Der Mönch in dir - Mauritius Wilde - E-Book

Der Mönch in dir E-Book

Mauritius Wilde

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Beschreibung

"Das Wort 'Mönch' leitet sich vom altgriechischen monachos ab und bezeichnet schlicht jemanden, der allein ist. Ein Mönch ist also jemand, der eine gewisse Einsamkeit wählt, der bewusst loslässt, was ihn behindert, und dabei in Kauf nimmt, allein, einsam zu sein. Der irgendwann sogar gerne allein ist, weil er in diesem Zustand sich und Neues und Gott entdeckt. Jeder Mensch kennt Einsamkeit, denn an bestimmten Punkten seines Lebens, beispielsweise in Entscheidungssituationen, ist er ganz allein. In diesem Sinn ist jeder Mensch ein Mönch. Das anzuerkennen und anzunehmen, führt zu Gelassenheit. Das Leben der Menschen, die den Mönchstand gewählt haben, kann uns zeigen, wie man diesen Mönch in sich entdecken, annehmen und leben kann. Denn das ist kein Zustand, sondern ein Weg. In diesem Buch möchte ich ein Leben herausgreifen, dessen Beschreibung großen Einfluss auf die Geistes-, Kirchen- und Kulturgeschichte hatte: das des heiligen Benedikt (ca. 480–547). Nur etwas mehr als 40 Jahre nach dessen Tod machte ein anderer Mönch, Gregor der Große, sich daran, sein Leben aufzuschreiben. Er entwirft dabei keine Biografie nach unseren heutigen Maßstäben, sondern will ein Beispiel vorstellen, das auch anderen zum Vorbild dienen kann. In heutiger Sprache könnte man sagen, dass er uns den "Mönch in uns" vorstellen will. Wir sehen darin, wie Benedikt sich entwickelt. Und das gibt uns die Chance, unser eigenes Leben zu entwickeln – und immer mehr wir selbst zu werden." P. Mauritius Wilde

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie. Detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Printausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024

ISBN 978-3-7365-0551-3

E-Book-Ausgabe

© Vier-Türme GmbH, Verlag, Münsterschwarzach 2024

ISBN 978-3-7365-0567-4

Alle Rechte vorbehalten

E-Book-Erstellung: Sarah Östreicher

Lektorat: Marlene Fritsch

Covergestaltung: Matthias E. Gahr

Covermotiv: Bru-nO/pixabay.com

www.vier-tuerme-verlag.de

Mauritius Wilde

Der Mönch in dir

Ein Weg zu Gelassenheit und Loslassen

Vier-Türme-Verlag

Inhalt
Der Mönch in uns
Bloß weg hier
Wie man die Benediktsvita deuten kann
Vorbilder
Dem Mönch auf der Spur
Sich vom Vater lösen
Sich von der Mutter lösen
Sich von der Selbsterlösung lösen
Sich von der Kirche lösen
Sich von der Kultur lösen
Sich von der Sexualität lösen
Sich von der Macht lösen
Bei mir sein
Alles Loslassen
Von der Höhle auf den Berg
Dem Problem auf den Grund gehen
Treu bleiben, indem ich tiefer grabe
Verbinden statt trennen
Befehlskette – Segenskette
Kämpfe, die man nicht gewinnen kann
Neues werden lassen
Gelassen eine eingebildete Bedrohung entlarven
Der geschützte Raum
Die Intimität des gemeinsamen Mahles
Sich nicht vom eigenen Weg abbringen lassen
Woran man wahre Autorität erkennt
Der Verfall kommt von innen
Der Rückfall in alte Muster
Gott wirkt auch mit dem Schrägen
Von Herzen teilen
Dienen – die Kontrolle loslassen
Von der Hoffnung niemals lassen!
Den Träumen vertrauen
Die Wirkung meiner Worte und Taten über den Tod hinaus
Meine Beziehung zu den Verstorbenen
Sich dem eigenen Schatten stellen
Heilt die Kranken!
Beten hilft
Eine unbegrenzte Energiequelle
Man ist nie gefeit
Wie Kontemplation die Welt verändert
Demut macht lebendig
Die Liebe ist stärker
Für immer innig verbunden
Wenn auf einmal alles ganz klar ist
Der Mönch in mir braucht eine Lebensordnung
Kraftorte, die bleiben
Das Ziel ist das Ziel
Ein Mensch Gottes
Literatur

Ich danke den Pilgergruppen »Subiaco 95«, »Subiaco 96« und »Montecassino«, mit denen zusammen ich meine ersten Entdeckungen in der Vita Benedikts machen durfte.

Ich danke den benediktinischen Gemeinschaften von Männern und Frauen, mit denen ich diese Gedanken weiterentwickeln konnte.

Ich danke den Studentinnen und Studenten des Ateneum Sant’Anselmo in Rom, mit denen ich den Dialog weiterführen durfte.

