Der Metamorph - Andreas Brandhorst - E-Book
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Der Metamorph E-Book

Andreas Brandhorst

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Beschreibung

Eine uralte Macht bedroht die Galaxis! Auf dem Planeten Kerberos geschehen unheimliche Dinge: Ein Anschlag erschüttert ein Labor, in dem geheime Experimente zur Schaffung neuer, widerstandsfähiger Lebensformen durchgeführt werden. Und eines der erzeugten Wesen kann entkommen. Doch der sogenannte Metamorph ist nicht die einzige Gefahr, die den Planeten bedroht. Denn in seinem Inneren erwacht eine uralte Macht – bereit den Weltraum mit Krieg zu überziehen. »Brandhorst beweist, was man alles aus einer Space Opera machen kann. Erstklassige Unterhaltung!« Phantastik-Couch

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ISBN 978-3-492-97582-7

Mai 2017

© Andreas Brandhorst 2004

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Erstmals erschienen im Wilhelm Heyne Verlag, München 2004

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Arndt Drechsler

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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EINS

VERGESSEN

1 Existenzen

Kerberos

3. Planet des Hades-Systems

April 421 SN (Seit Neubeginn)

Das Etwas sah ohne Augen, hörte ohne Ohren und fühlte ohne Haut. Es dachte, ohne ein Gehirn zu haben, und es nahm seine Umgebung ohne ein Nervensystem wahr, das Informationen empfing und weiterleitete. Zeit spielte für dieses Noch-nicht-Wesen keine Rolle. Minuten waren wie Stunden, Stunden wie Sekunden. Es schwebte in einer Zwischenwelt, als eine Möglichkeit, eine biologische Eventualität, die zwar schon Substanz, aber noch keine Struktur hatte. Die Zellen der Basismasse bildeten ein amorphes Gebilde, das in einem speziellen Behälter ruhte, umgeben von Wärme und in Flüssigkeit gelösten Nährstoffen. Niederenergetische Impulse und Messenger-Substanzen stimulierten die Formationsmatrix, ließen die Zellen nach den Vorgaben eines Programms wachsen. Genetische Daten flüsterten durch den Mikrokosmos des Werdens, wiesen Stammzellen an, sich zu sammeln und zu spezialisieren.

Das Etwas gedieh und trug in jeder einzelnen Zelle den Keim der Vielfalt. Während es wuchs, war es sich seiner Umgebung bewusst, ohne ein Bewusstsein zu haben. Es spürte, dass es mehr gab als nur die eigene Existenz. Dinge bewegten sich in einer externen Welt, und manche dieser Dinge standen mit ihm in Zusammenhang, denn sie beeinflussten die Art seines Wachstums, und deshalb waren sie wichtig. Diese Erkenntnis brachte eine neue Art der Differenzierung. Das Etwas begriff, dass es Wichtiges und Unwichtiges gab – damit war der erste Schritt zur Einteilung der Welt getan.

Mehr Zeit verstrich, und allmählich gewann sie Bedeutung für das Etwas, das damit begonnen hatte, nach weiteren Erkenntnissen zu streben – sie erlaubten es ihm, weiter zu wachsen und mehr zu werden. Erste Strukturen zeichneten sich in ihm ab, kontrolliert von der Formationsmatrix, und an bestimmten Stellen in der noch weitgehend undifferenzierten Körpermasse sammelten sich spezielle Zellen, Exekutoren, die besondere Anweisungen der Matrix empfingen und daraufhin strukturelle Veränderungen bewirkten. In der Formationsmatrix wiederum bildeten sich Memoranten, Speicherzellen für die Daten, die nach wie vor aus der externen Welt kamen, steuerten, korrigierten, stimulierten und auf ein Später vorbereiteten, dessen Einzelheiten dem Etwas verborgen blieben, in dem es aber Bestimmung fühlte. Seine wachsende Existenz war kein Zufall; etwas wartete auf ihn, eine Aufgabe, ein Zweck.

Und dann kam es plötzlich zu einer drastischen Veränderung.

Der Datenstrom riss abrupt ab, und das ruhige Wachstum hörte auf, als die Formationsmatrix keine Messenger-Substanzen mehr empfing. Die bisher statische Umgebung erfuhr einen jähen Wandel. Aus Wärme wurde Hitze, eine Hitze, die Nährflüssigkeit verdampfen lief und zu verbrennen drohte. Risse bildeten sich in dem Behälter, und das Etwas glitt durch eine dieser Öffnungen, tropfte auf den Boden, während über ihm Flammen züngelten. Mehrere Explosionen donnerten, und alles erzitterte. Heiße Druckwellen zerschmetterten Glas und weitere Behälter, zerrissen Gespinste aus Basismasse, zerfetzten Programmierungsmodule und energetische Stimulatoren. Stimmen erklangen, Geschöpfe quiekten, Leben wich dem Tod. Das Etwas nahm all diese Eindrücke in sich auf, ohne eine Möglichkeit, sie zu verarbeiten und zueinander in Beziehung zu setzen, weitere Erkenntnisse aus ihnen zu gewinnen – dafür fehlten ihm Erfahrungen und ein ausgeprägtes bewusstes Selbst. In einem Rest von Nährflüssigkeit glitt es über den Boden, hinter mehreren Konsolen und Brutschränken vor dem Feuer geschützt, das sich immer mehr im Laboratorium ausbreitete, bis es schließlich ein Programmierungsmodul erreichte. Der Kontakt führte zu einer neuerlichen Veränderung, nicht weniger drastisch als die erste. Es kam zu einem weiteren Datenstrom, viel breiter, schneller und üppiger als zuvor. Die Formationsmatrix des Etwas empfing Myriaden Informationen, legte sie in ihren Memoranten ab und entwickelte weitere Speicherzellen, als der Datenstrom über die Kapazität der bereits existierenden hinausging. Eine Selektion fand nicht statt; dazu war die Matrix in ihrem derzeitigen Entwicklungszustand nicht fähig. Sie nahm die Daten auf und hielt sie bereit.

Gefahr. Dem Etwas wurde klar, dass die Veränderungen in der externen Welt seine Existenz infrage stellten, und daraufhin aktivierte die Formationsmatrix mithilfe der Exekutoren das Grundprogramm der Selbsterhaltung – das Leben hatte begonnen und musste unbedingt, unter allen Umständen, erhalten bleiben, denn sonst konnte es seiner Aufgabe nicht gerecht werden.

Die Sensoren des brennenden Laboratoriums stellten defekte Siegel und eine biologische Kontamination fest, was die Überwachungsservi zum Anlass nahmen, Neutralisierungsmaßnahmen einzuleiten. Giftgas zischte aus Düsen; harte Strahlung kam aus Projektoren.

Die letzten Stimmen – ihre Schreie – verstummten, ebenso das Quieken. Löschschnee rieselte aus Ventilen und erstickte die Flammen. Allmählich breitete sich im Laboratorium Stille aus.

Die peripheren Zellen des Etwas, die mit dem Giftgas in Kontakt gerieten, starben ab, und im Moment ihres Todes übermittelten sie der Formationsmatrix Informationen über das Toxin. Die Matrix reagierte unverzüglich, indem sie die Exekutoren veranlasste, die Struktur der nächsten Zellschicht so zu verändern, dass das Giftgas wirkungslos blieb. Gleichzeitig aktivierte sie Korrektoren und Reparateure, die von der harten Strahlung verursachte Zellschäden reparierten.

Das Etwas löste sich vom Programmierungsmodul und glitt weiter, angetrieben vom Gebot der Selbsterhaltung. Es hatte einen Teil von sich verloren – die abgestorbenen Zellen –, aber die aufgenommenen Informationen versetzten es in die Lage, weiter zu wachsen. Dazu brauchte es keine speziellen Nährstoffe mehr; organische Materie genügte.

Es kroch durch klebrigen Löschschnee in Richtung Schleuse, und auf dem Weg dorthin kam es zum Kontakt mit mehreren toten Geschöpfen. Das Etwas zögerte nicht, nahm ihre Substanz in die eigene Masse auf, fügte die Informationen über deren Struktur den Memoranten hinzu, sonderte Giftstoffe ab und nutzte das Zellmateriell fürs eigene Wachstum. An der Schleuse angelangt verringerte das Grundprogramm der Selbsterhaltung die molekularen Bindungskräfte und sorgte gleichzeitig dafür, dass die externen Zellen Säure sekretierten. Siegel, die Hitze und Strahlung standgehalten hatten, lösten sich auf, und das Etwas – nun eine Flüssigkeit mit geringer Dichte –, glitt durch Poren, die jeweils nur wenige Molekülbreiten durchmaßen.

