Der multiple Roman - Adam Thirlwell - E-Book

Der multiple Roman E-Book

Adam Thirlwell

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Beschreibung

Adam Thirlwell, der brillanteste junge Kopf der britischen Literatur lässt uns teilhaben an seinen funkensprühenden Ideen und Gedanken: über das Glück des europäischen Romans, die Tücken des Übersetzens, die Freude am Lesen und am Leben an sich. Wir erfahren, warum die Übersetzung von ›Madame Bovary‹ ins Englische einer gewissen Miss Herbert verloren ging, was es mit Nabokovs Lieblingsreisetasche auf sich hat und wieso uns die eigene Erfahrung stets überholt. Ein kluges und witziges Buch über Schriftsteller und Sprache, über Reisen von Rio nach Triest und Prag, und darüber, dass die Literatur eine Geschichte von Leidenschaft, Verlust und Irrtum ist.

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Seitenzahl: 702

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Adam Thirlwell

Der multiple Roman

Vergangene und zukünftige Abenteuer der Romankunst, verortet auf fast allen Kontinenten, in zehn Sprachen & mit einem gigantischen Ensemble von Schriftstellern, Übersetzern & anderen Phantasiewesen

Aus dem Englischen von Hannah Arnold

FISCHER E-Books

Inhalt

Für Alison [...]Allgemeine Beschreibung des Buches im gegenwärtigen Zustand1 Erste Abfolge (Sätze)Geschichten12345Wörter123Übungen123Karikaturen12345Leben12Beweismaterial12345Flugzeug123452 Zweite Abfolge (Romane)Szenen123Zeit123Themen12345Oberflächen1234567Netzwerke1234567Unbegrenztheit12345Beseelung123453 Hommage an Laurence Sterne, mit vier MultiplesHommage an Laurence Sterne1234567891011Erstes Multiple12345Zweites Multiple123Drittes Multiple123Viertes Multiple1234 Unvollendete Hommage an Carlo Emilio Gadda12345678910115 Kurze Studien der SelbstvervielfältigungDas perfekte Werk1234567Das mangelhafte Werk1234567Die Werke1234567896 Zwei druckknopfförmige Hommagen an Bohumil HrabalErste Hommage123456789Zweite Hommage12345677 Kurze Theorien der VervielfältigungWiederholen123Überarbeiten1234567Aneignen123Weitermachen1234567Raum-Zeit12345Die Zukunft12345Übersetzen12345678 Hommage an Vladimir Nabokov in Drei Sprachen1234567899 MultiplesDie Dritte Sprache12345Der zukünftige Leser1234567Der Laden12345AnhangAbbildungsnachweiseDanksagungenBeispielmultiple oder ABCA – Историа дерущихсяB – Story of BrawlersC –

Für Alison

Allgemeine Beschreibung des Buches im gegenwärtigen Zustand

Lange verfolgte ich dieses Projekt, während meiner jugendlichen, ernsthaften Phase. Ich wollte beweisen, dass Romane in jede Sprache übertragen werden können. Im rasanten Zeitalter des Flugzeugs hatte ich den Traum, beweisen zu können, warum es sich bei Romanen um Multiples handelt. Denn obwohl dem durchschnittlichen Bürger der Flugzeug-Ära eine solche sprachliche Entortung vielleicht ganz normal vorkommt, war die Tatsache, dass ein Roman in verschiedenen Sprachen existieren kann, für mich ein Problem. Sie schien mir befremdlich. Dieses Problem zu lösen, hielt ich, in meiner romantischen Jugend, für wichtig: Es erschien irgendwie wesentlich für die zukünftige Produktion von Romanen.

Ich meine, es ist ja wohl auch nicht komplett exzentrisch und verrückt anzunehmen, dass ein Leser, der sich für einen Kenner der Romankunst hält, Krieg und Frieden gelesen haben wird und Ulysses und Madame Bovary und vielleicht zumindest einige der Ficciones von Jorge Luis Borges. Wogegen es um einiges unwahrscheinlicher ist, dass unser idealer Leser all dieser Werke, wie man sagt, im Original gelesen hat. Die Geschichte des Romans ist eine Weltgeschichte. Niemand behauptet, ein Romanexperte zu sein, wenn er nur Romane liest, die in seiner Muttersprache geschrieben wurden, sei sie Portugiesisch oder Tagalog. Und so steht der Leser, der sich das Ziel gesetzt hat, die komplizierte Romankunst zu erkunden, zuletzt zwangsläufig vor einer ganzen Lagerhalle voll mit eingeführten Gütern.

Aber vielleicht kommen euch diese Äußerungen – die ziemlich explosiv sind, wenn man sich erst einmal näher mit ihnen beschäftigt – bisher nicht ungewöhnlicher vor, als andere ganz alltägliche Wahrheiten. Also noch mal anders. Die Literatur ist eine jener seltsamen Kunstformen, deren Originale oft als Multiples wahrgenommen werden. Und, klar, das ist nicht weiter außergewöhnlich, wenn man unter einem Multiple nur eine nützliche mechanische Reproduktionsweise versteht, wie zum Beispiel die der Postkarten. Aber das Problem dieser Denkweise besteht darin, dass das Verhältnis zwischen einer Postkarte und einem Gemälde wirklich nicht das gleiche ist, wie das zwischen Übersetzung und Original. Die perfekteste Übersetzung hat auf der einen Seite genau die gleiche Größe wie das Original, das es imitiert, ist aber gleichzeitig eine völlig andere Sache – so, als imitierte man die exakten Maße von Michelangelos David und stellte ihn dann aus Wackelpudding her.

Dass das Übersetzen mit anderen Worten ein zentrales Element der Literatur ist, führt zu einer verrückten Situation, verrückter als auf den ersten Blick ersichtlich ist. Trotzdem dachte ich zuerst, mein Projekt würde auf etwas Einfacheres hinauslaufen – so etwas, wie die Versöhnung oder Abwägung zweier widersprüchlicher Annahmen im harmonischen Zusammenhang einer vollständigen Gleichung. Und diese Annahmen waren a), dass es sich bei einem Roman um eine einzigartige Abfolge linguistischer Zeichen in einer gegebenen Sprache handelt, und b), dass sich dieses einzigartige Unikat auch in jeder anderen Sprache reproduzieren lässt. So dass sich natürlich gewisse Änderungen ergäben, wenn man zum Beispiel Sätze aus dem Inuit ins Englische übertragen würde oder vom Englischen ins Japanische, aber diese Umwandlung wäre völlig unabhängig von der grundlegenden Frage der Qualität: Eine solche Umwandlung würde den Wert eines Romans als Teil einer gewissen Kunstform nicht vermindern.

Und an dieser Stelle dachte ich, ich sei bereits fertig: ein Hallelujah auf das Multiple und auf den Amateurtheoretiker.(Ein Buch, das verschiedentlich bekannt ist als Miss Herbert, The Delighted States, Mademoiselle O. Andere EXKURSE FÜR BESONDERE LESER finden sich in den Anmerkungen.)

Aber als sich die Ernsthaftigkeit meiner Jugend langsam zu lichten begann, kamen mir Zweifel, ob diese Theorie für zukünftige Produktionen wirklich schon die nützliche Maschine war, die mir vorschwebte. Vielleicht, dachte ich, war es überhaupt keine funktionierende Maschine. Denn bisher hatte mein Projekt immer den Satz als Maß für den spezifischen Romanstil vorausgesetzt. Aber ein Roman ist schließlich viel länger als ein Satz. Es ist traurig, wie offensichtlich das ist. Und ich begann mich zu fragen, ob ein Roman deshalb nicht auch sehr viel seltsamer sein musste, als ich zuerst gedacht hatte. Ein Roman ist eine gigantische, komplexe Komposition. Selbst der kürzeste Roman kann eine sehr lange Leseerfahrung sein. Und die Söge und Querverbindungen, welche durch die einmaligen Kompositionsstrukturen von Romanen entstehen, spielen Katz und Maus mit unseren herkömmlichen Vorstellungen von Zeit oder Identität oder Wahrnehmung oder Politik oder Geschichte oder Kausalität – ja, mit wirklich allem. So dämmerte mir langsam, dass mein Projekt eine verrücktere, umfassendere Philosophie benötigte: eine Auseinandersetzung mit der notwendig wackeligen Bauart auch noch der perfektesten Romankomposition.

