von der Kirche als Wucher angesehen wurde. Um die Schulden abzubezahlen, verlegte sich Albrecht darauf, Gelder wie die Einnahmen aus Tetzels Ablasshandel in seine Taschen umzuleiten. Mit anderen Worten: Luthers Thesen griffen nicht nur die päpstliche Macht an, sondern auch, ohne dass er es selbst wusste, einen der mächtigsten Männer Deutschlands und das reichste Bankhaus Europas.

In den ersten Tagen nach Versendung der 95 Thesen passierte nicht viel. Es fand keine Disputation statt. Der Bischof von Brandenburg scheint auf Luthers Brief nicht geantwortet zu haben. Als ihm Luther dann seine ausführlichen Erläuterungen und die Verteidigung seiner Thesen sandte, empfahl der Bischof einen Aufschub der Veröffentlichung, was Luther offenbar – fälschlicherweise – als Wink interpretierte, dass der Bischoff mit seinen Ideen sympathisiere. Erzbischof Albrecht von Mainz hielt sich gerade in Aschaffenburg auf, als die Thesen bei ihm ankamen, doch auch er antwortete nicht auf den Brief. Stattdessen sandte er das Schriftstück zur theologischen Überprüfung an die Universität Magdeburg und daraufhin weiter nach Rom. Dieser Schritt sorgte dafür, dass die Thesen eine ernste Angelegenheit wurden, da jetzt eine päpstliche Untersuchung wegen des Verdachts der Häresie begann. Albrechts bürokratischer Akt bedeutete, dass die Angelegenheit nicht länger ein Problem darstellte, das nur einen kleinen Teil von Deutschland anging: Die Thesen waren zu einem Ereignis geworden, das die gesamte Kirche betraf.

*

Luther bewegte sich zeitlebens in einem kleinen, begrenzten Umfeld. Er wurde in Eisleben in Sachsen geboren, und ein merkwürdiger Zufall wollte es, dass er auch dort starb. Seine Kindheit verbrachte er in der Bergbaustadt Mansfeld, zwölf Kilometer nördlich von Eisleben, als junger Mann besuchte er die Universität in Erfurt, 80 Kilometer südwestlich davon, und die meiste Zeit seines übrigen Lebens verbrachte er in Wittenberg, 90 Kilometer nordöstlich von Eisleben. Er wagte sich nur einmal aus den Grenzen des Heiligen Römischen Reichs heraus, als er nach Rom reiste, und diese Reise war in seinem späteren Leben lediglich eine Quelle für papstfeindliche Anekdoten und nährte seine Intoleranz gegenüber allem, was nicht deutsch war. Er reiste ausgiebig in Sachsen, doch als die Reichsacht über ihn verhängt war, konnte er sich nur noch dorthin wagen, wo er unter dem Schutz des sächsischen Herrschers stand. Gegen Ende seines Lebens schränkte ihn sein schlechter Gesundheitszustand noch weiter ein, und wenn er zur Predigt in die Kirche wollte, war er darauf angewiesen, in einer kleinen Karre gefahren zu werden. Aber er schuf nach und nach ein über das gesamte Kaiserreich und darüber hinausreichendes Netzwerk von Briefpartnern und Pastoren, für deren Berufung er gesorgt und deren Karrieren er gefördert hatte. Seine Reformation strahlte von Deutschland aus nach Italien, England, Frankreich, in die skandinavischen Länder und nach Osteuropa.

Die Umrisse seiner Biographie sind schnell erzählt. Seine Kindheit sticht durch nichts hervor, außer in einer Sache: Er kam aus einer Hüttenregion. Die Wirtschaftsform des Bergbaus unterschied sich sehr von der Welt der Werkstätten und Kleinunternehmen, die für die meisten Städte im 16. Jahrhundert charakteristisch waren und die das städtische Umfeld bildeten, das so viele Humanisten und Gelehrte hervorgebracht hat. Luthers Familie investierte in die Ausbildung ihres Sohnes und wollte einen Rechtsgelehrten aus ihm machen, ein Beruf, der geholfen hätte, das familiäre Hüttenunternehmen zu schützen. Doch 1505 gab der junge Mann zum Entsetzen seines Vaters das Jurastudium auf und trat ins Augustinerkloster in Erfurt ein. Dort geriet er unter den Einfluss von Johann von Staupitz, einem als Gründungsprofessor maßgeblich am Aufbau der neuen Universität in Wittenberg beteiligten Augustiner, der den jungen Mönch dazu brachte, sich dem Theologiestudium zuzuwenden und ein Doktorat anzustreben. Nachdem er zügig in der Hierarchie des Ordens aufgestiegen war, übernahm Luther schließlich Staupitz’ Lehrstuhl an der Universität und beteiligte sich aktiv an deren Reformierung. Bis 1517 die 95 Thesen über die Welt hereinbrachen.

Die Thesen enthielten kein ausgearbeitetes theologisches Programm; eher radikalisierte sich Luther durch die Gegnerschaft, auf die er stieß, und die Argumente und Angriffe anderer veranlassten ihn, seine Theologie zu entwickeln und seine Ideen weiterzutreiben. Die Reformation entstand durch eine Reihe von Disputationen und Debatten mit seinen Gegenspielern in Heidelberg, Augsburg und Leipzig. Luther wusste, dass Häresie mit dem Scheiterhaufen bestraft wurde und dass er wahrscheinlich sein Leben verlöre, wenn er von der Kirche inhaftiert und verhört würde. Das bedeutete, dass er seine Glaubenslehre unter dem doppelten Druck der beständig aggressiver werdenden Argumentation seiner Gegner und des drohenden Märtyrertodes entwickelte.

1521 wurde Luther, der inzwischen in ganz Deutschland bekannt war, von Kaiser Karl V. zum Reichstag nach Worms vor die Reichsstände geladen. Viele glaubten, er werde das Risiko nicht eingehen, dort zu erscheinen, doch nach seinen eigenen Worten gab es nichts, was ihn davon abhalten konnte, selbst wenn er gewusst hätte, »dass so viele Teufel hinter mir her waren, wie es Ziegel gab auf den Dächern zu Worms«.[14] Der Mut, den er in Worms an den Tag legte, war atemberaubend. Als gewöhnlicher Bürger dem Kaiser und den mächtigsten Reichsfürsten die Stirn zu bieten und sich der Macht der Kirche entgegenzustellen war ebenso außerordentlich wie unvergesslich. Mehr als seine Theologie trug wahrscheinlich dieses entscheidende Ereignis dazu bei, die Menschen von der Reformation zu überzeugen und Hoffnungen und Erwartungen Gestalt zu geben. Wie in jeder revolutionären Bewegung wurden Luthers Ideen aufgebauscht und gebrochen durch das, was die Menschen auf der Straße oder in Predigten hörten oder was ihnen über seine Taten zu Ohren kam.

Der Reichstag endete mit der deutlichen Verurteilung durch den Kaiser. Auf seinem Rückweg von Worms wurde Luther, der nun in Lebensgefahr schwebte, auf Anweisung seines Herrn und Protektors Friedrichs des Weisen entführt und zu seiner eigenen Sicherheit in die Wartburg geleitet. Dort brachte er die folgenden zehn Monate abgeschieden von der Welt damit zu, in rasender Geschwindigkeit Schriften zu verfassen und das Neue Testament zu übersetzen. In der Zwischenzeit schritt die Reformation in Wittenberg rasch ohne ihn voran. Unter der Führung von Andreas Karlstadt wurde sie immer radikaler und wandte sich Fragen zu, die wenig Unterstützung und moralischen Rückhalt fanden. Als Luther im März 1522 nach Wittenberg zurückkehrte, verlangte er umgehend die Rücknahme der Reformen, weil sie zu schnell gekommen seien. Es kam zum endgültigen Zerwürfnis mit Karlstadt, der inzwischen einen anderen Standpunkt zum Abendmahl einnahm und die Auffassung vertrat, dass Christus in Brot und Wein nicht wirklich gegenwärtig sei, eine Ansicht, die Luther leidenschaftlich zurückwies.