Der Mönch in uns

Die ersten Mönche, die ich kennenlernen durfte, haben mich fasziniert. Zum einen fand ich, dass sie unglaublich viel vom Leben und von der Welt verstanden. Obwohl sie zurückgezogen lebten, zum Teil in eigenartiger, einer sehr alten Tradition verhafteten Weise, fühlte ich mich von ihnen besser verstanden als von vielen anderen Menschen in meiner Umgebung. Sie hatten ausgewogene, überlegte, keine extremen Ansichten. Sie verstanden meine Sehnsucht. Sie verstanden etwas vom Menschsein und die Verschiedenheit der Menschen. Sie verstanden etwas vom Zusammenleben. Zum anderen waren sie freundlich und zugewandt und im selben Moment doch sehr bei sich selbst und keineswegs anbiedernd. Sie warben nicht um mich. Sie hatten Berufe wie Melker, Steuerberater, Gastbruder, Drucker, Lehrer und übten diese im Kloster aus. Sie hatten ein klares, in gewisser Weise auch radikales Lebenskonzept, aber sie zwangen es niemandem auf, sondern lebten es selbst. Sie gaben auch zu, dass sie diesem Konzept nicht immer hundertprozentig gerecht würden, sondern »auch nur Menschen« seien. Ich spürte eine Gelassenheit in ihnen, die auf einem Realismus fußte und gleichzeitig das Ideal nicht aufgab. Und ich fand bei ihnen – das war noch attraktiver! – eine gewisse Heiterkeit, die sprichwörtliche hilaritas der Mönche. Heute weiß ich, dass in ihr die »frohe Botschaft« Jesu durchschien, der sie versuchten zu folgen, ohne sie thematisieren zu müssen.

Mir scheint, die Mönche konnten über sich selbst lachen, weil sie sich losgelassen hatten. Bevor sie in das Kloster eintraten, hatten sie zunächst sehr viel Konkretes in ihrem Leben losgelassen: ihre Herkunftsfamilien, ihre Freunde, ihren Besitz, die Perspektive, einmal zu heiraten oder Kinder zu haben.

Das Wort »Mönch« leitet sich vom altgriechischen monachos ab und bezeichnet schlicht jemanden, der allein ist, der einsam ist. Der Mönch ist jemand, der eine gewisse Einsamkeit wählt, der bewusst loslässt, was ihn behindert, und dabei in Kauf nimmt, allein zu sein. Der irgendwann sogar gerne allein ist, weil er in diesem Zustand sich und Neues und Gott entdeckt. Die Frage ist: Ist das nur eine Sache für wenige Spezialisten oder für jedermann, jede Frau? Lebt ein Mönch in mir und auch in dir?

Der Religionsphilosoph Raimon Panikkar spricht vom Mönch als einem Archetyp. Der »Mönch in uns« ist der »Ort«, wo wir allein sind, wo wir einmalig sind und unvertretbar. Jeder Mensch kennt Einsamkeit, und sicher muss man unterscheiden zwischen einer Einsamkeit, unter der man leidet und die wir nicht gewählt haben, und einer existenziellen Einsamkeit, die jeden Menschen betrifft, einfach weil er Mensch ist. Denn an bestimmten Punkten seines Lebens ist er ganz allein. Das wird besonders beim Sterben deutlich, weil wir nur ganz allein durch diese Tür gehen können. Das Sterben ist das große und letzte Loslassen. Insofern könnte man sagen, unseren inneren Mönch zu leben, ist schlicht die Anerkenntnis, dass ich im Letzten allein bin. Nicht nur im Tod, sondern auch schon in diesem Leben. Vielleicht haben wir es bei wichtigen Entscheidungen erlebt: die Unvertretbarkeit. Niemand hätte uns die Entscheidung abnehmen können. Vielleicht haben wir es in Notsituationen und bei Schicksalsschlägen erlebt, die eben mich und niemand anderen getroffen haben. In diesem Sinn ist jeder Mensch ein Mönch, ein monachos. Das anzuerkennen und anzunehmen, führt zu Gelassenheit. Weil ich mich dann nicht mehr an andere oder die Welt klammern muss, an die ich mich gar nicht klammern kann, weil ich sie nicht festhalten kann und weil sie mich wiederum nicht halten können.

Mit der mönchischen Einsamkeit geht auch eine ungeheure Freiheit einher. Weil man nicht mehr an bestimmten Dingen oder Personen hängt, weil man sie losgelassen hat, wird man wirklich frei. Janis Joplin sang einmal: »Freedom is just another word for nothing left to lose – Freiheit ist nur ein anderes Wort dafür, dass man nichts mehr zu verlieren hat.« Der Mönch ist der ganz freie Mensch – frei, er oder sie selbst zu sein. Ich bin frei von den Erwartungen anderer. In diesem Zustand muss ich niemandem mehr gefallen, habe ich einen Wert, der völlig unabhängig davon ist, wie andere mich sehen. Dort habe ich einen Ort, an dem nur ich sein kann.

Das Leben der Menschen, die den Mönchstand gewählt haben, kann uns zeigen, wie man diesen monachos in sich entdecken, annehmen und leben kann. Denn das ist kein Zustand, sondern ein Weg. In diesem Buch möchte ich ein Leben herausgreifen, das gut beschrieben ist und dessen Beschreibung einen sehr großen Einfluss auf die Geistes-, Kirchen- und Kulturgeschichte hatte: das des heiligen Benedikt (ca. 480–547). Nur etwas mehr als vierzig Jahre nach dessen Tod machte ein anderer Mönch, Gregor der Große, sich daran, sein Leben aufzuschreiben. Er entwirft dabei keine Biografie nach unseren heutigen Maßstäben, obwohl er dabei nicht wenige historische Fakten wiedergeben dürfte, sondern will ein Beispiel (exemplum) vorstellen, das auch anderen zum Vorbild dienen kann. In heutiger Sprache könnte man sagen, dass er uns den »Mönch in uns« vorstellen will. In damaliger Sprache wollte er zeigen, wie das Leben eines heiligen Menschen aussieht. Das Sympathische an dieser Vita Benedicti ist die Tatsache, dass es sich nicht um ein Lehrbuch oder eine Abhandlung handelt, sondern um eine Erzählung, mit der wir uns an der einen oder anderen Stelle identifizieren können. Wir sehen, wie Benedikt sich entwickelt. Und das gibt uns die Chance, unser eigenes Leben zu entwickeln und immer mehr wir selbst zu werden. In Benedikt sehen wir, wie ein Mensch – in radikaler, und damit vielleicht vorbildhafter Weise – loslässt, um so er selbst zu werden und der Stimme Gottes zu folgen.

