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Adam Thirlwell

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Beschreibung

Haffner ist charmant, eitel und moralisch verwerflich. Er ist ein Freigeist und ein Wüstling. Und er liebt Frauen. In einem behaglichen Alpen-Kurort sitzt Haffner nun, mit 78 Jahren, und denkt über die Verkopplungen des Lebens nach. Und sucht ein Allheilmittel, eine Wiedergutmachung. Und noch mehr Frauen. Nach und nach kommen bei ihm und dem Leser Fragen auf. Hat man seine Vergangenheit eigentlich verdient? Hat man die Familie, die man brauchte? Und die eigene Geschichte? Musste das sein? Ein brillanter, bösartiger und melancholischer Roman, eine unzüchtige Komödie, die den Leser verblüfft zurücklässt. »Einer der besten britischen Romane seit Jahren.« The Guardian

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Adam Thirlwell

Flüchtig

Ein Roman in fünf Teilen

Aus dem Englischen von Henning Ahrens

Fischer e-books

Für Alison und für meine Familie

Teil Eins

Haffner Entfesselt

1

Und so ging das Jahrhundert zu Ende: Haffner sah einem Mann zu, der die Brüste einer Frau liebkoste.

Er saß in der Klemme. Das hätte er wohl auch zugegeben. Der einzige Trost bestand darin, dass er sich selbst in diese Klemme gebracht hatte.

Haffner war bald achtundsiebzig, hielt sich aber für jung. Er war hip, um es im Jugendjargon zu sagen. Jedenfalls nicht weniger hip als der Rest der Welt. Außerdem konnte nur er sich in eine solche Lage bringen.

In welche Lage?

Im Dunkel eines Schranks verborgen, beobachtete er durch den Türspalt eine nackte Frau, die sich ihrem Liebhaber hingab.

Genau darum bewunderte ich ihn. Haffner Entfesselt! Doch es gab noch andere Haffners – Haffner Versonnen, Haffner Einsam. So sah er sich gern: wie in einem Traum; in Posen. Wie auf den Paneelen antiker Friese.

In einer Kompaktanlage über der Minibar lief poppige Zigeunermusik – Discogestampfe, Akkordeon, gelegentliche Bläsersätze. Die Musik lenkte ihn vom Zuschauen ab. Die moderne Kombination von Sex und Musik missfiel ihm. Er hatte es lieber, wenn die Hüllen in der Stille des alltäglichen Hintergrundgebrumms fielen. Nach der Befreiung Neapels waren in einem Laden, den man nur als Kaschemme bezeichnen konnte, plötzlich alle Lichter erloschen. Das Klavier war verstummt, und im Zwielicht hatte Haffner einer Frau zugesehen, die sich so gemächlich, umständlich und selbstvergessen entkleidet hatte – nur begleitet von dem gelegentlichen Klirren eines Weinglases und dem kurzen, zischenden Aufflammen von Streichhölzern –, dass sie auch jetzt, nach über fünfzig Jahren, immer noch sein Schönheitsideal war.

Inzwischen war sich Haffner seiner Ideale allerdings nicht mehr so sicher.

Er beobachtete Zinka weiter. Das fiel ihm nicht schwer. Sie hatte dunkles Haar; ihre Brustwarzen waren lang und fast schwarz, die Höfe gescheckt; ihr Bauch schwang sich im sanften Bogen bis zu den steilen Hüften. Sie hatte niedliche Brüste und eine Stupsnase. Wenn Haffner einen Typ hatte, dann diesen: die unweibliche Weiblichkeit. In seinen besten Jahren hätte Zinka als Knäbin gegolten. Als garçonne. Ob Mädchen heutzutage, kurz vor der Jahrtausendwende, immer noch so genannt wurden?

Nein, wohl kaum.

Niko lutschte mit geschürzten Lippen lautstark an Zinkas Brustwarzen.

Haffner war lüstern, egoistisch, eitel – ein ganz gewöhnlicher Mann. Eine sowohl unvermeidliche als auch unbestreitbare Erkenntnis. Er hatte in London und New York als Banker gearbeitet. Sein Leben war normal verlaufen und entsprach ziemlich genau dem Bild der Bürgerlichkeit des 20. Jahrhunderts: der graue Atlantik. Die waagerechten, aufgewühlten Wellen des grauen Atlantiks. Am einen Ende befand sich die Freiheitsstatue, am anderen Ende die Bank of England. Doch Haffner überquerte den Atlantik nicht mehr. Seine flüchtige Heimat war ein Hotel in einem Kurort. Er war gestrandet – ein Stück Treibgut im Herzen Europas, hoch oben in den Alpen.

Und nun verbarg er sich im Kleiderschrank.

Haffner war kein herkömmlicher Voyeur. Niko ahnte zwar nichts von seiner Anwesenheit, aber Zinka – Zinka war sich der geisterhaften Erscheinung im Schrank voll bewusst. Sie hatte diesen Plan gemeinsam mit Haffner ausgeheckt. Besser gesagt: Dieser Plan hatte sich wie von selbst ergeben. Gut möglich, dass er sich dem Aufeinandertreffen von Haffners Charme und den wirren Gefühlen Zinkas verdankte, die Zärtlichkeit für Haffner und Bosheit gegenüber ihrem Freund empfand. Doch wie rätselhaft die Gründe auch sein mochten – das Resultat war eindeutig.

Ja, meine Damen und Herren, vielleicht hatte Haffner durchaus Format. Vielleicht war Haffner ein Held im epischen Sinn. Und wenn er ein Held war, dann war seine Brieftasche mit den zerknitterten Fotos sein von der Welt abgeschottetes Mausoleum. Werfen Sie einen Blick darauf! Haffner in Rom, im Hintergrund der zerklüftete Bogen des Kolosseums, im Vordergrund ein medusenhafter Berg von Spaghetti; Haffner mit Livia auf einer Gartenparty im Buckingham Palace – beide lächeln angestrengt und hoffen insgeheim, dass Livias Hut, ein Teller mit Blumenbukett, nicht abhebt und davonfliegt; Haffners vierjähriger Enkel Benjamin, der eine Baseballkappe der Yankees trägt und mit cherubinischer Hingabe – eine lebendige Renaissenceskulptur – in den Garten eines Landhauses pinkelt.

Um es mit den Alten Meistern zu sagen: Jedes Fotoalbum spricht auf seine Art von Unglück.

2

Und ich? Ich kam sechzig Jahre nach Haffner auf die Welt. Ich war nur ein Freund.

Ich besuchte ihn in einem Krankenhaus in den Außenbezirken Londons. Sein Finale im Herzen Europas war ein Jahrzehnt her. Jetzt lag Haffner im Sterben. Andererseits starb er schon seit einer Ewigkeit.

Vor allem, sagte er, brauche ich einen Plan für die kommenden achtundvierzig Stunden. Wir müssen einfach nur die nächsten paar Tage der neuen Ära organisieren.

Als ich fragte, welche Ära er meine, antwortete er, dass wir genau das herausfinden müssten.

Alles ging zu Ende. Eine Expertenrunde diskutierte im Fernsehen die Krise. Das Geld löste sich in Luft auf. Die Banken soffen ab. Wie üblich ging das Ende unaufhörlich weiter. Ich empfand allerdings kein Bedauern wegen des Geldes. Ich bedauerte Haffner. Auf dem Tisch stand eine Rosenknospe. Haffner versuchte sich an einer Erklärung. Irgendetwas, sagte er, sei mächtig schiefgelaufen. Vielleicht, sagte er, müssten wir nur das Ding dort schließen – er zeigte auf einen Nachtschrank mit fehlendem Schloss.

Er sei geringer als der Staub, verkündete er. Geringer als der Staub. Nach einer Stunde wollte er ins Bad. Er versuchte, sich auszuziehen, dort auf seinem Lehnstuhl. Also rief ich eine Krankenschwester und verließ ihn, als man ihn zur Damentoilette führte, die vom Zimmer, in dem er so eifrig mit dem Sterben beschäftigt war, leichter zu erreichen war.

Während sich die Türen hinter mir automatisch öffneten und schlossen, wartete ich auf der bogenförmigen Auffahrt auf ein Taxi zum Bahnhof – ich wollte zurück in die Stadt. Die veilchenblauen Fichten auf den Feldern sahen aus, als wollten sie unter sich sein. Diese Gegend war weder Stadt noch Land. Sie war das Nirgendwo.

Während ich dem langweiligen Sirenengeheul lauschte, ging ich meine Erinnerungen an Haffner durch.