Selbst die einzigartigste Komposition, entdeckte ich nun, ist selber immer ein Multiple. Ein Roman muss über gigantische Zeiträume hinweg entwickelt werden. Das stimmt sowohl in Bezug auf den Schreib- als auch auf den Leseprozess. Der Leser! Er war der endgültige Grund, warum ich eine neue Theorie wollte. In diesem Projekt über Schriftsteller und ihre Romane waren die Leser bisher nur Nebenfiguren gewesen. Demgegenüber war das Projekt utopisch. Es sollte eine Plattform für Kollektive sein, für globale Läden und Kioske; eine Fabrik für Romane als Inbegriff der Internationalität. Und so wurde mir klar, dass mein Projekt noch ein letztes Element miteinbeziehen musste: den abwesenden, multiplen Leser.[1]

So begab ich mich traurig zurück in mein Studio. Und rief einen neuen und vielleicht überraschenden Helden zur Hilfe, Roland Barthes: diesen Kritiker, der Romane so wenig schätzte. Denn am Ende seines Lebens, das er größtenteils dazu genutzt hatte, voll Verachtung die Tricks und Unaufrichtigkeiten der Romanform aufzudecken, änderte Barthes letztlich seine Einstellung. In Paris, der Stadt der reinen Skepsis, ging ihm auf, dass er einen Roman schreiben wollte. Er war bekehrt worden! Denn ein Roman, so begann er nun zu argumentieren, stellte eine auf radikale Weise unverfälschte Form von Literatur dar. Nur ein Roman konnte das hervorbringen, was er ohne Schamgefühl Augenblick der Wahrheit nannte. Und das lässt sich nur nachvollziehen, wenn man zugesteht, dass ein Roman »vermittels einer Art ›Zerrüttelung‹ rührt, lebt und keimt, die nur bestimmte Momente, die dann genau genommen die Gipfel sind, stehenläßt …«[1] Seine Form war überhaupt nicht ordentlich. Sie war viel spröder, als sie aussah. Und dies ist letztendlich der Grund dafür, dass ein Roman immer international sein kann. Die tiefgehendste Form eines Romans spiegelt sich nicht nur in der feingliedrigen Oberfläche seiner Sätze wieder, sondern vor allem auch an jenen Stellen, wo diese Oberfläche kollabiert und etwas zurücklässt, das man nur Augenblick der Wahrheit nennen kann.

Beflügelt durch diese neugefundene Hoffnung verfolgte ich mein Projekt in seiner finalen Form erst durch Abfolgen von Hochgeschwindigkeitsanalysen – eine philosophische Grundlagenarbeit der skurrilsten Art – und dann durch Fallstudien, Variationen, Hommagen. Und so gelang es mir, meinen utopischen Plan zu verfolgen: den internationalen und zukünftigen Roman.

Jetzt bin ich definitiv fertig. Das Zeitalter der Jugend ist für mich eindeutig vorbei. Jetzt bin ich bereit, jedes Emporium und jeden Laden auf jedem Kontinent oder Planeten aufzubauen, wo sie willkommen sind.

Et voilà, amigos: avanti.

1Erste Abfolge (Sätze)

Geschichten

1

In einer Stadt mit dem temporären Namen Leningrad schrieb ein Autor, der den Namen Daniil Charms angenommen hatte, eine Geschichte. Der erste Satz lautet wie folgt: »Eines Tages ging ein Mann zur Arbeit, und unterwegs begegnete er einem anderen Mann, der ein polnisches Weißbrot gekauft hatte und auf dem Heimweg war.« Der nächste Satz ging so: »Das ist eigentlich alles.«[2] Und tja, er nimmt sich selbst beim Wort. Hierbei handelt es sich tatsächlich um eine vollständige Geschichte von Daniil Charms, der er den schlichten Titel »Die Begegnung« gab. Das ist tatsächlich eine zweisätzige Geschichte, oder einsätzig, wenn man den zweiten Satz nicht dazuzählt – diesen zusätzlichen Moment, wenn Charms vorschnell aus seinem Versteck kommt, wie Bugs Bunny, und verkündet, dass seine Geschichte schon vorbei ist.

Aber bei dieser Erkenntnis, dass eine Geschichte und ein Satz deckungsgleich sein können, sollte ich wohl bereits innehalten.

2

In Paris, einer der Hauptstädte dieses Projekts, verfasste der Avantgardist und Essayist Roland Barthes 1966, vor den Pariser Evenements, eine Beschreibung dessen, was einen Satz ausmacht. Er versuchte, Sätze so abstrakt wie möglich zu beschreiben. Ein Satz, schrieb er, bestehe aus bestimmten Kernen, die ein logisches Netzwerk bilden. Dann füllten andere Einheiten diese Struktur aus, »nach einem im Prinzip endlosen Wucherungsmodus«. Und so, schrieb Barthes, »gilt dies auch für den Satz, der aus einfachen Ur-Teilen besteht und durch Duplikationen, Füllsel, Umhüllungen usw. endlos kompliziert wird: die Erzählung ist, wie der Satz, endlos katalysierbar.« Und übrigens, fügte er hinzu, existiere bereits das Diagramm eines Satzes –, ein Gedicht, Un coup de dés, das gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts von Stéphane Mallarmé geschrieben worden war: ein Wunder der Typographie – dessen Layout die minutiösen Satzstrukturen von Mallarmés Grammatik imitierte. Wer könne dies bezweifeln, fragte Roland Barthes, im vorrevolutionären Paris? Es sei ein Gedicht, »das mit seinen ›Knoten‹ und ›Bäuchen‹, seinen ›Knoten-Wörtern‹ und ›Klöppel-Wörtern‹ als Emblem jeder Erzählung und jeder Sprache gelten kann«.[3]

3

Natürlich schafft die Tatsache, dass ein Satz ein unendliches Netzwerk ist, erhebliche Probleme für alle, die ihre Zeit damit verbringen, sich Sätze auszudenken: Sie erschwert sogar die Bildung von nur zweien. So traf beispielsweise 1918 ein Mann namens Frank Budgen in der Bahnhofstraße in Zürich eines Abends seinen Freund, einen Mann namens James Joyce. Joyce trug einen braunen Überzieher, den er bis zum Kinn zugeknöpft hatte. Zusammen gingen sie zum Café Astoria, schreibt Budgen:

Ich erkundigte mich nach dem Ulysses. Kam er voran?

»Ich habe den ganzen Tag über hart daran gearbeitet«, sagte Joyce.

»Heißt das, daß Sie viel geschrieben haben?«, fragte ich.

»Zwei Sätze«, sagte Joyce.

Ich blickte zur Seite, aber Joyce lächelte mich an. Ich dachte an Flaubert.

»Sie waren auf der Suche nach dem mot juste?«, fragte ich.

»Nein«, sagte Joyce. »Die Wörter habe ich bereits. Ich suche nach der vollkommenen Anordnung der Wörter im Satz. Es gibt eine in jeder Beziehung angemessene Anordnung. Ich glaube, ich habe sie gefunden.«[2][4]

4

Ein Jahr nach seiner ersten abstrakten Beschreibung des Satzes arbeitete Barthes wieder an einem Aufsatz über Sätze, in dem Gustave Flaubert als leidender Held vorkam. Barthes stellte sich die Qualen vor, die ein Schriftsteller vor der leeren Seite erdulden mochte. Schließlich gab es aus seiner Sicht zwei primäre Ansatzpunkte für die Konstruktion eines Romans: die Anordnung der Teile und die Anordnung eines jeden Satzes. Flaubert stellte einen speziellen Fall des Satzproblems dar. Denn er hatte einen Korrekturfimmel. Und daher, schrieb Barthes, musste Flaubert der Tatsache ins Auge sehen, dass die Veränderung eines Satzes auf drei verschiedene Arten geschehen konnte: Man konnte ein Wort austauschen, man konnte ein Wort streichen, und man konnte ein Wort hinzufügen. Während man sich beim Austauschen grob an die semantischen Regeln zu halten hatte und das Streichen auf gewisse Weise dadurch eingeschränkt war, dass letztendlich noch einige Wörter übrigbleiben mussten, damit überhaupt ein Satz existierte, gab es natürlich keine obere Grenze für die Ausdehnung eines Satzes. Und so konnte Barthes zu seiner ersten Schlussfolgerung über Sätze kommen, nämlich, dass »der mit dem Satz konfrontierte Autor die endlose Freiheit der Sprache erlebt, die selbst in der Struktur der Sprache einen tiefen Eindruck hinterlassen hat«.[5] Dies sei eine Qual für den Schriftsteller, vermutete Barthes: Es sei atroce. Denn früher habe es noch Regeln gegeben, um die im Satz versteckte Freiheit einzuschränken. Diese Regeln wurden Rhetorik genannt. Doch mittlerweile war man von der Rhetorik, von ihren willkürlichen Vorschriften und Schemata, abgekommen. Sobald die Rhetorik keine Rolle mehr spielt, bleibt nur noch der Schriftsteller zurück, völlig frei vor dem Satz. Und diese Freiheit ist schwindelerregend. Sie ist tödlich.

5

Diese aufreibende, erschöpfende Freiheit ist der Grund dafür, dass man bei allen Recherchen über die Produktion internationaler Romane früher oder später auf müde Schriftsteller stößt. Zum Beispiel im Rahmen dieser bekannten kleinen Geschichte über Gustave Flaubert und seinen Protegé, Guy de Maupassant: Um Maupassant die Kunst des Schreibens beizubringen, schickte Flaubert ihn in die Straßen von Paris, mit dem Auftrag, einen Krämer oder einen Portier oder einen Kutschenstand so zu beschreiben, »dass ich sie mit keinem anderen Krämer, keinem anderen Portier verwechsle; machen Sie mir durch ein einziges Wort deutlich, wodurch sich ein Droschkenpferd von fünfzig anderen, die ihm folgen und voraufgehen, unterscheidet.«[6]

Es ist eine traurige Geschichte, eine etwas verrückte Geschichte vielleicht, und sie hat ihr eigenes, von der Geschichte improvisiertes Multiple.