Dieser Bruch deutete bereits in die Zukunft, in der etliche Leute Luthers Theologie entsprechend ihrer eigenen Auslegung benutzten, um ihre speziellen Ziele zu verfolgen – ein Prozess, gegen den sich Luther wohl verwahren konnte, der aber außerhalb seiner Kontrollmöglichkeiten lag. Als die Reformation sich ausbreitete, begann sie auch zu zersplittern, da viele Menschen in Süddeutschland, in den Schweizer Städten, in Schlesien und sogar in Sachsen sich von denjenigen überzeugen ließen, die bestritten, dass der Leib Christi in der Kommunion wahrhaft gegenwärtig sei.

Überall im Reich begannen Menschen in Städten und Dörfern, evangelische Freiheit zu fordern, die Berufung evangelischer Priester zu verlangen und bestehende Autoritäten zu stürzen. Wie Luthers Gegenspieler es von Beginn an vorausgesagt hatten, brachte seine Botschaft eine Revolution. 1524 begann der Bauernkrieg, der größte Aufstand, den es in den deutschen Landen je gegeben hat und dem in Europa bis zur Französischen Revolution nichts gleichkommt. Luther scheint am Anfang beide Seiten gleichermaßen scharf getadelt zu haben. Er geißelte die Bauern, während er wie ein alttestamentarischer Prophet gleichzeitig die Herrscher kritisierte, doch schließlich unterstützte er die Fürsten. Mit dieser Haltung wurde der soziale Konservativismus von Luthers Reformation offensichtlich.

Auf dem Höhepunkt des Bauernkriegs beschloss Luther zu heiraten – dem Teufel zum Trotz, wie er erklärte, was sicher eine der merkwürdigsten Begründungen ist, die ein frischgebackener Ehemann je gegeben hat.[15] Die Eheschließung war in der Tat schockierend, doch dass er dies wagte, war ebenso sehr eine Herausforderung der Kirche wie eine des Teufels. Luther war sowohl Priester als auch Mönch, und seine Braut Katharina von Bora war eine Nonne: Beide hatten das Gelübde der Keuschheit abgelegt. Luther war nun nicht länger der blasse, asketische Mönch, er trat in eine neue Lebensphase ein und wurde bald Vater. Dennoch musste er das nun verwaiste Kloster nicht verlassen: Die sächsischen Fürsten überschrieben die Gebäude ihm und seinen Erben. Sein Haushalt, mit den Gästen, Studenten und Kollegen, die ein und aus gingen, wurde zum umfassenden Vorbild für das evangelische Pfarrhaus.

Die neue Kirche brauchte freilich noch eine Rechtsgrundlage. 1530 hielt Kaiser Karl V. einen weiteren Reichstag auf deutschem Boden ab, dieses Mal in Augsburg. Inzwischen war klar, dass es keine Verständigung zwischen Lutheranern und Katholiken geben konnte. In der Frage der Kommunion war die Reformation zu dieser Zeit allerdings selbst gespalten. Luthers Gegner erhielten jedoch kein Rederecht auf dem Reichstag. Die letzten Lebensjahre Luthers waren von Versuchen bestimmt, zu einer Art von Übereinkunft mit den »Sakramentariern« zu kommen. Schließlich wurde eine wackelige Einigung erreicht, doch sie bestärkte Luther in seiner Überzeugung, er habe die ganze Zeit über Recht gehabt – eine psychologische Dynamik, bei der künftiger Ärger für die Bewegung vorprogrammiert war. Zur selben Zeit wurde seine gegen den Papst gerichtete Rhetorik immer harscher. Seine Anprangerung des Papstes als Antichrist verhärtete sich zu einem fundamentalen Axiom seiner Theologie, überdies war sein Lebensabend gekennzeichnet durch heftige Auseinandersetzungen mit früheren Anhängern und durch wilde Hetzschriften gegen Juden. Nach Luthers Tod kam es zwischen verschiedenen Flügeln seiner eigenen Bewegung zu Brüchen, die zu einem Vermächtnis von Spaltungen führten, bei denen sich jede Seite leidenschaftlich auf Luther berief.

*

Das sind die äußeren Begebenheiten, doch sie teilen nichts mit über Luthers innere Entwicklung, die durchgehend im Fokus dieses Buchs liegt. Woher nahm er die innere Kraft, sich Kaiser und Reichsständen in Worms entgegenzustellen? Was brachte ihn so weit? Warum brach er mit Andreas Karlstadt, seinem engen Unterstützer in den ersten Jahren der Reformation? Warum zerstritt sich Luther immer wieder mit den Menschen, mit denen er am engsten zusammengearbeitet hatte, und schuf – zum Entsetzen seiner Anhänger, die fürchteten, auch sie könnten seinen Zorn auf sich ziehen – gallige Feindschaften? Wie konnte der Mann, der überzeugt war, dass es niemandem gelingen würde, ihm »ein Weib aufzuhalsen«, zum Modell des verheirateten Pfarrers werden? In diesem Buch werden Luthers emotionale Wandlungen skizziert, ausgelöst durch die religiösen Umwälzungen, die er selbst in Gang gesetzt hatte. Denn seine Persönlichkeit hatte große historische Auswirkungen – im Guten wie im Schlechten. Sein bemerkenswerter Mut und seine Zielstrebigkeit schufen die Reformation; seine Verbohrtheit und sein Vermögen, Gegner zu dämonisieren, hätten sie beinahe zerstört.

Aufgrund ihrer Tendenz, komplexe Persönlichkeiten und historische Prozesse mit Hilfe von Grundmustern zu erklären, die in der frühen Kindheit angelegt sind, stand die Psychohistorie lange in zweifelhaftem Ruf. Luthers Leben gab den Anstoß für einige der berühmtesten psychobiographischen Studien, darunter Erik Eriksons Buch Der junge Mann Luther und Erich Fromms Kapitel über den Reformator in seinem Buch Die Furcht vor der Freiheit – beide Autoren waren Psychoanalytiker.[16] Erikson war zudem Entwicklungspsychologe, der mit Jugendlichen arbeitete. Sein lebendiges, im Amerika der Nachkriegszeit veröffentlichtes Buch bleibt ein Klassiker. Eines der wichtigsten Merkmale von Luthers Reformation besteht allerdings darin, dass sie nicht das Werk eines jungen Mannes war. Dieses Buch soll unter anderem zeigen, dass Vaterfiguren nur ein Teil dessen waren, was Luther formte, wenngleich die Beziehung zu seinem Vater für seine Persönlichkeit und seinen Glauben grundlegend war und seine Auffassung von den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern seine gesamte Theologie durchdringt.

Es mag verwegen erscheinen, eine psychoanalytisch beeinflusste Biographie gerade des Mannes in Angriff zu nehmen, dessen Biographie zum Inbegriff für die schlechtesten Ausprägungen reduktionistischer Geschichtsschreibung geworden ist.[17] Ein solcher Zugang läuft Gefahr – so könnte man behaupten –, die Rolle individuellen Handelns in der gleichen Weise zu überschätzen, wie es die Luther-Hagiographie des 16. Jahrhunderts tat, und das Verständnis dafür zu blockieren, warum Luthers Ideen bei so vielen Menschen auf fruchtbaren Boden fielen und wie daraus eine soziale Bewegung hervorging. Außerdem könnte man einwenden, es würdige die Theologie herab, wenn man zentrale Ideen auf Folgen unbewusster Wünsche und Konflikte reduzieren würde, und hindere uns zu begreifen, warum Ideen über die Gegenwart Gottes im Sakrament oder über die Natur der Buße so vordringlich wurden.

