Im Leben war ich Eure Plage - Lyndal Roper - E-Book

Im Leben war ich Eure Plage E-Book

Lyndal Roper

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Beschreibung

Zu Lebzeiten war Martin Luther äußerst umstritten. Bei Freund und Feind rief er begeisterte Zustimmung, vehemente Ablehnung, aber auch Hass hervor. Seine übergroße, dominante, oft erdrückende Persönlichkeit hinterließ unauslöschliche Spuren in der Welt, die bis in unsere Gegenwart reichen und bis heute weiterwirken. Sorgfältig hat Martin Luther sein Selbstbild geformt und darauf geachtet, wie ihn die Nachwelt sehen sollte. Das Porträt seiner charismatischen und polemischen Persönlichkeit erweitert Lyndal Roper, die bedeutendste Biographin Martin Luthers, zu einem historischen Psychogramm: Der Kirchenrebell und Revolutionär war die herausragende Persönlichkeit seiner Zeit. Der Buchdruck und die Gemälde von Lucas Cranach machten den Reformator jedermann bekannt. Omnipräsent in Wort und Bild wollte Luther die Kirche keineswegs spalten, aber doch jederzeit die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, um sich und seine Anschauungen durchzusetzen. War er feindselig gegen das Papsttum eingestellt? Steigerte sich seine Ablehnung der Juden zu antisemitischen Ausfällen? War der »Papst an der Elbe« eine »Plage«, wie er von sich selbst sagte? Großzügig illustriert, weitet sich das Vermächtnis Luthers zu einer Kulturgeschichte, deren Licht und Schatten bis in die unmittelbare Gegenwart reichen.

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Seitenzahl: 534

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Lyndal Roper

»Im Leben war ich Eure Plage«

Luthers Welt und sein Vermächtnis

Aus dem Englischen übersetzt von Karin Wördemann

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »›Living I Was Your Plague.‹ Martin Luther ’s World and Legacy«

© 2021 by Princeton University Press, Princeton, NJ, Woodstock, Oxfordshire

Für die deutsche Ausgabe

© 2022 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Rothfos & Gabler, Hamburg

unter Verwendung einer Abbildung von Martin Luther von Lucas Cranach der Jüngere, 1543, (Ian Dagnall). Zweite Abb.: AF Archive. Dritte Abb.: Panther Media GmbH, Abb. 1–3: ©Alamy Stock Photo. Vierte Abb.: Plastikfigur von Martin Luther. © Ottmar Hörl.

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-608-98482-8

E-Book ISBN 978-3-608-11848-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1. Kapitel

Cranachs Luther

Zurück von der Wartburg

Doppelporträts

Luther in Vorderansicht: Das Standardporträt

Luther in Ganzfigur

Der tote Luther

Luther & Co.

2. Kapitel

Luther und die Träume

Traum I: Staupitz

Traum 

II

: Müntzer

Traum 

III

: Die Katze im Sack

Traum 

IV

: Die Träume des Teufels

Traum V: Friedrich der Weise

3. Kapitel

Männlichkeit und Federkampf

Albrecht von Mainz

Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel

Herzog Georg

Philipp von Hessens Bigamie

Männlichkeit und die Reformation

4. Kapitel

Namen

Namenswechsel

Ein Name für die Bewegung

Schmähungen

Der Antichrist

Namen und binäres Denken

Namen und Theologie

5. Kapitel

»Lebend war ich dir die Pest«

Karlstadts Fuhrwagen

Gesetz und Evangelium

Tod, Teufel und Papismus

6. Kapitel

Luther, der Antisemit

Luthers Antisemitismus

Luther und die Juden

Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei

Beschneidung

Vom Schem Hamphoras

Der Playmobil-Luther

7. Kapitel

Luther-Kitsch

Luthers Leben

Luthers Bibel im Jahr 2017

Luthergedenken im Jahr 2017

Kitsch

Anhang

Danksagung

Bibliographie

Abkürzungen

Primärwerke

Sekundärwerke

Anmerkungen

Vorwort

Einleitung

1. Kapitel: Cranachs Luther

2. Kapitel: Luther und die Träume

3. Kapitel: Männlichkeit und Federkampf

4. Kapitel: Namen

5. Kapitel: »Lebend war ich dir die Pest«

6. Kapitel: Luther, der Antisemit

7. Kapitel: Luther-Kitsch

Bildnachweis

Namenregister

Für Ruth und für Martin

Vorwort

Im Frühjahr 2017 wurde ich gebeten, von Luthers Kanzel herab zu sprechen. Ich ahnte, dass es eine emotionale Erfahrung werden würde, hatte ich doch die letzten zwölf Jahre meines Lebens damit verbracht, eine Biographie des Reformators zu schreiben. Wenige Biographen kommen dem Ort, an dem ihr Protagonist gelebt und gewirkt hat, so nahe, und andere, die von der Wittenberger Kanzel herab sprechen durften, hatten mir von dem Einfluss dieser Erfahrung auf ihr Leben berichtet. Ich wusste auch, dass dieses Ereignis starke Erinnerungen an meinen Vater wecken würde, der erst zehn Monate zuvor verstorben war und der in meiner Kindheit in Melbourne, Australien, Pfarrer gewesen war.[1]

Aber ich hatte nicht erwartet, was dann geschah. Ich dachte an meinen Vater und daran, was es für ihn bedeutet hatte, Geistlicher zu sein, und als ich die Stufen zur Kanzel hinaufstieg, konnte ich den Druck, der mit dem Predigen auf ihm gelastet hatte, auf neue Weise nachempfinden. Zu meiner Überraschung konnte ich aber auch nicht aufhören, über etwas anderes nachzudenken, nämlich über das an der Außenseite der Kirche angebrachte Figurenrelief der »Judensau«. Diese Skulptur aus dem 14. Jahrhundert ist oben am Kirchturm angebracht worden und blickt in eine Richtung, in der sich einmal das jüdische Viertel befunden haben muss. Zu Luthers Zeit hatten die Juden Wittenberg bereits verlassen, und für eine jüdische Gemeinschaft nach 1422 gibt es keine Zeugnisse.[2] Das Relief zeigt eine riesige Sau, an der Juden Milch saugen, während ein Rabbi dem Schwein unter den Schwanz schaut. Beschriftet ist es mit Schem Hamphoras, einem späteren Schriftzug in kunstvollen gotischen Lettern. Schem Hamphoras bezeichnet den unaussprechlichen Namen Gottes, Worte, die nach jüdischem Glauben nicht niedergeschrieben werden sollten. Es ist eine abscheuliche Beleidigung für Juden (die kein Schweinefleisch verzehren), und es ist blasphemisch.

Abb. 0.1 Relief der »Judensau« an der Stadtkirche.Anonym, 13. Jahrhundert. Stadtkirche Sankt Marien in Wittenberg.

Der Gottesdienst wurde zweisprachig in Englisch und Deutsch abgehalten, wobei auch Mitglieder einer afrikanischen Kirche anwesend waren. Der deutsche Priester in seinem langen schwarzen Mantel, mit gestärktem weißen Kragen und Halskrause schien ein Wiedergänger aus dem 16. Jahrhundert zu sein. Als der Gottesdienst zu Ende war, gingen wir ins Sonnenlicht hinaus und er ließ mich wissen, wir würden uns nun zum Gemeindehaus begeben: »Dort werden Sie dann eine dreiviertel Stunde lang die Fragen der Gemeinde beantworten.« Das war in der Einladung nicht erwähnt worden; und tatsächlich lautete seine erste Frage: »Warum haben Sie behauptet, dass Luther antisemitisch war? Er war doch sicherlich antijudaistisch?«

Ich antwortete stockend in meinem unzulänglichen Deutsch, als ein anderes Mitglied der Gemeinde aufstand: »Natürlich war er antisemitisch! Wir haben uns alle Textstellen angesehen [hier nannte er die wichtigsten Passagen], wir haben Jahre damit verbracht, sie zu analysieren, und wir müssen es uns nur eingestehen und überlegen, was es bedeutet. Dies gehört zur Geschichte unserer Kirche.« Sein überaus verständiger, äußerst sachkundiger Einwurf war gewandt, kühn und inspirierend. Wer war dieser Mann?

Es war Friedrich Schorlemmer(1), ein berühmter ostdeutscher Akademiker und Pastor, ein Gegner des SED-Regimes, ein Vorkämpfer für Bürgerrechte und Friedensaktivist, der von der Stasi ausspioniert worden war und viele wichtige Bücher über Luthers Theologie geschrieben hatte. Und bald wurde mir klar, dass mir die Frau, die im Gottesdienst so viele Lesungen vorgetragen hatte, ebenfalls bekannt vorkam. Ich hatte ihr Gesicht auf einer großformatigen Fotografie von 1989 im Cranach(1)-Ateliermuseum gesehen, die aufgenommen worden war, als eine Gruppe von Wittenberger Bürgern das Schloss an der Tür aufbrach und schließlich in das Gebäude eindrang, um es zu retten, gerade zwei Wochen, bevor das SED-Regime zusammenbrach. Sie stehen alle inmitten der baufälligen Ruine, tragen Schutzhelme und schauen sich lächelnd um. Der Künstler Lucas Cranach(2) war der Hofmaler von Friedrich dem Weisen(1), dem Landesherrn Luthers, er lebte in Wittenberg und war ein enger Freund von Luther. Die Gruppe auf der Fotografie hatte über Jahre hinweg versucht, Erhaltungsmaßnahmen für das verfallende Gebäude zu erwirken. Die Frau, die ich in der Kirche traf, ist mittlerweile Direktorin der Cranach(3)-Höfe, ein schönes, restauriertes Gebäudeensemble und nach wie vor das Projekt einer Bürgerinitiative, die Menschen mit wenig oder gar keiner künstlerischen Erfahrung aus der ganzen Welt zu einem Aufenthalt und künstlerischer Betätigung einlädt. Später saß ich noch mit ihr und dem Pastor auf dem Wittenberger Marktplatz und aß ein kräftiges Bauernfrühstück, ein Gericht aus Eiern und Bratkartoffeln, das mich immer an das alte Ostdeutschland erinnert. Der Pastor erzählte mir von den wöchentlichen Protesten, die eine Beseitigung des Judensau-Reliefs verlangen, und sprach von seiner Scham, in einer Kirche predigen zu müssen, die, wie er sagte, eine andere Religion beleidigt.