Sobald ich ihn richtig vor Augen hatte – auf die Knöchel gerutschte Hose, nervöses Zupfen an der beigefarbenen Unterwäsche –, nahm ich das Projekt seiner Wiederauferstehung in Angriff. Wie jener Historiker, der im Zwielicht auf die Ruinen Roms hinabsah – Touristen, die zum Andenken Skizzen anfertigten, Wasserverkäufer und aufdringliche Führer, und über allem die schrumpfende Sonne: die ewige, sterbliche Sonne.

3

Seine Karriere war die übliche Erfolgsgeschichte gewesen. Nach dem Krieg hatte Haffner bei Warburg angefangen. Er hatte sich mit dem Gewinn hervorgetan, den er während der Wechselkurskrise erwirtschaftet hatte. Doch sein großer Moment kam erst gegen Ende der fünfziger Jahre. Damals erkannte Haffner die amerikanische Dollarkrise. Haffner war der Einzige, der sie kommen sah. Die Beschränktheit der durch die Regulation »Q« verordneten Zinsobergrenzen! Natürlich würden immer mehr Dollar, die in den Katakomben der Vereinigten Staaten gebunkert waren, nach Europa fließen – um sich zu vermehren. Genau das hatte er einem Vorstandsmitglied des Bankers Trust erklärt, der sich in London aufhielt, um Männer wie Haffner nach New York zu locken. Also verließ Haffner Warburg und ging 1963 in die USA, wo er elf Jahre als Generaldirektor wirkte. Er war der Experte für Währungsaustausch – Doyen des Internationalen. 1974 kehrte er schließlich nach London zurück, als Generaldirektor der Niederlassung der Chase Manhattan. Gerade rechtzeitig zur Geburt seines Enkelsohns – von dem Haffner irrtümlicherweise geglaubt hatte, dass er seine neue Inkarnation wäre. Zu guter Letzt wurde Haffner in den Vorstand berufen. Seine Verbannung, wie er zu scherzen pflegte.

Ich muss zugeben, dass Haffner nicht der übliche Großvater war. Er schätzte Eigenarten wie Feigheit, Obszönität, Charme und lose Moral. Er hatte Schneid. Darum hatte er zehn Jahre zuvor, als alles noch rosiger ausgesehen hatte, im Kurort keinen Brief seiner Tochter gelesen, keinen Anruf seines Enkels angenommen und die Ohren vor den metaphysischen Klagen seiner entnervten Familie verschlossen. Er sah lieber zu, wie Niko ungeschickt Zinkas Brüste liebkoste.

Da Zinka die zweite Hauptrolle in Haffners Finale spielte, sollte man wohl etwas mehr über sie wissen.

Zinka erzählte manchen Leuten, dass sie aus der Bukowina stammte. Dort, am Ostrand Europas, war sie geboren worden – in einer so kalten Nacht, dass sogar der Schweiß auf der Stirn gefroren war, wie ihre Mutter gern erzählte. Doch Zinka wusste, dass ihre Mutter zu Übertreibungen neigte. Anderen Leuten hatte Zinka erzählt, dass sie aus Bukarest kam; und das stimmte auch. Sie war in einem Wohnsilo im Norden der Stadt aufgewachsen, ganz in der Nähe des Parks. Haffner hatte sie nur von Zagreb berichtet. Dort hatte sie eine Ausbildung im Corps de ballet gemacht, bis sich die Geschichte, diese anmaßende Personifikation, zu einer Störung entschloss und sie zwang, nördlich der italienischen Grenze als Fitnesstrainerin reicher Europäer in einem Kurhotel zu arbeiten – in den nicht mehr besonders gefragten, kaum noch besuchten Alpen.

Dort war sie Haffner während der zweiten Woche seiner Flucht aufgefallen. Er hatte hatte gerade an einem Kaffee genippt, als er sie erblickt hatte – die süße Yogalehrerin, die sich hinhockte und ihre Knie über die Schultern schob, auf groteske Art nachgeahmt von den Hotelgästen. Sie trug ein graues T-Shirt und eine graue Jogginghose: Ein T-Shirt, das die von einem noch jüngeren Mädchen geborgten Zwillingshügel ihrer kleinen Brüste nicht verbergen konnte, und eine von einem noch jüngeren Knaben geliehene Hose, unter der sich die Zwillingshügel ihres Pos abzeichneten. Dann verschränkte sie die Finger ihrer nach außen gedrehten Hände hinter dem Rücken, eine Pose, für die man nach Haffners Vorstellung eine so große Gelenkigkeit brauchte, dass sein ganzer Körper zu pochen begann, ein Anzeichen für die Wiederkehr der alten Krankheit. Der vertrauten, peristaltischen Krankheit der Frauen.

Er sah zum Deckenausschnitt auf, den ihm der Türspalt des Schlafzimmerschranks bot: Der weiße Schein der Glühbirne wurde vom staubigen, trapezförmigen Lampenschirm in ein pfirsichweiches Dämmerlicht verwandelt.

Mehr wollte er im Grunde nicht. Haffners Triumph beruhte einzig und allein auf den Frauen – sein alternder Körper war immer noch ein Nadelkissen für die bunten Plastikpfeile des siegreichen Kindgottes: Cupido.

4

Genau diese Pfeile prangten auf Nikos Unterarmen und lenkten den Blick auf seinen Bizeps, wo zwei bunte Drachen ihren eigenen Schwanz fraßen. Hätte Haffner diese Drachen aus der Nähe betrachten können, dann hätten sie ihn an die Tätowierungen der mythischen Ungeheuer erinnert, die sein Vorgesetzter während des Krieges auf den Armen getragen hatte. Glänzende, goldene Armreifen wanden sich um Nikos Handgelenke. Den Hintergrund für sein steifes Glied, dem sich Zinka – nur im winzigen, türkisgrünen Slip – gerade widmete, bildete eine Tätowierung abstrakterer Art, die sich auf seinem Waschbrettbauch ausbreitete.

Haffner fühlte sich in solchen Situationen heimisch – er lebte für die Frauen, seit er zum ersten Mal ein Mädchen ausgeführt hatte. Sie hatte Hazel geheißen, und sie waren in das Ionic Picture Theatre in der Finchley Road gegangen. Er hatte während des ganzen Films ihre Hand halten dürfen. Die erotische Spannung war prägend für ihn gewesen. Hazel hatte den Film ausgewählt: Eine Romanze mit Waldgeistern und Elfen, doch keiner der Effekte – die wehenden Stoffe, die Windmaschinen, das Zwielicht am Rand der Leinwand, die getragene Musik – hatte den sarkastischen Haffner von ihrer Realität überzeugen können. Hinterher hatte er Hazel in einem Teehaus in der Lyons zwei Stücke Schokoladenkuchen spendiert, und sie hatten zärtliche Blicke getauscht – während sich Haffner gefragt hatte, wann er sie höflich und mit gebotenem Respekt küssen dürfte, ein Verhaltensmuster, das lebenslang eine Bedrohung für ihn darstellen sollte.

Er war Mittelmaß; er war nichts Besonderes. Das gestand er freimütig ein. Er hatte nur einen Vorzug – sein Aussehen. Ja, er sei zweifellos alt, sagte Haffner oft mit gespieltem Bedauern – vor allem bei genauerem Hinsehen. Das waren die Worte seines liebsten Komikers. Doch Haffner wusste, dass das nicht stimmte. Er war nichts Besonderes – aber sein Aussehen war eine andere Sache. Was ihm nicht nur Freunde, sondern auch Kollegen bestätigten. Mit achtundsiebzig hatte Haffner mehr Haare, als es die Natur erlaubte. Er war blond. Er hatte blaue Augen. Seine Wangen waren wohlgeformt. Unter der Seide seiner Polosweater deutete der Bauch das kleinste aller Polster an.

Jetzt wären Haffners Kollegen allerdings überrascht gewesen, denn er trug eine himmelblaue, wasserdichte Sporthose, ein himmelblaues T-Shirt und einen pistazienfarbenen Sweater. Diese Kleidung entsprach nicht seinem wahren Wesen, und er hoffte inständig, dass das ersichtlich war. Eigentlich war er soigné, elegant. Dafür hatte ihn seine Mutter stets gelobt. Jedenfalls während der Zeit, als sie ihn überhaupt noch gelobt hatte.

Mein Schatz, hatte sie oft zu ihm gesagt, du bist der Mann deiner Mutter. Du machst sie stolz. Dass mir das ja niemand vergisst.