Bevor James Joyce in Zürich lebte, verbrachte er einige Zeit in Triest. Dort verdiente er sich sein Geld damit, Englisch zu unterrichten. Die englische Sprache unterrichtete er genau so, wie Flaubert die Kunst des französischen Romans unterrichtete: mit Hilfe von Beschreibungen.[3] Sein berühmtester Schüler war ein Mann namens Ettore Schmitz. Wobei er nicht unter diesem Namen berühmt war; allerdings durch den, mit dem er seine Romane unterschrieb: Italo Svevo. Weil Svevo oft geschäftlich nach England reisen musste, begann er 1906 bei James Joyce Englischunterricht zu nehmen. Und Joyce stellte auch Svevo seine berüchtigten Beschreibungsaufgaben. Diesmal sollte er seinen Lehrer selbst beschreiben. Natürlich hatte Joyces Lehrmethode das Ziel, zwei Probleme gleichzeitig zu behandeln: die Schwierigkeit, in einer Fremdsprache zu schreiben, und die, in jeder Sprache so zu schreiben, dass die Wirklichkeit für den Leser erhalten bleibt. Anders gesagt, seine Aufgaben waren sowohl Englischübungen – und Schmitz’ Englisch hatte diese dringend nötig – als auch Übungen im Romanschreiben, in der Kunst des Erschaffens von Charakteren in Prosa:

When I see him walking on the streets I always think that he is enjoying leisure a full leisure. Nobody is awaiting him and he does not want to reach an aim or to meet anybody. No! He walks in order to be left to himself. He does also not walk for health. He walks because he is not stopped by anything. I imagine that if he would find his way barred by a high and big wall he would not be shocked at the least. He would change direction and if the new direction would also prove not to be clear he would change it again and walk on his hands shaken only by the natural movement of the whole body, his legs working without any effort to lengthen or to fasten his steps. No![7][4]

Und da haben wir Joyce: verewigt, in Triest. Denn so ist er jetzt immer noch real – als inspirierte Abfolge ungrammatischer linguistischer Zeichen.

Wörter

1

Ich bin kein Semiotiker, ich bin Schriftsteller. Aber ich finde, dass dieses italienische Englisch von Italo Svevo eine kurze philosophische Exkursion verdient. Es ist allseits bekannt, dass der schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure die bekannteste Definition des Wortes als Zeichen prägte. Ein Wort, so argumentierte er, habe eine besondere Struktur: die Kombination eines Signifikanten – einer phonetischen Bezeichnung – mit einem Signifikat – einer Bedeutung. Und diese Definition erlaubte ihm, seinen berühmten Schluss zu formulieren, dass die Beziehung zwischen diesen zwei Aspekten eines Zeichens beliebig ist: Es gibt keinen inwendigen Grund, warum ein spezieller Signifikant mit einem bestimmten Signifikat vernetzt sein sollte. Aber dies erklärt immer noch nicht, warum einige Zeichen akkurater sind als andere. Es erklärt letztendlich nicht, warum einige Sätze präziser sind als andere.

Schließlich ist ein Zeichen natürlich nicht identisch mit der bezeichneten Wirklichkeit: Ein Zeichen ist etwas Zusätzliches. Etwas Zusätzliches zu sein, macht sogar sein Wesen aus. Und während dies im Paris der späten 1970er Jahre Roland Barthes davon überzeugte, dass es nie eine wirkliche Übereinstimmung zwischen Sprache und Wirklichkeit geben würde, weil »man eine mehrdimensionale Ordnung (das Wirkliche) nicht mit einer eindimensionalen Ordnung (der Rede) zur Deckung bringen kann«, bin ich mir da weniger sicher.[8] Oder vielmehr, bin ich nicht sicher, dass das Problem an dieser Stelle aufhört. Es kommt mir vor wie eine zu einfache Ausflucht.

2

In seinem Buch über die Fotografie, das er 1980 veröffentlichte und das sein letztes werden sollte, schweift Barthes einen Moment lang ab und vergleicht die Fotografie mit der Sprache. Eine Fotografie, schreibt er, sei immer eine Art Beweis dafür, dass etwas einmal existiert habe: Eine Fotografie kann nicht existieren, ohne dass vorher etwas Wirkliches fotografiert worden war. Während etwas in einem Satz existieren konnte, ohne im wirklichen Leben zu existieren. Und dies war »das Unglück (vielleicht auch die Wonne) der Sprache: dass sie für sich selbst nicht bürgen kann«. Und so, fügte Barthes hinzu, lag ein Charakteristikum von Sprache »vielleicht in diesem Unvermögen oder, um es positiv zu wenden: die Sprache ist ihrem Wesen nach Erfindung; will man sie zur Wiedergabe von Tatsächlichkeiten befähigen, so bedarf es eines enormen Aufwands«.[9]

Und vielleicht stimmt dies, auf gewisse Weise – vielleicht kann Sprache nie für sich selbst bürgen, so wie es eine Fotografie kann (obwohl selbst eine Fotografie nicht immer immun gegenüber Fiktionalität ist). Aber vielleicht ist eher dieser Wunsch nach Sicherheit selbst unnötig: Vielleicht braucht kein Leser diese Art Sicherheit, um daran glauben zu können, dass Wörter wahrheitsgetreue Zeichen sein können.

3

Und unter uns: Man kann mit mehr persönlichem Einsatz über Wörter nachdenken. Wie zum Beispiel Roman Jakobson, der vor den Kommunisten von Leningrad nach Prag floh, wo er 1934 in seinem Aufsatz »Was ist Poesie« die Auffassung vertrat, das verbale Zeichen in der Literatur sei immer doppeldeutig: das Zeichen sei zwar identisch mit seinem Objekt aber gleichzeitig auch nicht. Und dies sei kein Problem, schrieb Jakobson. Ganz im Gegenteil. Dies erst erlaube einem Zeichen überhaupt, treffend zu sein, weil

neben dem unmittelbaren Bewußtsein der Identität von Zeichen und Gegenstand (A gleich AI), auch das unmittelbare Bewußtsein der unvollkommenen Identität (A ungleich AI) notwendig ist; diese Antinomie ist unabdingbar, denn ohne Widerspruch gibt es keine Bewegung der Begriffe, keine Bewegung der Zeichen, die Beziehung zwischen Begriff und Zeichen wird automatisiert, das Geschehen kommt zum Stillstand, das Realitätsbewußtsein stirbt ab.[10]

Diese Aussagen sind vor dem Hintergrund zu lesen, dass Jakobson den Fortbestand der literarischen Revolution sichern wollte. Denn die kommunistischen Revolutionäre in Leningrad und Moskau waren erpicht darauf, dass diese Art der literarischen Aktivität ausstarb, – so dass seine Logik mich an die absurden Theaterstücke und rationalistischen Aufsätze von Václav Havel in Prag erinnern, dreißig oder vierzig Jahre später, und auch an einen Aufsatz, den Milan Kundera 1979 in Paris schrieb, um Havel zu verteidigen, nachdem dieser von dem sowjetisch geführten Regime verhaftet worden war, in dem Kundera also schrieb, dass Havels Bestreben, in seinem Werk wie auch in seinem Leben, schlicht das gewesen sei, Wörter dazu zu bringen, das zu bedeuten, was sie audrückten – ja, trotz dieser schwierigen politischen Hintergründe, denke ich nicht, dass die potentielle revolutionäre Energie, die in Jakobsons Vorschlag enthalten ist, durch die politischen Umstände gemindert werden kann. Jakobson argumentiert, dass es gerade der Abstand zwischen einem Zeichen und der Realität ist, der es zu einem so effektiven Werkzeug ihrer Beschreibung macht. Und das ist ein geradezu explosiver Gedanke.

Übungen

1

Aber ich brauche noch einen Helden. Und ich habe einen Helden: Sein Name ist Raymond Queneau.

2

Raymond Queneaus Exercices de style (Stilübungen) wurden 1947 in Paris veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt kannte man Queneau als Schriftsteller. Bald sollte er seinen berühmtesten Roman schreiben: Zazie dans le métro (Zazie in der Metro). Aber gleichzeitig war Queneau auch Dichter, Mathematiker und Lektor bei Gallimard. Und später wurde er zusammen mit Georges Perec, Italo Calvino und weiteren Schriftstellern Mitglied der literarischen Gruppe OuLiPo, der Ouvroir de Littérature Potentielle. Aber 1947 wurde Queneau mit einem Schlag wegen dieses Buches berühmt: seinen Stilübungen. Der unvorbereitete Leser könnte es zunächst für eine Sammlung winziger Geschichten halten. Die erste Geschichte, »Angaben«, hört sich so an:

Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren, weicher Hut mit Kordel anstelle des Bandes, zu langer Hals, als hätte man daran gezogen. Leute steigen aus. Der in Frage stehende Kerl ist über seinen Nachbarn erbost. Er wirft ihm vor, ihn jedes Mal, wenn jemand vorbeikommt, anzurempeln. Weinerlicher Ton, der bösartig klingen soll. Als er einen leeren Platz sieht, stürzt er sich drauf.