Allerdings ist die Fülle an Material zu Luther, das überliefert ist, so enorm, dass wir über sein Innenleben wahrscheinlich mehr wissen als über das irgendeines anderen Menschen des 16. Jahrhunderts. Das erlaubt uns, anhand seiner Briefwechsel seine Beziehungen zu seinen Freunden und Kollegen nachzuzeichnen und sogar seine Träume zu untersuchen. Seine gesammelten Werke, die berühmte Weimarer Ausgabe (WA), umfassen 120 Bände, darunter elf Bände mit Briefen und sechs Bände seiner Tischreden. Wo viele Historiker diese Materialfülle dazu genutzt haben, seine theologische Entwicklung in allen Einzelheiten nachzuzeichnen und besondere Ereignisse mit größerer Genauigkeit zu datieren, möchte ich Luther selbst verstehen. Ich will wissen, wie ein Mensch des 16. Jahrhunderts die ihn umgebende Welt wahrnahm und warum er sie so wahrnahm. Ich möchte seine Seelenlandschaft erforschen, um seine Vorstellungen von Fleisch und Seele besser zu verstehen, die aus einer Zeit vor unserer modernen Trennung von Geist und Körper stammen. Insbesondere interessiere ich mich für Luthers Widersprüche. Wir haben es mit einem Mann zu tun, der unter allen Denkern einige der frauenfeindlichsten Äußerungen machte und der trotzdem nicht nur für ehelichen Sex eintrat, sondern auch forderte – und das ist entscheidend –, dass dieser für Frauen und Männer gleichermaßen lustvoll sein sollte. Dieses offensichtliche Paradox zu verstehen ist eine Herausforderung, der ich nicht widerstehen konnte.

Luther war ein Mann mit großem Charisma, aber seine leidenschaftlichen Freundschaften gingen einher mit einer ebenso unerbittlichen Ablehnung derer, von denen er glaubte, sie irrten sich oder seien illoyal. Seine Theologie war Ausfluss seines Charakters, sein Charakter beglaubigte seine Lehre, worauf Melanchthon, einer seiner ersten Biographen und sein engster Mitarbeiter, nachdrücklich hinwies: »Wie schon die alten Griechen sagten: Einem züchtigen Lebenswandel pflegt man am meisten zu trauen.«[18] Luthers Theologie wird lebendiger, wenn wir sie mit den psychologischen Konflikten zusammenbringen, die in seinen Briefen, Predigten, Abhandlungen, Gesprächen und Bibelauslegungen zum Ausdruck kommen. Eine solche Re-Lektüre der Originalquellen, die vom Zuwachs an konfessioneller Gelehrsamkeit absieht, wird uns zeigen, warum scheinbar abseitige und abstruse theologische Fragen ihm und seinen Zeitgenossen so sehr am Herzen lagen und inwieweit sie uns heute noch betreffen können. So gewinnt man, indem man die Erkenntnisse der Psychoanalyse heranzieht, ein umfassenderes Verständnis nicht nur für den Menschen Luther, sondern auch für die revolutionären religiösen Grundsätze, denen er sein Leben widmete, und für seine Hinterlassenschaften, die noch immer so wirkmächtig sind.

Dieses Buch soll keine allgemeine Geschichte der Reformation bieten, nicht einmal eine Geschichte der Reformation in Wittenberg. Noch weniger kann es eine umfassende Interpretation dessen liefern, was wir als Luthertum kennen. Dennoch wird hier dargelegt werden, dass unsere Wahrnehmung der Reformation in den deutschen Ländern verzerrt wurde durch die vorwiegende Beschäftigung mit den süddeutschen Städten, wie sie in der westlichen Wissenschaft während der Nachkriegszeit stattfand. Unser Bild von Luther war ein Erbe des Kalten Krieges, als Historiker aus dem Westen Schwierigkeiten hatten, die Archive im Osten zu benutzen, während ihre Kollegen aus der DDR in erster Linie an sozialen Bewegungen und dem Erbe des religiösen Radikalen und Revolutionärs Thomas Müntzer und weniger an Luther interessiert waren. Infolgedessen ist die Erforschung der sozialen Geschichte des Luthertums noch immer im Gange, und es fehlt eine materialreiche, nuancierte Darstellung der Entwicklung dieser Bewegung, wie sie uns für die bedeutenden Städte Süddeutschlands vorliegt. Weil die westdeutschen Historiker nach dem Krieg so begierig darauf waren, eine demokratische Spur als Anknüpfungspunkt in ihrer eigenen Geschichte zu finden, idealisierten sie die freien und unabhängigen Reichsstädte mit ihren gewählten Räten. Sie wollten der Gleichsetzung der Reformation mit politischem Konformismus und Untertanengehorsam entgehen, die ihrer Geschichte den Glanz geraubt hätte. Sie wiesen daher auf die Vielfalt lokaler, populärer Reformationen hin, deren Vorstellungen über das Sakrament, die Bilderfrage und deren soziale Reformen sich von denen Luthers jedoch stark unterschieden. Dadurch hat unsere Erzählung der Reformation eine Schieflage erhalten. Es fehlt an einer angemessenen Einschätzung des Luthertums in seinem heimischen sozialen und kulturellen Kontext, der so anders war als der süddeutscher Städte: Die politischen Werte des Luthertums und die ökonomischen Strukturen waren nicht die Süddeutschlands. Ebenso wenig verstehen wir, wie sich das Luthertum im Dialog mit den Denkbewegungen entwickelte, aus denen die reformierte Konfession als Vorläufer des Calvinismus hervorging – ein Dialog, der immer wieder bestimmt war von erbitterten Feindschaften und tragischem Abbruch freundschaftlicher Beziehungen. Diese Leerstellen kann das Buch nicht füllen, doch ich hoffe, einen neuen und unerwarteten Zugang zu Luthers Theologie zu bieten, indem ich den Menschen Luther in den sozialen und kulturellen Kontext setze, der ihn geformt hat.

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Länger als ich gerne zugebe, war Luther Teil meines Lebens. Er war ein Angelpunkt meiner Kindheit, denn mein Vater war einige Jahre lang Pastor einer presbyterianischen Gemeinde. Ich war nur kurz eine Pfarrerstochter, doch ich erlebte, welchen Tribut ein Familienleben in der Öffentlichkeit von beiden Elternteilen forderte. Die seltsame schwarze Soutane und der Talar schienen meinen Vater in ein anderes Wesen zu verwandeln. Er hatte ein Arbeitszimmer, dessen Wände vom Fußboden bis zur Decke mit theologischen Werken bestückt waren, doch die Gemeinde sehnte sich nach seinem Vorgänger zurück, der weniger intellektuell war. Das alles konfrontierte mich mit Problemen der Autorität – die Autorität, die die Gemeinde meinem Vater übertragen hatte; die Bedeutung, die die Kanzel und die schweren, schwarzen Gewänder ihm verliehen, die für das australische Klima so unpassend waren; und die Belastungen, die diese Rolle für ihn mit sich brachte. Wir spielten eine Sonderrolle, und dennoch waren wir beschämend abhängig – nichts im Pfarrhaus konnte repariert, kein Möbelstück angeschafft werden ohne die Zustimmung der Gemeindemitglieder, von denen eines der Ansicht war: »Ihr braucht keine Teppiche, um Gottes Werk zu tun.«

Durch einen eigenartigen historischen Zufall war die Presbyterianische Kirche von Melbourne zu jener Zeit mehr von Luther als von ihrem angeblichen Begründer Johannes Calvin beeinflusst, da mehrere an australischen Universitäten lehrende Theologen in Tübingen bei lutherischen Professoren studiert hatten. Einige Jahre später, als mein Vater aus der Kirche ausgetreten war und ich mit meiner Doktorarbeit begann, studierte ich selbst in Tübingen bei Professor Heiko Oberman, einem niederländischen Gelehrten, der dort das Institut für Spätmittelalter und Reformation leitete und dessen Arbeiten unser Verständnis der spätmittelalterlichen Theologie veränderten. In meinem ersten Semester besuchte ich die Vorlesungen, aus denen seine Studie über Luther hervorging, ein Klassiker, der meiner Meinung nach noch immer die beste Biographie des Reformators ist. Und während meines Studiums in Tübingen verlor Hans Küng, der dort katholische Theologie lehrte, seine Lehrberechtigung (missio canonica), weil er die Unfehlbarkeit des Papstes in Frage gestellt hatte. Offenbar waren die Fragen der Autorität, der Freiheit und des Gehorsams, die Luther Jahrhunderte zuvor aufgeworfen hatte, noch sehr lebendig. Durch diese brennenden Fragen blieb die lutherische Theologie weiterhin im Zentrum meines intellektuellen und persönlichen Interesses.