Sie steckte ihn in Matrosenanzüge mit Marinestreifen über den Ärmelaufschlägen. Auf Kinderpartys gab sich Haffner ganz natürlich, zog aber so bald wie möglich den Gangsterlook vor: die Coolness von Bowery, die Rassigkeit von Whitechapel. Eleganz von Kopf bis Fuß. Er erwarb den ersten Filzhut in einer Nebenstraße der Pall Mall bei James Lock; seine Regenschirme stammten von James Smith & Sons am Rand von Covent Garden. Er fand das Logo des Hoflieferanten höchst verführerisch. Er hatte eine Vorliebe für den Glamour und die Geheimnisse des Stammbaums. Er konnte einem ausführlich von seinem eigenen Stammbaum erzählen.

Nun, am Ende des 20. Jahrhunderts, bestand das Problem darin, dass sein Koffer verlorengegangen war. Er war vor zwei Wochen, bei Haffners Landung in Triest, verschwunden und immer noch nicht wieder aufgetaucht. Man suche mit Hochdruck, hatte ihm die Fluggesellschaft versichert. Solange er nicht gefunden war, waren seine Augen auf sich gestellt – denn seine Brille fehlte auch. Und er sah sich gezwungen, dieses in örtlichen Läden gekaufte Sammelsurium von Kleidern zu tragen. Er lief um den Marktplatz, um den See, durch schmale Gassen und fragte sich, in welchen Läden die Einheimischen ihre eleganteren Kleider kauften. War ihnen die Eleganz so egal? Liefen sie immer nur in Freizeitkleidung draußen herum?

Die strahlenden Lichter des West Ends lagen in weiter, weiter Ferne.

Zinka lehnte sich zurück und sah grinsend zu Niko auf, der ihr die Haare aus der Stirn strich: ein Idyll. Er begann, sie sanft zu küssen. Er redete in einer Sprache auf sie ein, die Haffner nicht kannte. Doch Haffner wusste, was die beiden sprachen. Sie gestanden einander ihre Liebe.

Es war Hochsommer. Haffner befand sich im Herzen Europas. So hoch oben wie nur möglich. So weit weg wie nur möglich. Durch die Jalousien konnte er die verwischten Gipfel der Alpen sehen, den fahlen Himmel mit den Wolken, die von der untergehenden Sonne rückwärtig erhellt wurden. Tannenwipfel ragten in das Panorama.

Und Haffner wurde beim Zuschauen immer trauriger.

Er lebe für die Frauen. Er werde nichts begreifen. Er werde nichts begreifen und alle verlassen. So hatte ihn seine Tochter beschrieben und im gleichen Atemzug seinen Mangel an moralischer Integrität und seine beklagenswerten Defizite als Ehegatte, Vater und Mann angeprangert. Er werde nichts dazulernen. Sie hatte ihn mit einer Engelsgeduld angeschrien. Und er fand ihre Beschreibung durchaus zutreffend.

Doch seine Traurigkeit verflog nicht, während Zinka für ihren unsichtbaren Zuschauer spielte. Er hatte geglaubt, im siebten Himmel zu schweben, aber so war es nicht. Und die einzig denkbare Erklärung dafür war, dass er sich wieder einmal verliebt hatte. Nur, dass die Sache dieses Mal anders lag. Dieses Mal, dachte Haffner, war die Sache ernst. Genau das hatte er früher auch immer gedacht. Doch zu guter Letzt hatte er stets eingesehen, sich geirrt zu haben.

5

Haffner fand die Sache verstörend schmerzhaft. Dazu kam der viel heftigere Schmerz in seinen Beinen. Er stand jetzt seit über einer Stunde, und da er auf die Kleiderbügel achten musste, die er leider nicht alle abgehängt hatte, war die Sache noch schwieriger. Die Sache kam ihm plötzlich lächerlich vor. Er wurde langsam panisch. Ganz ruhig, dachte Haffner. Er versuchte, sich auf die nackten Tatsachen zu konzentrieren – zum Beispiel auf Zinkas Brüste, deren bescheidene Größe seine Panik aber nur noch weiter steigerte; sie verstärkten das erotische Kribbeln, das ihn durchpulste. Es ging nicht um die eigentliche Funktion dieser Brüste, sondern um ihre Form – während sie dort hangen. Sie wurden durch die Brustwarzen vervollständigt, und sie wurden durch die Brustwarzen ausgelaugt. Ihre Höfe waren dunkel. Ihre Proportionen standen im Dienst der Sexualität, nicht im Dienst braver Mütterlichkeit.

Haffner war nicht um der familiären Fortpflanzung willen an Sex interessiert. Die Kinder waren der Fehler. Er begeisterte sich für die vielen ausgefallenen Extras.

Die herkömmlichen Kurven, die handelsüblichen Züge – sie reizten Haffner nicht. Sein Verlangen wurde von einer nachlässig rasierten Achselhöhle oder von dem Schweißfilm auf einem gebräunten Unterarm geweckt. Das war das Prinzip von Haffners Mythologie. Haffner, der Bewunderer der Antike. Was, wenn diese Situation in den Augen anderer lächerlich oder peinlich oder – um es mit den Worten Benjis, seines neuerdings hochmoralischen und religiösen Enkels zu sagen – sündig wäre? Als könnte man die Sünde je ausrotten. Als wäre die Lust, dachte Haffner, eine Schande. Oder, was ihn selbst betraf, eine größere Schande als im Falle anderer Leute. Hätte er das Epos seiner Lust um eine weitere Lebensspanne verlängern können, dann hätte er genau das getan.

In dieser Hinsicht, das musste er zugeben, stimmte er nicht mit Goldfaden überein. Goldfaden, der die Eindeutigkeit der Vielfalt vorzog, hätte sich ein gutes Ende gewünscht. Goldfaden hatte ihm in New York, irgendwo unterhalb von Houston, einmal erzählt, dass eine gewisse Frau – Haffner hatte ihren Namen vergessen, aber es handelte sich um eine Sekretärin, mit der er in Princeton oder Cambridge zu tun gehabt hatte – jener Typ sei, den man beim Untergang der Welt mit Gewalt nehmen würde. Ganz anders als seine Frau, sagte Goldfaden; ganz anders als Cynthia. Dann hatte er seinen Single Malt geleert und einen neuen bestellt. Damals bestand Haffners Beitrag zur Liste dieser einzigartigen Frauen in Evelyn Lane, dem Film- und Theaterstar. Sie hatte ihren Mann 1939 zur Grundausbildung nach Hampshire begleitet, und für Haffner war sie die schönste Frau gewesen, die er je gesehen hatte. Sie waren in einem silbernen Wolseley 14/16 eingetroffen. Doch Goldfaden erhob Einspruch gegen Haffners Votum für Evelyn Lane. Er hatte oft etwas gegen Haffners Meinungen einzuwenden. Sie sei ganz passabel, erklärte Goldfaden, aber nicht das, was er im Sinn habe. Und Haffner fragte sich – auch jetzt, nach so vielen Jahren, während er zusah, wie Niko Zinkas schlanke Beine auseinanderdrückte und die Mulden auf den Innenseiten ihrer Oberschenkel und den aus ihrem Slip hervorschauenden Kopf der tätowierten Nixe enthüllte –, ob Goldfaden zugestimmt hätte, dass er jene Art Frau am Ende doch noch in Zinka gefunden hatte: Die Unerreichbare, diejenige, für die man jede Moral fahren ließ. Falls Goldfaden nicht schon tot war. Haffner wusste nicht, ob er noch lebte, und um ehrlich zu sein, war es ihm egal. Warum sollte man überhaupt jemanden begehren, wenn die Welt unterging? Machohafte Übertreibungen dieser Art waren typisch für Goldfaden.

Doch Haffner hatte Goldfaden aus den Augen verloren. Das war eine Geschichte für sich. Er hatte niemanden mehr, der ihm als stiller Zuhörer hätte dienen können.

Diese Einsamkeit weckte Haffners Melancholie.

Das Ethos Raphael Haffners – als Geschäftsmann, Erzähler, Schöngeist, Jazzliebhaber, Leser – war schlicht: Die Beschreibung war stets besser als die Wirklichkeit. Aber nun war es so weit: Sein Finale hatte begonnen – und er hatte nicht einmal einen Zuhörer. Er hatte kein Publikum. Trotzdem war in Haffners Leben immer alles an seinen Platz gefallen; Haffners stiller Schrei konnte mit allem kommunizieren: mit ihm selbst, seinen Gespenstern, seinen abwesenden Mentoren, ja sogar – warum nicht? – mit neutraleren Zuhörern aus dem Reich der Natur wie den Rosen in seinem Garten oder der trägen, strahlenden Sonne.

Er schaute wieder zu Zinka, die ihm den gebeugten Rücken zuwandte und ihrer Hand erlaubte, ausgiebig Nikos Penis zu bearbeiten.

Was Niederlagen betraf, dachte Haffner, so war diese mehr oder weniger komplett. Nicht einmal sein Vater hatte sich so tief in den Schlamassel gebracht.