Zwei Stunden später sehe ich ihn an der Cour de Rome, vor Gare Saint-Lazare, wieder. Er ist mit einem Kameraden zusammen, der zu ihm sagt: »Du solltest dir noch einen Knopf an deinen Überzieher nähen lassen.« Er zeigt ihm wo (am Ausschnitt) und warum.[11]

Die nächste Geschichte aber zeigt, warum es sich hier eindeutig nicht um eine Kurzgeschichtensammlung handelt, überhaupt nicht. Ihr Titel ist »Verdoppelung«.

Gegen Mitte des Tages und am Mittag befand ich mich und stieg ich auf die Plattform und die hintere Terrasse eines überfüllten und fast besetzten Autobusses und Gemeinschaftstransportfahrzeuges der Linie S und der von der Contrescarpe nach Champerret fährt.[12]

Und so weiter, lieber verdoppelter Leser …

So etwas Verrücktes! Queneaus Buch wiederholt die gleiche Geschichte 99 Mal; jedes Mal in einem anderen Stil, einem anderen Modus. Die Veränderungen sind rhetorischer Art (»Litotes«), generischer (»Klappentext«), grammatikalischer (»Passiv«) oder metrischer (»Alexandriner«), oder einfach ein Stimmungswechsel (»Nobel«, »Ungeschickt«). Es ist ein Buch sprachlicher Effekte.

3

Und hier ist der Grund, warum Queneau mein Held ist: Während es so scheinen mag, als führe er mit seinen Übungen die Willkür der Zeichen vor, aus denen Sprache besteht – ihre Beweglichkeit –, denke ich, dass er mit diesem Experiment in Wirklichkeit noch etwas anderes zeigt: Dass die gleiche Geschichte eine jeweils andere Geschichte sein kann, je nachdem, aus welchen Wörtern sie zusammengesetzt ist. Selbst die kleinste Änderung führt zu einer neuen Projektion der Realität.

Karikaturen

1

Vielleicht lässt sich dies auf noch ulkigere Weise zeigen. Ein Satz ist wie eine Skizze oder eine Karikatur.

2

Nachdem sein Roman der veräußerlichten Form, Tristram Shandy, dessen erste Bände 1759 erschienen waren, zu einem Riesenerfolg geworden war, bat der englische Schriftsteller Laurence Sterne den Künstler William Hogarth, zwei Frontispize anzufertigen, die jeweils eine Szene aus dem Roman darstellen sollten. Teils äußerte Sterne diesen Wunsch wohl, weil Hogarth eine Berühmtheit war. Sterne hatte eine Schwäche für Berühmtheiten. Aber es gab auch einen weniger offensichtlichen Grund: Hogarth und Sterne teilten dieselbe avantgardistische Ästhetik. Beide glaubten daran, dass Kunst Tempo haben sollte, dass die Welt schnell und zielgerichtet durch Zeichen verbessert werden konnte. Denn obwohl Hogarth seine Gemälde und Kupferstiche mit urbanen Details vollpackte, war er gleichzeitig berühmt für seine Ökonomie: Ja, er war berühmt für seine Karikaturen. Mit drei Strichen konnte er das gleiche Ergebnis erzielen wie mit dreihundert. Und so schrieb Sterne:

Denkt Euch die kurze, plumpe, ungehobelte Gestalt eines Dr. Slop, von ungefähr viereinhalb Fuß perpendikularer Höhe, mit einem breiten Kreuz und einem sesquipedalischen Bauch, der einem Sergeanten beim Garde-Kavallerie-Regiment alle Ehre gemacht hätte.

Dies waren die Umrisse von Dr. Slop’s Gestalt, die sich, wie Euch bekannt sein muß – falls Ihr Hogarth’s Analyse der Schönheit gelesen habt, und wo nicht, so wünscht’ ich Ihr tätet’s –; eben so gewiß durch drei Striche karikieren und der Vorstellung vermitteln läßt, als durch dreihundert.[13]

Wie auch Hogarth fand Sterne die Vorstellung langweilig, dass eine Darstellung den Eindruck geben solle, ihren Gegenstand erschöpfend zu beschreiben. Ihn interessierten jene Wahrheiten, die man nur über Abkürzungen erreichen kann. Eine weitere Hommage an Hogarth findet sich in diesem Vergleich Dr. Slops mit einem »Sergeanten«. Nach Aussage eines zeitgenössischen Biographen war Hogarth von der Tatsache fasziniert, dass sich eine Person mit viel weniger Zeichen darstellen lässt, als man zuerst denken mochte. Er ging so weit zu behaupten, man könne einen Sergeanten mit einer Pike, der mit seinem Hund in ein Bierhaus geht, einfach mit drei geraden Strichen zeichnen:

A. The perspective line of the door.

B. The end of the Serjeant’s pike, who is gone in.

C. The end of the Dog’s tail, who is following him.

There are similar whims of the Caracci.

Diese Zeichnung ist eine Provokation, eine Revolution in der Kunst der Zeichen. Die Kunst der Karikatur ist nicht leicht von der Kunst der Charaktere zu unterscheiden. Das ist es, was Hogarth beweisen wollte und was auch Sterne verstand. Die Kunst der Darstellung ist viel paradoxer, als die Menschen generell zu denken scheinen. Sie war sowohl offen für dichte Detailanordnungen als auch für bloße Skizzen.[5] Die ästhetische Grundannahme von Sternes Roman war die, dass eine klare Anerkennung der Künstlichkeit eines Zeichens dieses keineswegs daran hindert, Momente der Wahrheit zu schaffen. Um dies zu beweisen, konnte man, wenn man wollte, einen Satz sogar mit eigenen Karikaturen unterbrechen. So wie im Fall von Tristrams Versuch Corporal Trims Versuch, das Junggesellenleben zu beschreiben:

»Solang’ ein Mann frei ist – rief der Korporal und schwung seinen Stock also –

Ein ganzes Tausend der allerscharfsinnigsten Syllogismen meines Vaters hätten nicht beredter für die Ehelosigkeit sprechen können.«[14]

3

Es gibt keine natürlichen Zeichen – eine Karikatur ist nicht wirklicher als ein Satz: Aber gleichzeitig muss etwas nicht unwahr sein, nur weil es ein Zeichen ist. So lässt sich die modernistische Weisheit von Laurence Sterne zusammenfassen, die er zweihundert Jahre zu früh erkannte. Ich meine – dem kommt erst wieder Picasso nahe.

Im Gespräch mit dem Fotografen Brassaï sagte Picasso einst unbedarft, er strebe immer danach »Ähnlichkeiten darzustellen. Ein Maler muss die Natur beobachten, darf sie aber nie mit der Malerei verwechseln. Nur durch Zeichen kann Natur in Malerei übersetzt werden.«[15] So ist beispielsweise in der 1912–1913 von Picasso geschaffenen Collage Flasche und Glas die Flasche mit Kohle umrissen. Und diese Flasche ist halb voll. Wir wissen, dass sie halb voll ist, weil ein spitz zulaufendes Stück Zeitungspapier, ausgeschnitten und in den Umriss der Flasche geklebt, die Form der Flasche zur Hälfte ausfüllt. Ein Maler muss die Natur beobachten, darf sie aber nie mit der Malerei verwechseln: Sie kann nur mit Hilfe von Zeichen in Malerei übersetzt werden. Die Zeitung sieht nicht aus wie Wein, aber wir deuten sie als Wein. »Man erfindet ein Zeichen nicht«, fuhr Picasso fort, in seinem Gespräch mit Brassaï. »Man muss genau auf die Ähnlichkeit zielen, um zu dem Zeichen zu kommen.«[16] Gegenüber seiner Frau, Françoise Gilot, formulierte Picasso noch präziser: »Das papier collé war in Wirklichkeit die große Entdeckung«, sagte er. »Das Zeitungsblatt wurde niemals benutzt, um eine Zeitung daraus zu machen, sondern um zu einer Flasche oder etwas Ähnlichem zu werden. Es wurde niemals buchstäblich, sondern immer als ein Element benutzt, das von seiner gewöhnlichen Bedeutung in eine andere Bedeutung verwiesen wurde.«[17] Wie eine Metapher hatte das Stück Zeitungspapier, mit seinen gedruckten Wörtern, in Picassos Collage mehrere Funktionen. Es war da, um zu zeigen, wie viel das Auge ignorieren und vereinfachen kann, auf der Suche nach Ähnlichkeit zur Realität. Es war ein Scherz, der die nicht reduzierbare Künstlichkeit des Bildes bestätigte – und, gleichzeitig, auch seine realistische Präzision.