Auf der anderen Seite der Schleuse herrschte Dunkelheit, aber die Finsternis behinderte das Etwas nicht. Auf der Grundlage des Selbsterhaltungsprogramms initialisierte die Matrix eine vorübergehende Zellspezialisierung, um dem Etwas die Orientierung zu ermöglichen. Es behielt seine geringe Dichte bei und entfernte sich immer mehr von dem Laboratorium, in dem es entstanden war. Die Selbsterhaltung gab ihm ein Ziel, die Verarbeitung der aufgenommenen organischen Materie Kraft. Es passierte zwei weitere Türen, indem es Poren in die Siegel ätzte, und anschließend erreichte es eine Filterstation, die mit dem Draußen verbunden war – das ging aus den Informationen hervor, die in den Memoranten gespeichert waren.

Das Etwas erhöhte die molekularen Bindungskräfte, wurde wieder kompakter und glitt durch die schmalen Zwischenräume eines Rohrbündels. Ohne Ohren »hörte« es Stimmen und andere Geräusche, die meisten von ihnen nicht identifizierbar. Das langsam lauter werdende Rauschen hingegen wusste es zu deuten. Es stammte von einem Fluss, und der Fluss bedeutete eine wesentliche Verringerung der Gefahr, die seiner Existenz drohte.

Das Etwas vergrößerte seine Dichte, verringerte die Haftung der externen Zellen und überließ sich der Schwerkraft. Es löste sich von rauem Metall, und mit einem dumpfen Platschen, das sich im viel lauteren Rauschen verlor, verschwand es im Fluss.

 

»Wie konnte es dazu kommen?« fragte Rubens Lorgard, Direktor der NHD-Niederlassung auf Kerberos. Zusammen mit seinem Sicherheitschef stand er in einer Beobachtungsnische, die den besten Blick auf das Laboratorium bot.

»Die Untersuchungen dauern an«, erwiderte Edwald Emmerson. Der kleine, schmächtige Mann mit dem schütteren Haar wirkte wachsam und konzentriert. »Es kam zu einem Feuer, das sich rasch ausbreitete. Die hohen Temperaturen lösten chemische Reaktionen aus, und mehrere Explosionen waren die Folge. Die Sensoren stellten eine biologische Kontamination fest, und daraufhin wurden die Sicherheitssysteme aktiv.«

Lorgard betrachtete ein Bild der Verwüstung. Löschschnee hatte sich wie eine weiße Decke über das ganze Labor gebreitet, konnte jedoch nicht über die Verheerung hinwegtäuschen. Geräteblöcke waren geborsten, Bottiche und Retorten geplatzt, Displays gesplittert. Nicht einer der Brutschränke hatte die Katastrophe unversehrt überstanden. Lorgard dachte an die vielen Zellkulturen, an die Geschöpfe, die in dem großen Laboratorium gewachsen waren – viele von ihnen nach seinen eigenen genetischen Entwürfen –, und Kummer stieg in ihm auf. Er fühlte sich um ungeborene Kinder betrogen, um Vaterschaften beraubt. Der angerichtete Schaden… Das war eine andere Angelegenheit, der er sich später widmen wollte.

»Fünf Personen starben«, fuhr Emmerson fort und deutete durchs Fenster der Nische – einen transparenten Teil der Labordecke – auf mehrere kleine Hügel unter dem Löschschnee.

»Wie konnte es dazu kommen?«, wiederholte Lorgard.

»Normalerweise hätte ich Sie erst morgen früh verständigt, nach den ersten Untersuchungen«, sagte Emmerson, dessen Ruhe unerschütterlich zu sein schien. Lorgard fragte sich manchmal, ob es irgendetwas gab, das diesen Mann aus der Fassung bringen konnte. Es gab keinen besseren Sicherheitschef. »Aber in diesem Laboratorium wurde am Projekt Doppel-M gearbeitet.«

Meine beste Kreation, dachte Lorgard. Voller Ästhetik, unübertroffen. Er sah Emmerson an und wartete.

»Bei einem Prototyp hatte das Wachstum begonnen«, fügte der Sicherheitschef hinzu, und zum ersten Mal ließ sich so etwas wie Sorge in seiner Stimme vernehmen.

»Was ist aus ihm geworden? Die Sicherheitssysteme…« Lorgard stellte sich vor, wie Giftgas und harte Strahlung sein größtes Werk vernichteten. Etwas in ihm sträubte sich dagegen, das für möglich zu halten.

»Auch das überprüfen wir gerade. Ich…« Emmerson unterbrach sich, als ein junger Mann in der stahlgrauen Uniform des NHD-Sicherheitsdienstes die Nische betrat. In der einen Hand hielt er ein Datenmodul.

»Ja?«, fragte Emmerson.

»Wir konnten einen Teil der Aufzeichnungen sicherstellen«, sagte der junge Mann. »Die anderen Module wurden stark beschädigt. Die Restauration der in ihnen gespeicherten Daten dürfte Tage, wenn nicht gar Wochen dauern.«

Der Sicherheitschef nahm das Modul entgegen, nickte Lorgard zu und verließ die Nische zusammen mit dem NHD-Direktor. Sie durchquerten einen Kontrollraum mit Dutzenden von Bildschirmen, gingen an mehreren subalternen Technikern vorbei und betraten das Büro des Aufsichtsleiters. Der Mann, ebenfalls ein Subalterner, schien auf sie gewartet zu haben, kam sofort hinter dem kleinen Schreibtisch hervor und wirkte überaus nervös. Vielleicht befürchtete er, für das Unglück verantwortlich gemacht zu werden.

»Ich versichere Ihnen, dass wir…«

»Bitte lassen Sie uns allein«, unterbrach ihn Emmerson. »Ich erwarte später einen detaillierten Bericht von Ihnen.«

»Selbstverständlich.« Der Aufsichtsleiter verließ das Büro, und als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, herrschte für einige Sekunden sonderbare Stille. In Lorgard herrschte noch immer Aufruhr, und hier, in diesem stillen Raum, konnte er fast glauben, dass die Szene im Laboratorium Teil eines schlechten Traums gewesen war.

Dann erklang ein leises Summen, und Bilder erschienen im pseudorealen Schreibtischdisplay – Emmerson hatte das Datenmodul in ein Lesegerät geschoben.

Der Info-Streifen am unteren Bildrand gab Auskunft über die Zeit: 15. April 421 SN, 01:21 Uhr. Fünf in graue Laborkittel gekleidete Personen – zwei Männer und drei Frauen, niemand von ihnen unter fünfzig – gingen in dem großen Laboratorium umher, überprüften die Anzeigen von Instrumenten, bedienten hier und dort Kontrollen. Alles schien in bester Ordnung zu sein.

»Vor zwei Stunden«, sagte Emmerson. »Knapp anderthalb Stunden nach Mitternacht.« Ein Tastendruck beschleunigte den Bildlauf der Aufzeichnung, und aus den ruhigen Schritten der Männer und Frauen wurde ein hektisches Gezappel. Als es in einer Ecke aufblitzte, schaltete der Sicherheitschef wieder auf normale Geschwindigkeit. »Vielleicht ein Kurzschluss«, murmelte er wie im Selbstgespräch, ohne die Bilder aus den Augen zu lassen. »Oder eine unvorhergesehene chemische Reaktion. So was passiert.«

Aus dem Blitzen wurde ein Feuer, das sich verblüffend schnell ausbreitete. Der Warnservo löste natürlich sofort einen Alarm aus, und die fünf Personen im Laboratorium holten Feuerlöschgeräte. Aber bevor sie davon Gebrauch machen konnten, erreichten die Flammen einen bestimmten Behälter, und es kam zu einer heftigen Explosion, die die beiden Männer und eine der drei Frauen auf der Stelle tötete. Die zwei anderen Labortechnikerinnen kamen nur deshalb mit dem Leben davon, weil sie sich zum Zeitpunkt dieser ersten Explosion hinter einem hohen Brutschrank befunden hatten. Kurze Zeit später folgten weitere Explosionen, nicht so stark wie die erste, aber sie erlaubten es dem Feuer, noch schneller auf andere Bereiche des Laboratoriums überzugreifen.

