Die fernere Zukunft - Adam Thirlwell - E-Book
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Die fernere Zukunft E-Book

Adam Thirlwell

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Beschreibung

Waren Gerüchte nicht schon immer eine Währung? Unsere Gegenwart hat mit der Französischen Revolution begonnen. An deren Vorabend werden die Menschen in Paris von der Kurzatmigkeit ihrer Ideen erfasst, schicken sich begeistert Botschaften. Viele Geschichten sind nicht wahr, aber sie sind beliebt. Während Frankreich auf einen Umsturz zusteuert und der Planet um die Sonne kreist, verbündet Celine sich mit der schönen, strengen Marta und der jungen Marie Antoinette auf der Suche nach Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit. »Ein brillanter Roman, anders als alles andere, was Sie in diesem Jahr lesen werden.« Salman Rushdie Das 18. Jahrhundert bereitet sich auf seine größten Ereignisse vor und Celine steckt in Schwierigkeiten. Ihr Mann ist kaum anwesend. Ihre Eltern sind woanders. Und irgendwo erfinden Männer Geschichten über sie – über ihre Affären, ihre Sexualität, ihre Orgien und ihre Süchte. All diese Geschichten sind Lügen, und doch ist die Öffentlichkeit von ihnen begeistert, verbreitet sie wie eine Seuche: Celine muss zusehen, wie ihr Name zum Symbol für alles Schlechte in der Welt wird. Die Welt ist gesättigt mit Dekadenz, voll rauschender Feste und privater Salons, geschmückt in Tüll und Satin, gefüllt mit Sex und Gewalt. Es ist ein Universum, das von Männern regiert wird, die sich an kolonialem Völkermord, der Zerstörung der Natur, Verbrechen gegen Frauen und vor allem an der Sprache berauschen. Um zu überleben, müssen sich Celine und ihre Freundinnen zusammenschließen auf ihrer Suche, die sie durch die Jahrzehnte führt, in die Amerikas und auf den Mond. Einer Suche, die 1775 begonnen hat und bis heute anhält. »Die fernere Zukunft« von Adam Thirlwell ist ein Gegenwartsroman, der im 18. Jahrhundert spielt: »Ein Buch voller mutiger Ideen, kühner Entscheidungen und glänzender Details, die Freude machen.« Colm Tóibín »Ein außergewöhnlicher Roman, der anders ist als jeder Roman, den man je gelesen hat. Adam Thirlwell hat das Kunststück geschaffen, eine vergangene Zeit mit einer Sprache zu beschreiben, die aus der Zukunft kommt.« Hans Ulrich Obrist »Der beste Roman seit vielen Jahren.« Daniel Kehlmann »Eine zutiefst gegenwärtige Geschichte über eine Frau, die die begrenzten Formen der Macht, die ihr zur Verfügung stehen, nutzt, um sich in einer gewaltsam patriarchalischen Welt einen Raum des Handelns zu schaffen« Guardian »›Die fernere Zukunft‹ ist ein großartiger Roman: ein Zeugnis weiblicher Freundschaft, eine Abenteuergeschichte, ein politischer Kommentar und eine Hymne an die Macht der Sprache« Financial Times »›Die fernere Zukunft‹ verwebt Geschichte und Fiktion auf raffinierte Weise« Times Literary Supplement

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Seitenzahl: 462

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Adam Thirlwell

Die fernere Zukunft

Roman

 

Aus dem Englischen von Jan Wilm

 

Über dieses Buch

 

 

Unsere Gegenwart hat mit der Französischen Revolution begonnen. An deren Vorabend werden die Menschen in Paris von der Kurzatmigkeit ihrer Ideen erfasst, schicken sich begeistert Botschaften. Viele Geschichten sind nicht wahr, aber sie sind beliebt. Während Frankreich auf einen Umsturz zusteuert und der Planet um die Sonne kreist, verbündet Celine sich mit der schönen, strengen Marta und der jungen Marie Antoinette auf der Suche nach Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit.