Die meisten Biographien über Luther wurden von Kirchenhistorikern verfasst. Eine große Ausnahme ist die herausragende neue Biographie des Historikers Heinz Schilling, der als Erster Luther in einen umfassenderen historischen Kontext gestellt hat und seinem Gegner Karl V. gleiches Gewicht gibt.[19] Ich bin kein Kirchenhistoriker, sondern eine Religionshistorikerin, die von der Sozial- und Kulturgeschichte der letzten Jahrzehnte und insbesondere von der Frauenbewegung geprägt ist. Ich möchte Luther weder zum Idol erheben noch verunglimpfen und ebenso wenig seine Widersprüche auflösen. Ich möchte ihn verstehen und die Erschütterungen begreifen, die er und der Protestantismus auslösten, nicht nur in Bezug auf Autorität und Gehorsam, sondern auch hinsichtlich der Beziehungen zwischen den Geschlechtern und in Bezug auf die Weise, in der Männer und Frauen ihre physische Existenz begriffen.

Als ich mein Promotionsstudium aufnahm, gab es aufgrund der damaligen Teilung Deutschlands sehr wenige Geisteswissenschaftler aus dem Westen, die über lutherische Regionen der Reformation in Ostdeutschland arbeiteten. Zu den wenigen Ausnahmen gehörte der früh verstorbene Bob Scribner, der seine Doktorarbeit über die Reformation in Erfurt geschrieben hatte und mein Doktorvater werden sollte. Die meisten lokalen Untersuchungen zur Reformation behandelten Städte in Süddeutschland, die unter dem Einfluss der Theologie von Reformatoren wie Huldrych Zwingli oder Martin Bucer standen, aber keine lutherischen Regionen.[20] Die ostdeutsche Wissenschaft ihrerseits wandte sich dem Bauernkrieg und Luthers Gegenspieler Thomas Müntzer als einem Revolutionsführer zu. Die Sozialgeschichte von Wittenberg blieb indessen weitgehend unerforscht, mit dem Ergebnis, dass die Darstellung der Geschichte der Reformation sehr einseitig war. Biographien wurden weitgehend ohne Verständnis für die soziale und kulturelle Welt Sachsens oder Wittenbergs verfasst und tendierten dazu, das Bild von Luther als einem einsamen theologischen Helden, der über Raum und Zeit stand, weiter zu verfestigen. Dennoch gab es einige subversive Momente. Durch eine feine Ironie bezeugt die beste wissenschaftliche und seither unerreichte Studie über Wittenberg das Vermächtnis der frühen Frauenbewegung: Es handelt sich um die 1927 entstandene Arbeit der Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Edith Eschenhagen, die Wittenbergs Steuerlisten untersuchte.[21]

Alle diese Arbeiten hatten einen starken Einfluss auf mich, als ich 2006 mit der Arbeit an diesem Buch begann, und sie bestärkten mich darin, dass ein Verständnis des Orts wesentlich für ein Verständnis von Luthers Reformation war. Ich verbrachte so viel Zeit, wie ich konnte, in den Wittenberger Archiven, die im Schloss Friedrichs des Weisen untergebracht sind. In den Mittagspausen spazierte ich durch die Stadt. Ich besuchte alle Ortschaften, in denen Luther gelebt hatte, bevor er nach Wittenberg kam, und ich las in den Archiven – weniger, um etwas über Luther herauszufinden, als um ein Verständnis für die lokalen Wirtschafts- und Machtstrukturen zu bekommen. Ich las zeitgenössische Berichte über Luther von Widersachern und Freunden, und ich entdeckte, dass seine Gegenspieler sich häufig erstaunlich scharfsinnig über seine Psychologie und seine Beweggründe äußerten. Die größte Freude und Bereicherung in der Begegnung mit diesem Mann fand ich jedoch bei der Lektüre seiner Briefe. Ich las sie nicht, um Ereignisse in der Reformation zu bestätigen oder zu datieren, sondern als literarische Quellen, die seine Gefühle mitteilten und seine Beziehungen zu anderen erhellten. Luthers Briefe waren in der Absicht geschrieben, Dinge zu bewegen. Seine Irrtümer, Fehltritte, Selbstrechtfertigungen und seine Vorliebe für bestimmte Formulierungen verraten viel darüber, was ihn bewegte. In der Frühzeit der Reformation zum Beispiel sprach er ständig von der invidia (Neid), die er seinen Gegnern unterstellte – obwohl es ziemlich unwahrscheinlich ist, dass sie einen mittel- und machtlosen Mönch beneideten, während er dagegen allen Grund hatte, sich mit denen zu beschäftigen, die er beneidete. Ich begann darüber nachzudenken, dass viele seiner theologischen Anliegen eng verknüpft waren mit den heftigen Konflikten, die seine Persönlichkeit formten.

Luthers Gewohnheiten beim Briefeschreiben liefern vielleicht die interessantesten Einblicke. Obwohl er seit seinen Tagen als Mönch Sekretäre beschäftigte, schrieb er, sofern ihn nicht eine ernsthafte Erkrankung daran hinderte, seine Briefe selbst. Seine Handschrift – klein, sauber und wohlgestaltet – bewegte sich sicher über die Seite, und Luther wusste fast immer, welches Papierformat er benötigen würde, und zeigte eine bemerkenswerte Fähigkeit darin, im Voraus einzuschätzen, wie viel er schreiben würde. Über die Jahre hinweg blieb seine Handschrift weitgehend unverändert, mit der Ausnahme, dass sie dazu tendierte, ein bisschen kleiner und eckiger zu werden, da die Handmuskeln offenbar kräftiger wurden. Dass Luther keine Kopien aufbewahrte, war ungewöhnlich in einem Zeitalter, in dem Briefe in der Regel von Hand zu Hand weitergereicht, gefälscht oder abgefangen wurden und in dem jede Kanzlei Entwürfe abheftete. Das verlieh seinen Briefpartnern große Macht, denn sie allein geboten über das, was er geschrieben hatte, doch Luther sorgte sich nicht darum, scherzte, er könne jederzeit seine eigene »Hand« verleugnen, eine Bemerkung, die sein ungewöhnliches Vertrauen offenbart.

Diese unbeschwerte Gleichgültigkeit gegenüber Formalitäten ist eine von Luthers anziehendsten Eigenschaften. Als brillanter, fesselnd persönlicher Briefeschreiber hatte er einen sicheren Sinn dafür, worüber sein Adressat lachen würde. Mit echtem Interesse erkundigte er sich nach der Gesundheit, doch er wusste genau auf den wunden Punkt zu kommen und redete nicht um das Leid eines Briefpartners herum. Mehr als alles andere vermitteln uns seine Briefe etwas von dem Charisma, das er ausgestrahlt haben muss, und dem Glücksgefühl, zu seinen Freunden zu zählen, das seine Briefpartner sicherlich empfunden haben. Es waren Luthers lebhafte Freund- und Feindschaften, die mich überzeugten, dass er durch seine Beziehungen verstanden werden muss und nicht als der einsame Held, als den ihn der Mythos der Reformation präsentiert. Luthers Theologie bildete sich im Dialog und in der Debatte mit anderen heraus – und es ist kein Zufall, dass die Disputation, die Form, in der er seine 95 Thesen unterbreitete, das intellektuelle Werkzeug blieb, das er bis zu seinem Tod schätzte.