»Sehen Sie sich das hier an«, sagte Emmerson und deutete auf eine bestimmte Stelle der Darstellung. Lorgard beugte sich vor und sah einen Tank, verbunden mit dem Instrumentenkomplex eines Stimulators, der zur Beschleunigung der Zellteilung und des Wachstums diente. »Dort wächst der Prototyp.«

Das Feuer erreichte den Tank, in dem sich Risse bildeten, und aus einer dieser Öffnungen rann eine Flüssigkeit. Lorgard wagte kaum mehr zu atmen.

Die allgemeinen Sicherheitsservi reagierten, und Löschschnee rieselte aus Ventilen.

Wenige Sekunden später erfolgte der Kontaminationsalarm.

Edwald Emmerson nickte, und erneut blieb sein Blick auf den Schirm gerichtet, als er sagte: »Wir sollten unsere Sicherheitsprozeduren überprüfen. Meiner Ansicht nach haben die Kontrollservi zu spät reagiert.«

Die beiden überlebenden Frauen versuchten, eine der Türen zu öffnen, natürlich vergeblich – nach einem biologischen Kontaminationsalarm konnten die Verriegelungen nur von außen gelöst werden. Kurz darauf begannen sie zu husten und starrten entsetzt nach oben. Das Giftgas brachte sie innerhalb weniger Sekunden um, ebenso wie alle anderen lebenden Organismen im Laboratorium.

»Sie sind tot«, sagte Lorgard leise. »Sie sind alle tot.« Damit meinte er nicht nur die fünf Labortechniker, sondern auch – und vor allem – die aus programmierter Basismasse heranwachsenden und herangewachsenen Geschöpfe. Wieder spürte er den Schmerz eines Vaters. Seine Kreationen und Pläne, seine Visionen… verbrannt, vergiftet und verstrahlt.

»Nein«, erwiderte Emmerson und zeigte keine emotionale Reaktion auf das, was er beobachtet hatte. »Bei der Tür dort…« Er zeigte auf die andere Seite des Laboratoriums. »… registrierten die Sensoren einen Siegelbruch. Etwas ist aus dem Labor entkommen, trotz Giftgas und Strahlung, und es hat zwei weitere Türen passiert. Ich habe sie sofort untersuchen lassen, als ich vom Siegelbruch der Tür erfuhr. Ihre Sensoren reagierten nicht, weil die Löcher in den Siegeln zu klein sind – ihr Durchmesser beträgt nur wenige Molekülbreiten.« Er zögerte kurz, bevor er hinzufügte: »Nach der dritten Tür ist der Weg frei – bis zum Fluss.«

Ruckartig streckte er die Hand nach den Kontrollen aus und hielt die Darstellung an. »Dort, im Löschschaum. Etwas hat sich bewegt.«

Lorgard sah genauer hin. Tatsächlich: Irgendetwas, das in der weißen Masse verborgen blieb, glitt langsam über den Boden und verharrte bei einem Programmierungsmodul – Indikatoren deuteten darauf hin, dass es noch aktiv war.

»Kann er in jenem Zustand Daten aufnehmen?«, fragte Emmerson. Als Sicherheitschef wusste er natürlich über die laufenden Projekte Bescheid, aber er war kein Wissenschaftler und verstand nicht alles bis ins letzte Detail.

»Da bin ich ziemlich sicher«, sagte Lorgard, und seine Gedanken glitten in eine Richtung, die ihm immer mehr Unbehagen bereitete. Bisher war er davon ausgegangen, dass sich die Katastrophe auf das Laboratorium beschränkte. Aber wenn sie darüber hinausging, wenn geschehen war, was sich jetzt anzudeuten begann… Er dachte an Folgen und Konsequenzen, an Möglichkeiten.

Emmerson richtete einen kurzen, ernsten Blick auf ihn. »Wir müssen herausfinden, welche Informationen er eventuell aufgenommen hat.«

Mit neuem Interesse beobachtete Lorgard, wie das Etwas unter dem Löschschnee weiterglitt und erneut verharrte, als es einen der kleinen Hügel erreichte, die von verendeten Testobjekten stammten. Er veränderte sich, wurde flacher und verschwand fast.

Der NHD-Direktor wusste genau, was er gerade gesehen hatte. »Er hat organische Materie als Nahrung aufgenommen.«

»Das Giftgas und die Strahlung scheinen ihn nicht weiter zu stören.«

»Er passt sich an alles an«, sagte Lorgard, und es klang fast stolz. Sorge und Freude schufen in ihm ein Wechselbad der Gefühle. Einige Sekunden lang musterte Emmerson ihn aufmerksam, und vielleicht ahnte er, was in ihm vorging. »Er ist entkommen, nicht wahr?«

Der Sicherheitschef deutete auf den Bildschirm: Die Bewegung unter dem Löschschnee setzte sich fort und erreichte die Tür. Der Info-Streifen zeigte neue Daten, die auf einen Siegelbruch hinwiesen. »Ich schätze, davon müssen wir ausgehen.« Er zog das Datenmodul aus dem Lesegerät und stand auf. »Vielleicht ergeben sich bei den weiteren Untersuchungen neue Hinweise. Ich halte Sie auf dem Laufenden.« Emmerson ging zur Tür des Büros, und dort zögerte er noch einmal. »Alles deutet darauf hin, dass der Prototyp des Metamorphs lebt und sich irgendwo dort draußen befindet, Direktor. Ich halte höchsten Kontaminationsalarm für angemessen.«

Rubens Lorgard nickte und starrte auf den leeren Bildschirm. »Ja, ja«, sagte er leise. »Einverstanden. Kümmern Sie sich darum.«

»Und noch etwas, Direktor…«

Lorgard drehte den Kopf und sah den Sicherheitschef an.

»Wenn Sie gestatten: Sie sollten in Erwägung ziehen, den NHD-Globaldirektor zu informieren. Wenn das Projekt Doppel-M außer Kontrolle geraten ist – und darauf deutet alles hin –, möchte er bestimmt darüber Bescheid wissen.«

Lorgard nickte erneut, noch nachdenklicher als vorher.

Ohne ein weiteres Wort öffnete Emmerson die Tür, schloss sie hinter sich und ließ Lorgard allein im Aufsichtsbüro zurück.

 

Der Direktor nahm am Schreibtisch Platz. Seit mehr als dreißig Jahren arbeitete er für die Niederlassungen von New Human Design auf Kerberos, zuerst als einfacher Kreator, voller Enthusiasmus, dann als Entwickler und Designer, wobei er imstande gewesen war, seine ganze Kreativität zu entfalten. Schon seit einer ganzen Weile bedauerte er, sich auf die Beförderung zum planetaren Direktor eingelassen zu haben. Er hatte sich geschmeichelt gefühlt, erinnerte er sich, belohnt nach langen Jahrzehnten der Mühen und des Engagements. Aber als Leiter der NHD-Niederlassungen auf Kerberos musste er zu viel Zeit in administrative Angelegenheiten investieren und fand immer weniger Gelegenheit, neue biologische Strukturen zu entwerfen, neues Leben zu kreieren, das vorher in dieser Form und in dieser Gestalt nicht existiert hatte. Lorgard war nicht so vermessen, sich für eine Art Gott zu halten. Er sah sich als Künstler, als jemand, der lebendige Ästhetik schuf, dem es gelang, organisches Potenzial zu entfalten und die ganze biologische Kapazität zu nutzen, die in einzelnen Zellen steckte. Jede Kreatur, die sich entsprechend seinen Plänen entwickelte, machte ihn zu einem stolzen Vater, und jeder Erfolg forderte den Künstler in ihm dazu auf, noch mehr zu leisten, Besseres zu schaffen, sich selbst zu übertreffen.

Der Metamorph war nicht zu übertreffen. Zumindest dann nicht, wenn er den Planungen entsprach. Aber, so flüsterte die – leise – Stimme des Skeptikers in ihm, er barg in sich auch den Keim einer Katastrophe.

Lorgard schaltete das große dreidimensionale Display auf dem Schreibtisch des Aufsichtsleiters ein. Bilder wanderten durchs Darstellungsfeld, und Lorgard betrachtete sie geistesabwesend, während er versuchte, seine wirren Gedanken zu ordnen. Nach einigen Sekunden stellte er fest, dass ihm das Display die Aufnahmen von visuellen Überwachungssensoren zeigte. Er sah die dunkle Masse des Kontinentalwaldes, eines Dschungels, der sich über mehr als zehntausend Kilometer erstreckte, bis hin zu den Küsten der Smaragdsee. Jener tropische und subtropische Urwald enthielt Myriaden von noch nicht katalogisierten und untersuchten Lebensformen – eine Fundgrube nicht nur für Biologen und Evolutionsforscher, sondern auch für Kreatoren. Wie faszinierend es doch war, die unterschiedlichen Baupläne der Natur zu untersuchen, miteinander zu vergleichen und zu verbessern. Als junger Mann hatte Lorgard große Freude daran gefunden, doch später, nach Entdeckung der Basismasse, war er dazu übergegangen, sich immer mehr von den Vorgaben der Natur zu lösen und Neues zu schaffen.