 

»Die fernere Zukunft« ist ein Gegenwartsroman, der im 18. Jahrhundert spielt: »Ein Buch voller mutiger Ideen, kühner Entscheidungen und glänzender Details.« Colm Tóibín

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Adam Thirlwell wurde 1978 in London geboren, wo er auch lebt. Seine bisher erschienenen Romane ›Strategie‹, ›Flüchtig‹ und ›Grell und Süß‹ wurden international hochgelobt, sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Er war 2003 sowie 2013 auf der »Granta’s List of Best young British Novelists« und erhielt 2008 den Somerset Maugham Award. Als London-Redakteur ist er für die Paris Review tätig, war gemeinsam mit Daniel Kehlmann S. Fischer Gastprofessor und hat zusammen mit Hans-Ulrich Obrist und Rem Kohlhaas das Studio Créole entwickelt, eine Performance-Reihe zur Übersetzung. ›Die fernere Zukunft‹ ist sein vierter Roman.

 

 

Jan Wilm ist Schriftsteller und Übersetzer. 2016 erschien von ihm »The Slow Philosophy of J.M. Coetzee«, 2019 der Roman »Winterjahrbuch«, 2022 »Ror.Wolf.Lesen.« Er übersetzte unter anderem Arundhati Roy, Andrew O’Hagan, Pankaj Mishra und Maggie Nelson.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Widmung

Inhalt

Eins

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

Zwei

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

Drei

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

Vier

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Fünf

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

Für Alison

Für Rosa Sailor

Inhalt

Eins 9

 

Zwei 113

 

Drei 191

 

Vier 293

 

Fünf 325

Eins

1

Aller Anfang war Schreiben. Eines Abends fiel einer Frau in Paris ein Pamphlet in die Hände. Die Druckerschwärze dieses Pamphlets war verschmiert. Unter der Überschrift war das verschwommene Bild einer halbnackten Frau in einem Bett zu sehen – ein berüchtigtes Abbild ebenjener Frau, die gerade dieses Pamphlet las. Weder die Kopie noch das Originalbild wiesen die geringste Ähnlichkeit mit der Frau auf.

Ein Pamphlet kann winzig und undurchdringlich sein, wie ein Schnipsel Code. Die Frau betrachtete das Pamphlet für eine lange Zeit und versuchte, es zu verstehen – sie blickte es so lange an, dass sie nun zu spät für eine Party war. Sie wusste nicht, wer dieses Pamphlet geschrieben, und weder, wer das Bild auf dem Umschlag gemacht, noch, wer es veröffentlicht hatte. Es war hinter der Grenze produziert worden. Es war Teil einer neuen pornographischen Serie, die in Wirkstätten der Avantgarde gedruckt wurde – in London, Antwerpen und Genf. Es schien ein internationales Projekt dahinterzustehen – Samisdat-geheim und rund um die Uhr.

Sie warf das Pamphlet weg, starrte es anschließend jedoch weiter im Müll an, wie es zwischen den Zeitungen und Zeitschriften und Rechnungen und entwerteten Schecks und Nachrichten lag. Es war unmöglich, den Blick abzuwenden.

Jahrhunderte um Jahrhunderte vergehen, doch alles geschieht im gegenwärtigen Augenblick.

Dann kam sie zu einem neuen Schluss. Sie nahm das Pamphlet und ging in die Nacht.

2

Ihr Name war Celine. In den letzten Monaten war eine Reihe anonymer Fiktionen erschienen, in denen ihr Sexualleben, ihre Lebensgewohnheiten und ihre Politik attackiert wurden – darüber hinaus erschienen zahlreiche ähnliche Pamphlete über weitere Frauen, mit denen sie befreundet war. Doch es waren die Pamphlete über Celine, die aus Gründen, die sie nie ganz verstanden hat, zu kleineren Bestsellern wurden. Bald wurde sie zu einem Zeichen, einer Figur. Die Leute wollten wissen, was in der fortlaufenden Serie als Nächstes passieren würde.

Über allen Menschen war der Himmel blau, gefolgt von rosa, dann rosa, gefolgt von blau. Alles wirkte sanft. Aus den geöffneten Fenstern der Teestuben wehten Düfte von Jasmin und Lavendel. In den Außenbezirken der großen Städte gediehen dichte Wälder und winzige Pilze. In den Ozeanen tummelten sich Oktopusse in der Tiefe, ließen ihre vielen Arme/Beine genüsslich schweifen, um an Informationen zu gelangen. Überall auf dem Planeten trieben Piraten Handel mit anderen Piraten. Und inzwischen glaubten viele Menschen, mit Celine bekannt zu sein, ohne sie auch nur im Geringsten zu kennen.