Dieses Buch zeichnet auch ein ungewohntes Bild von Luthers Theologie. Wir sind daran gewöhnt, ihn als den Anwalt für die »Erlösung allein durch Gnade« anzusehen, als den Mann, der auf dem sola scriptura bestand, dem Prinzip, dass die Bibel die einzige Autorität in Glaubensfragen darstellt. Doch ebenso wichtig war für Luther selbst sein Beharren auf der Realpräsenz Christi in der Eucharistie. Das ist vielleicht das Merkmal, das viele moderne Protestanten am befremdlichsten finden, misstrauen sie doch dem Ritual und der Idee, das Göttliche könne sich in Objekten manifestieren. Diese Frage dominierte allerdings in Luthers letzten Lebensjahren und mobilisierte seine tiefsten Energien, und sie spaltete auch die Reformation. In dieser Frage war Luther als Denker am originellsten, indem er sich weigerte, zwischen Zeichen und Bezeichnetem zu unterscheiden – was leicht gewesen wäre –, sondern darauf bestand, dass Christus wirklich anwesend ist in der Eucharistie, dass diese wirklich der Körper und das Blut Christi ist. Obwohl er selbst ein Intellektueller war, misstraute Luther »der Hure Vernunft«, wie er es nannte.[22] Seine Haltung zur Eucharistie stimmte überein mit dem eindrucksvoll ungezwungenen Verhältnis zur Körperlichkeit, ein Wesensmerkmal, mit dem moderne Biographen schwer zurechtkommen. Als eingefleischter Antisemit unterhöhlte und untergrub Luther ständig die Unterscheidung zwischen Fleisch und Seele, und dieser Aspekt seines Denkens erfordert wohl die gründlichste Auseinandersetzung. Auch deshalb muss seine Theologie im Hinblick auf den Menschen Luther verstanden werden.

Luthers Reformation entfesselte leidenschaftliche Gefühle, Ärger, Furcht und Hass ebenso wie Freude und Erregung. Luther selbst war ein sehr gefühlsbetonter Mensch, doch viele Darstellungen zur Geschichte der Reformation blenden diese Gefühle aus, denn sie erscheinen entweder als unpassend oder als irrelevant für die Entwicklung seiner Theologie. Es ist schwierig für Historiker und Theologen, etwas anzupacken, das einem heute so fremdartig erscheint wie seine verstörende Fixierung auf den Teufel, sein giftiger Antisemitismus und seine grobe Polemik. Die Erkundung seiner inneren Welt und des Kontextes, in den seine Ideen und Leidenschaften einströmten, eröffnet jedoch einen neuen Blick auf die Reformation.

Erstes KapitelMansfeld und der Bergbau

»Ich bin eines Bauern Sohn«, erklärte Luther, »mein Urgroßvater, Großvater, Vater, sind rechte Bauern gewesen.«[1] Das war nur die halbe Wahrheit. Mochte Luthers Familie auch bäuerliche Wurzeln haben, er wuchs in einer Hüttenstadt auf, und diese Kinderstube sollte einen großen Einfluss auf ihn haben. Seine Kindheit verbrachte er in Mansfeld, einer kleinen Bergbaustadt in der gleichnamigen Harzgrafschaft, wo ein mit Kohle beladener Pferdewagen nach dem anderen über die schlammigen Straßen rollte und der Geruch von den Feuern der Rennöfen in der Luft hing. Sein Leben lang sah Luther sich als einen Mansfelder an. Er komme »aus Mansfeld«, sagte er stets über sich, als »Martinus Luther ex mansfelt« schrieb er sich an der Universität von Erfurt ein, und als ein »Landkind« bezeichnete er sich in seinem lebenslangen Briefwechsel mit den Grafen von Mansfeld.[2] Noch 1546 machte er sich, schon erkrankt, auf den Weg nach Eisleben, um einen erneuten Streit zwischen den Grafen zu schlichten. Er wusste, die Reise konnte ihn das Leben kosten, und so kam es auch: Er starb beim Versuch, die Dinge in Mansfeld zu richten. Von dieser tiefen Verbundenheit findet sich in unserem heutigen Lutherbild jedoch fast keine Spur.[3] Die meisten Biographien haben wenig über Luthers Kindheit zu berichten. Anders als sein Geburtsort Eisleben und anders als Wittenberg, wo er die meiste Zeit seines Lebens verbrachte, wurde Mansfeld für Lutheranhänger nie ein Ort der Pilgerfahrt. Doch um Luther zu verstehen, muss man die Welt verstehen, aus der er stammte.

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Luthers Geburtsstadt Eisleben[4]

Der Abbau von Erz begann im Mansfelder Land um 1200. Mitte des 15. Jahrhunderts wurde es durch eine neue Methode der Raffination möglich, Silber und reines Kupfer nach dem anfänglichen Schmelzen zu trennen.[5] Da dieser technologische Fortschritt sehr kapitalintensiv war, führte er dazu, dass die großen Leipziger und Nürnberger Finanziers in den Bergbau investierten, was dem Revier einen großen ökonomischen Aufschwung brachte. Mansfeld gehörte bald zu den größten europäischen Silberproduzenten, außerdem wurde ein Viertel des kontinentaleuropäischen Kupfers hier gewonnen.[6] Das Kupfer wurde in Verbindung mit Zinn oder Zink als Bronze oder Messing zu Hunderten von Haushaltsgegenständen verarbeitet – etwa in Städten wie Nürnberg –, und es spielte eine große Rolle bei der Revolution des Lebensstils in jener Epoche, als die Menschen begannen, für den häuslichen Gebrauch nicht nur Glas und Steingut, sondern auch Geschirr, Pfannen und andere Utensilien aus Metall zu kaufen. Luthers Vater, Hans Luder, erfuhr wahrscheinlich über Beziehungen der Familie seiner Frau von den neuen Bergrechten, die in den achtziger Jahren des 15. Jahrhunderts im Mansfelder Land zur Pacht standen, und er zog mit seiner Frau erst nach Eisleben, wo Luther 1483 geboren wurde, und dann nach Mansfeld.

Luther selbst beschrieb seinen Vater später als »metallicus, ein Berckhauer«, doch die Legende über Hans Luders Aufstieg vom bettelarmen Bauern zu einem reichen Mann, die Luthers frühe Biographen erzählten, entspricht nicht der Wahrheit.[7] Obwohl in seiner Familie niemand eine höhere Bildung genossen hatte, zählte Hans bestimmt nie zu den kapuzentragenden Männern, die sich in den niedrigen Stollen liegend mit ihren Keilhauen abplagten.[8] Als der älteste Sohn aus der Bauernfamilie Luder erbte Hans allerdings nichts: Nach dem lokalen Brauch in Möhra, wo seine Eltern lebten, übernahm der jüngste Sohn den Hof. Der Wert des Besitzes wurde vermutlich zu gleichen Teilen unter den Kindern aufgeteilt, wodurch der älteste Sohn zu etwas Startkapital gekommen sein könnte. Neue Forschungen deuten zudem darauf hin, dass die Luders in der Nähe von Möhra eine einfache Kupferhütte besaßen, wo Hans etwas Erfahrung gesammelt haben könnte.[9] Er muss jedenfalls gute Zukunftsaussichten gehabt haben, anders kann man kaum erklären, warum die Lindemanns, eine etablierte städtische Patrizierfamilie in Eisenach – zu der auch Anthonius Lindemann gehörte, der ranghöchste Amtmann der Grafschaft Mansfeld und selbst Hüttenmeister –, ihre Tochter mit einem jungen Mann ohne Gewerbe und ohne Aussicht auf eine sichere Erbschaft verlobten.[10] Dies jedoch war, wie sich zeigte, eine weise Entscheidung. Innerhalb kurzer Zeit betrieb Luder nicht nur Hütten, sondern gehörte spätestens ab 1491 zu den Vierherren, einem Beirat zum Rat der Stadt, der aus Vertretern der vier Stadtteile von Mansfeld bestand. Schließlich stieg Luder zum Mineninspektor (Schauherrn) auf und gehörte damit zu den fünf ranghöchsten Bergbaubeamten der Region.[11] Schon im frühen 16. Jahrhundert hatte er sich mit anderen zu einer Zeche zusammengeschlossen, die sieben Hütten betrieb; seither zählte er zu den größeren Hüttenunternehmern in Mansfeld.