Konnte er sich jetzt noch ändern? Die entscheidende letzte Metamorphose durchleben? Ich bin nicht, was ich bin! Das war Haffners beständiger Wunsch, sein Mantra. Er war ein Mann mit vielen Mantras. Er würde sich nie seinem Alter oder seinem Zeitalter gemäß verhalten. Er würde nie so sein, wie andere ihn sahen.

Und trotzdem; und trotzdem.

Es sei doch so, hatte eine Freundin von Livia vor dreißig Jahren im Künstlerzimmer eines Theaters in der St Martin’s Lane gesagt, während sie Rauchkringel paffte, die sich in der verqualmten Luft auflösten – eine Angewohnheit, die Livia an ihren Vater erinnerte –, es sei doch so, dass er dauernd davon rede, verschwinden zu wollen.

Livias Freundin war Schauspielerin. Haffner begehrte diese Schauspielerin. Er begehrte sie maßlos. Einmal hatte er Livia vor einer Party im Schlafzimmer beim Ausziehen zugeschaut; und obwohl sie ihn gebeten hatte, wegzusehen, hatte er einen flüchtigen Blick auf das üppig wuchernde Büschel zwischen ihren Beinen erhascht. Solche Erinnerungen suchten Haffner immer wieder heim. Er wurde häufig von ihnen geplagt. Er kannte das. Doch er ahnte, dass Livia in erotischer Hinsicht nicht an ihm interessiert sein konnte, wenn sie sich so vor ihm auszog, sondern nur eine stille, neutrale Sympathie für ihn empfand.

Ja, fuhr die Freundin fort, er rede immer davon, sein Leben unbemerkt führen zu wollen, unbehelligt von den Forderungen anderer.

Aber eines solltest du wissen, Raphael, sagte Livias Freundin. Du musst nicht verschwinden.

Sie verstummte; blies einen letzten Rauchkringel; drückte die Zigarette in einem Aschenbecher aus, der die Naturschönheit der Normandie pries; sah Livia an.

Weil dich, sagte sie, nie jemand sucht.

Wie angestrengt Haffner um ein Lächeln gerungen hatte, das zeigte, dass ihre Stichelei an ihm abprallte! Wie sehr er sich um ein Lächeln bemüht hatte, wenn das Gespräch wieder auf ihn gekommen war.

Vielleicht, dachte er, hatte sie recht. Vielleicht war genau das die Geschichte seines Lebens, seines Jahrhunderts.

Und nun ging es zu Ende – Haffners 20. Jahrhundert. Was hatte Haffner mit diesem Jahrhundert angefangen? Er maß sich gern an so großen Maßstäben. Aber die Antwort hing vielleicht von einer anderen Frage ab. Was hatte das 20. Jahrhundert mit ihm angefangen?

6

Die Ära, in der sich Haffners letzte Geschichte abspielte, war ein Interregnum: eine Pause. Das britische Weltreich hatte sich erledigt. Das Reich der Habsburger hatte sich erledigt. Das kommunistische Imperium hatte sich erledigt. Sämtliche Ideologien hatten sich erledigt. Doch es war noch nicht die Ära der allumfassenden Aromatherapie oder des Kultes um Berühmtheiten, und die Ära von Chakren und Druckpunkten war es auch noch nicht. Es war die Ära zwischen jener Zeit, in der man gekurt hatte, um gesund zu werden, und der Zeit, in der man kurte, um schöner zu werden. Im Grunde war es überhaupt keine Ära.

Fast alles hatte sich mehr oder weniger erledigt. Vielleicht war das gut so. Je mehr Dinge sich erledigt hatten, desto besser. Man wurde nicht mehr von den Spannungen gequält, die früher ständig heraufbeschworen worden waren.

Während dieses Hiatus, im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts, betrat Raphael Haffner die Bühne.

Das Hotel, in dem Haffner wohnte, beschrieb sich selbst als Gebirgsrefugium und unterschied sich äußerlich nicht von anderen Hotels seiner Art. Man hatte es weiß getüncht, und das mit roten Schindeln gedeckte Dach zog sich in immer schmaleren Stufen über die drei Stockwerke mit den grünen, geriffelten Fensterläden. Das oberste Stockwerk glich einem Sommerhäuschen und hatte einen winzigen, eisernen Aufbau, der an einen Beobachtungsposten oder an eine Wetterstation mit Messinstrumenten im Inneren und Barometern auf der Außenwand erinnerte. Das Ganze wurde von einem roten, im Wind kreisenden Wetterhahn bekrönt. Jedes Zimmer hatte einen Balkon, den man durch eine Flügeltür betreten konnte. Hinter dem Hotel wanden sich Pfade zwischen Nadelbäumen zu einem fernen Gipfel hinauf; vor dem Hotel erstreckte sich der Spiegel eines Sees. Daneben, am Stadtrand, befand sich ein Park mit diagonal verlaufenden Kieswegen, und in der Ferne war eine Fabrik zu sehen.

Diese Stadt war früher das bevorzugte Feriendomizil der mitteleuropäischen Oberschicht gewesen. Hier hatte Livias in Triest lebende Familie jeden Sommer verbracht. 1936 hatten sie sogar eine in den Außenbezirken der Stadt erbaute Villa gekauft, in der es fließend heißes Wasser gab. Livias Vater sagte oft, dass er in dieser Stadt glücklich gewesen sei. Sie hatte Stil. In den Restaurants gab es sehr viele Kellner – die wiederum sehr hochnäsig waren. Doch im Sommer 1939 waren die damals siebzehnjährige Livia und ihr jüngerer Bruder, Cesare, nicht mit in die Berge gekommen, sondern nach London gereist. Und nie zurückgekehrt. Sieben Jahre später wurde Livia von Haffner in ein Hotel in Honfleur eingeladen, um die vom Krieg verhinderten Flitterwochen nachzuholen, und unter dem Eindruck der Pracht des dortigen Speisesaals erzählte sie ihm von den Speisesälen ihrer Jugend. Auf den Tischen standen Servietten wie steife Mitren. Man bot den Gästen keine Schonkost, sondern die Klassiker ihrer jeweiligen nationalen Küche: Holsteiner Schnitzel und Minestrone. Man servierte die Sauce Béarnaise in einer bootsförmigen Silbersauciere, deren Tülle die Gestalt einer speienden Fratze hatte. Es gab klarste Hühnerbrühe mit leichtesten Klöschen.

Nun hielt sich Haffner, Livias Gatte, an diesem Ort auf, der inzwischen die Nationalität gewechselt hatte – er war allein, und er wollte die Villa in Besitz nehmen, er wollte ein Erbe für sich beanspruchen, das ihm nicht zustand.

Im Hotel gab es immer noch die Gerichte, an die sich Livia erinnert hatte. Es war ein zeitloser Ort; es war der Endpunkt der Geschichte. Der Gast konnte wie einst Diane-Steak und Rinderfilet Wellington bestellen – alles arrangiert auf großen, runden Porzellanplatten mit Goldrand. Selbst Haffner war klar, dass dies nicht mehr zeitgemäß war, aber das Zeitgemäße interessierte ihn nicht. Er wollte einfach nur fliehen. Wovor er floh, wusste er allerdings selbst nicht.

Nein, für Haffner gab es kein Entkommen.

1974, in seinem letzten Jahr in New York, hatte ihn Barbra – damals neunundzwanzig, seine Sekretärin im Büro in der Wall Street und Raucherin von Dunhill-Zigaretten, die sie in einem Etui aufbewahrte (drei gute Gründe dafür, dass der am Ende seiner besten Jahre stehende Haffner sie begehrenswert fand) – gefragt, warum er jeden Abend brav zu seiner Frau zurückkehre. Diese Frage hatte ihn ratlos gemacht. So müsse es ja nicht sein, hatte Barbra gesagt. Während er irritiert den tiefen Spalt zwischen ihren Brüsten betrachtete, erinnerte er sich an seinen Billardtisch mit dem blauen Boi, der zu Hause im Anbau zwischen den Burgen von Livias ungelesenen Büchern stand. Er wusste, dass er am nächsten Morgen wieder zu Hause wäre: Er würde wie üblich Corn Chex zum Frühstück essen und dabei verdrossen den Peanuts-Cartoon lesen. Das wusste er, aber er wollte es nicht wissen. Wie oft hatte er das Verlangen verspürt, alles hinzuwerfen und seiner eigenen Geschichte zu entfliehen. Aber dazu brauchte er eine Fluchtgefährtin. Er hatte ja nur Haffner. Und Haffner allein reichte nicht.