Anfangs hatte Celine jedes einzelne Pamphlet gelesen, sobald es erschienen war, doch schon bald brachten die Worte sie zu sehr auf. Sie versuchte, ihren Freundinnen ihre Gefühle zu schildern. Es war, als wäre alles schmutzig oder verschüttet, sagte sie. Sie habe den Eindruck, dass die Welt verschwommen sei. Sie wusste nicht genau, was sie mit diesen Worten ausdrücken wollte. Als sie jung war, hatte sie geglaubt, die Welt wäre ein großer Kosmos, der sich vor ihr in einer Abfolge aufregender Szenen entblätterte, und nun erwies sich die Welt als schrecklich eng und trostlos, und es war unmöglich, sich darin zu bewegen. Celine ging zwar weiterhin zu den Partys, blieb allerdings viel lieber in ihrem Schlafzimmer mit halb zugezogenen Vorhängen. In der Zwischenzeit verließ sie sich darauf, dass ihre Freundinnen ihr kurze Paraphrasen der Texte wiedergaben, die über sie geschrieben worden waren und die sich nun in ihrem Haus stapelten. Die Worte tauchten aus dem Nichts auf, wie Insekten. Es schien, als wollte das Papier jede Oberfläche – Konsoltische und Betten, die Theken von Bars und die Erfrischungsräume von Spas und Saunen – geradezu ersticken, und darin verbarg sich ein sehr beunruhigendes Gefühl. Ihr Haus war erfüllt vom Gestank des Papiers – vanillig und staubig.

Das Mädchen in den Geschichten über sie war kein Mädchen, das ihr bekannt vorkam.

Celine war dazu erzogen worden, anderen Menschen zu gefallen. Ihre Mutter und ihr Vater stammten aus einem kleinen Land hinter der Grenze. Die Nervosität und Vorsicht ihrer Immigranten-Eltern hatte ihr immer missfallen. Sie waren intellektuell, aber auch ängstlich konventionell. Ihre Eltern kritisierten Celine häufig für ihre Rechtschreibung oder ihre Rechenkünste, so wie – das war ihre Vermutung – alle Mädchen aufs Peinlichste kritisiert wurden. Ihre Eltern hatten Celine beigebracht, sich an der Oberfläche der Dinge zu erfreuen, und diese Art der Erziehung hatte ihr nie gefallen, ja, sie hatte sogar versucht, sich dagegen aufzulehnen. Doch nun wurde in diesen von Männern verfassten Pamphleten behauptet, dass sie gerade aufgrund dieser Erziehung oberflächlich und obendrein gefährlich sei.

Den anderen Frauen, über die auf diese Weise geschrieben wurde, schien es nichts auszumachen, in der Öffentlichkeit zu stehen. Sie nahmen an, dass dieser Zustand gewöhnlich oder eben unvermeidbar sei, als ob die Stimmen ihrer Eltern oder die Stimmen in ihren Köpfen nun auch in der Außenwelt wirkten, und dass dies eine Entwicklung war, die jeder hätte vorhersehen können. Es schien Celine, als sei sie die Einzige, die die Situation als ungerecht oder sogar erschreckend empfand – als hätte sie, wie sie einmal zu erklären versuchte, plötzlich begriffen, dass sie in einer Geschichte über Monster lebte, in der sich herausstellte, dass alles von den Monstern selbst geschrieben worden war. Die einzige Form des Widerstands, die ihr bisher in den Sinn gekommen war, bestand darin, sich in erhöhte Wachsamkeit zu kleiden – ihre ganz persönliche Vorstellung einer Rüstung. Sie hatte begonnen, kleine Slogans in die Ärmel ihrer Kleider einzunähen, Fragmente wie ALS OB oder WENN’S DENN SEIN MUSS – oder zusätzliche Falten und Schlaufen anzunähen, um ein System falscher Öffnungen ins Vielfache zu multiplizieren.

In einem dieser Punk-Outfits betrat Celine nun die Party und hielt Ausschau nach einer Verbündeten.

3

Warum hat Celine nicht mehr getan?, dachte sie oft. Doch es war eine Welt – wie so viele Welten –, in der die eigene Macht durch die Beziehungen zu anderen Menschen definiert zu sein schien. Für eine Frau war dies in der Regel ihr Ehemann. Celines Mann aber war Sasha, ein unbedeutender, aber mörderischer Faschist – der persönliche Sekretär des Hauptministers.