1500 hatte die Stadt etwa zwei- bis dreitausend Einwohner, es gab fünf »Hospitäler« zur Armenfürsorge und Spitäler für Kranke; ungewöhnlicher und der Stolz der Stadt war die Lateinschule für Jungen. Mansfeld schmiegte sich in ein Tal, und man gelangte durch vier Tore und zwei Portale in die Stadt hinein. Rings um eine ursprünglich sehr viel kleinere Siedlung hatten sich ihre Viertel ausgebreitet.[12] Eine der beiden Hauptstraßen wand sich durch die Stadt steil den Berg hinauf bis zur Kirche auf dem Hauptplatz, und hier hatten die Hüttenmeister und die gräflichen Beamten ihre Häuser. Die dem Patron von Mansfeld geweihte St.-Georgs-Kirche war im 13. Jahrhundert erbaut worden. Sie brannte nieder, als Luther noch ein Jugendlicher war, weil ein gedankenverlorener Organist vergessen hatte, das Feuer zu löschen, das die Blasebälge heizte. Zwischen 1497 und 1502 wurde sie wieder aufgebaut, der neue Chor wurde zwischen 1518 und 1520 fertiggestellt.[13] Die ansässige Bevölkerung glaubte, der schwertschwingende heilige Georg sei ursprünglich ein Graf von Mansfeld gewesen, der beim nahe gelegenen Lindberg gegen den Drachen gekämpft habe. Die Grafen schlugen sicher Kapital aus dieser legendären Verbindung, der Heilige war auf Münzen, Brunnen und über Haustüren abgebildet; es gab ihn sogar als Wetterhahn.[14]

Hans Luders Haus stand gegenüber vom Wirtshaus Zum Goldenen Ring, einem der beiden Gasthäuser, in denen Reisende Station machten. Die Stadt lag an der Handelsstraße von Hamburg nach Nürnberg über Erfurt, doch es gab wenig Gründe für Reisende, in Mansfeld haltzumachen, es sei denn, sie statteten den Grafen einen Besuch ab oder waren im Bergwesen tätig.[15] Hans Luders Haus steht noch immer, doch war es wohl doppelt so groß wie ursprünglich angenommen. (Es ist unbekannt, wann Hans Luder das Haus erworben hat, sicher ist, dass es ab 1507 in seinem Besitz war.[16]) Das Anwesen hat ein breites Portal, das ein Fuhrwerk passieren konnte, sowie eine große Scheune und Pferdeställe.[17] Vom Haus aus müssen die Auswirkungen des Bergbaus überall sichtbar gewesen sein: Schlackenhügel überzogen die Landschaft wie Pockennarben, und der große Teich unterhalb der Stadt war mit gelöster Schlacke aus den beiden Hütten außerhalb der Stadtmauern verschmutzt. Weiter oben an der Straße, in Richtung des Platzes vor der St.-Georgs-Kirche, stand das große Haus, in dem Luthers bester Freund Hans Reinicke lebte, dessen Vater ebenfalls ein Hüttenbesitzer und einer der wohlhabendsten Männer der Stadt war. Daneben, zwischen dem Haus Luders und der Schule, wohnte ein anderer Freund, Nickel Öhmler, der später in die Familie einheiraten sollte.

Über der Stadt ragten die Burgen der Grafen von Mansfeld auf. Man kann sich schwer eine Kulisse vorstellen, die geeigneter gewesen wäre, einem jungen Burschen wie Luther einzuprägen, welche Macht die Herrscher der Stadt hatten. Unter den Grafen gab es kein Erstgeborenenrecht, stattdessen erbten alle Söhne gleichermaßen. In Luthers Kindheit teilten sich drei Grafen von Mansfeld die Herrschaft über das Territorium. Als 1501 der offizielle Vertrag aufgesetzt wurde, der das Gebiet aufteilte, bestand das Herrscherkollektiv aus nicht weniger als fünf Grafen.[18] Sie kamen, was wenig überraschend ist, nicht immer miteinander aus, und einer der Streitpunkte unter ihnen war das Schloss. In Luthers Kindheit standen zwei Schlösser auf dem Burgberg, dazu zwei weitere Wohngebäude, zwei Bäckereien, zwei Brauereien, Ställe und eine Trennmauer mit einem gemeinsam benutzten Durchgang. Es muss eine sehr eindrucksvolle Anlage gewesen sein, denn 1474 waren die Grafen in der Lage, den dänischen König und 150 seiner Ritter drei Tage lang zu beherbergen.[19] Als Graf Albrecht 1501 beschloss, ein drittes Schloss auf dem Gelände zu errichten, stieß er jedoch auf den Widerstand der anderen Grafen. Der Streit wurde schließlich beigelegt, und Albrecht erhielt die Erlaubnis, seine Pläne zu verwirklichen. Mit dem Vermögen aus den Minen wurde die Anlage umgebaut, und man errichtete drei Renaissanceschlösser im Westentaschenformat – ein rotes, ein gelbes und ein blaues, mit gemeinsamem Zugang zur Kapelle –, so dass eine der am besten befestigten Schlossanlagen Deutschlands entstand. Im Volk munkelte man, einer der Grafen habe, als er ein Altarbild in Auftrag gab, das die Kreuzigung darstellte, den Dieb zur Rechten Christi mit den Gesichtszügen seines meistgehassten Mitregenten malen lassen. Ob wahr oder nicht, der Dieb hat die individualisierten Gesichtszüge eines Porträts, und er ist nicht nackt, was ungewöhnlich ist, sondern trägt eine grellbunte Hose wie die Scharfrichter. Da der Beruf des Scharfrichters als ehrlos angesehen wurde, wäre diese Darstellung eine köstliche Beleidigung gewesen.[20]

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Altargemälde in Schloss Mansfeld

Die Familie Luder lebte im Wohlstand.[21] Man ließ sich besonders das zarte Fleisch von Ferkeln schmecken, ein verhältnismäßig teures Nahrungsmittel in einer Zeit, in der der Verzehr von aus Mitteleuropa eingeführtem Rindfleisch immer üblicher wurde. Auf dem Speiseplan standen auch mit Fallen gefangene Singvögel. Mindestens ein Mitglied der Familie war ein leidenschaftlicher Vogelfänger, denn in der Abfallgrube vor dem Haus haben etliche Pfeifen aus Gänsebein überdauert, wie sie beim Vogelfang gebräuchlich waren. Es gab eine gut ausgestattete Küche, die reichlich bestückt war mit einfachen grünen und gelben Tellern und Steingut; auch Trinkgläser wurden gefunden – in jener Epoche noch ein Luxus.[22] Die Luders waren sicher eine Familie, in der man gerne gut aß, das Leben genoss und nicht jeden Pfennig dreimal umdrehen musste.