Die Frage des Pastors, die ich nun ganz anders verstand, ging mir nicht aus dem Kopf. Ich hatte das Gefühl, noch einmal über Luthers Antisemitismus nachdenken zu müssen, obwohl ich darüber schon geschrieben hatte. War es ein religiöser und rassistischer Hass, und falls ja, wie weit hatte er Luthers Theologie und sein Konzept der Kirche durchdrungen? Das Ereignis erinnerte mich daran, warum ich von Luther so gefesselt war und warum ich von Deutschland fasziniert war – die Vorstellungskraft und der schöpferische Idealismus, die nötig waren, um die Cranach(4)-Höfe zu gründen, die Offenheit der deutschen Gesellschaft für Außenstehende wie mich, die Selbstverständlichkeit, mit der die gebildete akademische Debatte als Teil einer Diskussion in der Gemeinde nach einem Gottesdienst geradezu erwartet wurde. Niemand, nicht einmal ein Pastor mit weißem Kragen und Halskrause ist davor gefeit, dass seine Predigt kritisch geprüft und debattiert wird; und das Luthertum bleibt eine von Grund auf hierarchiefreie Konfession ohne Rangordnung, so wie ihr Begründer Luther keine formale Position in der Kirche innehatte und immer nur Gelehrter für die Heilige Schrift blieb. Am Ende werden auch meine Auffassungen beurteilt werden, und ich hoffe, dass meine Sicht auf Luthers Männlichkeit und seinen komplizierten Charakter die Diskussion darüber, wie wir großer Männer gedenken, ohne ihre Schwächen und Gewaltaffinität aus den Augen zu verlieren, weiter öffnen wird.

Einleitung

Das Luther-Gedenkjahr 2017 war nicht bloß ein Ereignis der Lokalgeschichte Wittenbergs und nicht einmal vornehmlich der Lutherischen Kirche. Luther war so lange mit dem Deutschsein schlechthin verknüpft, dass dieses Ereignis auch ein säkulares Gedenken war, ein Anlass, danach zu fragen, was Deutschsein heute bedeutet. Obwohl das Land 1990 formal wiedervereinigt wurde, ist der Unterschied zwischen dem ehemaligen Osten und dem ehemaligen Westen immer noch unverkennbar. Der Osten blieb merklich ärmer und heute, dreißig Jahre später, ist sein Idealismus ebenfalls noch verschieden, mit einem fortwährenden Bekenntnis zu Gleichheit und gemeinschaftlichen Werten und einem eingefleischten Argwohn gegenüber der Macht des Staates. Wenn das Jubiläumsjahr politisch irgendetwas bewirken sollte, dann bezweckte es, den Osten und den Westen einander näher zu bringen. Doch diejenigen, die von dem Bildungssystem im Osten geprägt waren, näherten sich Luther ganz anders. Sie wollten mehr über die wirtschaftliche Seite des Ablasshandels wissen und über den Reichtum und den Rang derer, die ihn befürworteten – Themen, die während der 500-Jahrfeiern nicht wirklich berücksichtigt wurden. Zudem stellten sie auch andere Fragen; Forscher aus dem ehemaligen Osten, die in der Denkmalpflege tätig waren, untersuchten zum Beispiel die Archäologie von Luthers Haus und veränderten unsere Sicht des Wohlstands der Familie. Doch weit davon entfernt, Osten und Westen zusammen zu bringen, drängte sich eher der Eindruck auf, die Fragen und Zugangsweisen Ostdeutschlands würden während des Gedenkjahrs oft untergehen, zugunsten einer neutraleren Annäherung, die an den Reformator als den Übersetzer der Bibel und den Erfinder der deutschen Sprache erinnerte.

Jubiläumsfeiern für Luther waren oft politisch aufgeladen und mit Fragen zur deutschen Identität verknüpft gewesen. Die erste Jahrhundertfeier zu den 95 Thesen wurde kurz vor Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges begangen, dem katastrophalen Konflikt, der eine religiös und politisch aufgeladene militärische Auseinandersetzung entfesselte, die eine Generation lang währen sollte und weite Landstriche Deutschlands verwüstete. Im Jahr 1917 gedachte man mitten im Krieg, am Rande der Niederlage und vor der sich ankündigenden Revolution des Anschlags der 95 Thesen. Nun, in einem nach dem Zweiten Weltkrieg wiedervereinigten Land und mit einer Durchführung der Feierlichkeiten auf einem Territorium, das zuvor zum ostdeutschen Staat gehört hatte, war das Luther-Gedenken auch ein Versuch, Deutschlands Geschichte nicht mehr allein unter dem Aspekt des Nationalsozialismus und des Holocausts zu definieren – das heißt ein Versuch, eine »brauchbare Vergangenheit« zu finden.

Wie man Luther gedachte, war deshalb eine Frage von nationaler Bedeutung.[1] Dieser schwierige Held mit seiner zähen Entschlossenheit, seiner Liebe zu Bier und Schweinefleisch, seinem unnachsichtigen Hass, seinem Hang zu frauenfeindlichen Bonmots und seiner männlichkeitsbetonten Haltung, war schon immer eine Figur, an der sich die Geister schieden. Ihn anzunehmen, war daher nicht so einfach. Es konnte eigentlich nur mit Selbstironie geschehen und nur dann gelingen, wenn sich religiöse Spaltungen als entfernt genug für die konfessionelle Identität erwiesen, um mit einer nachsichtigeren Einstellung zu den bunten Charakteren des 16. Jahrhunderts überwunden werden zu können. Die Tatsache aber, dass Thomas Kaufmann(1), Professor für Kirchengeschichte in Göttingen, ein Buch über Luther und die Juden veröffentlichte, in dem Luthers Antisemitismus ein für alle Mal bestätigt und dieser Antisemitismus nicht als ein Produkt seiner Zeit entschuldigt wurde, sorgte dafür, dass gerade dieses Problem zum Gegenstand einer nationalen Debatte wurde und zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg frontal angegangen wurde.[2]

Luther, so hatte es den Anschein, wirft immer Fragen nach der kulturellen und nationalen Identität auf, die weit über sein theologisches Vermächtnis hinausreichen. Von der Statur her ein Koloss wie Bismarck(1) scheint ihn sich jedes Zeitalter auf eigene Weise anzueignen – als historische Figur aber auszulöschen. Er wird entweder geliebt oder gehasst, und er löst selbst heute noch starke emotionale Reaktionen aus. Wie sich dieses Gedenkjahr entwickelte und welche Rituale des Erinnerns vollzogen wurden, offenbarte eine Menge über die deutsche Kultur und Politik: Hierzu hätte die Kulturgeschichte sicherlich viel zu sagen. Sie könnte uns dabei helfen, Luthers sturen Charakter zu untersuchen, seine grobschlächtige Männlichkeit, die Intensität seiner Anziehungskraft, und sie könnte die überall vorhandenen Spuren erklären, die er in der deutschen Kultur, musikalisch, sprachlich, materiell und visuell hinterlassen hat.

Im Laufe des Gedenkjahres dachte ich darüber nach, in welcher Weise die Biografie Luthers, die ich selbst verfasst hatte, zu einem Teil des Erinnerungskults wurde, und mir war dabei oft unbehaglich. Mir wurde klar, dass ich nicht genug getan hatte, um Luthers Antisemitismus zu hinterfragen oder herauszufinden, wie weit dieser sich in seine Theologie hinein erstreckte, wobei unter anderem meine Erfahrung, selbst von der Kanzel herab in Luthers Kirche zu sprechen, einen Anteil an diesem kritischen Impuls hatte. Ich spürte, dass ich auf die weniger angenehmen Seiten seines Erbes eingehen musste. Vor allem musste ich einen der Aspekte kritischer unter die Lupe nehmen, den ich an Luther am meisten liebte: sein lautstarkes maskulines Auftreten. Forschungen zur Männlichkeit schienen mir hierfür nicht die richtigen Werkzeuge zu liefern. Jahre zuvor war ich nicht erbaut gewesen von Historikern, die Männlichkeit in die »gute«, verantwortungsvolle Männlichkeit des Hausvaters einerseits und in grobes, zerstörerisches männliches Verhalten andererseits einteilten. Fraglos konnte man das eine nicht ohne das andere haben: Die aufrechten Patriarchen von heute waren die Rabauken von gestern. Da die Staatsmacht in der frühen Neuzeit letzten Endes auf Zwangsgewalt angewiesen war, brauchten die Obrigkeiten ihre jungen Männer, um den Gebrauch von Waffen zu erlernen (die Städte wurden von Bürgerwehren verteidigt). Und die Gesetzgeber mochten sich zwar gegen Trinkexzesse empören, aber Rituale männlicher Bündnisbildung beinhalteten – damals wie heute – den kollektiven Alkoholkonsum.[3] Ich fühlte mich irritiert von historischen Darstellungen, die den moralisierenden Ton der Obrigkeiten gegenüber den jungen Rowdys der Vergangenheit übernahmen, und war ungehalten bei denen, die behaupteten, von Luthers Derbheit schockiert zu sein, oder bei denen, die seine aggressive Polemik gegen Andersdenkende vom Tisch wischten. Für mich war das ein Teil von Luthers anarchischer Attraktivität, seine Weigerung, eine Heiligenfigur aus Gips zu sein. Das Gedenkjahr veranlasste mich jedoch, meine Neigung, die renitenten Eigenschaften Luthers in eine relativ positive Einschätzung seiner Persönlichkeit zu integrieren, skeptischer zu sehen und stattdessen mehr die Gefahren seiner habituellen Aggression herauszuarbeiten.