Bloß weg hier

Vielleicht kennen Sie Momente, in denen Sie denken: »Bloß weg hier!« Es sind Situationen, in denen sich unser Instinkt meldet. Das ist keine schlechte Sache. Immerhin gehört »Flucht« zusammen mit »Kampf« und »Einfrieren« zu unserem genetischen Erbe. Den Impuls, wegzugehen oder zu fliehen haben wir aber nicht nur in Überlebens- und Notsituationen. Manchmal sind es die kleinen Dinge, bei denen man plötzlich weiß: Ich muss mich hier rauslösen. Ich kann hier nicht bleiben.

»Bloß weg hier« war auch häufig der Impuls, der Menschen ins Mönchsleben führte. Denn der Weg des Mönchs beginnt mit der fuga mundi, mit der Flucht aus der Welt. Die ersten Mönche flohen in die Berge, in Höhlen oder in die Wüste, so geschehen in Ägypten, wo das christliche Mönchtum entstanden ist, in Palästina und um das östliche Mittelmeer herum. Entweder war da die Abneigung, sogar eine Art Ekel, der die Menschen aus der Welt fortgetrieben hat. Oder es war eine Art Suche, weil man eine neue Orientierung brauchte. Was die Welt ihnen erzählte, genügte ihnen nicht mehr. Der »Mönch in mir« ist der, der die Welt nicht mehr versteht, der sich selbst nicht mehr versteht. Der langsam anfängt zu ahnen, dass es Gott ist, der ihn durch und durch versteht. Und so will er nicht mehr »der Welt gefallen, sondern Gott«, wie es gleich zu Beginn der Lebensbeschreibung Benedikts heißt.

Die Vita Benedikts kann uns ermutigen, es zu akzeptieren, wenn wir manchmal das Gefühl haben, dass wir uns aus einer aktuellen Lebenssituation herauslösen müssen. Vielleicht wenigstens einmal für eine bestimmte Zeit. Die Gästehäuser der Klöster boomen weltweit. Menschen gehen für eine Zeitlang dorthin, weil sie genau das wollen – Abstand! Sie erhoffen sich, aus der Distanz heraus neu auf ihr Leben schauen zu können. Sie hoffen, in der Abgeschiedenheit wichtige Entscheidungen treffen zu können. Oder sie suchen einfach nur die Ruhe. Damit haben sie exakt denselben Impuls, den auch alle Mönche haben, die ein Leben lang in ein Kloster gehen. Damit tun sie im Grunde nichts Neues, sondern stehen in der Tradition des jahrhundertealten Mönchtums. Gregor der Große schreibt einmal: »Wenn wir Mönche genannt werden, ist es, weil wir – der Welt entsagend – in die Einsamkeit gegangen sind, um ein zurückgezogenes Leben zu führen« (Kommentar zum ersten Buch der Könige I,61). Und vom ägyptischen Mönch Abbas Arsenios wird gesagt: »Als der alte Vater Arsenios noch im Palast war, betete er zu Gott: ›Herr, zeige mir einen Weg, um Erlösung zu finden!‹ Und eine Stimme kam zu ihm und sagte: ›Arsenios, fliehe vor den Leuten, und du wirst erlöst werden.‹ Als er sich bereits in das Leben eines Einsiedlers zurückgezogen hatte, betete er erneut mit denselben Worten. Und er hörte eine Stimme, die zu ihm sagte: ›Arsenios, fliehe, schweige, werde ruhig!‹« (nach Apophthegmata Patrum 39–40). Benedikt selbst beschreibt das Leben des Mönchs in der Abgeschiedenheit in seiner Regel mit folgenden Worten: »sich dem Treiben der Welt fremd machen« (saeculi actibus se facere alienum) (RB 4,20).

Allerdings ist die Flucht für die Mönche tatsächlich nur der Anfang. Nach diesem ersten Impuls beginnt für sie ein langer Weg, der sich aber lohnt. Der Mönch lernt dabei, dass er sich selbst immer mitnimmt, wohin er auch flieht, wohin er auch geht, mit welchen Menschen er auch zusammenlebt. Denn vor mir selbst kann ich nicht fliehen. Der echte Zufluchtsort ist tatsächlich ganz nahe: Er ist dort, wo ich »bei mir« bin. Habitare secum nennt Gregor der Große diesen Zustand in der Lebensbeschreibung des Benedikt von Nursia, »wohnen bei sich selbst«. Wenn ich bei mir selbst bin, dann kann ich überall sein. Die Flucht ist dann nur der erste Schritt, um mich neu zu finden.

Dieses Buch möchte jeden von uns dazu einladen, einmal fortzugehen und innezuhalten – wenn wir müde sind, wenn wir satt oder überdrüssig sind, wenn wir ratlos oder haltlos sind, wenn wir Orientierung suchen. Vielleicht wäre dann eine Lösung, wirklich einmal für eine Zeitlang ins Kloster zu gehen. Oder zu pilgern. Man muss dazu nicht weit reisen. Vielleicht ist es wichtiger, solche Zeiten öfter oder regelmäßig einzuplanen. Es lohnt sich, sich auf diesen Weg zu machen, einmal nach innen zu schauen, wieder dankbar zu werden für das, was ich habe und bin. Es lohnt sich, die eigenen Leiden ehrlich wahrzunehmen und dabei auf Gott zu vertrauen, so wie der Psalm sagt: »Besser, sich zu bergen beim Herrn, als zu vertrauen auf Menschen. Besser, sich zu bergen beim Herrn, als zu vertrauen auf Fürsten« (Psalm 118,8–9). Vielleicht werden wir ganz neue Perspektiven entdecken, auf unsere Träume lauschen, unsere Vergangenheit neu sehen, unseren Beziehungen neuen Sinn geben. Im Abstand von zu Hause kann ich mich fragen: Wer bin ich eigentlich? Was will ich eigentlich? Und was will ich nicht (mehr)? Wozu bin ich gerufen in dieser Welt? So kann klarer zum Ausdruck kommen, für wen ich lebe und leben will, wen ich wirklich liebe und für wen oder was ich mein Leben einsetzen würde.