Ein im Licht der Sterne und der beiden Monde glitzerndes Band durchschnitt die dunkle Mauer des Kontinentalwaldes: der Acheron, ein breiter Strom, der direkt am Laboratorium vorbeiführte und in einem ausgedehnten Delta ins nahe Riffmeer mündete. Auf den zahllosen Inseln und Landzungen dieses Deltas erstreckte sich die wie ein Tumor wuchernde Millionenstadt Chiron, deren Lichter kurz darauf in der dreidimensionalen Darstellung erschienen. Wie sauber sie aussahen, bunte Edelsteine, im weiten Delta verstreut. Aber von Sauberkeit, so wusste Lorgard, konnte dort gewiss nicht die Rede sein. Die Dunkelheit der Nacht war wie ein gnädiger Vorhang, hinter dem sich jede Menge Schmutz, enttäuschte Hoffnung und Elend verbarg. Natürlich gab es auch Sauberkeit und Eleganz, in den zentralen Geschäftsvierteln und geschützten Wohnbereichen der Magnaten, Souveränen und Autarken – diese Schönheit blieb ebenfalls vom Schleier der Nacht verhüllt. Lorgard wusste aus unmittelbarer Erfahrung, wie nahe sich Schönes und Hässliches sein konnten; manchmal hatte er sogar den Eindruck gewonnen, dass das eine nicht ohne das andere existierte. Der Autokrat, nominelles Oberhaupt von Kerberos, bot ein gutes Beispiel dafür.

Der narzisstische Narr war dumm genug, sich für ein künstlerisches Genie zu halten, und er liebte es, sich mit schönen Dingen zu umgeben, ohne zu ahnen, dass er sie schon beschmutzte, wenn er nur den Blick auf sie richtete.

Wieder wechselte das Bild und zeigte die aktuellen Aufnahmen eines anderen Überwachungssensors. Hell leuchtende Lampen drängten die Nacht auf der künstlichen Insel des Raumhafens am westlichen Rand des Deltas zurück. Hinter den Gebäuden des Terminals sah Lorgard nicht nur mehrere interplanetare Raumschiffe, unter ihnen einige NHD-Shuttles, sondern auch zwei Kantaki-Schiffe – schwarze, asymmetrische Kolosse, die den Eindruck erweckten, aus hunderten von kaum zueinander passenden Einzelteilen zusammengesetzt zu sein – und einen zwiebelförmigen Springer der Horgh.

Ein neuerlicher Bildwechsel. Die Berge des Pelion-Massivs im Osten und Süden der Stadt erschienen, fast ebenso dunkel wie der Kontinentalwald oder die riesigen Raumschiffe der Kantaki. Bis auf eine Stelle. In halber Höhe glühte es hier und dort, und Lorgard wusste, dass jene Lichter von chemischen Lampen stammten, die an den Zugängen der so genannten Zitadelle glühten. Dort lebten die Angehörigen der Aufgeklärten Gemeinschaft: Menschen aller Glaubensrichtungen, die auf eine besondere Kraft zugreifen konnten, die offenbar nur auf Kerberos existierte, eine Kraft, die sie befähigte, andere Personen zu heilen. Lorgard fragte sich kurz, wie es sein mochte, ein solches Leben zu führen, kein neues Leben zu entwerfen wie er, sondern das Leid bestehenden Lebens zu lindern.

Er streckte die Hand aus, und ein Tastendruck beendete die Bildfolge auf dem Display. Doch er deaktivierte die Darstellung nicht, blickte ins wartende Grau und versuchte, sich einen inneren Ruck zu geben, Kraft für all die Maßnahmen zu finden, die jetzt nötig waren. Lorgard ahnte, dass sich eine neuerliche Veränderung in seinem Leben anbahnte, vielleicht mit ähnlich weit reichenden Folgen wie seine Beförderung zum planetaren NHD-Direktor. Der Metamorph war sein bestes Werk, ein in jeder Hinsicht perfektes Geschöpf, perfekt geplant, perfekt konstruiert, das Meisterwerk des Künstlers in ihm. Und gerade seine Perfektion machte ihn jetzt zu einer Gefahr.

Rubens Lorgard stand auf und begann mit einer unruhigen Wanderung durch das Büro. Dem Fenster, das direkten Ausblick in die Nacht gewährte, schenkte er keine Beachtung. Nachdenklich ging er immer wieder um den Schreibtisch herum, sah dabei ins Leere. In dieser Nacht hatte er viele seiner »Kinder« verloren, und ihr Verlust schmerzte. Der Prototyp des Metamorphs war nicht zugrunde gegangen, und diese Erkenntnis brachte dem paternal empfindenden Teil seines Selbst Erleichterung. Aber er war auch eine Waffe, erinnerte sich Lorgard – das durfte er nicht vergessen, nicht für eine einzige Sekunde. Ein strategisches Konzept lag seinem Design zugrunde, auch wenn Lorgard immer nur den anderen Nutzen in ihm gesehen hatte: die Entwicklung von organischen Servi, die sich jederzeit neuen Aufgaben und Einsatzgebieten anpassen konnten, noch dazu mit einer ausgesprochen hohen autoregenerativen Kapazität. Man musste nur eine Möglichkeit finden, die verwendete Basismasse durch stabile Zellen zu ersetzen – darin lag das einzige Problem. Und zweifellos würde sich früher oder später eine Lösung dafür finden lassen; davon war Lorgard überzeugt.

Eine Waffe, erinnerte sich Lorgard erneut. Und diese lebende Waffe war in den Fluss geraten – davon mussten sie nach dem Stand der Dinge ausgehen. Im Acheron wimmelte es von einheimischem Leben, und damit standen dem Metamorph genug Nährstoffe zur Verfügung.

»Er wird wachsen«, sagte Lorgard leise. »Und er wird sich so entwickeln, wie es die Programmierung der Formationsmatrix vorsieht.« Er dachte an die Einzelheiten des strategischen Konzepts, die zum Grundprogramm gehörten. Ein Geschöpf wie der Metamorph war nicht wie ein Datenservo, in dem man ganz nach Belieben neue Programme installieren und starten konnte. Dasließ sich zwar bewerkstelligen, in einem gewissen Rahmen. Aber das Grundprogramm musste bereits in der ersten Zelle enthalten sein, als ein integraler Bestandteil der Formationsmatrix und somit der Struktur des Wesens.

Rubens Lorgard seufzte, atmete tief durch, trat zum Display und setzte sich mit dem Raumhafen in Verbindung. Das Bild einer jungen Frau erschien vor ihm. Sie erkannte ihn sofort. »Sie wünschen, Direktor?«

»Eine Transverbindung mit Lukert Turannen, Globaldirektor von New Human Design und Koordinator des Konsortiums. Er müsste sich auf Rodriguez im Panthon-System befinden. Wenn Sie ihn dort nicht erreichen, versuchen Sie es auf Tintiran im Mirlur-System.« Vielleicht hat er sich schon in Valdorians Villa einquartiert, dachte er. »Es könnte ein wenig dauern, Direktor.«

Lorgard nickte. »Oberste Priorität. Ich warte.«

2 Fenster in die Vergangenheit

Kerberos

14. Januar 340 SN

Als Eklund durch die breiten Fenster des Raumhafenterminals den schwarzen Giganten des Kantaki-Schiffes sah, das seine Adoptiveltern und ihn fortbringen sollte, reifte die prickelnde Unruhe in ihm zu einer Entscheidung.

Der Dreizehnjährige entschuldigte sich mit dem Hinweis, auf die Toilette zu müssen, aber bevor er sie erreichte, trat er in einen Seitengang und verließ das Terminal durch einen Nebenausgang. Zuerst ging er langsam, im Schatten des wie ein Berg aufragenden schwarzen Schiffes, überrascht und erfreut von seinem Mut. Aus irgendeinem Grund rechnete er damit, dass die Leute, denen er begegnete, mit dem Finger auf ihn zeigen und »Hier ist er! Hier ist er!« rufen würden, aber nichts dergleichen geschah. Es heulten auch keine Alarmsirenen; die Welt blieb unbeeindruckt von Eklunds Flucht. Doch die kindliche Phantasie gaukelte ihm Dutzende von Augen vor, die ihn beobachteten. Und so ging er immer schneller, bis er schließlich lief, in der schwülen Hitze des Nachmittags und durch die Stadt, die im Delta des Flusses Acheron wuchs, sich immer weiter an den Ufern des breiten Stroms und auf den vielen Inseln ausdehnte. Er lief, so schnell er konnte, trotz der Hitze, die ihm den Schweiß aus den Poren trieb, doch den Erinnerungsstimmen konnte er nicht entkommen.