Auf gleiche Weise waren Sternes Bilder und Diagramme für ihn eine Möglichkeit zu bestätigen, dass alles letztendlich nur ein Zeichen ist, denn ein Roman ist nicht realer als ein Bild – aber beide sind gleichzeitig wahr. Ähnlich verfuhr ein anderer akrobatischer Künstler, Saul Steinberg, der einst seine »bauhausige Philosophie der Verwandelung von Geschriebenem in Gemaltes …«, seinen Gebrauch der Linie »als eine Form des Schreibens« beschrieben hatte.[18]

Das ist, denke ich, kein Widerspruch.

4

Vielleicht sollte ich länger bei Saul Steinberg verweilen, im Zusammenhang dieses Kapitels über Wörter als Karikaturen.[6] Denn Steinbergs eigenem Begriff von seinem Künstlertum zufolge, war er Schriftsteller: »Mein Bild vom Künstler, Dichter, Maler, Komponisten etc. ist der Schriftsteller.«[19] Es mag einem seltsam vorkommen, dass ein Künstler die Schriftsteller so verehrt. Aber Steinbergs Kunst ist ein Triumph des Intellektuellen: Sie ist gekennzeichnet durch eine Inversion, die sich dadurch ergibt, dass Spuren auf flachem Papier als real angesehen werden, aber Menschen und Objekte als unwirklich: Wirklich ist nur Handschrift, ist Kalligraphie. Und deshalb können in seiner Zeichnung »Erotica I« die Zahl 5 und ein Fragezeichen Sex haben, pornographisch ineinander verschlungen, auf einem Bett. Oder in seinem »Graph Paper Architecture«, wo er aus Millimeterpapier das realistische Porträt eines Wolkenkratzers machte, mit seinen präzisen endlosen Fenstern, indem er eine Markise über dessen Tür auf den Gehweg zeichnete.[7] Steinbergs Kunst ist metaphorisch: In ihr ist jede Linie kurz davor, wirklich zu werden. Und so überrascht es vielleicht nicht, dass eines seiner Lieblingswerke Nikolai Gogols Erzählung »Die Nase« war. Diese Geschichte, in der die Nase eines Mannes in Sankt Petersburg ein Eigenleben entwickelt; diese Geschichte, in der das Unmögliche wahr wird. Es überrascht auch nicht, dass für Steinberg der Schriftsteller der Inbegriff des Künstlers war. Denn seine Kunst der buchstäblichen Zeichen machte Steinberg gewissermaßen zu einem Schriftsteller, der eben einfach keinen Roman geschrieben hat. Dafür erfand er neue ökonomische Techniken, um die Realität zu beschreiben.

Und wie von jedem Schriftsteller – wie groß er auch sein mag – war seine Kunst eine Kunst der Abkürzungen: des Redigierens und Kürzens.

Gegen Ende seines Lebens, um 1989, arbeitete Steinberg an Fotografien europäischer Städte: Bukarest, Brest, Buzău, Moskau, Heidelberg, Lille, Avignon. Aber natürlich handelte es sich nicht um normale Fotografien. Erstens waren es Reproduktionen alter Postkarten; und außerdem hatte er sie stark vergrößert. In der New Yorker Illustrierten Grand Street stellte Steinberg ein Portfolio dieser vergrößerten Postkarten zusammen: eine Abfolge von Details, in ihrer neuen, vergrößerten Form, mit dem Titel »DOGS«. Denn in jedem der Riesenbilder, jeder Straßenszene, hatte Steinberg ein wiederkehrendes, zufälliges Detail entdeckt, Hunde. Sie waren alle zufällig ins Bild geraten. Sie waren Hintergrund. Doch plötzlich waren sie alles. Ich liebe diese Hunde sehr – denn dieses internationale Hundeprojekt war Steinbergs großes Projekt der Detailkunst –, seine Hommage an die Wahrheit der zurechtgestutzten und künstlichen Bilder.

5

Die Wahrheit der Karikatur zieht aber auch gewisse Konsequenzen nach sich: beispielsweise die Unmöglichkeit, zu beschreiben, wie diese Zeichen funktionieren – diese wunderbaren Zeichen, die wir Karikaturen nennen oder auch Sätze … Denn wenn künstlerisches Talent darin bestünde, Miniaturzeichen zu schaffen, die uns wie Wahrheiten vorkommen, dann lässt sich nur schwerlich erkennen, was noch für die Interpretation zu tun bliebe. Es bleibt kein Freiraum, in dem sich Wortbedeutungen ausbreiten könnten. Denn Bedeutung leidet an Fettleibigkeit.

Dies war das ungezügelte Ideal der Moderne, wie Gustave Flaubert es nannte – der bekanntlich an seine Geliebte, Louise Colet, schrieb, »was ich machen möchte, das ist ein Buch über nichts, ein Buch, das an nichts Äußerem hängt, das sich durch die innere Kraft seines Stils von selbst hält, so wie sich die Erde, ohne gestützt zu werden, in der Luft hält, ein Buch, das fast kein Thema hätte, oder in dem das Thema beinahe unsichtbar wäre, wenn das möglich ist«.[20] Diese Aussage ist Flauberts Lesern manchmal undurchsichtig vorgekommen. Aber vielleicht ist sie letztendlich gar nicht so seltsam. Flaubert versuchte nur, ein ihm vollkommen erscheinendes Kunstobjekt zu beschreiben: ein Werk, das ganz ohne Botschaft auskäme, das reine Oberfläche wäre.

Und die logischen Schlussfolgerungen dieser Vision von moderner Strenge sind in der Tat sehr seltsam. Beispielsweise würden sowohl die Literaturkritik als auch die Belletristik zu Übungen größter Plattheit werden –, wie das Doppelwerk des Pariser Kritikers und Anarchisten Félix Fénéon. Fénéon schrieb zwei bedeutende Bücher: zwei Zwillinge. Das erste hieß Les Impressionistes en 1886.[8] Es war eine Beschreibung der neuen Kunstform von Seurat und seinen Freunden, der unbändigen anarchistischen Oberflächen ihrer pointillistischen Tupfenbilder. Und im Einklang mit ihrer auf gelassene Weise reduktiven Malerei erfand Fénéon seinen eigenen körnigen Stil: die schnellste Kurzschrift der Welt mit einer minimalen Anzahl an Verben, verdrehtem Satzbau, und allem, was sonst gerade noch so passte: eine Sprachanarchie voller trockenem Humor. Drei Jahre später veröffentlichte er ein weiteres Buch namens Nouvelles en trois lignes. Bei diesen Nouvelles handelte es sich um dreizeilige Erzählungen, die regelmäßig in der im Oktober 1905 gegründeten Zeitung Le Matin erschienen. Im Mai 1906 wurde Fénéon ihr Sonderberichterstatter. Aber anstatt diesen Trend der Reportage im telegrafischen Stil weiter zu verfolgen, dachte er sich seine Geschichten einfach selbst aus. Seine Nouvelles waren nicht mehr länger Nachrichten; jetzt waren sie Romane. Sie waren auf der Oberfläche der Dinge angesiedelte Übungen.

Aus Verzweiflung über den Bankrott eines Schuldners hat sich M. Arturo Ferreti, Geschäftsmann in Biserta, mit seinem Jagdgewehr erschossen.[21]

Kurz wie sie sind, folgen diese Geschichten nicht der herkömmlichen Struktur von Erzählungen mit ihren Ereignisketten und ihrem moralischen Sinngehalt: ihrem sentimentalen Glauben an Länge, und somit an Tiefgründigkeit. Stattdessen geht es in diesen Geschichten um nichts als sie selbst.

Ja, wenn man genug Talent hat, kann man etwas erfinden, das nur auf der wörtlichen Ebene wirkt. Kritiker sind dann nicht mehr notwendig. Es existiert nur Oberfläche: Sätze von absolutem Leichtsinn, die reinen Karikaturen.

Leben

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Es erfordert nicht viel – sich die Realität in Worten zu denken. Obwohl, nein: Ich ziehe Wörter vor, die noch weniger schick sind, als »Realität«. Ich mag lieber Ausdrücke wie »das Wahre«. Und eigentlich ziehe ich sogar die Konzepte des »Lebendigen« und des »Toten« vor. Also: Es erfordert nicht viel – etwas wahrhaftig Lebensähnliches zu erfinden, etwas von großer Lebhaftigkeit. Es erfordert nur das kleinste Ausschweifen eines Satzes. Eine Erzählung kann winzig sein, und trotzdem eine ganze Welt erschaffen. Ich denke hier speziell an einen Schriftsteller, den ich sehr schätze: den guatemaltekischen Schriftsteller Augusto Monterroso, der Kurzgeschichten schrieb und nach einem Coup gegen die Árbenz-Regierung im Exil in Mexiko lebte. Im Exil schrieb Monterroso eine Geschichte namens In Klammern.