Sie hatte Sasha vor einem Jahr geheiratet, als sie achtzehn und er fünfundvierzig war, und vor ihrer Hochzeit hatte sie ihn nur ein einziges Mal getroffen, in Begleitung ihrer Eltern sowie fünfzehn Anwälten. Trotzdem glaubte sie nach diesen ersten Begegnungen, dass sie ihn liebte. Im Privaten neigte sein Sinn für Humor zu Albernheit. Beide spielten sie gerne Dame. Seit Erscheinen der Pamphlete waren ihre Gespräche allerdings schwieriger geworden. Sie stritten sich immer häufiger, unwesentliche Diskussionen über Geld, Sex und Zeit. Je mehr Pamphlete erschienen, desto weiter entfernten sie sich voneinander. Sasha schlief fortan in seinem Büro. Er ließ sich Essen und Kisten mit Wein liefern, während er seine Sitzungen abhielt, in denen die laufenden internationalen Kriege besprochen wurden. Es gab das Gerücht, dass er mit jeder ins Bett ging.

Mit anderen Worten: Ihr Ehemann war abwesend. Und ihre Eltern waren anderswo, auf dem Lande. Ihre Mutter schrieb ihr Briefe, in denen sie ihrer Tochter mitteilte, wie ruhig es sei und dass sie alle an sie dachten, während sie nähten und Bücher lasen. Die Vorlesungen ihres Vaters an der Universität seien um ein Semester verschoben worden. In ihren Briefen an die Eltern erwähnte Celine die Pamphlete nicht. Sie wollte ihre Eltern nicht bloß als einen kleinen Unterschlupf ansehen, einen Schutz vor jedem Wetter. Sie waren etwas, das sie schon lange hinter sich gelassen hatte. Es schien, als wäre ihre Einsamkeit ein Objekt, oder als hätte sie sich in ein Objekt verwandelt, und dieses Objekt trüge den Namen Einsamkeit. Die einzige ständige Präsenz in ihrer Nähe war Cato. Cato war pummelig, mürrisch und fünfzehn. Er war ein paar Monate zuvor mit einem diplomatischen Gefolge aus einer indischen Republik in die Stadt gekommen, und Celine hatte ihn gefragt, ob er als persönlicher Assistent bei ihr bleiben wolle. Aus irgendeinem Grund hatte sie ihm den Namen Cato gegeben, und dazu ein übertriebenes Gehalt. Er hatte schnell seine eigene Art entwickelt, ihre Sprache zu sprechen: eine Art Patois, das hohe Kunst mit ungewöhnlichen Registersprüngen vermischte. Nachts arbeitete Cato an seinen Memoiren über die Frauen, die er beobachtete – Notizen, die er überall im Haus hinterließ, weil niemand die Schrift, in der er schrieb, lesen oder die Worte, die er benutzte, verstehen konnte. Und das war ein Glück, denn die unleserlichen Worte waren kleine Beleidigungen, Fragen zur relativen Attraktivität, revolutionäre Philosophie …

Anstelle eines Ehemannes oder einer Familie hatte Celine ihre Freundinnen: Julia und Marta. Sie schickten sich jede Stunde Nachrichten, kleine Sätze und Notizen. Es war eine Art, sich gegenseitig Hoffnung zu spenden.

Das Universum zerfällt zu einer Hitzewolke, es stürzt unweigerlich in einen Strudel der Entropie, doch innerhalb dieses unumkehrbaren Prozesses sind Bereiche der Ordnung möglich, Aspekte der Existenz, die zu einer Form tendieren, in der vielleicht eine bewusste Gestaltung erkennbar werden kann – und eine davon war diese Geschichte von Celine und ihren Freundinnen.

4

Celine fand Marta neben der Eisdiele. Sie gab ihr eine Kostprobe der neuesten Broschüre, die sie danach ganz schnell in einer Innentasche verbarg.

– Oh, ja, sagte Marta.

Sie versteckten sich hinter einer importierten tropischen Pflanze, um ein Privatgespräch zu führen.

Celine liebte Marta, denn sie war klein und lebhaft, ihre Fingernägel waren oft schwarz von Schlamm und Farbe und anderem Schmutz, sie hatte einen vulgären Sinn für Humor, ihre Gesichtszüge hatten etwas Längliches und Übergroßes und dabei etwas magisch Anziehendes, und sie rauchte noch mehr als Celine selbst.