Zinka drehte sich zum Schrank um. Sie band ihr Haar meist zu einem straffen Pferdeschwanz. Nun fiel es lose bis auf die Schultern. Und Haffner wandte den Blick ab. Weil er glaubte, sie zu lieben. Er schaute wieder hin. Weil er glaubte, sie zu lieben.

Nein, es gab kein Entkommen. Und weil das die Wahrheit ist, sollte ich Haffner vielleicht nicht den Luxus der Sprache gönnen. Er ächzte unter einer Last, die er für Liebe hielt. Aber das bedeutete nicht, dass er es so formuliert hätte. Nein, Haffner, in der Falle seiner Versuchungen sitzend, seufzte einfach nur.

Uff, stieß er in seinem Schrank aus. Uff. Uff.

7

In dem freien Hotelzimmer, in das Niko gelockt worden war, hatte Zinka alles so arrangiert, dass sie im Spiegel zu sehen war, der über dem Kopfende des Bettes hing. Haffner stand hinter ihr – im Schrank. Niko, dessen Beine und Hoden über die Bettkante hingen, saß vor ihr. Einer seiner Füße reichte bis dicht vor Haffners Versteck. Haffner fiel auf, dass ein Zehennagel schwarz war – eine Art Ausweis für Nikos Durchtrainiertheit, für die langen Strecken, die er täglich joggte.

Doch die Ungleichheit ihrer Körper bedrückte Haffner nicht. Er besaß Weitsicht. Das machte ihn sympathisch. Ich bewunderte auch seinen Sinn für Humor. Es war ja nicht nur denkbar, dass das Höhere stets dem Niederen entsprang – um es mit den Worten eines anderen alten Meisters zu sagen. Nein, man konnte noch weiter gehen, denn wenn man die Polarität und, wichtiger noch, die Lächerlichkeit der Welt bedachte, war es auch vorstellbar, dass alles seinem Gegenteil entsprang: der Tag aus der Nacht, die Schwäche aus der Stärke, Hässlichkeit aus Schönheit, Glück aus Unglück. Siege bauten immer auf Niederlagen auf, die andere einstecken mussten.

Vielleicht war diese Niederlage deshalb zugleich ein Sieg. Das mochte unwahrscheinlich klingen, aber Haffner belastete sich selten mit dem Problem der Wahrscheinlichkeit. Für ihn hatte alles seine Vorzüge.

Nun wurde Nikos Gesicht von den dunklen Brustwarzen seiner Freundin bedrängt. Ihr Körper raubte ihm die Sicht auf alles andere. Darum konnte er nicht sehen, dass sie auf dem Umweg über den Spiegel zum Schrank schaute, aus dem sie von Haffner beobachtet wurde. Ihr Mund stand offen, und sie lächelte den unsichtbaren Haffner an. Haffner erwiderte ihr Lächeln beglückt. Dann besann er sich. War es nicht irgendwie komisch, dass jemand lächelte, der in einem Schrank saß, aus dem er zuvor in aller Eile mehrere Kleiderbügel entfernt hatte? Also wandte Haffner schüchtern den Blick ab und betrachtete stattdessen Zinkas Rücken, auf dem sich die Wirbel abzeichneten.

Haffner kam ein Gedanke. War es dies?, überlegte er. War dies die Liebe?

Auf einer Goldenen Hochzeit, bei der sich alle Gäste aus unerforschlichen Gründen wie Gangster aus amerikanischen Filmen der siebziger Jahre hatten kleiden müssen, hatte mir Haffner nach dem reichlichen Konsum von Cola mit Wodka erzählt, dass er sich mit siebzehn vor dem Einschlafen immer das Mädchen vorgestellt habe, das er später einmal treffen würde, sein Idealbild. Das sei sehr wichtig, sagte er. Es müsse eine weltläufige Frau sein, attraktiv, aber mit einem Hauch von mehr, falls ich wisse, was er meine. Ich wusste, was er meinte: Er wollte das Urbane, er sehnte sich nach einer Vision der Lässigkeit. Wie er mir erzählte, hatte er an dieser Gewohnheit festgehalten – auch nachdem seine Frau in sein Leben getreten war (und nachdem er etliche Affären gehabt hatte). Sogar hier, in diesem Kurort, sogar jetzt, mit achtundsiebzig, stellte er sich, um besser einschlafen zu können, immer noch ein Mädchen vor, das ihm mit Haut und Haar verfallen war. Aber nun hatte sich irgendetwas verändert.

Denn nun war Zinka dieses Mädchen.

Das war natürlich kein sehr schicklicher Gedanke. Aber Haffner konnte sehr wohl auch außerhalb konventioneller Bahnen denken.

Er drohte allerdings nicht nur, in der rechtlichen Angelegenheit zu versagen, die ihn in diesen Kurort geführt hatte: In der Rückerstattung der Villa – erst von den Nazis beschlagnahmt, dann von den Kommunisten und am Ende von den landeseigenen Kapitalisten –, die jetzt Haffner und seinen Nachkommen gehörte, weil es keine anderen lebenden Verwandten mehr gab. Nein, selbst hier, im Herzen Europas, hatte er es geschafft, die Dinge in mythologischer Hinsicht noch weiter zu verwirren. Außerdem hatte er die ungewöhnliche Sache mit Zinka einzufädeln vermocht. Und weil ihm das immer noch nicht reichte, hatte er auch etwas viel Gewöhnlicheres in Gang gesetzt: eine Affäre mit einer im Hotel wohnenden, verheirateten Frau. Sie hieß Tummel. Sie behauptete, ihn zu verehren; und ein Aspekt des Wesens von Frau Tummel war ihre Ernsthaftigkeit.

In diesem Moment verschwendete Haffner allerdings keinen Gedanken an Frau Tummels Wesen. Er wusste, dass er jetzt eigentlich mit ihr verabredet war – um dem Trauerspiel eines Sonnenuntergangs beizuwohnen. Doch Zinka hatte ihn mit ihrem verlockenden Plan überrumpelt.

Er war kein guter Mensch. Das musste man ihm nicht erst sagen. Die Geschworenen pfiffen auf Haffners Ethik. Der Fall war eindeutig. Als Geschäftsmann hatte ihn das Risiko verlockt; als Ehemann die Untreue. Seine Pflichten als Vater und Großvater hatte er weitgehend vernachlässigt. Er dachte lieber an sich selbst.

Oh, Haffner konnte sich eloquent geißeln! Andererseits: Wie leicht war er von seinem Selbsttribunal abzulenken.

Niko begann leise zu stöhnen. Warum, fragte sich Haffner in seinem Schrank, musste er so alt sein? Das war furchtbar; das war sophokleisch. Wie kam es, dass er sich erst so spät im Leben in Zinka verliebt hatte? Ja, Haffner war poetisch. Er verstand die Sprache der Inspiration. Und er war am Ziel. Ja, er war am Ziel. Er war wie berauscht: Im engen Schrank des Hotelzimmers stehend, glich er einem Silen, den man aus seiner Dumpfheit geweckt und durch eine höhere Macht euphorisiert hatte.

8

Bei dem Adjektiv sophokleisch, bei dem Substantiv Silen sollte ich wohl innehalten.

Haffner war ein Bewunderer der Antike.

Er hatte immer den Fernseher eingeschaltet, wenn Gelehrte aufgetreten waren; er hatte stets den Intellektuellen im Radio gelauscht. Und in der späten Lebensphase nach der Pensionierung hatte Haffner ein Programm zur Aufklärung in Angriff genommen – er besuchte mehrere Abendkurse. Er würde vielleicht nichts über sich selbst lernen, aber er wollte alles über alles andere erfahren. Dort saßen sie also: Die Alten und Arbeitslosen, all jene, die verzweifelt etwas lernen wollten. Zu dieser Gruppe stieß Haffner. In diesen Kursen beschäftigte er sich mit Geschichte. Das entsprach seiner Vorstellung von der Antike. Nach Haffners Rückkehr nach London, in einer Zeit, als er immer mehr mit dem Sterben beschäftigt war, begleitete ich ihn manchmal. Wir lasen die Einführungen in die Klassiker und rangen mit dem philosophischen Geschichtskonzept. Mit einem Konzept, das ironisch, intelligent und abgebrüht war.