Wie man die Benediktsvita deuten kann

Die Benediktsvita Gregors des Großen erzählt, wie es jemandem ergeht, der ausgestiegen ist. Sie beschreibt Benedikts äußeres und inneres Weggehen. Hier können vielleicht auch wir einiges von dem entdecken, auf das wir stoßen, wenn wir uns einmal zurückziehen und aus unseren Zusammenhängen herauslösen. Dabei müssen wir allerdings wissen, dass die Lebensbeschreibung Benedikts schon viele Jahrhunderte »auf dem Buckel« hat. Das mag uns das Verständnis hier und da etwas erschweren. Trotzdem lohnt es sich, sie zu lesen, auch weil sie über viele Jahrhunderte eine enorme Bedeutung und Wirkung hatte. Im frühen Mittelalter war die Benediktsvita Gregors des Großen nach der Bibel das meistgelesene Buch (Gregorio Penco). Bereits im 7. und 8. Jahrhundert war sie in fast ganz Europa verbreitet, und schon sehr bald gab es die ersten Übersetzungen. Dadurch und durch die Renaissance der Schriften Gregors hatte sie wesentlichen Anteil an der fast universalen Verbreitung der Benediktsregel in Europa. Denn diese war ursprünglich nur ein regionales Phänomen; die meisten Klöster hatten so etwas wie Mischregeln, die sich aus vielen Traditionen bedienten, da gab es kein Fokussieren auf eine einzige Regel. Erst durch die Benediktsvita wurde Benedikt bekannt und damit auch seine Regel.

Trotz ihrer historischen Bedeutung wurde die Lebensbeschreibung Benedikts in neuerer Zeit lange stiefmütterlich behandelt. Ich erinnere mich gut und gerne an mein Noviziat, die Hauptpräge- und Ausbildungszeit der Mönche. Wir haben uns ganz auf die Benediktsregel konzentriert, und die Lebensbeschreibung spielte fast keine Rolle. Warum war das wohl so? Damals, Mitte der 80er-Jahre, war eine Zeit, in der der Schwung und der Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils in der katholischen Kirche noch frisch und voll da war. Man wollte zurück zu den christlichen Quellen, so nah wie möglich. Da war natürlich das Buch, das Benedikt selbst geschrieben hatte, viel wichtiger als eine Lebensbeschreibung, die erst Jahrzehnte nach seinem Tod entstanden ist. Ein zweiter Grund für diese Zurückhaltung war das massive Vorkommen von Wundern in der Vita Benedicti. Mit der Konzentration auf die historische Rückfrage, vor allem in der Interpretation der Bibel selbst, traten die Wundergeschichten in den Hintergrund. Man betrachtete sie als nette, erbauliche Erzählungen, die aber nicht wirklich viel spirituellen Nährwert hatten. Als ich selbst die Lebensbeschreibung zu lesen begann, fühlte auch ich mich zunächst wenig angesprochen: die vielen Wunder wirkten auf Dauer etwas langweilig, und alles kam mir doch ziemlich lebensfremd vor. Die Benediktsregel hingegen war konkret und gab praktische Hilfen für die Gestaltung des geistlichen Lebens, wenngleich man sie natürlich auch interpretieren musste.

Das alles änderte sich für mich persönlich 1995, als ich mit einer Gruppe von jungen Erwachsenen eine Wallfahrt auf den Spuren des heiligen Benedikt unternahm. Unsere Wanderung führte von Nursia nach Subiaco und später von Subiaco nach Montecassino. Ich werde nie vergessen, wie uns die Italiener verwundert nachblickten, als wir mit unseren schweren Rucksäcken unter der glühenden Sonne auf dem heißen Asphalt dahinstapften. Die Deutschen wandern halt gerne, ein Phänomen, das den Italienern damals eher unverständlich war. In Erinnerung blieb mir aber auch besonders die Gastfreundschaft, die wir erfahren durften, von Pfarrern, Fratres, Bürgermeisterinnen; man bewirtete uns spontan mit köstlicher Pasta, man ließ uns im Gemeindehaus schlafen. War hier bereits die typische benediktinische Gastfreundschaft zu spüren? Inzwischen, Jahre später, gibt es einen beschriebenen und ausgeschilderten Pilgerweg auf den Spuren Benedikts.

Auf der damaligen Wanderung war ich zum ersten Mal ernsthaft auf der Suche nach dem Leben des Heiligen, nach seiner Persönlichkeit und seinem Weg. Ich fragte mich: Wie hat er gelebt? Was hat er erlebt? Wie ist er so geworden, wie Gregor ihn beschreibt? Und: Wie kann man all die Geschichten in der Vita wirklich verstehen oder deuten? Seitdem beschäftige ich mich mit der Lebensbeschreibung und durfte mich fast drei Jahrzehnte lang in Exerzitien mit Benediktinerinnen und Benediktinern, in Kursen und Vorträgen und im Austausch mit Freunden und Studentinnen und Studenten von der Vita inspirieren lassen.