Manchmal in der Nacht – überlegte bei der Gelegenheit der Floh –, wenn ich schlaflos liege und wach wie jetzt lese, unterbreche ich die Lektüre mit einer Klammer, denke an meine Arbeit als Schriftsteller und stelle mir, während ich lange an die Decke schaue, kurz vor, ich wäre oder könnte ab morgen, wenn ich es mir ernsthaft vornähme, sein wie Kafka (ohne dessen ständige Plackerei für ein halbwegs würdiges Auskommen) oder wie Cervantes (ohne die Drangsal der Armut) oder wie Catull (selbst entgegen oder vielleicht gerade wegen seiner Neigung, an den Frauen zu leiden) oder wie Swift (ohne den drohenden Wahnsinn) oder wie Goethe (ohne sein trauriges Schicksal, sich den Lebensunterhalt bei Hof zu verdienen) oder wie Bloy (trotz seines beharrlichen Drangs, sich für die Huren zu opfern) oder wie Thoreau (nichts zum Trotz) oder wie Sor Juana (allem zum Trotz); niemals Anonym; immer Lui Même, das Höchste vom Höchsten allen irdischen Ruhms.[22]

Mit dieser Parenthese, die wiederum eine eigene Abfolge trauriger Parenthesen umschließt, lässt Monterroso einen großen Ehrgeiz entstehen, und gleichzeitig eine ganze Geschichte über die Grenzen dieses Ehrgeizes. Er erschafft ein vollständiges Leben.

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Aber dies ist nicht die einzige Möglichkeit, etwas Riesiges durch etwas Winziges zu erzeugen. Monterrosos Parenthese, seine Untersuchung der kleinen Aufregungen und Schnörkel, die in ganz normale Sätze eingebaut sind, hat eine ganz eigene polygenetische Abstammung.

Kurz nachdem Vladimir Nabokov in Amerika angekommen war, um sich vor der todbringenden Herrschaft der Nazis und Kommunisten in Europa zu retten, schrieb er ein Buch über den russischen Prosaschriftsteller Nikolai Gogol. In diesem Buch beschrieb er eine der Methoden, mit deren Hilfe Gogol in seinem Roman Die toten Seelen die Grenze zwischen dem Lebendigen und dem Toten neu absteckt – durch Gogols Technik, Randfiguren zu schaffen, die »aus den Nebensätzen seiner zahlreichen Metaphern, Vergleiche und lyrischen Ausbrüche auf[tauchen]. Wir werden Zeuge des bemerkenswerten Vorgangs, daß reine Redefiguren Lebewesen erzeugen.« Nabokov gibt dem Leser ein Beispiel:

Selbst das Wetter hatte sich entgegenkommend der Szenerie angepaßt: Der Tag war weder heiter noch trübe, sondern von jener blaugrauen Farbe, wie man sie an den Uniformen von Garnisonssoldaten findet, die im übrigen recht friedfertige Kriegshelden sind, wenn man von ihrem beschwipsten Zustand an Sonntagen absieht.

Der Trick, schreibt Nabokov,

besteht darin, daß er das Wort »wprotschem« (»im Übrigen«, »sonst«, »d’ailleurs«) benutzt, das allenfalls eine grammatische Klammer ist, aber hier logisches Bindeglied zu sein vorgibt, und lediglich die Vokabel »Soldaten« liefert einen schwachen Vorwand für die Juxtaposition von »friedfertig«; kaum aber hat die Phantombrücke »wprotschem« ihr Zauberwerk getan, da torkeln unsere sanftmütigen Kriegsmannen auch schon über sie hinweg und grölen sich in jene Randexistenz hinein, die uns inzwischen bekannt ist.[23]

Sie geschieht so schnell, diese Erweiterung von Gogols Simile: Aber in diesem kurzen Moment spielt sich ein gewaltiger Prozess der Belebung ab.

Dieser Prozess der Belebung wird in Zukunft mit der Technik von Saul Steinbergs vergrößerten Hintergrundhunden in Verbindung gebracht werden, so wie er auch – um bei der Geschichte der Belletristik zu bleiben – mit etwas verwandt ist, das Denis Diderot in seiner Erzählung »Die beiden Freunde aus Bourbonne« beschreibt, deren zweite Hälfte eigentlich reine Literaturtheorie ist. Um eine Erzählung wahr erscheinen zu lassen, so Diderot, muss ein Autor der Oberfläche seiner Geschichte einen so großen Detailreichtum verleihen, »so einfache, so natürliche und doch so schwer vorstellbare Züge, dass ihr gezwungen seid, Euch zu sagen: Meiner Treu, das ist wahr! Dergleichen Dinge erfindet man nicht!«[24] Diderot bietet dem geistig weniger beweglichen Leser einen Vergleich mit der Malerei an:

Ein Künstler malt auf die Leinwand einen Kopf; alle Formen sind kraftvoll, groß und regelmäßig; es ist das vollkommenste, auserlesenste Ganze. Betrachte ich es, fühle ich Ehrfurcht, Bewunderung, Schrecken; ich suche das Modell in der Natur und finde es nicht; im Vergleich hierzu ist alles schwach, klein und armselig. Es ist ein idealer Kopf, das fühle ich; das sage ich mir … Aber der Künstler lasse mich eine kleine Narbe an der Stirn dieses Kopfes wahrnehmen, eine Warze an einer seiner Schläfen, eine unmerkliche Spalte auf der Unterlippe, und sogleich wandelt sich der Kopf vom Ideal, das er war, zum Porträt; einige Pockenspuren im Augenwinkel oder neben der Nase, und dieses Frauengesicht ist nicht mehr das der Venus; es ist das Porträt einer meiner Nachbarinnen.[25]

1771 hatte Diderot – mit seiner blassen Narbe auf der Stirn und einer Warze an der Schläfe – die Kunst der magischen Belebung des Details entdeckt.

Beweismaterial

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Und dann begannen sich die Zeichen auszubreiten. Die beste Beschreibung dieser Ausbreitung wurde zweihundert Jahre nach Diderot formuliert, im Dezember 1978, als Roland Barthes den letzten Kurs begann, den er unterrichten sollte: Die Vorbereitung des Romans. Es war der Anfang eines halb-geheimen Projekts: Dieser avantgardistische Theoretiker, der die Romanform mit so viel Verachtung gestraft hatte, wollte jetzt, wo er in die Sechziger kam, seinen ganz eigenen Roman schreiben. Er begann, indem er seinen Studenten am Collège feierlich mitteilte, er habe beschlossen, seinen Kurs über den Roman mit einer Analyse des Haiku zu beginnen. Ich weiß, dass dies den Anschein einer verrückten Komödie hat: einen Kurs über den Roman mit dem Haiku zu beginnen. Aber es hat doch auch eine gewisse Logik. Denn in seinem Kurs wollte Barthes den Roman von seinem kleinsten Bestandteil aus aufarbeiten – und das Haiku, fand Barthes, war die reinste Form der Darstellung: die kleinstmögliche Form eines literarischen Werks.

Das Haiku war ein Satz, ein Cartoon.

Das Haiku, sagte Barthes, sei benutzt worden, um an das Wetter zu erinnern, und an das Dahineilen der Jahreszeiten: an das, was »unwiederholbar und doch intelligibel«[26] sei – die tägliche Prosa der Welt. Es lebe von Nuancen, und sein Stoff sei das auf zufällige Weise Konkrete – »Wörter … die konkrete Dinge als Referenten haben, grob gesagt: Objekte« – oder, um sein neues lateinisches Lieblingswort zu benutzen: »tangibilia«.[27] Hierbei handelt es sich, denke ich, wieder um eine andere Art und Weise, über Romane zu schreiben: das Erfinden einer ganz neuen Terminologie. Und Barthes war gut darin, sich neue Begriffe auszudenken. Im Jahre 1968, dem Jahr der Revolution, hatte Barthes bekanntlich seine ganz eigene Revolution angestoßen: mit dem Begriff »Realitätseffekt«.[28] Dieser Begriff war insofern revolutionär, als er die wirkliche Funktion von Detaildarstellungen in der Prosa aufdeckte. Details, sagte Barthes, die »angeblich unmittelbar etwas Wirkliches darstellten«, taten in Wirklichkeit nichts anderes, so wagte er zu behaupten, als »die Kategorie des ›Wirklichen‹ zu kennzeichnen …«[29] Seine Behauptungen der 1960er Jahre waren der geballte intellektuelle Sarkasmus. Und jetzt, fast zehn Jahre später, änderte er seine Definition dieses Effekts klammheimlich und grundlegend. »Ich verstehe unter ›Wirklichkeitseffekt‹«, erklärte er seinem Kurs nun, »das Verlöschen der Sprache zugunsten einer Realitätsgewißheit: Die Sprache zieht sich zurück, verbirgt sich und verschwindet, so daß nur noch das Gesagte nackt übrigbleibt.«[30] Plötzlich war sein Ziel nicht mehr der Ausdruck eines Codes, sondern von Wahrheit.