Wir sind mit der Installation der Netzwerke fertig, hatte Miliana gesagt. Das bedeutet, wir können Kerberos früher als geplant verlassen.

Levitatorwagen surrten über Eklund hinweg, und einige Sekunden lang fürchtete er, dass seine Eltern bereits die Sekuritos verständigt hatten und nach ihm suchen ließen.

Eine Welt voller Irrationalität, hatte Primor hinzugefügt. Ich kehre ihr gern den Rücken.

Eklund lief und lief, über Stege und kleine Brücken, die Inseln im breiten Delta miteinander verbanden.

Du kommst mit uns. Wir sind deine Eltern. Wir bestimmen für dich.

»Aber ihr seid nicht meine richtigen Eltern«, stieß Eklund hervor und rannte durch Verkehrskorridore, in denen um diese Zeit nur wenig Verkehr herrschte. Weiter vorn, hinter mehreren Gebäuden aus Synthomasse, erstreckte sich ein Uferbereich, und er hörte bereits die Wellen des Riffmeers, die dort an Felsen klatschten.

Noch immer hielt ihn niemand fest; noch immer hatte man keine energetische Fessel nach ihm geworfen. Die Welt blieb gleichgültig.

Zurück nach Maximilius, der Heimat von Miliana und Primor? Die Vorstellung entsetzte Eklund, nachdem er Kerberos kennen gelernt hatte. Er war ebenso auf Maximilius geboren wie seine Adoptiveltern, aber im Gegensatz zu ihnen zählte er nicht zu den Neuen Menschen. Er fragte sich noch immer, warum sie ihn überhaupt nach dem Tod seiner leiblichen Eltern adoptiert hatten. Angesichts ihrer emotionalen Kälte kamen Anteilnahme oder Sympathie kaum in Frage. Er vermutete, dass sie bestrebt gewesen waren, durch ihn den Mangel an eigenen Gefühlen zu kompensieren. Eine sehr irrationale Entscheidung von Personen, die Rationalität zu einem Lebensprinzip gemacht hatten. Vielleicht waren sie auch der Meinung gewesen, Verantwortung übernehmen zu müssen.

Während er lief – nicht mehr ganz so schnell, weil er außer Atem zu geraten drohte, die leichte Kleidung schweißnass –, huschten Erinnerungsbilder an seinem inneren Auge vorbei und zeigten ihm die Welt, die sie vor einem guten Jahr verlassen hatten. Miliana und Primor waren Datenservo-Experten, spezialisiert auf Netzwerke. Auf eine Weise, die Eklund nicht verstand, konnten sie sich mit Datenservi verbinden und sie weitaus effizienter installieren und programmieren, als es normalen Menschen möglich gewesen wäre. Gelegentlich hatte Eklund den Eindruck gewonnen, dass sie sogar wie Maschinen dachten. Ihre Welt mochte ihnen alles bieten, was sie sich wünschten, aber für den Jungen war es eine kalte Welt, ohne Emotionen, ohne Träume, ohne Phantasie. Eine Welt, in der selbst ein Lächeln keinen Platz hatte. Eine sterile Welt, in der das Leben allein den Gesetzen von Logik und Zweckmäßigkeit folgte.

Kerberos war das genaue Gegenteil von Maximilius – hier gab es jede Menge Platz für Träume, auch wenn die meisten von ihnen illusionär und gefährlich waren, geschaffen von den zahlreichen Drogen des Planeten. Aber darum ging es Eklund nicht. Ihm ging es um eine Wärme, die er hier zum ersten Mal in seinem Leben spürte, tief im Innern, eine Wärme, die das Gefühl in ihm schuf, von einer liebevollen Mutter umarmt zu werden. Ja, so war es, und auch anders, auf eine Weise anders, für die der Junge keine Worte fand. Etwas hieß ihn hier willkommen. Etwas sagte ihm: Hier bist du zu Hause. Bleib.

Die Gebäude aus Synthomasse blieben hinter Eklund zurück, und er erreichte das Ufer. Dort verharrte er, rang nach Atem und bemerkte mehrere Jungen – einige Jahre jünger als er und nur mit Badehosen bekleidet –, die von hohen Felsen auf kleinere sprangen, zwischen ihnen kletterten und dabei versuchten, sich gegenseitig an Tollkühnheit und Geschick zu überbieten. Sie warfen ihm neugierige Blicke zu, aber er achtete nicht auf sie, nahm auf einem Steinblock Platz, wandte das Gesicht der Brise zu und genoss die vom Wind gebrachte Kühle.

Während die anderen Jungen in der Nähe ihre Akrobatik fortsetzten, sah Eklund übers Meer und genoss das herrliche, wie berauschende Gefühl der Freiheit. Er war entkommen! Ein neues Leben lag vor ihm.

Doch dann, tief in ihm, regten sich Zweifel, und mit einer Rationalität, auf die Miliana und Primor vielleicht stolz gewesen wären, fragte er sich, ob er richtig gehandelt hatte. Dies war eine fremde Welt, die er erst seit wenigen Monaten kannte; wie sollte er hier ganz allein zurechtkommen, ohne Familie, ohne jemanden, der sich um ihn kümmerte?

Er drehte den Kopf, sah zurück zum schwarzen Berg des Kantaki-Schiffes beim Raumhafen und begriff: Er war geflohen, aber die endgültige Entscheidung stand noch aus, musste hier und jetzt getroffen werden. Noch konnte er zurückkehren…

… in die Kuppelstädte von Maximilius, in Zimmer und Korridore aus Synthomasse und Stahlkeramik, in kaltes, künstliches Licht, in eine Welt mit klaren Regeln, die Sicherheit gewährten, aber keine Geborgenheit. Und wieder erlebte er es, das Gefühl, auf Kerberos willkommen zu sein, der Eindruck von mütterlicher Wärme. Aber war es richtig, allein aufgrund eines solchen Eindrucks das Leben aufzugeben, das er bisher geführt hatte? Und wie würden seine Adoptiveltern reagieren, wenn sie merkten, dass er weggelaufen war? Würden sie traurig sein? Konnten sie überhaupt traurig sein?

Während Eklund dasaß, dem Rauschen der Wellen lauschte und mit seinem schlechten Gewissen rang, ertönte neben ihm ein erschrockener Schrei, und aus dem Augenwinkel sah er, wie einer der Jungen fiel. Sofort sprang er auf und eilte zum Unglücksort, ebenso wie die anderen Jungen.

Der Gestürzte kniete zwischen zwei Felsen im seichten Wasser und hielt sich den rechten Arm mit dem aufgeschlagenen, blutigen Ellenbogen.

»Du hättest besser aufpassen sollen, Bruni«, sagte einer der Jungen.

»Tut es weh?«, fragte ein anderer mitfühlend.

Der Gefallene nickte mit schmerzerfüllter Miene.

Eklund trat näher. »Lass mal sehen«, sagte er und kam sich in der Schar kleinerer Jungen fast wie ein Erwachsener vor. Er trat an den Verletzten heran, berührte ihn am Arm und…

Das Gefühl der Wärme wurde stärker, und mit dem geistigen Auge sah er ein Tor, ein altes Portal, das sich vor ihm öffnete. Er versuchte, das Bild festzuhalten, aber es entglitt seinen mentalen Händen und verschwand.

»He!«, rief einer der Jungen. »Er ist wieder gesund!«

Eklund blinzelte. Es konnten nicht mehr als einige wenige Sekunden vergangen sein, doch der Arm des Gestürzten hatte sich verändert – nichts deutete mehr auf eine Verletzung hin.

Bruni bewegte den Arm, erstaunt und froh. »Ist wieder alles in Ordnung. Tut nicht mehr weh.«

»Bist du ein Heiler?«, fragte einer der anderen Jungen.