Wenn wir über Männlichkeit nachdenken – thematisch eines der am stärksten wachsenden Felder der historischen Genderforschung der letzten dreißig Jahre – kann uns das dabei helfen, Luther anders einzuschätzen. Man könnte zum Beispiel eine Geschichte der Reformation anhand der Gesichtsbehaarung von Luther schreiben: Der glattrasierte Mönch mit Tonsur machte dem struppigen, unrasierten, schnurrbärtigen Luther Platz, als dieser sich als Edelmann verkleidet auf der Wartburg versteckte. Der reife Luther sieht wieder rasiert aus, doch die Stoppeln auf seinem vorspringenden Kiefer sind normalerweise sichtbar. Die Werkstatt Cranachs(5) gab sich alle Mühe, Luther als einen virilen, potenten Mann zu zeigen, als eine Figur, die sich von einem zurückhaltenden Mönch deutlich unterschied. Man könnte sogar argumentieren, dass die Reformation in der Geschichte der Männlichkeit einen echten Moment des Wandels markierte, insofern sie das Ideal des Zölibats ablehnte, den Papst(1) als effeminiert verspottete sowie Mönche und Priester als alternative Modelle für Männlichkeit abschaffte. Die protestantischen Pastoren sollten nun wie die Stadtväter und würdevollen Bürokraten, in deren Diensten sie standen, Patriarchen sein. Anstelle einer Vielzahl von Formen der Männlichkeit schätzten die Lutheraner nur eine.

Abb. 0.2 Der Lutherschrein, Triptychon von Veit Thiem(1), 1572. Sammlung St. Peter und Paul (Herderkirche) in Weimar.

Eine Kulturgeschichte dieser Art hat zweifellos ihre verführerischen Seiten, doch unsere Darstellung muss komplexer ausfallen, weil Männlichkeit niemals einheitlich ist und die Individuen ihre sexuellen Identitäten selbst gestalten, auch wenn dies im Dialog mit sozialen Formen geschieht. Schließlich wurde Luther auch schon sehr früh in Doppelporträts mit dem sehr viel weniger viril wirkenden Melanchthon(1) abgebildet. Anders als Luther trug der jüngere Mann einen schütteren Bart, und da Melanchthon selbst nie Mönch gewesen war, musste er auch keine zölibatäre Männlichkeit zurückweisen; aber beide Männer wussten, dass Melanchthon der bessere Gelehrte war. Das maskuline Imponiergehabe des Reformators und sein tyrannischer Antagonismus gegenüber den Juden waren aus ein und demselben Stoff. In seinen letzten Lebensjahren forderte er die deutschen Regenten, darunter seinen eigenen Kurfürsten, auf, Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und geißelte die Kurfürsten Brandenburgs dafür, allzu tolerant zu sein. Dafür setzte er dieselbe polemische, prophetische Methode ein, die er schon frühzeitig entwickelt hatte, um in der Lage zu sein, der Macht gegenüber die Wahrheit auszusprechen (so wie er sie sah).

Luther sah sich gern als Held der Reformation und gefiel sich in seiner Männlichkeit. Sie gehörte zu der Art und Weise, wie er die Dominanz über seine jüngeren Anhänger herstellte. Sie hatte spielerische Aspekte – eine von Luthers größten Gaben war sein Sinn für Humor –, aber auch deutlich weniger angenehme Seiten. Im Jahr 1530, als Melanchthon(2) die Verhandlungen über die Anerkennung der Confessio Augustana – dem Augsburger Bekenntnis – zu führen hatte, verspottete ihn Luther wegen seines Mangels an männlichem Mut und seiner Weinerlichkeit. Es waren bissige Bemerkungen, die wohl weniger über die Männlichkeit im 16. Jahrhundert verraten als vielmehr über Luthers Hang, andere zu schikanieren.[4] Wenn Luther seine Frau Katharina(1) von Bora verspottete, weil sie nicht verstand, was »Rhetorik« war, oder wenn er erklärte, Klugheit sei das Gewand, das Frauen am schlechtesten stünde, wie uns die Tischgespräche (Aufzeichnungen, die Luthers Studenten von Gesprächen bei den Mahlzeiten machten) offenbaren, war Luthers Heiterkeit auch ein Mittel, um Frauen zum Schweigen zu bringen.[5] Luthers männlichkeitsbetonte polemische Art mag sogar ein Teil der Methode gewesen sein, wie er seine eigene Position zementierte und es anderen erschwerte, sich zu äußern. Sie trug auch dazu bei, Kompromisse – mit den Katholiken oder den Sakramentariern – unmöglich zu machen. So gesehen hat die Geschichte der Männlichkeit viel zu bieten, weil diese Art ungehobelter, rabaukenhafter Männlichkeit sogar diejenigen in ihren Bann zu schlagen vermag, die sie einschüchtert. Warum waren Luthers Anhänger, Frauen eingeschlossen, bereit, sich – zumindest über lange Zeit – widerspruchslos anzupassen? Und was konnte Luther mit einem solchen männlichen Imponiergehabe erreichen, wenn er die Grenzen dessen übertrat, was akzeptabel war, mit seinem ungehörigen Benehmen davonkam und die Aggression gegen seinen größten Feind, den Papst(2), richtete? Luthers Männlichkeit, so scheint es, hatte durchaus einen üblen Zug.

Luther dachte in binären Gegensätzen und teilte Menschen immer wieder in Freunde und Feinde ein. Seine Fähigkeit, die Welt in einen epischen moralischen Kampf zu verwandeln – überall den Teufel am Werk zu sehen, zu vereinfachen und die Dinge klar zu benennen –, war eine seiner größten Stärken, aber auch die Ursache seiner größten Schwächen. Dieses Muster zeigt sich ebenso in seinen theologischen Werken: Seine Fähigkeit, etwas mit einem »Namen« zu belegen, war ausschlaggebend für seine vernichtende Polemik, aber sie war auch eine seiner größten Begabungen als Theologe. Auf allen Gebieten von Luthers Wirken nach wiederkehrendem Verhalten zu suchen hilft uns, seine Theologie anders zu verstehen: Derselbe Luther, der treffende Spitznamen für seine Freunde prägte, indem er den Wittenberger Pastor Johannes Bugenhagen(1) »Dr. Pommer« nannte (er stammte aus Pommern, sprach Plattdeutsch und seine Predigten waren langatmig), und seinen Gegner Johannes Cochlaeus(1) als »die Schnecke« bezeichnete (Luther war ihm stets mehrere Schritte voraus), besaß außerdem das Talent, komplexe theologische Sachverhalte mit einem Wort zusammenzufassen.[6] Die Namengebung betrifft nicht zuletzt das Verhältnis der Sprache zur Wirklichkeit, eine für Luther in sowohl philosophischer als auch theologischer Hinsicht grundlegende Frage. Die vorliegenden Aufsätze sind ein Versuch, theologische Geschichte anders aufzuzäumen. Anstatt Ideen als unabhängige Kräfte mit ihrer eigenen Herkunftsgeschichte zu behandeln, versucht dieses Buch, sie im Zusammenhang mit der Person zu verstehen, die sie hervorgebracht hat, und sie nicht von ihren unbewussten und halbbewussten Verwendungsweisen zu unterscheiden. Es sucht ebenso sehr nach Denkmustern und -gewohnheiten wie nach ausdrücklichen Erklärungen.

Binäre Gegensätze strukturierten nicht nur Luthers Rhetorik in erheblichem Umfang, sondern auch einen beträchtlichen Teil der Reformationspropaganda. Von zentraler Bedeutung dafür war die Gegenüberstellung von Papst(3) und Christus. Die reformatorische Bewegung entwickelte einen unerbittlichen Antipapismus mit Luther als dem Helden, der das Papsttum als das entlarvte, was es aus ihrer Sicht wirklich war: der Antichrist. Selbst als Luther starb, wiederholte er die antipapistische Prophezeiung, die zugleich ein Fluch ist: »Lebend war ich dir die Pest, oh Papst(4), gestorben werde ich dein Tod sein.« Dieser bittere Aphorismus war in der lutherischen Gedenkkultur vom 16. Jahrhundert an erstaunlich weit verbreitet. Heutzutage sind diese angriffslustigen Worte vielfach getilgt worden, doch selbst wenn das nicht geschah, kann ihr Vorhandensein in einigen der vertrautesten Bildern der Reformation leicht übersehen werden. Luthers binäres Denken spiegelte sich beispielsweise in der Bildgestaltung, die Cranachs(6) Werkstatt für die neue Bewegung entwarf, mit klaren vertikalen Einteilungen in Gut und Böse und antipapistischen Karikaturen, die bisweilen an Hassbilder grenzten. Die damalige Papst(5)-Obsession zeigt sich nicht minder in den Beleidigungen, mit denen Luthers Gegner, sowohl Radikale als auch Katholiken, ihn überzogen. Müntzer(1) taufte ihn den Wittenberger Papst(6) und beschuldigte ihn, »den Scheinheiligen zu spielen mit den Fürsten« und »sich an die Stelle des Papstes(7) zu setzen«.[7] Er ist »der Elbpapst«, beklagte sich ein anderer ehemaliger Unterstützer.[8]

Gleichwohl leistete die Werkstatt Cranachs(7) weitaus mehr als die Herstellung von Hassbildern. Sie schuf neuartige Ikonographien für die Reformation – insbesondere von Gesetz und Evangelium –, die über die bloße Kontrastierung von Gegensätzen hinausgehen, obwohl sie binäre Formen verwenden. Beides, Gesetz wie Evangelium, wird benötigt, denn Christen brauchen das Gesetz, um ihre Sünden zu erkennen. Die Werkstatt entwarf eine Bildform, die dem Betrachter abverlangte, über verschiedene Abschnitte des Bildes zu meditieren, es in die eigene Andacht einzubeziehen, Worten und Zeichen zu folgen, um die wesentlichen theologischen Ideen zu erfassen.