Und um zu erklären, wie genau diese konkreten Details in Prosa wirken sollten, wandte sich Barthes der Fotografie zu, als vergleichende Instanz – eine Art Ausblick auf sein letztes Buch, La chambre claire (Die helle Kammer), das er zwei Monate später schreiben sollte. Hier im Hörsaal testete er zum ersten Mal sein Konzept vom Unterschied zwischen Foto und Satz: Eine Fotografie gebe die Gewissheit, dass etwas »gewesen ist« – während ein Haiku, als Form von Sprache, dagegen »den Eindruck vermittelt (nicht die Gewissheit: Urdoxa, Noema der Fotografie), daß das, was es sagt, stattgefunden hat …«[31] In beiden Fällen, dem der Fotografie sowie dem des Haiku, seien es erst Details, die den Leser überzeugen, dass etwas geschehen ist. Details hätten ansonsten keine Bedeutung – denn die Bestimmung des Haiku, schreibt Barthes, »liegt schließlich darin, jede Metasprache zum Schweigen zu bringen; darin liegt die Autorität des Haiku«.[32] Den absoluten Kern jeder sprachlichen Struktur bilde eine Form, welche die Individualisierung fördere: der Knotenpunkt eines glänzenden Netzwerks. Und dann geschah etwas Seltsames in Barthes’ Seminar. Die wichtigsten Beispiele hierfür, sagt er, seien zwei Momente aus zwei gigantischen Romanen. Aber bei diesen handelt es sich eigentlich gar nicht um Details. Sie sind viel grandioser: Die von Barthes ausgewählten Beispiele sind nämlich der Tod von Bolkonski in Krieg und Frieden und der Tod der Großmutter in Prousts À la recherche. Beide repräsentierten Augenblicke der Wahrheit, Triumphe des Wortwörtlichen: das »Auftauchen des Uninterpretierbaren, des letzten Grades des Sinns, dessen, wonach es nichts mehr zu sagen gibt …«[33]

Und hier, denke ich, erreicht Barthes einen Punkt, wo sich ein ganz neues Konzept des Zeichens abzubilden beginnt, wo die Zeichen damit anfangen, sich auszubreiten: in dieser Idee des Moments.[9] Das war sein wirklicher Beitrag zur Romankunst: eine Entdeckung, die er als Kritiker machte, nicht als der Schriftsteller, der er nie sein würde. Denn etwas über ein Jahr nach seiner Vorlesung über Zeichen, am 26. März 1980, starb Barthes.[10]

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Bevor er starb, hatte Barthes versucht, einen Roman zu schreiben: Vita Nova. Aber eingebunden in die manischen Abläufe seines Berufslebens, hatte er stattdessen einen Kurs über Die Vorbereitung des Romans gegeben; er hatte eine Vorlesung über Proust gehalten; und er hatte ein Buch über Fotografie geschrieben: Die helle Kammer. Aber trotzdem: Mir kommt es so vor, als hätten sich all diese Ablenkungen letztendlich nur um sein geliebtes, unvollendetes Projekt gedreht. (Der ungeschriebene Roman! Was für eine Schmonzette!) Und in Barthes’ Spätwerk lässt sich ein Muster erkennen, das durch seine Annäherungen an diesen zuletzt ungeschrieben gebliebenen Roman entstand und das seine letzte Entdeckung ist.

In Die helle Kammer schreibt Barthes, dass sich eine Fotografie »nie von ihrem Bezugsobjekt (Referenten; von dem, was sie darstellt) unterscheiden« lasse: Genau wie der »Augenblick der Wahrheit«, den er in Romanen ausmachte, oder die Details im Haiku, war die Fotografie eine Form von absoluter Direktheit.[34] Denn die Essenz eines Fotos, schrieb Barthes, sei dies: Es lasse sich »in der Fotografie nicht leugnen, daß die Sache dagewesen ist. Hier gibt es eine Verbindung aus zweierlei: aus Realität und Vergangenheit.«[35] Und weil dies stimmt, ist jede Fotografie auch ein Denkmal an sich: Jedes Fotoalbum wird einmal zwangsläufig ein Mausoleum werden. Denn »indem sie … dieses Reale in die Vergangenheit verlagert (›Es-ist-so-gewesen‹), erweckt sie den Eindruck, es sei bereits tot.«[36]

An einer früheren Stelle in diesem Buch hatte Barthes behauptet, dass es bei einer Fotografie um zwei Aspekte gehe. Da war das studium: ein generelles kulturelles Interesse an den Einzelheiten des jeweiligen Zeitalters. Aber jede wichtige Fotografie habe auch ein punctum. Dieses »schießt wie ein Pfeil aus seinem Zusammenhang hervor, um mich zu durchbohren«.[37] Ein anderer Begriff für diese Einzelheiten ist »Realitätseffekt«: es ist diese Art von Detail – sei es als punctum eines Fotos oder als Realitätseffekt eines Romans – die den Leser, oder den Betrachter, überzeugt, dass ein Zeichen nicht nur treffend ist, sondern auch wahr. Und dieses Netzwerk von Definitionen und Konzepten ist in Barthes’ Spätwerk weitläufig verzweigt. Vor allem aber dreht es sich immer wieder um das Konzept der Zeit: um das Trauern und das Erinnern.

Ich habe das wirklich ernst gemeint, als ich sagte, dass ich die Begriffe Leben und Tod vorziehe.

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Vielleicht beschrieb Barthes aber auch nur etwas, das man im achtzehnten Jahrhundert schon gewusst hatte. Vielleicht war Barthes nur ein Multiple von Denis Diderot, der 1773 eine Erzählung namens »Dies ist keine Erzählung« veröffentlicht hatte. Vor Magrittes Pfeife, die keine Pfeife ist, sondern ein Gemälde, gab es längst Diderots Erzählung, die keine Erzählung ist, sondern die Wahrheit. Und dies ist teils so, weil sie buchstäblich keine Erzählung ist; sie ist Fakt. (Der Text wurde zuerst in der Zeitschrift Correspondance littéraire veröffentlicht, die unter Freunden zirkulierte.) Ihr erster Herausgeber, Jacques-André Naigeon, sagte 1798, dass Diderots Erzählung »buchstäblich wahr« sei. Denn selbst die Straßennamen stimmen: Madame Reymer und Tanié hatten eine Wohnung in der Rue Sainte-Marguerite, Gardeil wohnte in der Rue Saint-Hyacinthe und Mademoiselle de la Chaux an der Place Saint-Michel. Diderot selbst, der ebenfalls eine Figur in der Geschichte ist, wohnte in der Rue de l’Estrapade. Aber es gibt verschiedene Arten von Wahrheit. So haben zwei der Hauptfiguren der Geschichte in keinen anderweitigen Aufzeichnungen eine Spur hinterlassen. Andererseits sind einige der Nebenfiguren eindeutig real. Mit anderen Worten: Diese Erzählung ist nicht wirklich buchstäblich wahr, sie ist ein Spiel mit der Fiktion und der Wahrheit. Sie ist auf andere Art wahr.

In der Erzählung, die keine Erzählung ist, gibt es einen Moment, in dem Mademoiselle de la Chaux ihren Geliebten Gardeil traurig bittet, ihr zu sagen, wieso er sie nicht mehr liebe. Er antwortet ihr schonungslos und ehrlich: »Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich begann dich zu lieben, ohne zu wissen, warum, und nun merke ich, dass es unmöglich ist, dass dieses Gefühl je zurückkehren wird.«[41] Was dieser Geschichte etwas Magisches verleiht, ist, dass später Mademoiselle de la Chaux das gleiche Argument benutzen wird, nur umgekehrt, um einem anderen Mann, der sie liebt, zu erklären, warum sie ihn nicht lieben kann. Das Gefühl will einfach nicht kommen, sagt sie; es steht ihr nicht zur Verfügung.

Mit diesem Augenblick hilfloser, unbemerkter Wiederholung löst sich Diderots Erzählung auf und wird zu einer Wahrheit.

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Eine Erzählung kann zum Beweismaterial für etwas werden, das nie mit logischen Mitteln bewiesen werden könnte. Eine Erzählung kann eine ganz neue Art von Realität erfinden. Und wenn man lieber einen anderen Begriff für diese Magie der Anordnung benutzen möchte, wenn man so altmodische Wörter wie das Lebendige und das Tote nicht mag, dann lässt sich meiner Meinung nach auch hierfür eine Lösung finden. Und zwar indem man sagt, dass Literatur aus Träumen besteht.

In seinen Notizbüchern hielt Ludwig Wittgenstein einst eine Abfolge von Beobachtungen fest, die sich mit der Schauspielkunst beschäftigten. Insbesondere schrieb er über Shakespeare. Und wirklich drehen sich diese Notizen um das seltsame, traumähnliche Wesen der sprachlichen Zeichen.

Shakespeare & der Traum. Ein Traum ist ganz unrichtig absurd, zusammengesetzt, & doch ganz richtig: er macht in dieser seltsamen Zusammensetzung einen Eindruck. Warum? Ich weiß es nicht. Und wenn Shakespeare groß ist, wie von ihm ausgesagt wird, dann muß man von ihm sagen können: Es ist alles falsch, stimmt nicht – & ist doch ganz richtig nach einem eigenen Gesetz.[42]

Ein Zeichen kann falsch sein und gleichzeitig absolut wahr.[11] Das war Wittgensteins erste Intuition. Um dann die genaue Untersuchung über die Frage von Leben und Tod anzuschließen:

Angenommen wir stellen uns die folgende Frage: Werden Menschen in Tragödien umgebracht oder nicht? Eine mögliche Antwort ist: In manchen Tragödien werden manche Menschen umgebracht und manche nicht. Eine andere Antwort ist: ›Auf der Bühne werden Menschen nicht wirklich umgebracht, es wird nur so getan, als würden sie umgebracht und stürben.‹ Aber der Gebrauch des Ausdrucks so tun als ob ist an dieser Stelle mehrdeutig, denn es kann in dem Sinne gebraucht werden, wie Edgar so tut, als habe er Gloucester zu der Klippe geführt.