Inzwischen ist sie auch wissenschaftlich sehr gut erforscht, und ich beziehe mich in diesem Buch immer wieder auf den umfassenden Kommentar zur Vita Benedicti der Benediktinerin Michaela Puzicha. In ihrer Monografie finden sich in hoher Vollständigkeit alle biblischen Anspielungen und Zitate sowie die monastischen und patristischen Quellen. In den Jahrzehnten zuvor waren es nur wenige, die sich der Vita widmeten, hier sind vor allem die Benediktiner Adalbert de Vogüé und Terrence G. Kardong zu nennen. Noch immer fehlen weltweit Übersetzungen, es gibt zum Beispiel keine in Tagalog, und die ukrainische Übersetzung ist erst ganz neu. Nach wie vor bleibt hier also viel zu tun.

Mir geht es in diesem Buch um die Frage, was die Texte uns heute sagen können. Wie können sie den »Mönch in mir« nähren, mein geistliches Leben und mein menschliches Leben überhaupt? Die literarische Form der Lebensbeschreibung ist ein Dialog: Papst Gregor unterhält sich mit dem Diakon Petrus. Das macht schon deutlich, wie der Text verstanden werden will: dialogisch. Es geht darum, mit den Geschichten und Bildern, die beschrieben werden, ins Gespräch zu kommen. Das ist das Besondere an Bildern, an sprachlichen Bildern und Geschichten wie zum Beispiel Märchen, dass sie offen sind für Interpretationen. Während Begriffe einen Sachverhalt schließen und definieren (vgl. lateinisch terminus von terminare, beenden), sind Bilder dazu da, Sachverhalte so zu öffnen, dass man sich darin persönlich angesprochen fühlen und engagieren kann. Jesus bevorzugte in seiner Verkündigung deshalb oft Bilder und Gleichnisse. So ist es selbstredend, dass ich hier nicht alle möglichen Interpretationen der Texte Gregors anbieten kann. Meine Deutungen hingegen sollen eine Anregung sein, selbst weiter zu meditieren. Ich versuche quasi, in die Rolle des Petrus zu schlüpfen und mich imaginär mit Gregor beziehungsweise mit Benedikt selbst zu unterhalten. Dabei wollte und musste ich mich bei vielen Episoden der Vita erst in einer längeren Phase des Nachdenkens und der Meditation auf die Texte einlassen, mich in die Bilder vertiefen, um ihren Sinn zu verstehen oder zu erahnen. Tatsächlich sind viele von ihnen unseren heutigen Ohren und unserem heutigen Verständnis sehr fremd und auch so zeitbedingt, dass mancher sie wohl nach kurzer Zeit spontan weglegen würde. Damit wollte ich mich aber nicht zufriedengeben. So wie die Texte damals zeitbedingt waren, ist es unsere Herangehensweise heute ebenfalls. Die große Wirkung, die dieser Text im Lauf der Geschichte hatte, verstärkte in mir die Vermutung, dass hier auch etwas für mich und für uns heute zu holen ist.

Was die Menschen damals und uns heute verbindet, ist das Humanum, das Menschliche. Die Geschichten aus Benedikts Leben sind im Wesentlichen nichts anderes als die Verdichtung menschlicher und geistlicher Erfahrung. Davon kann man auch heute profitieren. Bei manchen Texten hat es Jahre gedauert, bis ich ihnen etwas abgewinnen konnte, manche habe ich wohl selbst heute noch nicht voll erschlossen, bei vielen aber bin ich unglaublich überrascht worden, wie viel Weisheit sie enthalten.

Die deutsche Übersetzung der ursprünglich auf Latein geschriebenen Lebensbeschreibung entnehme ich weitgehend der Ausgabe der Salzburger Äbtekonferenz »Gregor der Große: Der hl. Benedikt – Buch II der Dialoge«, wobei ich manchmal davon abweiche, wenn eine Übersetzung, die näher am lateinischen Original ist, dem Verständnis helfen kann. Die Dialogteile mit dem Diakon Petrus habe ich weggelassen, weil deren Interpretation ein Verständnis von noch mehr philosophischem und zeitbedingten Hintergrund voraussetzen würde. Die Geschichte selbst spricht bereits genug. Sämtliche Kapitel der Vita sind in diesem Buch enthalten.

Vorbilder

Die Lebensbeschreibung des heiligen Benedikt reiht sich in die Gattung der antiken Exempla-Literatur ein. In dieser Gattung von Texten werden die Lebensläufe besonders herausragender Persönlichkeiten beschrieben und diese als Vorbilder dargestellt. So schreibt der Mönch und Papst Gregor der Große (540–604) über Benedikt gleich zu Anfang: »Schon von früher Jugend an hatte Benedikt das Herz eines reifen Mannes, war er doch in der Lebensweise seinem Alter weit voraus.« Benedikt wird in der gesamten Erzählung immer als jemand Besonderes und als vollkommener Mensch beschrieben. Es gibt in seinem Leben keine »Vorgeschichte«, keine Brüche, wie dies zum Beispiel von Antonius dem Großen erzählt wird oder von Franz von Assisi, der als reicher Sohn eines Kaufmanns geboren wird und dann all sein Vermögen verschenkt, um für die Armen da zu sein und selbst arm zu sein. Es gibt auch keine Bekehrung bei Benedikt. Das ist verständlich, scheint es doch der literarischen Gattung geschuldet zu sein. Mir aber erschwerte es zunächst den Zugang zu den Texten. Wie kann ich mir jemanden zum Vorbild nehmen, der von Anfang an perfekt ist? Und wenn er so perfekt war, gab es wohl auch keine Entwicklung in seinem Leben? Wenn es keine Entwicklung gab, wie kann ich auf meinem Weg von ihm lernen? Wenn er so stark und heilig war, wie könnte er mir helfen, wenn ich mit meinen Schwächen und Begrenzungen konfrontiert bin? Benedikt auf dem Podest – für mich unerreichbar.