In den meisten städtischen Haushalten des 16. Jahrhunderts arbeitete die Frau des Meisters in der Werkstatt mit, schwirrte zwischen den Lehrlingen und Gesellen umher und übernahm manchmal sogar die Buchhaltung. Doch in der Klasse der Hüttenbesitzer waren die Bereiche von Ehemann und Frau scharf getrennt. Die Bergleute lebten mit ihren Familien in eigenen Häusern, und die Frau des Hüttenmeisters war nicht für deren Ernährung oder sonstige Versorgung zuständig. Hans Luder verließ täglich das Haus und ging vor die Stadtmauer zur Arbeit, wo er in diese seltsame Welt aus Rauch, Schächten und Stollen eintauchte, während Luthers Mutter mit Mägden, Knechten und Kindern zu Hause blieb. Das entspricht weit mehr der im Bürgertum des 19. Jahrhunderts üblichen Trennung der Sphären und unterschied sich stark von der Norm in den frühneuzeitlichen Städten und Gehöften des Deutschen Reichs, wo Frauen in den Werkstätten mithalfen, Geflügel züchteten, Kräuter anbauten, die tägliche Hausarbeit erledigten und zum Markt zogen. Hier mussten Frauen imstande sein, den Hof oder das Geschäft zu übernehmen, für den Fall, dass sie Witwen wurden. Die strenge Grenzziehung zwischen den Geschlechtern im Haushalt der Luders war deshalb eher ungewöhnlich und könnte erklären, warum der späte Luther seine Vorstellungen über die Geschlechterrollen derart übertreibt: »Männer haben ein breite Brust und kleine Hüften, darum haben sie auch mehr Verstandes denn die Weiber, welche enge Brüste haben und breite Hüften und Gesäß, dass sie sollen daheim bleiben, im Hause still sitzen, haushalten, Kinder tragen und ziehen.«[23]

Weiter unten auf der sozialen Stufenleiter waren Frauen durchaus im Bergbau tätig. Die Geschäftsbücher aus dem frühen 16. Jahrhundert listen die wöchentlichen Verdienste der Frauen der Bergleute ebenso auf wie die ihrer Männer, was ihre Bedeutung für die Hüttenindustrie bezeugt.[24] Sie arbeiteten neben den Männern an den Winden, um Lasten in die Schächte hinabzulassen oder aus ihnen hochzuziehen, und zusammen mit den Kindern zerkleinerten sie Erz und trennten minderwertiges von höherwertigem Gestein. Sie verrichteten die mühsame Arbeit des Siebens der Holzkohle, um das feine Pulver für den Lehm herzustellen, der gebraucht wurde, um die Rennöfen auszukleiden; sie wuschen die staubbedeckten Kleider der Bergleute, und sie heizten den Ofen mit noch heißer Schlacke, die ihre Männer nach Hause brachten.

3, 4 und 5

Auf den Illustrationen zu Georg Agricolas Abhandlung über den Bergbau De re metallica von 1556 zerstoßen zwei kräftige Frauen das Erz auf langen Tischen, eine Methode, die noch im 19. Jahrhundert angewandt wurde. Zwei Frauen sieben Holzkohle, während man hinter einem riesigen Blasebalg ein Mädchen in einem kurzen Hemd sehen kann, das beim Befeuern hilft.[25]

Luthers Vater war einer der Hüttenmeister, die den hochprofessionellen Vorgang des Kupferschmelzens überwachten und die Hütten effektiv betrieben. Jeder Schacht war einem Hüttenfeuer zugeordnet, und die Hütten befanden sich in Flussnähe, denn man benötigte die Wasserkraft, um die Blasebälge anzutreiben, mit denen die Flammen der Rennöfen angeheizt wurden. Eine Hütte konnte mehrere Rennöfen haben, 1508 gab es um die 95 Rennfeuer in Mansfeld, die von etwa 40 Hüttenmeistern betrieben wurden.[26] Jeder von ihnen schloss einen eigenen Vertrag mit einem Grubenaufseher (Hutmann), der die Bergleute anwarb und an ihrer Seite unter Tage arbeitete. Arbeitsverhältnisse waren daher mittelbar. Wenn die Bergleute gegen ihre Arbeitsbedingungen aufbegehrten, wie dies 1507 geschah, richteten sie ihre Klagen schriftlich an die Grafen. Die Grafen ihrerseits wussten, dass sie die Geduld der Bergleute nicht überstrapazieren durften: Während sie rebellierende Bauern wahrscheinlich hingerichtet hätten, beließen sie es im Fall der Bergmänner bei einer gesalzenen Geldstrafe von 100 Gulden für jeden der etwa ein Dutzend Rädelsführer, doch sie gestatteten ihnen die Abzahlung in Raten.[27] Die Herrschaft musste zwar ihre Autorität behaupten, doch die hochqualifizierte Arbeitskraft der Bergmänner war zu wertvoll, um sie zu schwächen. Die stolzen Männer waren sich ihrer Fertigkeiten durchaus bewusst. Sie gaben nicht auf und gründeten 1511 eine Bruderschaft der Bergleute, um ihre Interessen voranzubringen.[28]

Gerichtsbücher aus jener Zeit vermitteln einen Eindruck davon, wie das Leben im Bergbau aussah. Immer wieder wurden Holz, Leitern und Geräte aus den Schächten gestohlen, und überall lauerte Gewalt unter der Oberfläche.[29] Ein Mann ermordete eine Prostituierte in einem Bordell nahe Hettstedt und wurde dafür hingerichtet. Ein anderer tötete einen Mann und warf die Leiche in einen Minenschacht – auch er bezahlte mit dem Leben für seine Tat. Ein Dritter ging mit den Fäusten auf seinen eigenen Vater los und verletzte ihn dabei so sehr an der Hand, dass dieser nicht mehr arbeiten konnte.[30] Das Strafrecht in jener Zeit vermischte römisches Recht mit älteren, auf einen Ausgleich abzielenden Traditionen. So konnte Mord noch immer damit abgegolten werden, dass der Familie des Opfers eine Entschädigung gezahlt wurde. Trotzdem wurden zwischen 1507 und 1509 mindestens drei Verbrecher wegen Mordes hingerichtet.[31] Ständig kam es auch zu Streitereien zwischen Angehörigen verschiedener Berufsgruppen. Die Haspler, die die Seilwinden bedienten, waren schlecht zu sprechen auf die Sinker, die die Schächte abteuften, also senkrechte Schächte anlegten. Die Sinker kamen mehrheitlich aus Schlesien und lebten, da sie die Heirat verschmähten, mit ihren Gefährtinnen in Häusern in der Nähe der Gruben, wo sie unter anderem auch Hühner und anderes Vieh hielten.[32] Die Arbeit im Bergbau war gefährlich. Die Stollen, die von den Schächten abgingen, waren eng, die Bergleute mussten bäuchlings liegend arbeiten, und die Beleuchtung war spärlich. Wenn es »böse Wetter« gab, konnte es passieren, dass die Lampen plötzlich erloschen, weil sich im Stollen Schwefelwasserstoff angesammelt hatte. Alle Bergleute, die sich noch unter Tage befanden, wurden durch das Gas vergiftet und starben. Man glaubte, es sei ein Produkt böser Lüfte, die beim Hauen aus dem Schwefel und Metall entwichen, in die Stollen stiegen und die Bergleute durch Kälte töteten.[33]

Die Arbeit im Bergbau machte durstig, das Wasser war jedoch nicht trinkbar, und so wurde das Brauwesen zum zweiten wichtigen Industriezweig der Stadt. Der Alkohol schürte Streitigkeiten, und weil praktisch jeder Mann ein Messer bei sich trug, endeten Auseinandersetzungen oft blutig. Die meisten Handgemenge gab es in Wirtshäusern und Schänken.[34] Luthers eigener Onkel, Klein Hans, ein Tunichtgut, der vor keiner Rauferei zurückschreckte, kam 1536 bei einem Handgemenge in einer Schänke zu Tode.[35] Die Leute schnappten sich bei Prügeleien, was sie zu fassen bekamen, griffen nach den Lampen des Gasthauses oder erhoben die Bierkrüge, um einem Gegner eins überzuziehen. Diese Krüge hatten im Übrigen auch eine symbolische Bedeutung. Der gemeinsam benutzte Krug stand für Kameradschaft, weshalb ein Mann einen anderen beleidigen konnte, indem er ihn für unwert befand, einen Krug mit einem ehrbaren Mann zu teilen.[36] Das Trinken in Gesellschaft war schließlich auch begleitet von Ritualen der Einbindung, und es gab Trinkwettkämpfe, in denen man beweisen musste, dass man seinen Mann stehen konnte. Ein beliebtes Trinkspiel erforderte ein mit Bändern in unterschiedlichen Abständen umwickeltes Passglas, wobei der Trinker mit einem Schluck das Glas genau bis zum nächsten Band leeren musste; die Luder-Familie besaß davon mindestens eines.