»Nein«, antwortete Eklund verwirrt. »Nein, ich…«

»Vielleicht doch.«

Eklund drehte den Kopf. Ein Mann in mittleren Jahren stand einige Meter entfernt, gekleidet in ein ockerfarbenes, kuttenartiges Gewand. Ein Jugendlicher begleitete ihn, schlaksig, drei oder vier Jahre älter als er, im Gesicht ein Lächeln, das dort ebenso selbstverständlich wirkte wie die Sonne am Tageshimmel von Kerberos.

»Ich bin Bruder Darius, und das ist mein Novize Terod«, sagte der Mann und kam näher. Seine Stimme war weich, sanft und geduldig. »Du hast den Jungen geheilt. Mit der Kraft.«

»Ich verstehe nicht…«, erwiderte Eklund, aber das stimmte nicht ganz. Er begann zu verstehen, hörte das Rauschen der nahen Wellen und hatte für ein oder zwei Sekunden das Gefühl, in einem riesigen Ozean zu schwimmen.

Die anderen Jungen standen in der Nähe, unter ihnen jener, der sich den Ellenbogen aufgeschlagen hatte. Sie hörten aufmerksam zu, und Eklund spürte deutlich, dass sie zum Publikum geworden waren, während Bruder Darius und er auf der Bühne des Geschehens standen.

»Hast du schon einmal von der Aufgeklärten Gemeinschaft gehört?«, fragte Bruder Darius.

Eklund sah zum Pelion-Massiv im Süden und Osten von Chiron, zu den steilen, tausend Meter hohen Felswänden. Dort gab es ein Höhlensystem, »Zitadelle« genannt, in dem die Mitglieder der Aufgeklärten Gemeinschaft wohnten.

»Ihr seid Heiler«, sagte Eklund.

»Ja. Wir heilen mit der Kraft, die du berührt hast.« Er breitete die Arme aus. »Auf diesem Planeten gibt es mehr, als wir mit unseren normalen Sinnen wahrnehmen. Hier existiert eine… Welt über der Welt, eine besondere Sphäre, anders beschaffen für jeden von uns, erfüllt mit einer Kraft, die wir nutzen können, um zu heilen, um Leid zu lindern. Du bist offenbar imstande, diese Kraft zu nutzen. Ich sollte mit deinen Eltern reden.«

Und ganz plötzlich stand Eklund vor der Weggabelung: Auf der einen Seite ging es zurück zu der Welt, die ihn mit kalter Sachlichkeit schreckte; der andere Pfad führte in ein ganz neues Leben, ebenso verstörend wie verlockend.

»Ich bin… allein.« Damit war die Entscheidung getroffen, endgültig.

Bruder Darius wölbte die Brauen und richtete einen Blick auf ihn, der mehr zu sehen schien, als Eklund lieb war.

»Es gibt niemanden, der sich um dich kümmert?«

»Nein, ich bin ganz allein«, wiederholte er, und eine Last wich von ihm – er wusste, dass er die richtige Wahl getroffen hatte.

»Was hältst du davon, dich uns anzuschließen?« Terod kam näher und sah wie das aus, was Eklund bisher nie gewesen war: sorglos, zufrieden, in Einklang mit sich und seiner Welt. »Ein Bruder der Aufgeklärten Gemeinschaft kann doch zwei Novizen haben, oder?«

»Ich denke schon«, erwiderte Bruder Darius. Er musterte Eklund erneut mit einem sondierenden, nachdenklichen Blick. »Wenn du allein bist… Ich könnte dich zum Heiler ausbilden.«

»Vielleicht können wir zusammen die Welt über der Welt erkunden«, fügte Terod hinzu.

Bruder Darius streckte die Hand aus.

Eklund zögerte nicht, ergriff sie sofort.

Die Frage, ob seine Adoptiveltern nach ihm gesucht hatten, blieb für immer unbeantwortet – er sah Miliana und Primor nie wieder.

Kerberos 17 April 342 SN

In zweihundert Meter Höhe an der steilen Wand des Pelion-Massivs saß der fünfzehnjährige Eklund auf einem Felssims und blickte im warmen Sonnenschein über die Stadt. Chiron wuchs weiter, dehnte sich im breiten Delta des Acheron aus, ein urbanes Geschöpf, das immer mehr Platz beanspruchte.

Inzwischen fühlte sich Eklund nicht nur als Teil der Aufgeklärten Gemeinschaft in der Zitadelle, sondern auch als Teil dieser Welt namens Kerberos. Die Entscheidung, nicht mit seinen Adoptiveltern nach Maximilius zurückzukehren, hatte er nie bereut. Das Empfinden, hier zu Hause zu sein, war in den vergangenen zwei Jahren immer stärker geworden, doch dahinter, jenseits der besonderen Wärme des Willkommens, gab es noch etwas anderes. Dieser Eindruck hatte sich im Lauf der letzten Monate verdichtet, seitdem er unter der Anleitung von Bruder Darius ganz bewusst heilte und die Befriedigung erlebte, anderen Menschen helfen zu können. Manchmal glaubte er, etwas zu hören, wie einen Ruf aus der Ferne, doch wenn er sich darauf zu konzentrieren versuchte, verklang die Stimme.

Auf die Hände gestützt lehnte sich Eklund zurück und hob das Gesicht der Sonne entgegen, deren Licht sich veränderte, zu einem goldenen Glanz wurde, der nicht blendete…

Etwas verschob die Realität, verband Vergangenheit und Zukunft über die Gegenwart hinweg. Das goldene Licht umhüllte Eklund, der verwundert blinzelte und begriff, dass er den Wechsel ins Elysium vollzogen hatte. Ein goldener Humanoide schwebte vor ihm im Nichts, ein Geschöpf weder Mann noch Frau, zierlich und doch stark, erfüllt von einer Kraft, die ruhte und mächtig war wie ein Ozean an einem windstillen Tag, voller Leben, voller Möglichkeiten. Die Kraft der Schöpfung…

Ehrfurcht gesellte sich Eklunds Neugier hinzu.

Ich brauche dich.

Der goldene Glanz dehnte sich aus, und Eklund stand vor einem uralten Portal aus verwittertem Holz. Er erinnerte sich daran – zum ersten Mal hatte er es bei der Heilung des Jungen mit dem aufgeschlagenen Ellenbogen gesehen.

Öffne es.

Er hob die rechte Hand, und als er das Portal mit ihr berührte, schwang ein Flügel auf, und dahinter erstreckte sich eine Welt wie… über der Welt – das war der erste Eindruck, den Eklund gewann. Die goldene Gestalt wartete dort auf ihn, mit einem Gesicht ohne Augen, Nase und Mund. Sie hob die Hand, streckte sie ihm entgegen…

Ich brauche dich, hörte Eklund, aber nicht mit den Ohren.

Er hob ebenfalls die Hand, und als er die der goldenen Gestalt berührte, glaubte er, in jenem ruhigen Ozean der Kraft zu schwimmen.

Ich habe eine Aufgabe für dich.

»Wer bist du?«, fragte Eklund, und seine Stimme klang anders in dieser Welt über der Welt, älter und reifer.

Du wirst einmal verstehen, wer ich bin. Sei bereit, wenn es so weit ist.

Die goldene Gestalt wich zurück. Eklund wollte ihr folgen, aber etwas hielt ihn fest.

»Wer bist du?«, rief er. »Wofür soll ich bereit sein?«

Nimm die Kraft, flüsterte es aus der Ferne. Fühle sie. Erinnere dich. Vergiss nicht. Und sei bereit, wenn es so weit ist.

»Wer bist du?«, rief Eklund erneut.

»Ich bin immer noch Bruder Darius.«

Eklund blinzelte erneut und fand sich auf dem Felssims wieder. Darius stand neben ihm, ein Mann, der zu einem Vater für ihn geworden war – einen besseren konnte er sich nicht wünschen.

»Ich habe… jemanden gesehen«, sagte Eklund. »Eine goldene Gestalt ohne Gesicht. Wie… die Seele der Welt.« Er wusste nicht, woher diese Worte stammten. Sie kamen aus seinem Innern, von dort, wo seine eigene Seele die Kraft berührte.

»Die Seele der Welt«, wiederholte Darius nachdenklich.

»So fühlte es sich an. Hast du eine Erklärung dafür?«

»In der Welt über der Welt gibt es viele Dinge, die wir nicht verstehen«, sagte Darius, als Eklund aufstand. »Vielleicht gelingt es uns irgendwann einmal, alle Fragen zu beantworten. Die Zukunft wird es zeigen.«

Kerberos 25. März 369 SN

Bruder Darius starb, und niemand konnte ihm helfen.