Wittgensteins Schlussfolgerung ist von einem majestätischen Pragmatismus:

Wir wollen also sagen, dass Ausdrücke, wie »wirklich«, »so tun als ob«, »sterben« etc. auf besondere Weise benutzt werden, wenn man über ein Theaterstück redet und auf andere Weise im normalen Leben. Oder: die Kriterien für den Tod eines Menschen in einem Theaterstück sind nicht dieselben wie die für seinen Tod in der Wirklichkeit. Aber ist es gerechtfertigt zu sagen, dass Lear am Ende des Stückes stirbt. Warum nicht.[43]

Flugzeug

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Und ich denke, dass hier – im Kontext des Magischen, der Beweismaterialien und der Träume – das beginnt, was international und länderunabhängig ist. Erst hier wird die Möglichkeit der Vervielfältigung wirklich. Denn das grundlegende Argument dagegen, dass ein Roman in anderen Sprachen reproduziert werden kann, ist die Vorstellung, in seinen Sätzen seien Form und Inhalt identisch. Aber ich denke nicht, dass Form und Inhalt wirklich hilfreiche Begriffe sind, um zu beschreiben, was Wörter in einem Roman sind und wie sie bedeuten, was sie bedeuten. Die Wahrheit ist viel mobiler.

Aber das muss erst noch anhand von Musterbeispielen bewiesen werden. Diese Theorie muss sich auch mit jenen literarischen Experimenten vertragen, die reine Stilabenteuer zu sein scheinen. Denn, ich weiß, der herkömmlichen Ansicht nach sind Stilabenteuer monoglott: Sie existieren nur in einer sprachlichen Inkarnation – wie die auf manische Weise französischen Übungen von Raymond Queneau. Aber: Was, wenn man beweisen könnte, dass diese Übungen genauso in einer anderen Sprache existieren können? Was, wenn Queneaus Pariser Experimente in, sagen wir mal, London wiederholt werden könnten? Denn selbstverständlich existieren sie in London! Und dass es sie auch auf Englisch gibt, ist dem Talent von Queneaus englischer Übersetzerin Barbara Wright zu verdanken.

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Barbara Wright übersetzte Queneaus Stilübungen im Sommer 1957 aus dem Französischen ins Englische. Einige Wörter musste sie nachschlagen: zum Beispiel funambules, acculer oder canicule. Na und? Was ist schon schlimm daran, ein Wörterbuch zu benutzen? Das ganze Ausmaß ihrer Fähigkeiten zeigt Barbara Wright erstmals in einer der ersten Abfolgen von Stilübungen, wo Queneau dem französischen Leser die ursprüngliche Geschichte in verschiedenen Zeitformen anbietet: im Passé indéfini, im Présent, im Passé simple und im Imparfait. Da die englische Sprache nicht besonders differenziert mit der Vergangenheit umgeht, setzt Barbara Wright dem Leser eine etwas andere Sequenz vor: Vergangenheit, Gegenwart, indirekte Rede und Passiv. Anders gesagt sind zwei ihrer Übungen überhaupt gar keine Übersetzungen: Sie sind ihre ganz eigenen Erfindungen. Und auch dort, wo Raymond Queneaus Französisch beginnt, wirklich verrückt zu werden, erfindet Barbara Wright ihr eigenes Pendant de folie. Der erste Satz von Queneaus Übung »Anglizismen« hört sich in seinem Franglais so an: »Un dai vers middai, je tèque le beusse et je sie un jeugne manne avec une grète nèque et un hatte avec une quainnde de lèsse tressés.«[44] Aber in Wrights Englench heißt die Übung jetzt »Gallicisims«, und ihr erster Satz hört sich so an: »One zhour about meedee I pree the ohtobyusse and I vee a zhern omm with a daymoorzuray neck and a shappoh with a sorrt of plaited galorng.«[45] Es ist eine freie Übersetzung, klar, aber sie ist dabei absolut präzise. Das ist kein Widerspruch, philosophisch gesehen, denke ich.

»Ich war schon immer der Auffassung, dass nichts unübersetzbar ist«, schrieb Queneau in einem Brief an Barbara Wright, »und hier sehe ich einen neuen Beweis.«[46] Denn sie hatte verstanden, dass es sich bei jedem Stil um ein System von strategischen, formverändernden Angriffen auf Sätze handelt: Und auch, wenn es ihr nicht immer möglich war, wörtlich zu übersetzen, schaffte sie es, eine Übersetzung anzufertigen, die demonstriert, wie übertragbar die Effekte eines jeden Stils sind.

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Und das stimmt sogar im Fall des verrücktesten Experiments, das mir einfällt: James Joyces jetzt als Finnegans Wake bekannter Roman, den er in Paris abschloss und in der kleinen Zeitschrift transition unter dem Titel Work in Progress nach und nach veröffentlichte. Dieser Roman ist berühmt dafür, dass er in einem ganz eigenen, polyglotten Englisch geschrieben ist. Diese polyglotte Dichte entstand durch die Anwendung von Traumtechniken – Verdichtung und Verschiebung – auf die Sprache selbst. Genauso, wie Traumbilder dicht und überdeterminiert sind, wollte Joyce, dass das Englisch in Finnegans Wake unberechenbar, komprimiert und polyglott ist. So dass sich der Leser des ersten Teils zu seiner Verblüffung und Frustration mit einem Stil konfrontiert sah, der unter anderem Wortspiele in mehr als einer Sprache beinhaltete: »What clashes here of wills gen wonts, ostrygods gagging fishygods!«[47]

Vielleicht hatte Joyce mit Finnegans Wake eine stilistische Dichte erreicht, die eine Übertragung in andere Sprachen nicht überleben kann – ein Reich der reinsten Poesie, einen Stil ohne Sinn. Ja, vielleicht hatte Joyce hier Form in Inhalt verwandelt. So pries jedenfalls einer von Joyces besten Freunden an, was dieser mit seinem großartigen, verrückten Stil erreicht hatte. In einer Aufsatzsammlung – Our Exagmination Round His Factification for Incamination of Work in Progress, die 1929 veröffentlicht wurde, zehn Jahre bevor Finnegans Wake schließlich herauskam – versuchte Samuel Beckett, der sowohl fließend Französisch als auch Englisch sprach, zu zeigen, dass Work in Progress, entgegen der gängigen Meinung, überhaupt nicht schwer zu lesen war. Beckett vermutete, dass den bourgeoisen, wenig intelligenten Leser vermutlich vor allem Joyces Innovation der Doppelbeziehungen zwischen Sprache und Realität, und zwischen Form und Inhalt verwirrt hatte. Normalerweise waren, Beckett zufolge, in konventionellen Romanen Form und Inhalt unterschiedliche Dinge. Anders war dies in Joyces Finnegans Wake, argumentierte Beckett mit vor Kursivschrift strauchelnder Prosa: »Hier ist Form der Inhalt, der Inhalt ist die Form.« Und so kam er zu seinem eingängigen Schluss: »Er schreibt nicht über etwas; sein Schreiben ist dieses etwas selbst.«[48] Aber während Becketts aggressive Schlussfolgerung einen gewissen Charme hat, kann sie trotzdem nicht wahr sein: Denn während viele verschiedene Beziehungen zwischen Inhalt und Form in einem Satz bestehen können, kann dieses Verhältnis nie so stark sein, dass die beiden identisch werden. Das war Roman Jakobsons Erkenntnis, einige Jahre später, in Prag. Ein Zeichen ist, was es repräsentiert, und ist es nicht. Ein Zeichen wirkt genauso wie ein Cartoon.

Und dieser Meinung war auch James Joyce dank eines glücklichen Zufalls der Geschichte. Ein Jahr nach dem Erscheinen von Becketts Essay, 1930, besuchte der tschechische Schriftsteller Adolf Hoffmeister Joyce in Paris. Er wollte ihn um die Erlaubnis bitten, den als Anna Livia Plurabelle bekannten Teil seines Buches ins Tschechische zu übersetzen. Joyce teilte ihm mit, dass ihm eine gute Übersetzung des Tons wichtiger sei als der Sinn: Er riet Hoffmeister, das Gleiche zu tun wie er im Original, nur eben in einer anderen Sprache: »Machen Sie Poesie daraus, mit der größten lyrischen Freiheit, die Sie dem Text geben können.«[49] Das Wichtigste war, die schillernden Spracheffekte zu rekonstruieren. »Schaffen Sie eine Sprache für Ihr Land nach meinem Vorbild. Viktor Llona vertrat folgende These in transition