Der Kurs über Das Leben der römischen Kaiser war Haffners verspätetes Bildungserlebnis. Er lauschte einem Mann, der die Caesaren wegen ihrer Unmoral anprangerte. Was für ein Lehrstück, sagte Errol – hinter einem Tisch sitzend, der für einen schmalen Teenager und nicht für einen in die Breite gegangenen Mann mittleren Alters gedacht war –, was für ein Lehrstück über die Eitelkeit und den verderblichen Einfluss der Macht. Woraufhin die ebenfalls an viel zu kleinen Tischen sitzenden Kursteilnehmer betroffen nickten. Ein Schaubild mit glänzend bunten Abbildungen diverser Gemüsesorten samt ihrer deutschen Namen hing an der Wand. Dann bat Haffner um das Wort. Er verstehe, dass die Anwesenden von dem Buch beeindruckt seien, mit dem sie sich in diesem Kurs beschäftigten. Er selbst sei am tiefsten beeindruckt. Er sei bekehrt worden, sagte er, denn er habe endlich begriffen, worin die Größe der Römer bestehe. Zuvor habe er sich nicht für sie interessiert, sagte Haffner, aber die Lektüre der ruhmreichen Untaten der Kaiser habe ihm die Augen geöffnet. Nun wisse er, wie großartig sie gewesen seien.

An dieser Stelle verstummte Haffner, um auf das Lachen zu warten. Doch es blieb aus.

Haffner hatte voller Entzücken die eigenwillige Auswahl der Klassiker in der Hotelbibliothek abgegrast. Unter seinem Exemplar von Das Leben der römischen Kaiser lag nun eine gekürzte Ausgabe von Edward Gibbons neben seinem Bett. Und am Pool, der einen Blick auf die schneebedeckten Berge bot, lag ein Roman von Thomas Mann neben dem Liegestuhl. Haffner streckte gern die Beine aus. Er hatte schon nach einer Woche festgestellt, dass er der einzige lesende Hotelgast war. Alle anderen schliefen oder schwatzten. Doch Haffner respektierte Dinge, über die er nicht gebot. Er war durchaus willig, sich ihrer Autorität zu unterwerfen, denn sein Wille war sehr wandelbar.

Haffner hatte nicht studiert. Seine Tochter und sein Enkel hatten die Universität besucht, Haffner jedoch nicht. Er war stattdessen in den Krieg gezogen. Aber das focht ihn nicht an, denn er hatte seine eigenen Triumphe erlebt. So hatte er zum Beispiel den Finanzminister, den Chef der Bank of England und den emeritierten Professor für Wirtschaftstheorie am LSE – Goldfaden, Held des Brains Trust, Doyen der Rundfunkvorträge – 1982 während des jährlichen Dinners des Institute of Bankers in der City zu einem bis dahin beispiellosen Trio zusammengeführt. Haffner war kein Niemand.

Und nun war er ein Student der Philosophiegeschichte. Er bewertete sein Leben auf Grundlage dieses Wissens neu. Er beschäftigte sich mit der Geschichte seiner Frau, Livia; und mit der von Goldfaden, seinem Freund und Ratgeber. Goldfaden: der auf beiden Seiten des Atlantiks berühmte Star-Ökonom.

Goldfaden war ein Kapitalist, aber einer, der gern stichelte. Wer sei die gelungenste Verkörperung des internationalen Esprit, fragte Goldfaden seine verblüfften Zuhörer gern. Wer habe den Mantel des jüdischen Kosmopoliten Isaak Leib Peretz geerbt, der zu Beginn des Jahrhunderts argumentiert habe, dass die Unabhängigkeit einer Nation nicht durch strenge Grenzpatrouillen, sondern durch eine einzigartige Kultur bewahrt werde? Gut möglich, dachte Haffner, aber wenn man nachts ruhig schlafen wollte, gab es nichts Besseres als strenge Grenzpatrouillen. Ja, Patrouillen waren die Ultima Ratio. Goldfaden setzte derweil seinen rhetorischen Kniff fort. Komme niemand darauf? Niemand könne das kosmopolitischste Land der Welt nennen? Natürlich die Sowjetunion! Der beeindruckendste Zusammenschluss von Nationen seit dem Römischen Reich. Der Kommunismus! Die Vollendung des Imperialismus. Und gebe es einen Juden, der kein Imperium liebe? Ein Imperium, fuhr Goldfaden fort, sei das beste politische System auf Erden – eine Vereinigung von Staaten, die ethnische Probleme einfach ausblende. Der Zenith des Liberalismus. Doch der Kommunismus habe ausgedient, was er, Goldfaden, bedauere. Das behauptete er jedenfalls, dachte Haffner.

Doch Haffner war noch nicht bereit, über den Problemfall Goldfaden nachzudenken.

Nachdem Haffner die Lektüre eines von mir empfohlenen klassischen Romans beendet hatte, erzählte er mir, das Buch habe ihn nachdenklich gestimmt. Man müsse bedenken, dass der Bildungsroman die junge Generation nicht mehr erreiche. Die Alten seien die wahren Protagonisten. Die Alten, dachte Haffner, waren die eigentlichen Adressaten der Liebesgeschichten. Kehren Sie wieder, Monsieur Stendhal! Ziehen Sie vom Leder, Mr. Dickens! Schreiben Sie exklusiv für Haffner! Schreiben Sie einen gefühlvollen Bildungsroman für die Ältesten und Reifsten.

Aber das schien niemanden zu reizen.

Im Grunde ein Jammer, denn Haffner war ein Volksheld. Ich wuchs mit diesen Geschichten auf – über Haffner. Er war eine Legende, und die Anekdoten, die man sich über ihn erzählte, waren Legion. Genau wie seine abschließende Geschichte. Diese Geschichte.

Denn da war sie wieder, die Lust – außergewöhnlich. Wie ein Sprinkler, der sich automatisch drehte und den bereits vom Regen durchtränkten Rosengarten auf Haffners Anwesen in den Vororten beregnete.

9

Niko lag mit zuckenden Beinen auf dem Bett. Er hatte die Augen geschlossen. Zinka hing reglos über seinem Gesicht. Sein Mund suchte blind – wie ein Kätzchen – nach ihren Brustwarzen.

Haffner schwankte und stieß gegen die Kleiderbügel.

Bei dem Klappern erstarrte Niko. Haffner erstarrte auch; sein Herz hämmerte wie wild. Nur Zinka tat so, als wäre nichts geschehen. Sie widmete sich Niko; sie forderte ihn auf, weiterzumachen. Haffner stand da und lauschte seinem Herzen, als wäre er eine Randfigur – zum Beispiel ein Taxifahrer, der im East End Londons oder im Meatpacking District New Yorks während der Morgendämmerung in seinem Auto vor einem Nachtclub stand, den tiefen Bässen lauschte, die hinter dem Türsteher im Gebäude wummerten, und zwei Marlboros gegen viel stärkere, illegal aus dem Iran eingeführte Zigaretten tauschte.

Haffner nahm erleichtert wahr, dass Niko allmählich wieder abgelenkt wurde, allmählich.

Er sollte nicht hier sein, dachte Haffner. Er sollte bei Frau Tummel sein. Oder, moralisch noch korrekter, in seinem eigenen Zimmer, in seinem eigenen Bett. Er sollte eigentlich schlafen, auf das zylinderförmige Kissen gebettet, von dem sein Kopf ärgerlicherweise immer wieder abrutschte – um am nächsten Morgen in das Rathaus mit den unzähligen Büros zurückzukehren, in dem sich auch das Raumplanungsamt befand. Haffner war angereist, um die Entscheidung dieses Amtes durch seinen Charme zu beeinflussen. Ja, er hätte seine Rolle als Mann der Familie spielen sollen. Trotzdem genoss Haffner aus rätselhaften Gründen lieber den Ausblick aus diesem Kleiderschrank.

Während er Zinka beobachtete, fiel ihm ein, dass Livia einen subtileren erotischen Stil gehabt hatte. Er hatte sie nach ihrem Training im Synchronschwimmen oft in der Eingangshalle der Badeanstalt von Golders Green getroffen. Dort hatte er ihr lachend gesagt, dass sie seine Botschafterin in der Welt der Frauen sei. Er bat sie, von ihren Beobachtungen im Umkleideraum zu erzählen. Livia sagte, er solle sich setzen. Sie schob ihre Fingerspitzen gedankenverloren durch die Schlitze zwischen den Knöpfen seines Eingriffs und legte sie sanft auf seinen Penis. Dann berichtete sie von den Mädchen in den Umkleidekabinen, von jenen, die das Haar zwischen ihren Beinen zu sauberen Dreiecken stutzten, nackt dastanden und so taten, als würde niemand etwas merken – ein Festival der Frauen. Haffner bat sie, ja nicht aufzuhören, bitte nicht aufzuhören, und Livia erwiderte, sie werde gewiss nicht aufhören. Ganz gewiss nicht.

Da kamen Zinka und Niko zu ihrem eigenen Abschluss.