Dieses neue Pamphlet, sagte Marta, bot eine Liste pornographischer Affären zwischen Celine und verschiedenen berühmten Frauen, Staatsministern und allerlei Nebenfiguren. Auch gab es viel Politisches darin, sagte sie weiter, etwa Bestechung und Erpressung und Komplotte gegen die Regierung. Und es endete mit einer Übereinkunft zwischen Celine und verschiedenen jüdischen Milliardären darüber, mit ausländischen Mächten in Verhandlungen zu treten und in Nordamerika die Macht zu übernehmen, und dies, fügte Marta hinzu, zelebrierten sie anschließend mit einer Reihe wahrlich barbarischer Sexpositionen.

Celine hatte das Gefühl, sie müsse sich übergeben – nicht so sehr wegen irgendeines Details dieses Bildes, sondern weil es so viel mehr Bilder von ihr in den Köpfen anderer Leute gab, als sie ertragen konnte.

– Mach nicht weiter, sagte sie.

– Na ja, das ist auch eigentlich alles, sagte Marta.

Ein leerer Mond kreiste in großer Entfernung um ihren Planeten, so wie auch die Gespräche weiter kreisten.

– Ich bin unter Frauen aufgewachsen, unterbrach ein Mann, der ganz nah an Celines Gesicht sprach.

Sein Atem roch säuerlich nach Schokolade.

– Ich bin hyperaufmerksam, was Gespräche zwischen Frauen angeht, setzte er noch hinzu.

– Aber Sie haben diese Art von Gespräch noch nie gehört, sagte sie. – Definitionsgemäß.

– Ich kann es aber versuchen, sagte er.

Alle liebten das Vergnügen. Und vielleicht war der grausige Mann, der mit ihr sprach, auf aufrichtige Art aufmerksam in seinen Gefühlen gegenüber Frauen, auch wenn Celine dies bezweifelte. Für Celine und ihre Freundinnen wurde das Vergnügen immer komplizierter.

Celine flüchtete in einen Nebenraum, in dem einige Vasen auf dem Boden standen, in die die Frauen pissen konnten. Dann pisste auch sie. Es war ein schwieriges Unterfangen, und einiges spritzte auf den Rand und beschmutzte den Saum ihres Kleides.

Jemand, den sie liebte, sagte einmal zu ihr: Es sieht aus wie eine Party, es fühlt sich an wie eine Party, es riecht wie eine Party. Aber nicht falsch verstehen. Das ist keine Party. Das ist Macht, Baby.

Celine musste weinen, riss sich dann aber zusammen. Schließlich ging sie zurück in den Raum.

5

In der darauffolgenden Nacht war Celine mit Marta und Julia in ihrer Wohnung. Draußen herrschte eine sengende Hitze. Celine trug eine alte Weste und Leggings. Julia, die dazu neigte, das Kostüm der Ultrafemininen zu tragen, saß auf einem Sofa, während Marta ihr eine neue Frisur mit vielen Bändern und Stecknadeln verpasste. Sie gingen ihrem üblichen Hobby nach – dem Versuch, die Welt zu verstehen. Manchmal taten sie dies mit Tarotkarten, manchmal mit Gesprächen. Und Celine beobachtete Julia und wunderte sich über ihr Aussehen, die schlanke Größe ihres Körpers und ihre Haare und ihre blasse, attraktive Haut, wie sie sich in diesen luftigen Kleidern für Männer verhüllte, wo sie doch eigentlich mit einer Reitgerte oder einer Kette hätte dastehen müssen.

Dann wurde sie von Sasha unterbrochen, und es war, als würde das Vergnügen sofort verschwinden – so wie sich ein Raum am Ende einer Disco-Party auflöst, wenn jemand die Neonlampen anschaltet und man plötzlich erkennt, dass alle Pflanzen zerquetscht sind.

– Was für’n Scheiß ist das denn?, sagte Sasha.

Er hielt ein Pamphlet in der Hand, und sie waren alle so schlecht gedruckt und so verschmiert, dass es unmöglich war, zu erkennen, ob es sich um ein neues oder ein altes handelte.

– Das ist das aktuellste?, fragte Marta.

– Kann ich mit meiner Frau sprechen?, sagte Sasha. – Das ist eine Familienangelegenheit.

– Was ist das?, fragte Celine, ohne ihn zu beachten.

– Es ist neu, sagte er.

– Wie neu?, fragte Celine.