Dabei war Gregor selbst von Zerrissenheit und großen gesundheitlichen Problemen geplagt. Er schreibt einmal, dass er sich mit den Erzählungen der 51 Heiligen, die er in den vier Büchern der »Dialoge« beschreibt, aufbaut und so Trost findet. Darüber hinaus war seine Intention, zu zeigen, dass es auch in Italien große heilige Menschen gab, nicht nur im östlichen Mittelmeerraum, wo bereits viele Heilige verehrt wurden. Benedikt sieht er dabei als besonders vorbildlich an und widmet ihm ein ganzes eigenes Buch, nämlich das zweite der »Dialoge«. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass hier nicht nur ein Mönch schreibt, denn Gregor war zur Zeit der Abfassung der Vita bereits Papst. Er schrieb also mit universalem Anspruch. Liest man die Texte aber vorsichtig und sorgfältig, begegnet man darin einem Benedikt, der gar nicht so perfekt war. Man entdeckt Brüche, Versuchungen und Schwierigkeiten. Die Tatsache, dass Gregor entgegen seiner Erzählintention diese Passagen nicht aus der Geschichte herausgestrichen hat, könnte auf die Historizität der Geschichten hinweisen. Ich machte es mir jedenfalls zur Aufgabe, die Vita auch immer wieder einmal gegen den Strich zu lesen.

Man könnte sich fragen, wie stark ein Vorbild eigentlich sein muss. Zum einen gibt es heute generell eine gewisse Abneigung Vorbildern gegenüber. In der Antike waren sie unangefochten, heute sind sie es wohl nicht mehr. Man will authentisch sein – ein Vorbild könnte einen dabei negativ beeinflussen. Auf der anderen Seite gibt es ein eigenartiges Interesse an Königen und Prinzessinnen, Stars und Prominenten, Politikern und Menschen mit Macht und Einfluss, als bräuchte man sie doch irgendwie. Man beneidet sie vielleicht ein wenig, und doch wartet man auch darauf, dass sie einmal fallen, bis sie sich als fehlbar erweisen – als ob sie erst dann wirklich für uns nahbar werden könnten. Erweisen sich Vorbilder nicht gerade dann als solche, wenn sie zeigen, wie sie durch Krisen gehen, wie sie sich in Widrigkeiten bewährt haben? Dass sie trotz Schwierigkeiten ihren Weg gegangen sind?

Unabhängig davon können wir uns fragen, welche Menschen für uns in unserem Leben zu echten Vorbildern geworden sind, im Sinne von: Sie haben mich auf gute Weise beeinflusst, ich habe sie geliebt und geschätzt, ich möchte die eine oder andere Eigenschaft von ihnen übernehmen, sie sind mir wichtig geworden auf meinem Weg, weshalb ich sie nicht vergesse. Wenn wir diese Übungen in meinen Kursen durchführen, kommen zum Vorschein: Lebende und Verstorbene, der Vater, die Mutter, Großmutter, Großvater und neben Verwandten auch Freunde, Bekannte, Künstler, Politiker, Wissenschaftler. Die Kirche hat eine ganze »Schatztruhe« solcher Menschen parat. Sie nennt sie Heilige.

Dem Mönch auf der Spur

Sich vom Vater lösen

Prolog 1

Schauen wir also in das zweite Buch der »Dialoge« und damit auf das Leben Benedikts, wie Gregor der Große es uns darstellt. Er beschreibt darin das Leben Benedikts vom Anfang bis zum Schluss. Gleich zu Beginn geht es um die Herkunft seines Protagonisten:

Benedictus stammte aus angesehenem Geschlecht in der Gegend von Nursia. Zu Ausbildung und Studium wurde er nach Rom geschickt. Dabei sah er viele in die Abgründe des Lasters fallen. Deshalb zog der den Fuß, den er gleichsam auf die Schwelle zur Welt gesetzt hatte, wieder zurück, damit nicht auch er von ihrer Lebensart angesteckt werde und so schließlich ganz in bodenlose Tiefe stürze. Er wandte sich also vom Studium der Wissenschaften ab und verließ das Haus und die Güter seines Vaters. Gott allein wollte er gefallen, deshalb begehrte er das Gewand gottgeweihten Lebens. So ging er fort: unwissend, doch erfahren; ungelehrt, aber weise.

Gregor portraitiert Benedikt von Anfang an als heiligen Mann. Sein Charakter und die moralischen Abgründe der Stadt Rom passen nicht zusammen. Daher kommt es zur ersten fuga mundi des jungen Mannes, zur ersten Flucht aus der Welt. Benedikt hat Angst, angesteckt zu werden, er will gesund bleiben. Er hat nicht das Gefühl, dass sein Leben in dieser Umgebung gelingen kann. So weit – so erwartbar in der Lebensbeschreibung eines Mönchs, könnte man sagen. Doch da gibt es ein Detail, das weitere Hintergründe preisgibt. Es ist die Rolle seines Vaters. Schauen wir uns die Motivation seiner ersten Schritte genauer an.