Welch eine grausame Ironie, dachte Bruder Eklund. Wir sind Heiler, aber uns selbst können wir nicht heilen.

Darius lag in seiner kleinen Wohnhöhle in der Zitadelle, und das Licht einer Chemolampe fiel auf sein eingefallenes Gesicht. Deutlich zeichneten sich die Jochbeine unter der farblosen, faltigen Haut ab.

»Vielleicht sollten wir ihn nach Chiron bringen, in ein Krankenhaus«, sagte Terod kummervoll.

»Dazu ist es zu spät«, sagte Schwester Rena, die neben Darius gehockt hatte und sich nun aufrichtete. »Es geht mit ihm zu Ende.«

»Aber…«, begann Terod und verstummte hilflos. Mit solchen Dingen kannte sich Rena aus. Die Kraft des Elysiums versetzte sie in die Lage zu wissen, wann der Tod unausweichlich war.

Darius atmete schwer und hob die Lider. Der Blick seiner trüben Augen wanderte durch die Höhle, fand Terod, Eklund und die Seherin. Er seufzte tief und schloss die Augen wieder, und für einen Moment glaubte Eklund, dass er gestorben war. Doch dann kamen die Lider erneut nach oben. »Meine beiden Novizen…«, sagte er. »Ich bin am Ende meines Weges angelangt. Es gilt Abschied zu nehmen, von Personen und Dingen. Terod…«

»Ja?«

»Mein Amulett… Ich habe es beim Hirten zurückgelassen. Bitte hol es. Ich möchte es ein letztes Mal berühren.«

Rena schien mehr in diesen Worten zu hören, und sie nickte knapp. »Ich begleite ihn.«

Wenige Sekunden später waren Darius und Eklund allein in der kleinen Höhle, nur in der Gesellschaft von Schatten, dort, wo das Licht der Lampe ebenso an Kraft verlor wie der sterbende Alte.

»Wenn Terod zurückkehrt, bin ich bereits tot«, sagte Darius leise. »Er soll sich nicht zurückgesetzt fühlen.« Eine dürre Hand kam unter der Decke hervor und tastete zitternd nach oben. »Ich möchte noch einmal in die Welt über der Welt, mit dir. Bitte begleite mich auf diesem letzten kleinen Stück meines Weges.«

Eklund trat näher ans schmale Bett heran, setzte sich auf den Stuhl daneben und ergriff die Hand. Sie war kalt und feucht.

Und die Kälte floss aus ihr heraus, ging in Eklunds Hand über, kroch von dort aus durch den Arm und erfasste schließlich den ganzen Körper. Das Licht der Chemolampe flackerte, wurde heller, und die Wände der Wohnhöhle wichen fort, lösten sich auf…

»Das Elysium ist mehr als nur eine metaphysische Sphäre, aus der wir die Kraft des Heilens beziehen«, sagte Darius, und es war kein alter, sterbender Darius, von dem diese Worte stammten, sondern ein Mann in mittleren Jahren, jener, der dem dreizehnjährigen Eklund damals, vor neunundzwanzig Jahren, am Ufer des Riffmeers die Hand gereicht hatte. Er trug dicke Kleidung, und eine pelzbesetzte Kapuze umgab den Kopf.

Eklund sah sich erstaunt um, und sein Blick reichte über Dutzende von schneebedeckten Berggipfeln hinweg. Lange Flanken aus Eis glitzerten und funkelten im Licht von zwei kleinen Sonnen am tiefblauen Himmel. Es war so kalt, dass Eklunds Atem kondensierte, und außerdem stellte er fest, dass er schneller atmete als sonst – in dieser Höhe enthielt die Luft weniger Sauerstoff.

»Wo sind wir hier?«, fragte er.

»Dies ist Alikant im System der Doppelsonne Halmur«, antwortete Darius. »Die Welt meiner Geburt. Als junger Mann bin ich oft in den Bergen geklettert.« Er vollführte eine Geste, die dem Panorama galt. »Wunderschön, nicht wahr?«

»Wir sind in einer deiner Erinnerungen?«

»Nimm eine Hand voll Schnee. Nur zu.«

Eklund kam der Aufforderung nach, fühlte das kalte Weiß und sah, wie sich die Finger röteten und ein Teil des Schnees schmolz.

»Wie fühlt es sich an?«, fragte Darius. »Kannst du dies von der Realität unterscheiden? Nein? Dies ist das Elysium, die Welt über der Welt, und auf ihre eigene Art und Weise ist sie nicht weniger real als die andere, die wir für ›wirklich‹ halten. Komm.«

Darius stapfte durch den Schnee, und Eklund folgte ihm den Hang empor. Er beobachtete die schwungvollen Bewegungen des Mannes, und für einen Moment bedauerte er zutiefst, dass dies nicht die Realität der alltäglichen Welt war. Während der vergangenen knapp dreißig Jahre hatte er in Darius einen Vater gesehen, und sein naher Tod schmerzte sehr.

Weiter oben schmiegte sich eine Hütte an den steiler werdenden Hang, halb im Schnee verborgen. Ein dünner Rauchfaden kam aus dem Schornstein und hätte unter normalen Umständen darauf hingedeutet, dass sich andere Bergsteiger in der Hütte aufhielten, aber Eklund wusste, dass das nicht der Fall war. Diese Hütte stand allein Darius zur Verfügung, und den Personen, die er mitbrachte.

Die Tür öffnete sich knarrend, und drinnen erwartete sie angenehme Wärme. Ein Feuer brannte im großen Kamin, ein echtes Feuer, keine Simulation oder dergleichen, und der Tisch war für zwei Personen gedeckt. Neben den Tellern standen Becher aus Synthomasse, und ein aromatischer Duft ging von der heißen Flüssigkeit darin aus.

»Das Elysium kann auch dies sein«, sagte Darius und streifte lächelnd seine dicke Jacke ab. »Bequemlichkeit.«

Die Mahlzeit bestand aus einer würzigen Suppe mit Dingen, die seltsam aussahen, aber gut schmeckten. Das heiße Getränk erwies sich als anregend, nicht berauschend. Eklund hatte das Gefühl, dass nur einige Minuten verstrichen waren, aber als er zu einem Fenster sah, war es draußen bereits dunkel geworden. Entweder waren die Tage auf Alikant kürzer, oder er hatte gerade einen Zeitsprung von ein oder zwei Stunden erlebt.

Die beiden Männer saßen sich am Tisch gegenüber, die Teller beiseite geschoben, die Hände um die Becher geschlossen, während das Feuer im Kamin brannte, ohne dass die Scheite zu Asche wurden. Sie brannten und brannten, in einem Augenblick, der sich ewig wiederholte, aber immer ein wenig anders, denn die Flammen waren wie die Wellen des Meeres, einzigartig und individuell. »Du hast sie berührt.«

»Was meinst du?«

Einige Sekunden lang bestanden die einzigen Geräusche aus dem Knistern des Feuers im Kamin und der leisen Stimme des Windes, der draußen über die Schnee- und Eishänge wehte. Eklund fühlte eine sonderbare Art von Geborgenheit hier in der Hütte, die ihre Existenz der Vorstellungskraft eines anderen Menschen verdankte.

»Die Schöpfungsenergie«, sagte Darius langsam. »Die zentrale Essenz dessen, das wir Elysium nennen. Für die meisten von uns ist es nur eine Quelle der Kraft, mit der sie heilen. Aber warum gibt es sie nur hier, auf Kerberos? Warum existiert das Elysium auf keinem anderen bekannten Planeten?«

Eklund wartete geduldig und beobachtete, wie es in Darius’ Gesicht arbeitete, wie Hoffnung in den graublauen Augen des Mannes leuchtete. »Ich glaube an eine heilige Präsenz auf Kerberos«, sagte er schließlich, und Eklund spürte, wie etwas ganz tief in ihm seufzte. »Ich glaube, dass hier nach der Schöpfung des Universums ein Teil der puren Kreationsenergie erhalten blieb und von jenen genutzt werden kann, die wie wir imstande sind, eine Verbindung mit ihr herzustellen. Vielleicht lernen wir eines Tages, sie auch für andere Zwecke zu verwenden, nicht nur zum Heilen. Vielleicht können wir sie irgendwann auch für andere Dinge nutzen. Dies hier…« Er winkte, und seine Geste betraf die Hütte und ganz Alikant. »… ist eigentlich nur eine Spielerei, ein Ort, an den ich mich manchmal zurückziehe, wenn ich Ruhe brauche. Aber er macht das wahre Potenzial des Elysiums deutlich. Vielleicht gelingt es uns irgendwann einmal, Teil der Schöpfungskraft zu werden.«

Darius beugte sich ein wenig vor. »Du hast sie ebenfalls berührt, nicht wahr?«

Und plötzlich verstand Eklund. Bruder Darius, der wie ein Vater für ihn war und ihm mit seiner ruhigen, sanften Sicherheit als Vorbild gedient hatte, reagierte mit tiefer Verunsicherung auf die Nähe des Todes. Er fürchtete das unmittelbar bevorstehende Ende und ersehnte sich nichts mehr als eine Bestätigung dafür, dass all die Dinge, an die er geglaubt hatte, tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Zweifel nagte an seiner Gewissheit, und er hoffte, dass der einstige Novize Eklund seine Gewissheit erneuerte.