Dann packte Sasha sie am Hals und zerdrückte das Pamphlet neben ihrem Gesicht, als ob sie es dann besser lesen könnte. Es war sehr selten, dass so viel Gewalt auf eine derartige Weise in einem Raum präsent war, und sie machte alles klaustrophobisch, als ob sie alle gegen eine Wand gedrückt würden. Es war unmöglich zu sagen, ob er nun zitierte oder paraphrasierte. Sie versuchte zu sprechen, doch er hielt sie zu fest an der Kehle, und sie hatte Angst, zum Teil wegen Sashas Handlung, jedoch auch aufgrund der Gewalt der Worte, die er ihr an den Kopf warf. Sie hatte sich daran gewöhnt, nie auf die Worte zu hören, mit denen man sie beschrieb, und jetzt war die Wirkung dieser Worte äußerst hässlich.

Als Sasha fertig war, verblieb eine leuchtend rote Linie um ihren Hals. Sie versuchte, eine alte Zigarette aus dem Aschenbecher aufzuheben, wo sie sich langsam in Asche auflöste, doch ihre Hände zitterten zu sehr. Also nahm Marta sie, zündete sie erneut an und steckte sie Celine zwischen die Lippen. In dieser kleinen Geste lag eine solche Zärtlichkeit, dass Celine kurz Mut schöpfte.

– Warte mal, soll das heißen, dass du das glaubst?, fragte Celine.

Als Antwort gab Sasha ihr einen Schlag ins Gesicht oberhalb ihrer Wange. Der Schock darüber war beinahe so groß wie der Schmerz in ihrem Auge und ihrem weichen Schädel. Sie verlor die Balance und begriff nur vage, dass ihre Beine keine Kraft mehr hatten, bis sie plötzlich in sich zusammensackte und auf den Boden fiel. Ganz langsam stand sie wieder auf, hielt sich am Bein eines Sofas fest, dann am Seidenbezug. Sie sah eine alte Tarotkarte, die unter einem Stuhl verschwunden war. Ihr Ohr schmerzte sehr, sie berührte es, und an ihrer Fingerspitze sah sie einen kleinen Flecken Blut.

Sasha atmete heftig. Er sagte, es sei eine Schande, oder es sei Schande über ihn gekommen, oder sie sei eine Schande: Sie hörte nicht recht und wollte ihn nicht bitten, den Satz zu wiederholen. Einige Augenblicke lang stand er atmend vor ihr. Dann verließ er den Raum.

Langsam trat Celine vor einen Spiegel. Sie blutete auch aus einem Augenwinkel, und im Rückblick aus einer längst vergangenen Zukunft würde es Celine eines Tages so erscheinen, dass dieser Moment, in dem ihr Spiegelbild sie ausdruckslos anstarrte, der Moment war, in dem sie das Grundgesetz ihrer Cartoonwelt begriffen hatte: dass jede Person, die über einem Nichts schwebt, so lange in der Schwebe bleibt, bis sie sich ihrer Situation gewahr wird – und dann hinunterstürzt.

Auf ihrer Wange befand sich ein violetter Fleck. Er war so unförmig, wie eine Spinne oder Spucke unförmig ist.

– Hey, schau mal, sagte Julia. – Dein psychotischer Ehemann hat etwas fallen lassen.

Dann hob sie einen Zettel auf und reichte ihn Celine.

6

Celine hatte sich immer gefragt, warum sie nicht mehr tat. Es schien, als ob alle davon ausgingen, dass es nichts zu tun gab. Doch um sie herum schienen viele Männer überzeugt, dass sie Pläne schmieden konnten. Überall taten sich viele Männer zusammen und heckten Verschwörungen aus und gründeten Unternehmungen, und es schien Celine, dass auch sie in der Lage sein sollte, Pläne zu schmieden. Sie musste nur Berechnungen anstellen.

Am Morgen erhielt Celine mehrere Nachrichten von Marta, in denen sie Celine mitteilte, dass sie nicht verkatert sei, dass sie jemanden umbringen wolle und dass sie sofort vorbeischauen würde, um ihr großes Unterfangen zu besprechen.