Haffner entspannte sich. Er war erleichtert. Er merkte, dass er sich inzwischen zu stark mit den praktischen Schwierigkeiten seiner Situation plagte. Nun, da die Sache vorbei war, sehnte er sich nach seinem Bett. Doch zu seiner Irritation lag Niko wie hingegossen da. Er wollte liegen bleiben; er wollte Zinka im Arm halten.

Dies, dachte Haffner, entsprach ganz und gar nicht dem, was ihm verheißen worden war.

Also wartete Haffner, im Kleiderschrank versteckt, während sich ein Pärchen liebend umschlungen hielt.

Oh, Haffner war zäh! Wie oft hatte er im Schlafzimmer alle Erwartungen in den Schatten gestellt! Manch einer bildete sich ein, ihn zu kennen! Als ob ihn irgendjemand wirklich kannte. Doch Haffner entgegnete immer wieder, dass man seine Ungeheuerlichkeit differenziert betrachten müsse. Er sei gewiss kein Monster wie Caligula. Inzest reize ihn nicht. Caligula hingegen habe abwechselnd mit seinen drei Schwestern geschlafen. Höchstwahrscheinlich auch mit seiner Mutter. Und seinen Brüdern. Mit seiner Mutter, seinen Brüdern und seinen Tanten.

Haffner war der Generalissimus der Hyperbel. Nur musste er die Hyperbel im Gegensatz zu einem echten Generalissimus selbst ausführen.

Mein armer Haffner: Er war sein eigener Anreißer.

So kam zum Beispiel kaum jemand darauf, dass Caligula der naheliegendste Vergleich mit Haffner war. Haffners Familie sorgte sich nicht wegen seiner Ungeheuerlichkeit, sondern wegen seiner kompromisslosen Weltlichkeit. Wenn seine Tochter Esther seine Untreue und seine Verführungskünste anprangerte, nannte sie all dies stets banal. Sie stand in ihren Geschäftsanzügen mit den schlecht sitzenden Hosen da; mit ihrer Seidenbluse; mit ihrem braven, blonden Bubikopf, der zu Haffners Bedauern ihre liebreizenden Locken zähmte. Haffner ärgerte sich darüber, dass sie immer versuchte, ihn kleinzureden. Er war auf gedämpfte Art pikiert. Hinterher argumentierte er dann nicht ganz überzeugend – gegenüber einem unüberzeugten Haffner oder einem unüberzeugten anonymen Alkoholiker oder dem erbosten Ehemann seiner Tochter –, dass die Untreue bei genauem Hinsehen ungeahnte Schätze berge. Einerseits wirke sie wie plumpe Eitelkeit – ja, vielleicht. Andererseits eröffne sie großartige Ausblicke! Erhabene Pässe, herrliche Täler, beschauliche Hügel!

Was war denn so falsch daran, dachte Haffner, der darauf wartete, dass Niko und Zinka das Zimmer verließen, und fast vor Ungeduld platzte, als Zinka in der Tür innehielt und noch einmal zum unschuldigen Schrank schaute – was war denn so falsch daran, dachte Haffner, als er den Schrank endlich verließ, ein gefühlvoller Mann zu sein?

Die Klassiker wimmelten davon. Die Liebschaften der Götter waren Legion. Die Affären Jupiters etwa waren ein Fest der Kostümwechsel und Metamorphosen. Er paarte sich als Flamme mit Aegina, als Adler mit Asteria, als Schlange mit Persephone; bei Leda nahm er die Gestalt eines Schwans an, bei Olympia wieder die einer Schlange. Semele erschien er als loderndes Feuer, Io als Nebel, Danae als goldener Regen. Als er zum ersten Mal mit Juno, seinem Weib, schlief, verwandelte er sich in einen Kuckuck. Alkmene und Callisto bezirzte er in menschlicher Gestalt. Ja, Jupiters Liebschaften waren berühmt. Der Gott hatte Schneid.

In diesen Sagen suchte Haffner Trost.

Allerdings muss hinzugefügt werden, dass Haffner in den vielen Geschichten, die man sich über ihn erzählte, immer nur er selbst war.

Haffner Entflammt

1

Auf dem Weg zu seinem Zimmer bog Haffner um eine Ecke und kam an einem an der Wand befestigten, aufgerollten Feuerwehrschlauch vorbei. Er dachte voller Vorfreude an sein frisch bezogenes Bett und die runde Schokolade, die auf der schräg zurückgeschlagenen Decke auf ihn wartete. Da erblickte er plötzlich die wuchtige, weinende Gestalt von Frau Tummel.

Denn der Höhepunkt war zugleich ein Tiefpunkt, und was sich zunächst als Sieg dargestellt hatte, war in Wahrheit eine Niederlage – Haffners Glück, so war es vorherbestimmt, war stets rasanten Umschwüngen unterworfen.

Frau Tummel trug ein baumwollenes Nachthemd, dessen Ausschnitt mit rüschigen Spitzen besetzt war, und darüber einen baumwollenen, mit vielen rosa Rosen bestickten Bademantel. Haffner, in seinen unpassend himmelblauen und pistazienfarbenen Kleidern, stieß vor seiner Zimmertür auf sie. Er sah sich nach möglichen Beobachtern um. Er spürte die Last der Sorgen – um Frau Tummel, um sich selbst. Er mochte nicht erklären, warum er so spät und so erschöpft zu seinem Zimmer zurückkehrte.

Frau Tummel hob den Kopf und präsentierte ihre verwüstete Mascara: ein Harlekin.

Was tust du hier?, fragte Haffner fröhlich.

Wir hatten ein Rendezvous, sagte sie.

Na, na, sagte Haffner weniger fröhlich.

Vielleicht sei es aus, sagte sie traurig.

Aus?, fragte ein Haffner, der sich in das Symbol des Lächelns verwandelt hatte: eine zurückgelehnte Parenthese.

Ja, fuhr Frau Tummel fort. Am Ende werde er sie verlassen. Das wisse sie. Und so müsse es wohl auch sein. Ganz sicher. Das sei ja verständlich.

Er versuchte, sie zu beruhigen. Er werde sie natürlich nicht verlassen! Allein der Gedanke! Doch, sie wisse es, sagte Frau Tummel. Sie wisse, dass er ihr insgeheim zustimme. Aber warum? Die Sache sei kompliziert. Sie halte es für dringend erforderlich, darüber zu diskutieren.

Haffners Symbol war nicht mehr die lässige Parenthese.

Er wusste, welche Worte von ihm erwartet wurden. Er wollte sie nicht aussprechen. Er wollte allein sein; er wollte zu Bett gehen. Andererseits hatte Haffner seinen Ehrenkodex, und dieser trug maßgeblich zu seinem Verderben bei. Er war ein Bewunderer der Antike, und kein klassisch gebildeter Mann durfte den Willen der Frauen ignorieren. Seiner festen Überzeugung nach lehrte die antike Literatur das Vertrauen in die heidnischen Götter. Vertraue Cupido. Vertraue ihm in all seinen Verkleidungen, ob als Cherub oder Eros. Die Männer mussten sich stets bereitwillig von den Frauen leiten lassen. Also sagte Haffner, was von ihm erwartet wurde. Er fragte, ob sie mit in sein Zimmer kommen wolle.

Frau Tummel hob ihr verwüstetes Gesicht: ein fröhlicher Harlekin.

Und so endete der kurze Moment von Haffners Glück mit einem kurzen Gespräch.

2

Haffner schien sich wie von selbst in Unheil zu verstricken.

Er war hier, um das Erbe seiner Frau einzufordern – und bandelte aus diesem Grund mit anderen Frauen an. Das war offenbar die Logik seines Lebens.

Sie waren sich vor zwei Wochen, am zweiten Tag seines Aufenthalts, unten im Hotel im Swimmingpool-Bereich begegnet. Dort gab es drei durch winzige Treppen miteinander verbundene Schwimmbecken. Das kleinste Becken war ein Whirlpool für die Trägen und die Dicken. Also konnte man Haffner darin finden, denn er war träge, oder Frau Tummel, denn sie war dick.

Er stellte bald fest, dass Frau Tummel eine rauchige, fast heisere Stimme hatte. Sie hatte Klasse. Sie wickelte sich in ein Handtuch, ging nach draußen zu ihrem Liegestuhl und rauchte in rascher Folge drei der Zigaretten, die sie in ihrem extravaganten Etui aufbewahrte – immer, wenn man glaubte, es wäre leer, kam noch eine Zigarette zum Vorschein. Dann begab sie sich wieder in den warmen, brodelnden Whirlpool, beäugt vom insgeheim entzückten Haffner.