Aber auch Luther war mehr als nur der tyrannische Patriarch. Normalerweise sind Träume kein Untersuchungsgebiet für Kirchenhistoriker. Doch wenn man Luthers Bericht von einem Traum in einem Brief an seinen Beichtvater Staupitz(1) liest, von dem er sich verlassen fühlt, wird man von seiner Schilderung, er fühle sich wie ein Kind, das »von seiner Mutter entwöhnt wird«, unweigerlich ergriffen. Die Entwöhnung ist für die Mutter wie für das Kind eine menschlich elementare physische Erfahrung, und dennoch sprechen wir selten darüber.[9] Wird ein Kind entwöhnt, findet eine allmähliche Trennung von der Mutter statt, und die beiderseitige Abhängigkeit ihrer Stoffwechselsysteme, die mit der Empfängnis beginnt, geht schließlich zu Ende. Für Mutter und Kind bedeutet es, eine tiefe Quelle ihrer physischen Verbindung und gemeinsamen Vergnügens zu verlieren. Beide müssen ohne diese orale Verbindung Trost finden und das Kind muss lernen, sich selbst zu beruhigen.

Es handelt sich dabei um eine universelle menschliche Erfahrung, doch wie Luther sich auf sie berief und was uns dies über eine bestimmte historische Zeit zu sagen vermag, ist höchst aufschlussreich. Die Worte wurden, wie Luther in einem Brief schrieb, dem Psalm 131 entnommen, einem Psalm, den Luther später übersetzte, indem er Worte wählte, die eher die passive Erfahrung des Kindes, entwöhnt zu werden vermittelten, und die aktive Seite des Kindes in dem Vorgang unklar ließen. In den Übersetzungen anderer hingegen ist das Kind zufrieden, seine Trennung von der Mutter erreicht zu haben. Fehler und Ungenauigkeiten sind normalerweise vielsagend, und zwar häufig mehr als wir dies unmittelbar wahrnehmen, wie Freud(1) vor langem deutlich machte: Luther »erinnert« den Psalm so, als vermittele er ein Gefühl der Verlassenheit, und nicht so, als habe das Kind zu einem Zustand der Zufriedenheit gefunden. Diese stark ausgeprägte Zweideutigkeit der Art und Weise, wie Luther eine Bibelstelle erinnerte, die für ihn sehr wichtig war, hilft uns zu verstehen, wie eng seine Bindung an Staupitz(2) war. Sie deutet auch an, dass er sich seinen Weg in die Unabhängigkeit erst ertastete, als er seinen eigenen theologischen Weg einschlug, und enthüllt etwas von dem Schmerz und der Verlassenheit, welche die Loslösung von der katholischen Kirche mit sich brachte.

Eine konventionelle psychoanalytische Interpretation könnte es darauf anlegen, mit diesem Traum Luthers Beziehung zu seiner Mutter(1) zu deuten, was allerdings ein Kurzschluss sein könnte, der einen vielschichtigen Charakter auf Entwöhnungs- und Entwicklungsprobleme verengt, über die wir in Luthers Fall nichts wissen. Auch eine psychoanalytische Beschreibung, die Luthers Theologie aus seiner Beziehung zu den Eltern ableiten wollte, wäre nicht zufriedenstellend – obwohl ihm die komplizierte Beziehung zu seinem Vater,(1) gegen den er rebellierte, indem er Augustinermönch wurde, ungewöhnliche Einsichten in den vaterbezogenen Aspekt im Verhältnis eines Christen zu Gott verschaffte und ihm verdeutlichte, wie dieser Vaterbezug zu einem Ringen mit Gott führen kann. Psychoanalytische Ideen nutzen Historikern nicht sehr viel, wenn sie dazu führen, ein Individuum zu pathologisieren. Sie dienen dann lediglich dazu, die Vielschichtigkeit eines Seelenlebens zu verringern, und sie helfen uns nicht dabei, das Denken der Individuen über die Zeit hinweg zu verstehen, das sich in allen ihren Gewohnheiten, Denkmustern, bewussten und unbewussten Neigungen und in ihren tatsächlichen Beziehungen zu anderen naturgemäß manifestiert. Sobald wir anfangen, diese herauszuarbeiten, können wir sehen, wie Träume – die gegenüber dem Wortlaut der Heiligen Schrift Fragen zum Wesen von göttlicher Eingebung und Prophetie aufwerfen – mit den zentralen Dilemmata von Luthers Reformation verbunden waren. Indem wir Fragen aus einem dezentralen Blickwinkel angehen und Themen betrachten, die an der Peripherie unseres wissenschaftlichen Blicks liegen, tauchen oft neue und unerwartete Verbindungen auf. So war zum Beispiel eine der zentralen theologischen Meinungsverschiedenheiten der Reformation mit dem Stellenwert von Träumen verbunden. Der revolutionäre Unruhestifter Thomas Müntzer(2) zog ätzend über Luthers Stellungnahme für die Reichen und Mächtigen her und leitete seine eigene Autorität zum Teil aus Träumen und Visionen ab. Luther seinerseits war im Hinblick auf Träume immer skeptisch und zog es vor, sich allein auf die Schrift zu verlassen – aber in der Heiligen Schrift kommen selbstverständlich auch prophetische Träume und Visionen vor. Luther konnte Träume nie ganz abtun, und seine scheinbare Skepsis verdeckte eine Faszination durch sie.

Den Menschen in Luthers Kreis vermittelten die Träume Hoffnungen und Ängste, weil sie es ihnen erlaubten, indirekt über diese zu reden, indem sie über mögliche Interpretationen ihrer Träume debattierten. Sie fragten sich zum Beispiel, ob der Adler, der sich in einem von Melanchthons(3) Träumen in eine Katze verwandelte, für den Kaiser(1) stand. Auf den Kaiser richteten sich viele Befürchtungen, während sie darauf warteten, ihm auf dem Reichstag von 1530 zu Augsburg ihr Glaubensbekenntnis präsentieren zu dürfen – das Dokument, das ihre neue Kirche begründete. Sie machten sich deswegen Sorgen, waren aber nicht in der Lage, mit Luther zu reden, der sich nicht weiter als bis zur Veste Coburg nähern konnte. Psychoanalytische Ideen könnten daher nicht nur helfen, die psychologischen Dilemmata von Individuen zu erhellen, sondern könnten auch die ganze Fülle von Beziehungen zwischen Menschengruppen aufdecken – und es war genau diese kollektive Dynamik, die für die Implementation der Reformation entscheidend war. Es waren allerdings nicht bloß harmonisch kooperative Beziehungen, sondern oft auch Beziehungen, in denen um Luthers Aufmerksamkeit rivalisiert wurde, und sie konnten gelegentlich Angriffe auf die Männlichkeit des jeweils anderen einschließen, wie in jeder Bewegung mit einem charismatischen Anführer. Der Blick auf diesen Untergrund der entstehenden Kirche soll keinesfalls schmälern, was die Wittenberger gemeinsam erreichten; er erinnert uns vielmehr daran, wie wichtig dieses Wittenberger Kollektiv für die Selbstwahrnehmung der Bewegung war: Die Abbildung der gemeinsam um einen Tisch versammelten Reformatoren war eine Ikonographie der Reformation, die nicht bloß im Luthertum Bestand hatte, sondern sogar vom ikonophoben Calvin(1)ismus kopiert wurde.

Für das Luthertum waren Bilder von großer Bedeutung, daher spielten Museumsausstellungen bei den Feierlichkeiten von 2017 eine herausragende Rolle. Die wohl inspirierendste dieser Ausstellungen, »Luther und die Avantgarde«, fand in Wittenbergs ehemaligem Gefängnis statt, einem Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. Jedem Künstler wurde darin eine Gefängniszelle zugeteilt, die er oder sie beliebig nutzen konnte, um eine Idee zu Luther zu entwickeln und umzusetzen. In der unsystematischen Abfolge von Installationen, Videos, unterschiedlichen medialen Kunstwerken und Skulpturen war das zerbröckelnde Gemäuer ebenso sehr ein Teil der Schau wie die Ausstellungsobjekte, denn es erzeugte ein Nebeneinander aus dem architektonischen Erbe staatlicher Institutionen und der führenden zeitgenössischen Kunst westlichen Stils (nachdem das Gebäude im Deutschen Reich und in der DDR ein Gefängnis gewesen war, wurde es zuletzt als Depot zur Lagerung amtlicher Dokumente genutzt). Nicht alles war gelungen. Einige Künstler und Künstlerinnen glaubten offenbar, Luther sei ein Ikonoklast gewesen, der danach trachtete, sämtliche religiösen Bildnisse zu zerstören – was er keineswegs war –, während andere meinten, er stünde für die Freiheit des Individuums. Doch einige der Ausstellungsstücke vermittelten Aspekte von Luther, zu denen die Forschung keinen Zugang gefunden hatte. Ich war insbesondere von Erwin Wurms »Boxhandschuh« in Orange beeindruckt, der den Besucher schon bei der Ankunft in der Ausstellung begrüßte und jene maskuline Aggression wiedergab, die so sehr Luthers Stil gewesen war (siehe Abbildung 1.19).[10] Ein weiteres Werk war ein Schwindel erregendes Gefängnis aus durchsichtigen Plastikröhren in einer käfigähnlichen Struktur des chinesischen Künstlers Song Dong(1), das mit Süßigkeiten gefüllt und oben auf einem Spiegel platziert war, der die gesamte Stellfläche ausfüllte. Dieser Installation gelang es irgendwie, die Selbstbezüglichkeit von Luthers Denken nachzubilden, weil sie vermittelte, wie sich eine solche befreiende Theologie in ihrer Endlosschleife unaufhörlich wiederholter Schlüsselbegriffe mit sich selbst begnügen konnte.[11] Vor allem aber zeigte schon die bloße Kreativität und der Einfallsreichtum dieser Ausstellung, dass das Luthertum längst nicht auf Museen beschränkt ist und zu außergewöhnlicher Kunst inspirieren kann.[12]