In einer solch streitlustigen Lebenswelt waren Beschimpfungen üblich. Wenn er eine fromme, also keusche Mutter habe, solle er mit vor die Tür kommen und sich schlagen, ansonsten könne er drinnen bleiben, verhöhnte einer den anderen. Ritterlichkeit herrschte selten in den Schänken. Einmal forderte ein Mann eine Frau auf, sie solle sich davonmachen zu den Priestern und Mönchen in Hettstedt und mit ihnen herumhängen, wie sie es zweifellos früher getan habe. Es gebe höchstens zwei oder drei fromme Frauen in ganz Mansfeld, verkündete ein anderer wütend. Er schwieg ostentativ, als sein Trinkgefährte ihn fragte, ob er seine eigene Frau in diese Zahl einschließe.[37] Ein Streit über die Arbeit konnte schnell in Vorhaltungen über das sexuelle, moralische und soziale Verhalten eines Menschen übergehen, weil Ehre, die zentrale soziale Kategorie, sowohl sexuell als auch ökonomisch verstanden wurde.

In Luthers Kindheit war Hans Luder bestimmt keiner, dessen Wort man übergehen konnte. Er war ein körperlich starker Mann. Als einmal in einer Kneipe in seiner Gegenwart eine Schlägerei begann, kippte er über den beiden Kontrahenten sein Bier aus, um sie zu trennen, und haute ihnen als Zugabe einen Bierkrug auf den Kopf, bis Blut floss.[38] Man musste sich hüten, ihm in die Quere zu kommen. Es ist belegt, wie er sich über die hohen Kosten für die Männer an den Seilwinden beklagte und auf einen anderen Hüttenbetreiber schimpfte, der ihm, wie er behauptete, sein Erz stahl (worauf der Beschuldigte entgegnete, Luder klaue seine Holzkohle).[39] Die Gerichtsbücher sind gespickt mit Streitsachen zwischen den Hüttenbetreibern – kein Wunder bei 194 Schächten im frühen 16. Jahrhundert, als die Industrie im Revier von Mansfeld und Eisleben ihren Höhepunkt erreicht hatte; denn es kam darauf an, zu wissen, wo ein Minengebiet begann und endete. Immer wieder wurde der Bergbauinspektor gerufen, damit er den Standort der Grenzsteine überprüfte. Stollen durchlöcherten die Hügel wie Waben. Der längste reichte bemerkenswerte 13,5 Kilometer weit, und es ging das Gerücht, man könne durch die Stollen von Schloss Mansfeld nach Eisleben gelangen.

Verwirrend komplex waren in dieser Welt auch die Finanzvereinbarungen. Viele der Zechen und Hütten mussten kollektiv unterhalten werden, die erhaltenen Aufzeichnungen erlauben uns einen flüchtigen Blick auf das Labyrinth von Darlehen, Gegendarlehen und Sicherheiten: Das Geld zirkulierte teils innerhalb der kleinen Gruppe der Hüttenbetreiber, teils wurde es auch von Investoren aus Nürnberg vorgestreckt. Immer wieder wurden Gruben abgetreten und neu aufgeteilt.[40] Hans Luder war zwischen verschiedenen konkurrierenden Kräften eingekeilt: den Grafen, die die Bergwerke verpachteten und ständig versuchten, mehr Geld aus ihnen herauszuholen, indem sie die Rechtsgrundlagen änderten; den anderen Bergbauunternehmern, die stets auf ihren eigenen Vorteil bedacht waren; den Männern, die das Erz in harter Arbeit abbauten und damit das Vermögen erst aus dem Boden holten und die gerade begannen, sich zu organisieren; und den Investoren im fernen Nürnberg und Leipzig, die hart verhandelten und bei denen man sich nur allzu leicht heillos verschulden konnte.

Diese ökonomischen Beziehungen waren neu, und sie waren kompliziert. Die weitreichenden Pachtverträge, die mit den neuen Grubenbesitzern geschlossen wurden, und das im 15. Jahrhundert eingeführte Saigerhüttenverfahren, mit dem aus Kupfer Silber ausgeschmolzen wurde, lockten Investoren von außerhalb an. In der Folge entstanden zutiefst unsichere Verhältnisse, sowohl rechtlich wie auch ökonomisch und sozial. Die Grafen legten neue Pachtverträge vor, die nicht mehr zeitlich unbegrenzt, sondern befristet waren, und schufen damit eine rechtlich verankerte Zweiklassenordnung unter der kleinen Elite der Hüttenbesitzer. Dabei gab es für diese keine Erfolgsgarantie. Einige Unternehmer verdienten große Summen – Familien wie die Heidelbergs und die Drachstedts kamen zu sagenhaften Vermögen –, während andere immer tiefer in Schulden versanken.

Die Mansfelder Hüttenbesitzer mussten häufig ihre Kräfte bündeln, um das notwendige Kapital und die notwendigen Gerätschaften zu beschaffen. Doch statt exklusive und dauerhafte Gemeinschaftsunternehmen zu bilden, verließen sie sich nach dem Vorbild der Kaufleute auf Verträge, nach denen sie lediglich über einen bestimmten Zeitraum hinweg zusammenarbeiteten.[41] Hans Luder erarbeitete sich eine namhafte Stellung in Mansfeld, er unterhielt sieben Rennfeuer und beschäftigte im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts wahrscheinlich 200 Arbeiter.[42] Daher war ihm bewusst, dass er jemanden brauchte, der rechtsgültige Verträge lesen und seine Interessen gegenüber den Handelskapitalisten und den Grafen wahren konnte. Dies spielte wahrscheinlich eine wichtige Rolle bei der Entscheidung, dass sein Sohn Rechtswissenschaften studieren sollte. Zudem könnte Hans Luder durch seine Partnerschaft mit Dr. Drachstedt, der Doktor der Rechte war und in der zweiten Hälfte der 1520er Jahre zum reichsten Hüttenbesitzer in der Gegend werden sollte, zu den Plänen für seinen Sohn angeregt worden sein.[43]

Wo Verträge nicht schützten, half möglicherweise das Blut. Wie alle Angehörigen dieser kleinen Bergwerkselite aus 20 oder 30 Familien nutzte Hans Luder Eheschließungen, um seine Position zu festigen. Mit drei oder vier Söhnen – ganz genau wissen wir es nicht – und vier Töchtern konnte Hans Luder von einer Dynastie träumen, doch zwei seiner Söhne starben 1506 oder 1507 an der Pest, ebenso eine Tochter 1520.[44] Drei Töchter heirateten in die lokale Elite ein. Dorothea gelangte durch Heirat in den Mackenrodt-Clan, der seit mindestens einem Jahrhundert in der Gegend ansässig war und zur besonders privilegierten Gruppe derer gehörte, die sichere, unbefristete Pachtverträge besaßen. Die nach ihrer Mutter benannte Tochter Margarethe vermählte sich mit Heinz Kaufmann, der zwischen 1508 und 1512 einen einzigen Rennofen betrieb, später aber wie Martins jüngerer Bruder Jakob (dessen Name in der Familie »Jakuff« ausgesprochen wurde) Teilhaber bei seinem Schwiegervater wurde. Die dritte Schwester heiratete Claus Polner, der wie Luder zu den Unternehmern ohne sichere Pachtverträge gehörte.[45]