Eigentlich hielt er nicht viel vom Schwimmen. Er zog die Fitnessstudios vor – die Trainingsgeräte, die sein ohnehin langes Leben noch einmal um eine überraschend deutliche Spanne verlängerten. Auch das Fitnessstudio war ein Ort, an dem wir uns zwischen Tür und Angel unterhielten. Ich begegnete Haffner gelegentlich im Umkleideraum, und er setzte nackt und hocherfreut zu einer Unterhaltung an – bei der unsere Penisse betrübt den Blick abwandten –, während ich auf den genobbten Fliesen stand und mir wünschte, nicht mit seinen älteren, aber viel kräftigeren Muskeln konfrontiert zu sein. Doch in Wahrheit war das Fitnessstudio ein Ort der Sehnsucht für Haffner. Ja, sogar ein Ort der Ruhe. Er konnte den faulen Primaten spielen und die Arme über die Stangen der Brustpresse hängen lassen. Seine aus dem T-Shirt ragenden weißen, dunkel gefleckten Arme erinnerten an Fotokopien. Aus dieser Position konnte er die vielen Arten studieren, auf die sich Brüste bewegten – manche in festen Sport-BHs, andere ungeschützt, empfindlich, gerade eben zu erkennen. Zu diesem Zweck entwickelte er einen speziellen Blick, ein Alibi – vor Erschöpfung fielen ihm fast die Augen zu, und er starrte wie unter Hypnose ins Leere, unfähig, den Blick abzuwenden.

Frau Tummel war in der Parfümindustrie tätig. Sie hielt sich in diesem Kurhotel mit ihrem Mann auf – ein Nervenbündel, das an extrem hohem Blutdruck litt, wie sie Haffner erzählte. Ihr Mann saß den ganzen Tag auf der Veranda, betrachtete die stillen Berge und trank Pfefferminztee. Die alte Geschichte, dachte Haffner: die von ihrer Treue gelangweilte Gattin – die jahrhunderttypische Geschichte eines Kurorts.

Nach Frau Tummels Verschwinden lehnte sich Haffner im Whirlpool zurück und konzentrierte sich auf die wild schäumenden Blasen – dann trottete er davon; das dumpfe Echo seiner Schritte auf den lauwarmen Fliesen blieb hinter ihm zurück. In einem Raum standen Blumen auf dem Tisch: Enzian, Veilchen. Ein anderer Raum führte zu einer Sauna, in der eine reglose Frau auf den obersten Kiefernbohlen lag. Haffner stand da, entschied sich dagegen. Er öffnete eine andere Tür, nur um wieder auf Frau Tummel zu stoßen. Sie ließ sich den Rücken massieren und lag auf einem Handtuch, das mit dem Monogramm des Hotels geschmückt war, einem erfundenen, mit Goldfaden gestickten Wappen. Sie richtete sich erschrocken auf, und Haffner sah die Muttermale auf ihren Brüsten und die Ansätze der rosa Höfe, auf denen sich eine Gänsehaut abzeichnete.

Er entschuldigte sich und ging. Zwanzig Minuten später entschuldigte er sich noch einmal bei ihr, dieses Mal im dämmerigen Ruheraum, der nach einfallsreich parfümierten Kerzen duftete – Nachthyazinthe, Lilie, Granatapfel. Sie beschlossen, einen Spaziergang zu machen. Sie wanderten auf den Gipfel. Licht schimmerte auf ihrem Haar. Sie interessierte sich nicht für Haffners botanische Kenntnisse, seine genaue Benennung der Edelweißarten, Butterblumen und Gräser. Er kannte die Namen aus einem Pflanzenbuch für Kinder, in dem die Blumen nach Farben geordnet waren – erst die weißen, dann die rosafarbenen – und das er in einem Anfall von Nostalgie zusammen mit einer Tafel Schokolade in einem Tabakladen gekauft hatte, weil es ihn an seine ernste Kindheit erinnerte. Frau Tummel wollte über Liebe reden. Sie wollte über ihre Ehe reden, was das Gespräch natürlich auch auf Haffners Ehe brachte. Die Ehe bedeute viel Verzicht, finde er nicht auch? Das Gespräch war so intensiv, dass sie sich bald im Hotel wiederfanden. Sie saßen auf Haffners Bett. Das überraschte ihn nicht. Und es überraschte ihn auch nicht, dass er, nachdem Frau Tummel eine letzte Zigarette entzündet und ausgedrückt hatte, beim Küssen merkte, dass er zu weit gegangen war. Er hatte eine Grenze überschritten, den Bogen überspannt.

Denn auf dieser Welt geschieht nichts ohne Vorgeschichte; das Höhere entspringt dem Niederen, und jeder Sieg birgt eine Niederlage.

An jenem Tag war Frau Tummel bedrückt gewesen. Morgens hatte sie einen Streit mit dem Arzt ihres Mannes gehabt, und gegen Mittag hatte sie ein unerfreuliches Telefonat mit ihrer Mutter geführt. Ihr Mann hatte die Massage vorgeschlagen – zu ihrer Aufheiterung. Der Zufallsflirt mit Haffner war ihre eigene, improvisierte Zutat. Doch im Grunde, dachte Frau Tummel, als sie ihre letzte Zigarette ausdrückte, war nichts improvisiert. Nichts war zufällig. Alles war Schicksal.

Genau wie Haffner sah sie überall Zeichen.

Als sie sich umwandte, wurde sie von Haffner geküsst. Und Frau Tummel erwiderte den Kuss – denn Haffner verkörperte die magische Mischung aus Klugheit und Freundlichkeit. Er verstand sie. Doch an diesem Punkt spielte ihr Körper nicht mehr mit.

Frau Tummel war fünfundfünfzig. Wie sie ihren Freundinnen mit europäischer Offenheit erzählte, wurde ihre Regel immer unregelmäßiger, ja sogar unberechenbar. Am Abend zuvor hatte die Regel nach dreimonatiger Unterbrechung wieder eingesetzt. Also wollte sie nicht mit Haffner schlafen. Sie wollte sich nicht einmal ausziehen. Er durfte sie nicht berühren. Frau Tummel versuchte behutsam, Haffner zu erklären, was in ihr vorging.

Sie könne es nicht sagen. Er dürfe nicht von ihr verlangen, es zu sagen.

Haffner erwiderte sanft, es sei schon recht. Denn er kannte den Grund – die übliche Scheu untreuer Ehefrauen. Also küsste er sie weiter. Sie berührte zögernd sein in der Unterhose eingezwängtes Glied.

Frau Tummels Mann, mit einer anderen Seele als Haffner geboren, ekelte sich vor ihrer Regel. Er hatte schon nach kurzer Zeit stillschweigend beschlossen, während dieser Phasen nicht mit ihr zu schlafen; er wollte sie nicht einmal berühren. Deshalb erstaunte es Frau Tummel, dass Haffner keinerlei Ekel zeigte. Welche Eleganz! Welches Feingefühl! Sie war sogar einen Moment lang versucht, ihre Skrupel zu vergessen. Aber sie riss sich zusammen und dachte: Nein, nein, lieber nicht.

Wenn sie mit Haffner geschlafen hätte, wäre sie vielleicht nicht so bewegt gewesen. Doch sie schlief nicht mit ihm. Also konnte sie ihre Gefühle, ungetrübt von Komplikationen, weiter hegen. Und wenn sie zu ihrem Mann zurückkehrte, konnte sie sich außerdem die Frage stellen, warum das Verlangen so stark in ihr brannte.

Haffner wusste nicht genau, wie ernst Frau Tummel das Techtelmechtel nahm. Er glaubte, es wäre nichts Neues für sie. Er glaubte, sie habe so etwas nicht zum ersten Mal gemacht. Sie wagte sich weit vor und scheute dann zurück.

Doch Frau Tummel war nie untreu gewesen. Sie hatte keine Übung darin. Als sie am nächsten Morgen zerzaust in einem Wirrwarr von Kissen und Pyjamas neben ihrem Ehemann erwachte, wurde sie von Schuldgefühlen überrumpelt und verwirrt.

Die Schuldgefühle überrumpelten und verwirrten sie – Frau Tummel! Obwohl sie fünfundfünfzig war! Doch man kann auch mit fünfundfünfzig unerfahren sein –, und was sie für Haffner empfand, hielt sie für Liebe.

3

Sie wusste nicht, dass Haffners Niedergang stets von der Liebe eingeläutet worden war. Sie wusste nicht, dass Haffner genau hierüber nachdachte, während er die schluchzende Frau Tummel mit düsterer Miene betrachtete und dabei an einem Gin Tonic nippte, den er sich mit nicht ganz passenden Zutaten aus der Minibar gemixt hatte.

Die Liebe war vor allem die Sache anderer Leute. Früher war sie auch Haffners Sache gewesen.

Im Sommer 1939