Benedikt geht nach Rom, um zu studieren. Von Nursia nach Rom waren es nur gute 150 Kilometer – und doch ein großer Sprung für den jungen Mann. Von der Provinz in die Großstadt. Von der Beschaulichkeit und Behütetheit des Landes in die Weite und Freiheit der Möglichkeiten. Aber Benedikt landet weich. Als er Rom verlässt, lässt er »Haus und Dinge des Vaters« zurück. Der Vater war also präsent in Benedikts Studienjahren mit seinem Patrimonium, sicher mit finanziellen Mitteln, vielleicht mit einem Haus. Heute wird dieses Haus mit der römischen Villa »San Benedetto in piscinula« in Trastevere identifiziert. Spannenderweise ist dies das einzige Mal, dass in der Vita Benedikts der Vater genannt wird, also nur ganz unscheinbar im Zusammenhang mit dessen Besitz. Wenn der Vater das Studium seines Sohnes finanzierte, dürfen wir davon ausgehen, dass dieses auch im Interesse des Vaters lag. Dann geschieht Einschneidendes: Nicht nur, dass Benedikt sich in Rom nicht wohlfühlt. Mit der Entscheidung, fortzugehen, löst er sich auch vom Vater, vielleicht von dessen Berufswunsch für Benedikt, sicher aber von dessen materieller Sicherheit. Die passive Formulierung »er wurde (nach Rom) geschickt« weist darauf hin, dass Benedikt in seinen Anfängen noch sehr fremdbestimmt war, bestimmt von den Wünschen seiner Eltern. So ein Schritt wäre auch heute noch radikal, denn die wirtschaftliche Sicherheit der Eltern ist für Kinder wieder essenziell geworden. Doch Benedikt entscheidet sich, diese Sicherheit hinter sich zu lassen, weil er eine tiefere Berufung spürt, weil er mehr er selbst werden will. Er weiß noch nicht wie, aber was er weiß: Auch wenn er ins Ungewisse geht – Rom und das Studium sind nicht sein Weg!

Dieser Schritt kann uns helfen, über die Beziehung zu unserem eigenen Vater nachzudenken. Ist sie geordnet und in Frieden? Ist sie emotional und verbunden mit Abwehr? Ist sie voller Bewunderung und Anerkennung? Will ich es meinem Vater recht machen? Oder steckt in dieser Beziehung von allem ein bisschen? Manche haben ihre Väter nicht kennengelernt oder nur wenig Kontakt mit ihnen gehabt. Nicht wenige haben »Second-Chance-Väter« gehabt, wie William Jerema sie einmal nennt. Das sind Männer, die etwas von der Rolle eines abwesenden Vaters übernommen haben. Und hoffentlich für uns alle hat sich in unserem Leben das Verhältnis zu unserem Vater entwickelt und ist nicht statisch geblieben, so, wie wir uns selbst entwickelt haben und so, wie unser Vater sich entwickelt hat. Am Beginn von Benedikts Leben kommt fast unbemerkt der Vater ins Spiel. Er spielt für unsere spirituelle und überhaupt menschliche Entwicklung eine wichtige und unverzichtbare Rolle – umso mehr, wenn wir es leugnen.

Benedikt folgt mit seinem Schritt konkret dem Aufruf Jesu: »Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, ist meiner nicht würdig« (Matthäus 10,37; auch – noch stärker – in Lukas 14,26f), oder an anderer Stelle: »Jeder, der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter, Frau, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das ewige Leben gewinnen« (Matthäus 19,29). Um das eigene Leben zu finden, ist es wichtig, das zu verlassen, das von anderen bestimmt ist, selbst oder gerade vom eigenen Vater.

Betrachten wir die Szene für einen Moment noch einmal unter dem Aspekt des »Archetyps Vater«. Wir sprechen jetzt also nicht von diesem oder jenem konkreten Vater. Denn in diesem Sinn kann auch eine Frau väterlich sein oder ein Mann weniger väterlich. Der »Vater« hat einen Plan für seinen Sohn. Am liebsten hätte er, dass er so wird wie er selbst ist. Ähnliches gilt für seine Tochter. Es gibt nicht wenige Söhne und Töchter, die den gleichen Beruf ergreifen wie ihr Vater. Väter haben in dieser Hinsicht einen sehr großen Einfluss und eine große Prägekraft. Natürlich würde ein reifer Vater auch andere Wege für seine Kinder akzeptieren, aber er will sich im Grunde selbst reproduzieren. Dagegen ist nichts einzuwenden. Mit der Richtung, die der Vater vorgibt, stärkt er den Sohn, die Tochter. Allerdings – und hier kommt unsere Geschichte ins Spiel – muss sich das Kind eines Tages vom Vater lösen und seinen ganz eigenen Weg gehen. Auch in anderen Heiligenviten wird dieser Schritt beschrieben: Franziskus erklärt im Angesicht seines Vaters vor dem Bischof von Assisi, dass er auf sein nicht unbeträchtliches Erbe von nun an verzichtet. Dabei zieht er sich nackt aus, wie um zu zeigen, dass er nun ganz er selbst werden will. Anders als Benedikt tut er es öffentlich, um der Entscheidung noch mehr Nachdruck zu verleihen. Er tut es im Angesicht des Bischofs, als wolle er deutlich machen, dass es sich hier um einen heiligen Vorgang handelt, einen Vorgang zugunsten des eigentlichen Lebens, des Lebens, zu das Gott selbst ihn ruft. Das war auch die Voraussage Jesu: Man kann ihm nicht nachfolgen, wenn man immer noch an seinem Vater hängt.