Eklund erinnerte sich an das Gefühl, in einem Ozean ruhender Kraft zu schwimmen. Erinnere dich. Vergiss nicht.

»Die Energie der Schöpfung hat mich berührt.«

»So fühlt es sich an, beim ersten Mal«, sagte Darius. »In der Pubertät, wenn Hormone alles durcheinander bringen. Aber du hast noch mehr gefühlt, nicht wahr? Was hast du gesehen, damals, in deiner Vision?«

Draußen wurde die Stimme des Windes lauter, vielleicht ein Zeichen dafür, dass Darius’ Anspannung wuchs.

»Du glaubst an die Weltseele«, sagte Darius, als Eklund schwieg. »Hast du sie gesehen? Bist du ihr wirklich begegnet, im Elysium?«

»Ich habe eine Gestalt gesehen«, erwiderte Eklund schließlich. »Eine goldene Gestalt ohne Gesicht.«

»Die Seele der Welt?« Darius beugte sich noch etwas weiter vor, und die Hoffnung leuchtete heller in seinen Augen. »Gibt es sie wirklich?«

Eklund musterte den Mann auf der anderen Seite des Tisches, und eine zweite Erkenntnis gesellte sich der ersten hinzu. Darius fürchtete den Tod und noch mehr die Möglichkeit, sich geirrt zu haben. Er fürchtete, dass es auf der anderen Seite nichts als schwarze Leere gab.

»Ja, es gibt sie«, sagte Eklund und beobachtete, wie sich Falten in Darius’ Gesicht bildeten, wie aus dem Mann in mittleren Jahren binnen weniger Sekunden ein Greis wurde. »Es gibt sie wirklich. Ich weiß nicht, ob sie mit der goldenen Gestalt identisch ist, aber ich weiß, dass die lebendige Seele der Welt existiert. Davon bin ich absolut überzeugt.« Und das sagte er nicht nur, um die grässliche Last des Zweifels von Darius zu nehmen; es war die Wahrheit.

Darius lehnte sich zurück und wirkte überaus erleichtert, während die Falten komplexe Muster in seinem Gesicht bildeten. »Danke«, sagte er leise. »Danke, Eklund.«

Und dann verschwand er.

Der zweiundvierzig Jahre alte Eklund saß allein in einer Berghütte, die aus einer fremden Gedankenwelt stammte und als Teil des Elysiums existierte. Das Feuer brannte weiterhin, ohne die Scheite zu verbrennen, und eine Zeit lang blickte Eklund in die züngelnden Flammen, sah darin schnell wechselnde Muster, so wie er als Kind Muster in Wolken gesehen hatte, die über den Himmel zogen.

Schließlich stand er auf, öffnete die Tür der Hütte und trat nach draußen in die klare Nacht. Sterne funkelten am Himmel, über den schneebedeckten Gipfeln der Berge, wie kleine, blinzelnde Augen in der Dunkelheit. Der Wind wehte nicht mehr. Ruhe herrschte, ein Frieden, der nicht nur diesen Ort betraf, sondern auch seine Seele.

»Es gibt sie«, sagte Eklund noch einmal und sprach wie zur lauschenden Nacht. »Und vielleicht kannst du ihr jetzt begegnen.«

Ein weiterer Schritt nach vorn, weg von der Hütte, durch knirschenden Schnee…

Wellen liefen an den Strand, so sanft wie die Hand einer Mutter, die ihr Kind streichelt. Eklund drehte sich um, und wohin er auch sah: Überall reichte das Meer bis zum Horizont. Er stand auf einer kleinen Insel, auf einem winzigen weißen Hügel im endlosen Blau des Ozeans. Dies, so fühlte er, war das Zentrum des Elysiums, das Meer der Kraft, der Schöpfungsenergie, die er vor neunundzwanzig Jahren zum ersten Mal berührt hatte, die ruhende Mitte der Welt über der Welt.

Etwas veranlasste ihn, in die Tasche zu greifen und die bunten Steine hervorzuholen, die er manchmal bei sich trug. Er ging in die Hocke, nahm die Steine in beide Hände und ließ sie fallen.

Ihr Muster…

Sie formten ein Oval, ein Gesicht ohne Augen, Nase und Mund.

Als Eklund aufsah, wuchsen die Wellen des Meeres vor ihm empor und wurden zu Wänden, zu den glitzernden Wänden eines Hauses aus Wasser, und der Sand unter ihm verwandelte sich in den Boden eines Waldes mit hohen, Schatten spendenden Bäumen. Jemand trat durch die Tür des Hauses aus Wasser nach draußen und streckte ihm die Hand entgegen…

Das Ziel.

Und der Weg dorthin führte durch sein Leben.

Doch ein anderer Weg war zu Ende gegangen.

Eklund schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, saß er in der kleinen Wohnhöhle, und das Licht der Chemolampe fiel auf den toten Bruder Darius. Sein Gesicht wirkte… entspannt und friedlich – er hatte im letzten Moment seines Lebens den Zweifel überwunden und die erhoffte Ruhe gefunden.

Rena stand in der Nähe, und auch Terod mit dem Amulett. »Es tut mir Leid«, sagte er. »Es tut mir Leid, dass wir zu spät gekommen sind.«

»Er starb in Frieden.« Rena sah Eklund an. »Und das hat er dir zu verdanken.«

Eklund sah ihr in die Augen und wusste, dass sie verstand.

»Darius hat das Ende seines Weges erreicht«, sagte er. »Und ich glaube, er fand dort, was er suchte.«

»Was ist mit dir?«, fragte Rena und bewies damit, dass man sie zu Recht Seherin nannte.

Eklund lächelte matt. »Ich bin noch unterwegs. Aber auch ich werde mein Ziel eines Tages erreichen.«

3 Erfahrungsschatten

Kerberos

15. April 421 SN

02:45 Uhr

Das Etwas schwamm, umgeben von Wasser und Dunkelheit, zwei ambientalen Faktoren, für die es keine Namen hatte, die es aber sehr wohl mithilfe seiner peripheren Zellen wahrnahm. Nach der Konfrontation mit dem Giftgas und der harten Strahlung verfügten diese Zellen über ein besonders großes autoregeneratives Potenzial, und außerdem hatte die Formationsmatrix sie mit defensiver Aggressivität ausgestattet: Was sie berührten, wurde absorbiert oder neutralisiert – es hing von der Beschaffenheit der jeweiligen Substanzen ab. Waren sie organischer Natur, so dienten sie als Nahrung, aus der sich wertvolle Energie gewinnen ließ, oder sie konnten als Baumaterial für etwas verwendet werden, das allmählich zu einem Körper wurde. Der breite, mächtige Acheron, tausende von Kilometern lang, steckte voller hungriger Räuber, die das Etwas zunächst ignorierten, dann für etwas Fressbares hielten und schließlich flohen, falls sie Gelegenheit dazu erhielten. Kein Stadium ihrer Evolution hatte sie auf die Begegnung mit einem solchen Geschöpf vorbereitet, während das Etwas einfach nur den allgemeinen Direktiven des Grundprogramms gehorchte, indem es überlebte. Mehrmals bohrten sich Zähne in die Zellmasse und zerrissen sie, aber der vermeintliche Leckerbissen bohrte sich durch Magenwände, fraß den Fresser von innen her, wuchs und vereinte sich mit den übrigen Zellen, nahm von den Exekutoren neue Strukturierungsanweisungen entgegen und setzte sie in Form um. Die Differenzierung einzelner Zellgruppen nahm zu, und das galt auch für den neuronalen Bereich. Das Etwas reagierte nicht mehr nur auf das, was es umgab, es begann zu planen, auf einer noch weit unterhalb des Bewusstseins liegenden Ebene.

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