So wie es das von Anfang an getan hat. Keine andere protestantische Religionsgemeinschaft hätte eine solche erstaunliche Anzahl von Ausstellungen ausrichten können, weil keine andere ein so umfangreiches materielles und visuelles Erbe pflegte. Die meisten anderen protestantischen Gemeinschaften teilten bilderstürmerische Instinkte, misstrauten üppigen Altarbildern, die möglicherweise die Sinne auf Abwege führen konnten, und bevorzugten weiß getünchte Wände oder einfache Sprüche aus der Heiligen Schrift. Nicht so Luther: Er blieb von Anfang an näher am Katholizismus, den er verlassen hatte, und obwohl die Lutheraner ihre Kirchen umgestalteten, um didaktische Kunst einzubeziehen – mit Gemälden, die zeigen, wie Christus die Kinder segnet, wodurch sie die Bedeutung der Kindertaufe unterstrichen, oder mit Bildern, die Gesetz und Evangelium thematisieren –, schmückten sie die Orte ihres Gottesdienstes mit ansprechenden und der Mode der Zeit entsprechenden manieristischen Gestaltungen. Sie statteten ihre Kirchen auch mit Bildern des Reformators selbst aus. Der Künstler Lucas Cranach(8) zählte zu Luthers ältesten Freunden und frühesten Unterstützern, und wie das Lutherjahr gezeigt hat, tat er mehr als jeder andere Künstler dafür, die bemerkenswerten Kirchen von Sachsen und Thüringen zu gestalten, Luthers Gesicht bekannt zu machen und den Stil frühmoderner lutherischer Drucke zu prägen.[13] Das Luthertum war ebenso sehr eine visuelle und materielle Kultur wie eine musikalische. Und wenn wir glauben, dass wir Luther als Individuum »kennen« können, liegt das größtenteils daran, dass wir mit dem Luther aus Cranachs(9) Werkstatt so vertraut sind – dem Mann mit tiefsitzenden, weitblickenden Augen, der selbstbewusst robusten Haltung und der widerspenstigen Locke, die unter seinem Doktorhut respektlos hervorlugt. Selbst wenn dieses Buch Luther auch gelegentlich kritisieren kann oder auf weniger angenehme Seiten von Luthers Vermächtnis hinweisen wird, so hoffe ich doch, dass dies im Geist des Luthertums aufgenommen werden wird, den ich so bewundere: sein ausgeprägter Anti-Autoritarismus, sein politisches Engagement und sein Insistieren auf Argumentation, Diskussion und kritische Bewertung der eigenen Geschichte.

Abb. 0.3 Porträt von Martin Luther, Cranach(10) der Ältere, 1528.

1. Kapitel

Cranachs(11) Luther

Die Zusammenarbeit zwischen Luther und dem Künstler Lucas Cranach(12) dem Älteren trug vielleicht mehr zum Erfolg der Reformation bei als irgendetwas sonst, wenn wir von Luthers Schriften einmal absehen. Cranach(13) wohnte gleich bei Luther um die Ecke, und seine Werkstatt produzierte eine Reihe von Bildnissen des Reformators, gestaltete aber auch Bücher, illustrierte die deutsche Bibel und entwarf den Stil neuer Kirchen. Cranach(14) war der Hofmaler von Friedrich dem Weisen(2), Luthers Landesherrn. Er schuf höchst originelle, eindrucksvolle Werke, wie seine sinnlichen Szenen des »Jungbrunnens«, seine Darstellungen von Adam oder von Eva und seine verführerischen Akte. Im Vergleich dazu sind die Porträts von Luther aus dieser Werkstatt künstlerisch dürftig. Und dennoch sind sie möglicherweise die erfolgreichsten Werke aus ihrer gesamten Bilderfertigung, weil sie Luther wiedererkennbar machten – eine Wirkung, die bis in unsere Zeit anhält: Es ist Cranachs(15) Luther, der den Umschlag von nahezu jeder Biografie des Reformators ziert, die heute verkauft wird, und es ist sein Luther, der einem sogar auf der Glasur von Marzipan-Souvenirs in Wittenberg ins Auge sticht. Luthers Gesicht wurde darüber hinaus zu einem wichtigen Zeitpunkt in der Geschichte der Porträtkunst berühmt, als die Porträtierung unter den reichen Bürgerschichten des 16. Jahrhunderts in den deutschen Ländern gerade in Mode kam, die Künstler ihr Repertoire über die religiöse Ikonographie hinaus vergrößerten und anfingen, Bildnisse von Individuen für einen weltlichen Markt zu produzieren. Vermutlich war Luther der erste, dessen Gesicht allgemein bekannt wurde, obwohl er nicht zur Riege der Herrscher gehörte.[1]

Cranach(16) war ein ganzes Jahrzehnt älter als Luther. Er wurde 1504 Hofmaler bei Friedrich dem Weisen(3), dem sächsischen Kurfürsten, und siedelte sich in Wittenberg an. Das war sieben Jahre bevor Luther auf Dauer nach Wittenberg zog. Cranach(17) verließ die Stadt erst nach Luthers Tod und starb 1553 in Weimar. Danach wurde die Werkstatt von seinem Sohn, Lucas Cranach dem Jüngeren(1), übernommen. Luther und der Künstler sind offenbar bald feste Freunde geworden; Luther ging gern beim Lagerhaus des Malers im Stadtkern vorbei, um zu schauen, was es Neues von der Leipziger Messe gab, denn Cranach(18) war nicht bloß Maler, sondern auch der reichste Mann in Wittenberg, der ein Verkaufsmonopol auf erlesene Weine und Arzneimittel besaß.[2] Zwischen dem älteren und dem jüngeren Mann bestanden enge Bindungen: Cranachs(19) Familienleben stand Luther vor Augen, als er noch Augustinermönch war, und die beiden Männer dienten wechselseitig als Taufpaten ihrer Kinder. Als Luther nach dem Reichstag zu Worms auf dem Rückweg überfallen und auf die Wartburg entführt wurde, um unterzutauchen, war es Cranach(20), dem er schrieb und erklärte, er befinde sich in Sicherheit.[3] Luther war als Geächteter und später während des Bauernkriegs wegen seiner Parteinahme für die Obrigkeit gefährdet und überdies durch seine angeschlagene Gesundheit häufig an Wittenberg gebunden und nicht in der Lage, außerhalb von Sachsen zu reisen. Cranach(21) war deshalb der einzige Künstler, der zu dem Mann wirklich Zugang hatte. Durch die Tischreden, eine Zusammenstellung von Notizen, die Luthers Studenten von Tischgesprächen im Haus des Reformators gemacht hatten, erhalten wir einen kleinen Einblick in die Geselligkeit der beiden Freunde in fortgeschrittenem Alter: Sie necken Cranachs(22) Sohn(2) bei dessen Hochzeit, weil er in seine Frau vernarrt ist, und teilen im sommerlichen Garten einen Apfel, wobei sie derbe Witze über die Endstation der geschluckten Apfelkerne machen.[4] Als Cranachs(23) talentierter älterer Sohn Hans(1) in Italien starb, versuchte Luther zu verhindern, dass der untröstliche Cranach(24) und seine Frau in Melancholie verfielen, eine Gemütsverfassung, unter der Luther selber litt.[5]

Cranach(25) nimmt im Pantheon der deutschen Künstler eine ambivalente Position ein. Als einer, der im Schatten seines brillanten Zeitgenossen Dürer(1) steht, sind seine S-förmigen, jugendlichen Akte heute mal gefragt, dann wieder nicht. Es gibt regelmäßig Versuche, ihn als kühnen und wagemutigen Künstler wiederzuentdecken, was eine leichtere Aufgabe ist, wenn man seine fesselnden Darstellungen vom »Martyrium der heiligen Katharina« oder die erstaunliche Darstellung der »Heiligen Sippe« zugrunde legt, die Friedrich den Weisen(4) und seinen Bruder Kurfürst Johann(1) in die Heilige Familie einbindet.[6] Schwieriger wird es dann, wenn man in den schablonenhaften Porträts von Luther, die Cranachs(26) Werkstatt in Massen herstellte und die im Jubiläumsjahr 2017 überall auf der Welt so ehrfurchtsvoll aus den Depots der Galerien geholt wurden, ein großes künstlerisches Verdienst sehen will.

Wollte man Cranach(27) – dem seine Zeitgenossen den Beinamen der »sehr schnelle Maler« gaben – als einen Künstler in der großen Tradition der westeuropäischen Kunst sehen, wäre das im Grunde genommen eine falsche Vorstellung.[7] Er war vor allem ein Bildproduzent, ein Mann, der die explosionsartige Verbreitung des Drucks als neues Medium erlebte, der selbst eine Zeitlang eine Druckerpresse besaß und von diesen neuen Möglichkeiten der Vervielfältigung von Bildern fasziniert war.[8] Dürer(2) lebte im geschäftigen Nürnberg, das eine Fülle von Künstlern und Werkstätten beherbergte und wo reiche Städter ansässig waren, die einen florierenden weltlichen Kunstmarkt ermöglichten. Im winzigen Wittenberg hingegen, das zu seinen Lebzeiten lange einer Baustelle glich, war Cranach(28) der einzige wichtigere Künstler in der Gegend und musste jede Holztafel und alle Pigmente selbst importieren.[9] Seine Werkstatt war riesig und ihr Produktionsausstoß enorm; seine Bilder sind schematisierte Montagen unterschiedlicher, wiederverwendbarer Elemente, die von einer Gruppe angestellter Hilfskräfte zusammengesetzt werden konnten.[10] Bestellte man einen Cranach(29), wusste man, was man bekommen würde. Der »Cranach(30)-Look« mit seinem geflügelten Schlangensignet war nach einiger Zeit unverkennbar, so dass Cranachs(31) zweiter Sohn, Lucas Cranach(32) der Jüngere, an der Erfolgsformel für eine weitere Generation kaum etwas änderte.[11]

Die Luther-Porträts von Cranach(33) sind künstlerisch nicht gerade umwerfend, aber sie haben einige hundert Jahre überdauert und viel dazu beigetragen, den Stil der lutherischen Frömmigkeit selbst zu prägen. Cranach(34) zielte nicht auf eine visuelle Einzigartigkeit, sondern auf eine unmittelbare Lesbarkeit ab. Der gewaltige Korpus an Luther-Bildnissen, den diese Werkstatt produzierte, lässt sich ohne weiteres in sechs oder sieben Kategorien einteilen, die Luthers Lebenslauf folgen. Da ist zunächst der Mönch Luther, ein Bild, das um 1524 seinen Zweck erfüllt hatte; Luther auf der Wartburg; Luther als verheirateter Mann; das Standard-Porträt; der Ganzfiguren-Luther; und der tote Luther. Jedes dieser Bilder wurde durch die Werkstatt Cranachs(35) berühmt. Schließlich gibt es noch einen Bildtypus, der erst nach Luthers Tod produziert wurde und den ich »Luther und Co.« nennen werde.