Unser irdischer Vater ist nur der »kleine« Vater. Der Vater im Himmel hingegen ist der »große« Vater, der uns den kleinen gegeben hat, damit wir in dieses Leben kommen. Unser irdischer Vater aber ist nicht Gott. Wir sind gerufen, unser eigenes Leben zu leben und nicht das unseres Vaters. Unsere Berufung ist göttlichen Ursprungs und kann von unserem irdischen Vater weder bestimmt noch weggenommen werden. Wenn der Sohn oder die Tochter in die Fußstapfen des Vaters steigen, dann ist das möglich, aber nur, wenn es auf Dauer aus ganz freien Stücken geschieht.

Der Schritt der Loslösung vom Vater (und auch, wie wir sehen werden, der von der Mutter) ist deswegen so wichtig, weil es krank macht, wenn wir das Leben oder den Wunsch eines anderen leben oder ausagieren und nicht wir selbst sind. Benedikt spürt das intuitiv und reißt sich los. Von einem offenen Konflikt mit seinem Vater hören wir nichts. Entweder gab es ihn nicht oder Gregor sah ihn nicht als wichtig an. Die Loslösung vom Vater vollzieht sich nicht selten im Konflikt. Das mag in manchen Fällen durch die direktive Art des Vaters ausgelöst sein. Und das ist auch kein Problem, solange der Streit nicht für immer anhält oder der Konflikt sich chronisch in die Seele frisst. Die Loslösungsarbeit liegt auf der Seite des Sohnes. Ob der Vater den Weggang billigt, befürwortet, segnet, ablehnt oder bekämpft, ist zweitrangig. Hier geht es um den Sohn, die Tochter. Hier geht es nur um den Sohn, nur um die Tochter. Es geht darum, dass er oder sie seinen oder ihren Weg geht, egal, was andere denken. Darin besteht die Loslösung, darin besteht die Freiheit, die uns zu uns selbst befreit und für unsere Berufung und für Gott öffnet. Solange wir unseren Vater in seinem absoluten Auftreten mit Gott verwechseln, kann es nicht gut werden mit uns.

Ich möchte noch einmal wiederholen, dass ich hier idealtypisch spreche. Auch eine Mutter kann diesen Part des Vaters innehaben für den Sohn oder die Tochter. Aber es ist gut, wenn es wirklich der Vater ist. Er dient damit seinem Sohn, seiner Tochter.

Wer seine Selbstwerdung in diesem Sinn fördern will, kann sich einige Fragen zur Meditation stellen:

Wenn ich an meinen Vater denke: Wofür bin ich dankbar?Wenn ich an meinen Vater denke: Was macht mich wütend oder traurig?Wenn ich an meinen Vater denke: Was habe ich vermisst?

Wenn wir all diese Fragen mit innerer Ruhe und Dankbarkeit beantworten können, dann sind wir losgelöst von unserem Vater. Wenn noch stärkere Emotionen da sind, können wir weiter an der Loslösung arbeiten und Gott bitten, dass er uns dabei helfe. Diese Betrachtung ergibt selbst dann Sinn, wenn unser Vater schon gestorben ist. Denn der Ärger oder die Traurigkeit können den Tod unseres Vaters überdauern. Die gesunde Loslösung von ihm ist jedenfalls archetypisch der erste Schritt zur Selbstwerdung, zum Mönch in uns selbst.

Sich von der Mutter lösen

Kapitel 1,1–3

Benedikt verlässt Rom. Aber er geht nicht allein. Jemand begleitet ihn. Freundlich, sorgend, zärtlich, vielleicht auch zuweilen bestimmend – er ist noch ein junger Mann! – ist die Amme an seiner Seite. Wir wissen nichts über Benedikts Mutter, und es war nicht unüblich im Adel, die Kinder von Ammen aufziehen zu lassen. Auf jeden Fall ist es eine Frau, eine mütterliche Person, die ihn begleitet. Und so, wie in der Geschichte in Rom der Vater eine Rolle spielte, erzählt die Geschichte nun ausführlich von dieser mütterlichen Person. Weniger von Benedikt selbst. Das ist ein Bild: Schicht für Schicht schält sich ab, was oder wer Benedikt nicht ist. Schicht für Schicht kommt seine wahre Berufung zum Vorschein.

Wir könnten dieses Buch auch unter diesem Aspekt lesen: Wie wir uns am besten von den Erwartungen der anderen lösen. Wir sind mehr als die Erwartungen der anderen. Benedikt ist mehr als die Erwartung seines Vaters. Sie ist Teil von ihm – ja, aber nicht alles. Unser Leben ist bestimmt durch die Erfüllung der Erwartungen anderer. Und das ist zunächst gar nicht negativ gemeint, sondern im soziologischen Sinn, nach dem eine Rolle sich über die Erwartungen der anderen definiert. Ich bin – Mutter, Lehrer, Ehemann, Hausbesitzer, Nachbar, Staatsbürger, Vereinsmitglied ... Überall habe ich einen anderen »Hut« auf: viele haben wir gleichzeitig auf, andere ergänzen sich gegenseitig, oft tragen wir sie gern, oft ungern, das alles ist normales Leben. Aber wir dürfen unseren inneren Kern nicht mit diesen Rollen verwechseln. Wir sind mehr als sie. Eigentlich sind wir gar nicht diese Rollen. Denn sie können sich verändern. Unsere göttliche Berufung nicht. Benedikt ist auf einen Weg geführt, auf dem sich Erwartungen auflösen und er als der Mensch, wie er von Gott geschaffen wurde, zum Vorschein kommt.

Hier also tritt die Mutter archetypisch in den Vordergrund. Sie macht einen Fehler: Sie lässt ein Sieb fallen. Keine große Sache, aber es wird eine große Sache daraus, weil die Gesamtkoordinaten der Verhältnisse nicht mehr stimmen.