Was die Werkstatt wirklich leistete, wird deutlich, wenn wir uns die überaus unterschiedlich ausgefallenen frühen Bildnisse von Luther anschauen, die entstanden sind, bevor sich Cranach(36) der Sache annahm.[12] Das allererste Bild von 1519 wurde nicht in Wittenberg, sondern in Leipzig durch die Werkstatt von Wolfgang Stöckel(1) angefertigt. Es zeigt einen jungen, eher unsicher blickenden Mönch, der unter einer riesigen Kutte zwergenhaft wirkt, während das Gesicht von seinem mächtigen Doktorhut überschattet wird. Dass es Luther ist, wissen wir, weil sein Name ungeschickt als kreisförmige Umschrift eingetragen und die Lutherrose beigefügt ist, das Symbol, das Luther für sich als Merkzeichen übernommen hatte.[13] Dieses Bild tauchte in der Zeit nach der Leipziger Debatte von 1519 auf, dem Ereignis, das Luther in humanistischen Kreisen berühmt machte. Es zeigt ihn mit einer erhobenen Hand, in der Pose eines Disputanten. Er hat keine Bücher neben sich, die Schreibweise seines Namens ist Martinus »Lvtter« (obwohl er im Druck darüber in der neueren Schreibweise buchstabiert ist), und der spiegelverkehrt gedruckte Text kennzeichnet ihn als einen Doktor und Augustiner aus Wittenberg. Zumindest eine Druckerwerkstatt machte ein paar Jahre später den Versuch einer besseren Gestaltung, mit einer Version, die Erhard Schön zugeschrieben wird und die das Problem, wie spiegelverkehrte Buchstaben in einem Medaillon zu platzieren sind, fast löste. Diese Ausführung zeigt nun einen etwas kräftiger aussehenden und mit Tonsur versehenen Mönch, dessen Doktortitel links von seinem Kopf vermerkt ist, sowie eine Taube, die verdeutlichen soll, dass er vom Heiligen Geist beseelt ist.[14] Andere Bilder aus dieser frühen Phase stellen eine als Mönch gekleidete Person in ganzer Figur dar, deren Gesicht ziemlich undeutlich ist; während ein weiteres Bild, das vermutlich von einem vorhandenen Druckstock stammt, drei Helden der Reformation abbildet, vermutlich Luther, von Hutten(1) und von Sickingen(1), aber es bleibt jedermann überlassen zu erraten, wer davon nun Luther ist.[15]

Abb. 1.1 Martin Luther, Ein Sermon geprediget tzu Leipßgk…. Holzschnitt, anonym, 1519.

Abb. 1.2 Luther mit der Taube des Heiligen Geistes. Erhard Schön, 1519–1520.

Cranachs(37) Eingreifen in diese Fülle von Abbildungen war entscheidend. Um das Jahr 1520 stellte er zwei Kupferstiche von Luthers Porträt in Frontalansicht her. Die erste Version, die heute die bekanntere ist, wurde zum damaligen Zeitpunkt offenbar für ungeeignet gehalten, denn die meisten erhaltenen Drucke datieren aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts und weisen eine Skizze auf, die in die Ecke der Platte gestochen ist.[16] Eine überarbeitete Fassung des Stichs wurde damals jedoch außerordentlich einflussreich, obwohl sie heute kaum verwendet wird und dem heutigen Zeitgeschmack nicht zu entsprechen scheint. Die geänderte Version zeigt einen weniger furchteinflößenden, friedfertigen Luther, der vor einer Nische steht und eine Bibel in der Hand hält.[17]

Der Unterschied zwischen den beiden Kupferstichen ist aufschlussreich. Der erste ist psychologisch ergreifend: Das ist der ernsthafte Mönch, der solche ikonoklastischen Werke wie An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung schreiben konnte. Der zweite ist ein eher sanfter, süßlicher Heiliger. Auf dem ersten Stich sehen wir nur den Kopf des jungen Mönchs, und der Künstler richtet den Blick unverwandt auf dessen Physiognomie. Auf dem anderen Stich sehen wir seinen Oberkörper und die Gestik der Hände zusammen mit einer Nische, die den Hintergrund bildet. Die Veränderung ist ein Wechsel vom Innerlichen zum Äußerlichen, von einem Mann, dessen intensiver Blick beunruhigt, zu einer eher distanzierten öffentlichen Figur mit breiter Brust, deren Innerlichkeit zurückgenommen ist. Dies war eine künstlerische Entscheidung, die Cranach(38) schon sehr früh traf, und sie sollte den Charakter aller nachfolgenden Porträts bestimmen, die immer klarer, ikonischer, öffentlicher und, wie ich sagen würde, psychologisch seichter wurden. Sie konnten als Massenproduktion hergestellt werden, weil sie Luther in altbekannten Konventionen abbildeten, was es leicht machte, ihn wiederzuerkennen.

Abb. 1.3 Martin Luther als Augustinermönch. Cranach(39) der Ältere, 1520.

Abb. 1.4 Porträt von Martin Luther. Cranach(40) der Ältere, 1520.

Abb. 1.5 Titelseite, De captivitate Babylonica ecclesiae. Martin Luther, 1520.

Abb. 1.6 Porträt von Martin Luther, Acta et res gestae D. Martini Lutheri. Hans Baldung(1) Grien, Martin Luther, 1521.

Wie wirkungsvoll Cranachs(41) zweites, abgemildertes Bild tatsächlich war, lässt sich an dem breiten Spektrum von Pamphleten und Druckerpressen ablesen, die es für ihre Titelbilder kopierten: Es gab Versionen davon aus Straßburg, Wien, Basel, Augsburg, Erfurt und Lübeck.[18] Innerhalb von nicht einmal fünf Jahren wurde aus einem unbekannten Mönch an einem akademisch unbedeutenden Ort ein Gesicht, das im gesamten Heiligen Römischen Reich bekannt war.[19] Alle Bilder basierten auf dem von Cranach(42) geschaffenen Original und wurden am häufigsten auf dem Einband der reformatorischen Hauptschrift Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche verwendet – einem der kühnsten Angriffe Luthers auf die Kirche –, obgleich sie auch auf späteren Werken noch als Titelbild genutzt wurden.[20] Die Begegnung der Leser mit Luthers Text wurde also über Cranachs(43) Version seines Gesichts vermittelt. Der abgebildete Mönch hält eine Bibel und steht vor einer Nische, aber das ist nicht der Grund dafür, weshalb wir wissen, dass es sich um Luther handelt. Anders als bei den Heiligen wie der heiligen Katharina, die sofort erkennbar ist, weil sie ein Rad mitführt, sind es nicht Luthers Attribute, sondern seine Gesichtszüge, die ihn erkennbar machen: seine tiefliegenden Augen, der starke Kiefer, ein Kinn mit Grübchen, breite Wangenknochen und ein stämmiger Hals. Die qualitativ hochwertige Version von Hans Baldung(2) Grien aus dem Jahr 1521 verzichtet auf die Nische und fügt eine Taube und einen Strahlenkranz hinzu, um ihn als einen Mann mit göttlicher Inspiration auszuweisen, und doch wissen wir ungeachtet dieser zusätzlichen Attribute, nur aufgrund seines bekannten Gesichts, dass es Luther ist.[21]

Etwa um diese Zeit hatte Cranach(44) eine Druckerpresse gekauft, die er zusammen mit seinem Freund Döring, einem Goldschmied, betrieb. Er wird sich also gefragt haben, wie sich sein Bild einträglich nutzen und verbreiten ließ. Vermutlich wurde es auf dem Reichstag von 1521, wo Luther seine Schriften vor dem Kaiser(2) und den versammelten Reichsständen verteidigte, als Einblattdruck zum Verkauf angeboten, und da es von den Druckerpressen überall kopiert wurde, wird es im gesamten Reich in Umlauf gewesen sein.[22] Wir wissen zudem, dass in Worms speziell gestaltete Medaillen der wichtigsten Protagonisten des Reichstags verkauft wurden. Luther war zu einem wiedererkennbaren Individuum geworden.[23]

Abb. 1.7 Luther als Augustinerbruder mit Doktorhut. Cranach(45) der Ältere, 1521.

Im Gegensatz dazu war das Profilporträt, das Cranach(46) um dasselbe Jahr herum anfertigte, weniger erfolgreich und schlug auch im preiswerten Druck nicht so schnell ein. Dieses typische Renaissance-Porträt, das sich perfekt in ein Medaillon einfügen ließ, wie es für Herrscher und Humanisten üblich und klassischen Münzen nachempfunden war, zeigt Luther mit seinem Doktorhut, was sein Gelehrtentum stärker betont als sein Augustiner-Mönchtum, und lag mindestens einer Medaillen-Prägung zugrunde. Die Darstellung im Profil bewirkt eine Distanzierung: sie begünstigt weder Vertrautheit noch Identifikation. Luther schaut weg, sein Blick kann nicht ergründet werden, und sein Gesicht ist nicht ausgezehrt, sondern fleischig, mit der leichten Andeutung eines Doppelkinns. Sein Ohr soll suggerieren, dass er seine Inspiration direkt vom Heiligen Geist erhält, so wie der weiche Strahlenkranz, der sein Gesicht erhellt.[24] Nur die Spur einer Locke lässt etwas Widerspenstigkeit und Persönlichkeit erahnen. Als Daniel Hopfer(1) den Stich 1523 kopierte, verlieh er dem Kopf mehr Haar und verstärkte die Anklänge ans Heilige auf dem Bild; Altdorfer(1) produzierte eine weitere Kopie.[25] Sonst sind mir nur zwei weitere Versionen bekannt, die auf diesem Profil beruhen: Ein Profilporträt von Sebald Beham(1) aus dem Jahr 1520 oder 1523, das Luther an seinem Schreibpult zeigt, als sei er der heilige Hieronymus(1); dafür hat Beham sowohl Baldungs Taube als auch Cranachs(47) Heiligenschein abgekupfert.[26] Das andere datiert von 1525. Es entstand während des Bauernkriegs, als innere Uneinigkeit die Reformation zu spalten begann, und greift frühere Bilder auf, die nicht von Cranachs(48) Entwürfen beeinflusst waren. Es zeigt einen stehenden Luther mit leicht gebeugten Knien, doch das Profil ist aufgedunsen, die Kinnbacken hängen, es ist nicht mehr der leidenschaftliche Mönch von einst.

Abb. 1.8 Titelseite, Ermanunge zum fride auff die zwelff artickel der Bawrschafft. Martin Luther, 1525.

Erst mit dem Frontalporträt Luthers in Dreiviertelansicht schuf die Cranach(49)-Werkstatt eine Ikonographie, die sich in ganz Deutschland verbreitete und dazu beitrug, aus Luther den bestverkäuflichen Autor seiner Zeit zu machen. Sie war noch keineswegs allgemein gebräuchlich. Cranach(50) selbst verwendete diese Ikonographie in seinen eigenen Drucken, soweit ich sehe, nicht, und die Wittenberger Drucke der Babylonischen Gefangenschaft setzten sie nie ein. Sie erlebte auch nie einen echten Durchbruch als Markenzeichen für alles, was Luther schrieb. Cranach(51) verlor die Kontrolle über das von ihm geschaffene Bild, doch seine Leistung war es, eine Physiognomie gestaltet zu haben, die von anderen, weniger versierten Künstlern kopiert wurde, und ein Gesicht geprägt zu haben, das die Leser wiedererkennen konnten. Zeitgenossen Luthers erwähnten seine bemerkenswerten tiefliegenden Augen: der päpstliche Nuntius Aleander hielt sie für »dämonisch«.[27] Auch Leser der Streitschriften in Straßburg oder Lübeck, die dem Reformator nie begegnen sollten, konnten dessen ungeachtet seinen berühmten Blick kennenlernen, so wie er aus der Bildfläche schaute, während er ihnen die Heilige Schrift auslegte, mit einem offenen Ohr für Gottes Wort, wie es auch das ihre sein sollte. Das unnachahmliche Gesicht passte zu seinem Schreibstil, denn Luthers Sprache kam dem gesprochenen Wort sehr nahe und war ebenso wie sein Blick völlig direkt.

Zurück von der Wartburg

Allerdings hatte keine dieser Ikonographien über das Jahr 1524 hinaus Bestand. Sie waren sogar bereits im Frühjahr 1521 überholt, weil der nach seinem Aussehen bestbekannte Mann im Reich auf der Wartburg versteckt war und sein Gesicht mit einem Backenbart und einem Schnurrbart unkenntlich machte. Luther ließ seine Tonsur herauswachsen und kleidete sich wie ein Ritter, der Junker Jörg(1) genannt wurde. Die Cranach(52)-Werkstatt reagierte darauf und stellte Bilder auch von diesem Luther her, darunter einen Holzschnitt, der als Einblattdruck gestaltet war, etwas mehr als 21 × 34 cm maß und Luther 1522 bei seiner Rückkehr von der Wartburg, »von seinem Patmos«, nach Wittenberg zeigte. Wir wissen nicht, wann dieses Bild angefertigt wurde, aber möglicherweise hatte Cranach(53) ungefähr zu dieser Zeit eine Skizze des Reformators als Junker Jörg(2) angefertigt. Der Vers unterhalb des Bildes auf dem Holzschnitt verurteilt ein niederträchtiges Rom, den Verfolger Luthers, und andere Versionen ergänzen dies noch mit kurzen historischen Berichten von Luthers Taten in den Jahren 1521 und 1522.[28]

Abb. 1.9 Luther als »Junker Jörg(3)«. Cranach(54) der Ältere, 1522.

Der Holzschnitt mit Junker Jörg(4) gehört zu den Bildern, die dazu beigetragen haben, Luther als historische Figur zu erschaffen. Cranach(55) hätte dieses Bild nicht in Umlauf bringen können, während der Reformator auf der Wartburg war, weil sein Aufenthaltsort und seine Verkleidung geheim gehalten werden sollten. Nach seiner Rückkehr nach Wittenberg legte Luther sein Mönchsgewand wieder an. Er brauchte einige Zeit für seinen Entschluss, kein Mönch mehr zu sein. Das Bild vergegenwärtigt ihn daher nicht zum aktuellen Zeitpunkt, sondern wie er im Moment seiner Rückkehr im Frühjahr 1522 aussah. Es wäre nicht einmal klug gewesen, ein solches Bild bald nach Luthers Rückkehr anzufertigen, weil man annehmen musste, diese Rückkehr würde dem Willen des Kurfürsten widersprechen, obgleich sie vermutlich mit dessen stillschweigender Billigung geschah.[29] Außerdem wäre Luthers Erwähnung seines »Patmos« nur denjenigen vertraut gewesen, die seine Invocavit-Predigten gelesen hatten, welche er nach seiner Rückkehr im Jahr 1522 in Wittenberg hielt, oder die seine Briefe kannten, die in den 1530ern als Manuskripte zirkulierten und erst in den späten 1540ern veröffentlicht wurden. Diese Leser würden gewusst haben, dass er die Wartburg gern als sein Patmos bezeichnete und damit auf den Johannes der Offenbarung anspielte, der seine Apokalypse auf dieser Insel schrieb.[30]

Es scheint daher ein Bild zu sein, das für fromme Lutheraner gedacht war, die sich sowohl mit Latein als auch mit der Lebensgeschichte ihres Helden auskannten. Es erinnerte sie an das Drama, das auf Worms folgte, und wies voraus auf die Rückkehr ihres Helden nach Wittenberg, wo er mit seinem einstigen Mitarbeiter und nunmehrigen Widersacher Andreas Karlstadt(1) fertig zu werden hatte.[31] Denn während Luther abwesend war, setzte sich Karlstadt an die Spitze einer Wittenberger Reformation, die im offenen Widerspruch zum Kurfürsten stand. Bei der Rückkehr des Reformators ging es deshalb um die Formierung einer Wittenberger Orthodoxie. Der Holzschnitt Cranachs(56) trug seinen Teil zur heroischen Mythenbildung bei, die Luther als den Ersten sah, »den Gott auf diesen Plan [Kampfplatz, A.d.Ü.] gesetzt hat«, wie Luther selbst in den Invocavit-Predigten vom April 1522 formulierte, in denen er Karlstadt vernichtend abkanzelte.[32] Das Bild verband Luthers Geschichte mit seiner Loyalität zum Hause Sachsen und mit seiner eisernen Ablehnung eines Radikalen wie Karlstadt.

Einige wenige gemalte Versionen dieses Luthers aus der Cranach(57)-Produktion sind erhalten geblieben, sie befinden sich in Weimar, Leipzig und Muskegon, Michigan, und erfüllen nicht den Maßstab hoher Qualität. Alle haben einen grünen Hintergrund; das Exemplar in Michigan trägt die Datierung »1537«.[33] Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass diese Ikonographie eine spätere Rarität war, die auf Käufer abzielte, die ein Interesse an Luthers Lebensgeschichte hatten. Wahrscheinlich wird ein Projekt am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, das sich der Aufgabe widmet, das Gesamtwerk der Cranach(58)-Werkstatt zu datieren, diese Frage klären können.[34] Mit ihren markanten Ecken und dem üppigen Schnurrbart gleicht Luthers Barttracht erstaunlich der von Friedrich dem Weisen(5), dem sächsischen Regenten, dessen Bild die Werkstatt im Zuge einer Propaganda-Kampagne der Kurfürsten ebenfalls verbreitete. Man könnte fast Vermutungen darüber anstellen, ob nicht Luthers extravagante Gesichtsbehaarung in diesen Bildern nur dann Sinn ergibt, wenn man sie im Verhältnis zu dem glattrasierten, kahler werdenden Luther der späteren Porträts sieht, so als gelte es zu beweisen, dass ihm ein Bart wachsen könnte, wenn er dies nur wollte.[35] Ein späterer Stich verkündet Luthers Männlichkeit ebenfalls mit Pauken und Trompeten: Der dargestellte kolossale Luther ist so breit, dass er seine Beine kaum noch zusammen bekommt.[36]

Doppelporträts

Im Jahr 1525 heiratete Luther Katharina(2) von Bora, was einen doppelten Anlass zur Empörung bot, weil es die Eheschließung eines Mönchs mit einer Nonne war, die damit beide ihr Gelübde brachen. Von da an wurden durch die Cranach(59)-Werkstatt bis etwa 1529 jedes Jahr gemalte Doppelporträts von Luther und Katharina(3) hergestellt, die in den meisten Fällen auf dem Werk selbst datiert sind.[37] Mindestens zwanzig davon sind erhalten und weit verstreut, verschiedene Versionen befinden sich in Mailand, Stockholm und den Uffizien in Florenz.

Luthers Gesicht ändert sich auf diesen Porträts, da er an Gewicht zulegt und selbstsicherer wird, bis wir um das Jahr 1528 einen voll ausgereiften, maskulinen Luther vor uns haben. Er ist mittlerweile Vater und hat einen eigenen Haushalt. Und doch ist das Gesicht nach wie vor erkennbar dasjenige der Cranach(60)-Stiche von 1520 mit denselben Gesichtszügen: den tiefliegenden Augen mit ihrem durchdringenden Blick, den schweren Kinnbacken, dem stämmigen Hals, den kräftigen Bartstoppeln und dem widerspenstigen Haar. Nur das von einer Strähne Locken verdeckte Ohr ist nun weniger sichtbar.

Diese Bilder folgen dem Muster des Ehegatten-Doppelporträts, das beim höheren Bürgertum in Mode war, unterscheiden sich jedoch auf subtile Weise davon. Anders als die in Auftrag gegebenen Porträts von Patriziern und reichen Bürgern – wie die wunderschön ausgeführten Porträts eines unbekannten Paares von 1522, die sich in der National Gallery of Art, Washington D.C., befinden[38] – sind sie von minderer Qualität, vielfach kopiert und wahrscheinlich als höfliche Geschenke gedacht. Ihre unterschiedlichen Formate entsprechen verschiedenen Funktionen: Manche haben zur Aufbewahrung in einer flachen gewölbten Kapsel kreisförmige Rahmen, die ineinander passen, manche haben rechtwinklige Rahmen mit Scharnieren, die es erlauben, die Porträts zusammenzuklappen und sie sogar mit einem Haken zu verschließen wie ein Spielbrett.[39] Diese Porträts dienen ganz offensichtlich nicht der öffentlichen Zurschaustellung, sondern dem Besitzen und Betrachten. Andere hingegen sind dafür entworfen, ganz konventionell an die Wand gehängt zu werden – nicht, um eine private Familiengeschichte zu vergegenwärtigen, sondern um eine lutherische, sächsische Botschaft zu verkünden. Cranach(61) vereinfacht die Gesichter, wodurch das Ehepaar sofort erkennbar ist, und fertigt ein Doppelbildnis an, das mehr einem Kommentar zu den komplementären Geschlechterrollen in der Ehe als einem lebensechten Ehegattenporträt gleicht. Katharina(4) trägt, wie es einer Adligen gebührt, ein modisches Haarnetz, keinen Schleier. Ihre Taille ist ungewöhnlich schmal und ihre Gesichtszüge variieren stärker als die Luthers; mit ihrem katzenhaft gerundeten Gesicht und schräg geschnittenen Augen entspricht sie im Grunde genommen Cranachs(62) universeller Frauengestalt. Wie eigentlich alle Akte von Cranach(63) ist sie leicht nach vorn gebeugt, wobei der eingesunkene Brustkorb wirkt, als ob sie kaum atmen könnte.[40]

Abb. 1.10a Porträt von Martin Luther. Cranach(64) der Ältere, 1525.

Abb. 1.10b Porträt von Katharina(5) von Bora. Cranach(65) der Ältere, 1525.

Es ist unwahrscheinlich, dass diese Porträts für einen lokalen Markt gedacht waren. Zudem ist nicht klar, welchen Einfluss Luther darauf hatte, wie er abgebildet wurde. Wir wissen, dass die Cranach(66)-Werkstatt Bildentwürfe von Luther und Katharina(6) von Bora besaß, die es ermöglicht hätten, eine Standardisierung vorzunehmen,[41] aber sie stellte nie Ausführungen dieser Gemälde im Holzschnitt her. Es blieb stattdessen Hans Brosamer(1) überlassen, einen preiswerten Einblatt-Holzschnitt für diejenigen anzubieten, deren Geldbeutel für die gemalten Originale nicht genügend hergab. Brosamer, der vermutlich ein ehemaliger Mitarbeiter der Cranach(67)-Werkstatt war, versah seine Doppelporträts sogar mit einem aufgedruckten Rahmen, so dass sie ohne weiteren Aufwand direkt an der Wand angebracht werden konnten.[42]

Abb. 1.10c Diptychon mit den Porträts von Luther und seiner Frau. Cranach(68) der Ältere, 1529.

Abb. 1.10d Porträt von Katharina(7) von Bora. Hans Brosamer(2), 1530.

Abb. 1.10e Porträt von Martin Luther. Hans Brosamer, 1530.

Die Cranach(69)-Werkstatt hörte bald damit auf, solche Bilder herzustellen, und wir wissen nur von sehr wenigen, die nach 1530 entstanden sind. Soweit mir bekannt ist, produzierte auch Brosamer(3) nach 1530 keine neuen Entwürfe des Ehepaares mehr. Das »Luther-Ehegatten-Porträt« gab es kaum länger als fünf Jahre und anscheinend hatte es eine ähnliche Funktion zu erfüllen wie die mindestens sechzig Porträts der sächsischen Kurfürsten, die in den 1530er Jahren im gleichen Format von der Werkstatt gemalt wurden und zu Propagandazwecken im Reich versandt wurden.[43] Auch diese arbeiteten mit drastisch vereinfachten Gesichtszügen und verflachten das visuelle Feld, während ein Drittel der Bildfläche von Reimen eingenommen wurde, die von Leben und Taten der Kurfürsten erzählten, wobei die gemalte Schrift ein Druckbild imitierte.

Die große Verbreitung des Luther-Ehegattenporträts innerhalb Europas, darunter auch in Ländern, die nicht protestantisch waren, mag überraschen. In einem spannenden Fall wissen wir ein wenig von ihrer Geschichte. Die Exemplare in den Uffizien stammen aus der Medici(1)-Sammlung und haben sich spätestens seit 1561 dort befunden – vermutlich aber schon bald, nachdem sie gemalt wurden. Wir wissen, dass Cosimo de’ Medici die Porträts nicht in öffentlich zugänglichen Räumen aufgehängt hatte, sondern in seinem(2) Privatgemach; und dass sich die Sammlung auch rühmte, ein Porträt des sächsischen Herrscherhauses in der Standardausgabe der 1530er Jahre zu besitzen. Man kann nur mit Verwunderung zur Kenntnis nehmen, dass ein katholischer Herzog ein Porträt des berüchtigten Reformators besessen haben soll, und dazu noch eines, das gerade dessen Ehe zeigte, die für die katholische Kirche ein starker Affront war. Die Kuratoren der Uffizien vermuten, das Vorhandensein des Bildes könne mit Cosimos(3) zunehmender Feindseligkeit gegenüber dem Papsttum zusammenhängen – doch das würde nicht erklären können, wie es überhaupt erst in die Sammlung kam. Wahrscheinlicher wäre die Vermutung, dass es zusammen mit dem Porträt des Kurfürsten Teil einer visuellen Propagandakampagne war, zu der sich das kurfürstliche Sachsen eines außergewöhnlichen und innovativen Mittels bediente, das wir »Halbdruck« nennen könnten. So wie Poster sorgten diese Bilder für einen hohen Bekanntheitsgrad sächsischer Persönlichkeiten und machten sie berühmt. Eine ironische Wendung der Geschichte will, dass sie heute als Kunstwerke gelten und sogar ihre eigene Gedenkausstellung bekommen haben – und dies an nicht geringerem Ort als den Uffizien.[44]

Die Reformation scheint sich allerdings mit Luthers Ehegatten-Porträt nie ganz angefreundet zu haben. Es tauchte erst im späten 16. und im 17. Jahrhundert wieder auf, als manche Lutheraner anfingen, sich für die Vergangenheit ihrer eigenen Bewegung zu interessieren. Spätestens im 18. Jahrhundert gab es Kopien der Gemälde als Stiche, wobei diese Stiche Katharina(8) manchmal komplett aussparten, wie auf der seitenverkehrten Kopie des Gemäldes, das sich in der Bibliothek von Gottorff fand.[45] Der Stich übertrifft das Original noch, indem er einen Ring hinzufügt, den Luther benutzte, um seine Briefe zu versiegeln, was aber ein Anachronismus ist, denn der Kurfürst schenkte ihm diesen Ring erst 1530. Luther hält zudem seinen Doktorhut in der Hand, was ein echter Cranach(70)-Luther niemals tut.

Abb. 1.11 Martin Luther nach Cranach(71) dem Älteren, 1525.

Bereits um das Jahr 1530 hatte sich die Ikonographie dezidiert von Katharina(9) wegbewegt. Denn noch Jahre später hatten die Lutheraner Schwierigkeiten, mit der Eheschließung ihres Helden umzugehen. Katharina(10) hatte für das Ideal des gelehrten Professors immer etwas Störendes bedeutet, und die Ehe Luthers war ohnehin zur Zielscheibe katholischen Spotts geworden. Die meisten Biografien aus dem 16. Jahrhundert vermeiden deren Erwähnung, und in den bildlichen Darstellungen zum Leben des Reformators aus dem 16. und dem 17. Jahrhundert, die ich bislang gesehen habe, wird die Verheiratung übergangen. Einzige Ausnahme ist eine katholische Satire aus dem 18. Jahrhundert, die zeigt, wie Luther erst die Nonnen vom rechten Weg abbringt und dann Katharina(11) heiratet. Am Ende bekommt er aber seine Quittung, denn sein Sarg wird aus dem Wittenberger Kloster herauskatapultiert und fliegt geradewegs in das Flammenmeer des Höllenfeuers.[46]

Abb. 1.12 Katholische Satire zu Luthers Leben, 1730.

Abb. 1.13a Philipp Melanchthon(4). Heinrich Aldegrever(1), 1540.

Abb. 1.13b Martin Luther. Heinrich Aldegrever, 1540.

Abb. 1.13c Porträts von Martin Luther und Philipp Melanchthon. Cranach(72) der Ältere, 1543.

Anstelle von Katharina(12) nahm Philipp Melanchthon(5) ihren Platz auf der weiblichen Seite ein.[47] Diese eigenartige Verbindung der beiden begnadeten Reformatoren zu einem Paar sollte Einigkeit in der Theologie und der Leitung der Bewegung demonstrieren –, obwohl Luther als der größere der beiden unbestritten die tonangebende Figur ist.[48] Ebenso wie Cranach(73) ersetzte nun auch Brosamer(4) in seinem neuen Holzschnitt-Porträt Katharina(13) durch Melanchthon; der Künstler Heinrich Aldegrever(2) versuchte sich ebenfalls an einem Stich der beiden Männer, wobei er sie seitenverkehrt anordnete. Es war nicht das Ehegattenporträt, sondern diese Variante, die sich weit bis ins 17. Jahrhundert hinein halten sollte. Die Einigkeit, die sie abbildete, war allerdings nur vordergründig: Nach Luthers Tod spaltete sich die heftig zerstrittene Bewegung in lutherische Loyalisten und kompromissbereite Philippisten.

Die nobilitierende Ausstellung der Ehegatten-Doppelporträts in namhaften Kunstgalerien auf der ganzen Welt verzerrt also unsere Wahrnehmung davon, wie die Reformation sich selbst gern sah. Es war mit Sicherheit nicht das am häufigsten reproduzierte Doppelporträt; diese Ehre gebührt vielmehr den Doppelbildnissen mit Luther und Melanchthon(6), von denen es sehr viel mehr gab.

Luther in Vorderansicht: Das Standardporträt

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