Marta war in den äußeren Provinzen auf einem Anwesen in einer Art Sumpfland aufgewachsen. Ihr Vater war sehr reich, wenn auch tot, ihre Mutter war deshalb ebenfalls sehr reich und betrunken oder depressiv oder beides, und als Kind jagte Marta Kaninchen und Rehe und lauschte Gewitterstürmen. Dann wurde sie von ihrer Tante adoptiert, die in einem Herrenhaus auf dem Land lebte und ihr die Verhaltensregeln beibrachte. Als sie sich kennenlernten, hatte Celine sie sofort ins Herz geschlossen. Sie war niemand, so dachte Celine, die jemals in Ohnmacht fallen würde. Marta war anspruchsvoll und erbarmungslos, und allein für diese Eigenschaften hätte Celine sie vergöttert, auch ohne ihre grelle und schonungslose Schönheit. Auch kümmerte sich Marta aufs Extremste um ihre Freundinnen. In einer Gesellschaft, die aus Worten und Bildern besteht, die immer wieder in Umlauf gebracht werden, einer Gesellschaft, die sich der Desinformation verschrieben hat, war es äußerst schwierig, persönliche Sicherheit zu erlangen, und eine winzige Form davon war vielleicht gerade diese intensive Freundschaft zwischen zwei Frauen.

– Ich werde sterben, sagte Celine. – Warum liebt er mich nicht? Was soll ich denn nur tun?

– Du wirst nicht sterben, sagte Marta.

– Was sagt dein Mann dazu?, fragte Celine. – Hat er irgendwas gesagt? Hat er mit Sasha gesprochen?

– Du willst über meinen Mann sprechen?, fragte Marta.

– Ich mag das Kleid, sagte Celine.

Marta trug ein sehr helles Kleid mit übergroßen Regenbogenärmeln. Sie sah sehr jung aus, dachte Celine, auch wenn sie älter war als sie selbst. Das war vielleicht ihr aller Problem – dass sie alle so ungeheuer jung waren oder so aussahen. So jung zu sein, verleitete die Leute zu der Annahme, dass man ewig angegriffen werden könnte. Es gab so viel Hass! Alles war da, alles wartete auf sie, drückte sich in Wortfetzen aus, und vielleicht war dieser Hass der Grund, warum sie nicht den sonnenerleuchteten Kosmos sahen, den sie erwarteten, sondern nur Korridore und Sackgassen.

Marta lächelte, zog einige Schichten aus und legte sich neben ihre Freundin ins Bett. Neben dem Bett lag ein abgestandener Gateau, den sie aß.

– Was mache ich bloß mit diesen Leuten?, fragte Celine –  Ich muss mehr tun.

– Du darfst dich nicht darum kümmern, was Falschleser denken, sagte Marta.

– Aber macht es dir nichts aus, sagte Celine, wenn die Leute über dich reden? Ich kann es nicht ertragen. Es fühlt sich an wie der Tod, es fühlt sich an wie eine Verwandlung. Und wenn es dann mein Mann ist, der wütend ist –

Sprache im Allgemeinen war ekelhaft, meinte Marta. Doch die Leute schienen sie zu bewundern. Es erinnerte daran, wie alle gerne diese Briefromane lasen. Als ob alles nur dazu da wäre, um zu Wort und Schrift zu werden! Während sich die meisten Gefühle, oder zumindest die interessantesten, sagte sie, der Sprache entzogen. Dann beugte sich Marta vor, um etwas aus einer Flasche in eine schmutzige Tasse zu gießen.

Währenddessen rauschte der Planet weiter um eine heranrasende Sonne.

– Ich will mich rächen, sagte Celine.

– Du musst irgendwie Kontrolle über sie bekommen, sagte Marta. – Wenn du diesen Männern Angst einjagen willst, brauchst du etwas, das sie wollen.

– Aber ich habe nichts, sagte Celine. – Mein Mann hasst mich. Und wenn ich keinen Mann habe, dann habe ich nichts.

– Ich will deinen Schmerz nicht kleinreden, sagte Marta, – aber nein: das lehne ich ab.

Sie hatten das Fenster offen. Die Geräusche der Höfe unter ihnen drangen zu ihnen herauf: Sittiche, gedämpfte Pferdehufe. Sie musste zugeben, dass es immer etwas Köstliches hatte, bei Tageslicht herumzuliegen, während der Rest der Welt vor sich hin arbeitete, ganz egal wie deprimiert man sich auch fühlen mochte.

– Ich meine, was stand denn in dieser Nachricht?, fragte Marta. – Die, die er fallen ließ.

– Ach, die Nachricht, sagte Celine. – Ja, die Nachricht war von seinem Chef, dem Hauptminister, der über Marie Antoinette lästert. Kannst du dir das vorstellen? Außerdem ist sie verschlüsselt. Aber weißt du, was das zeigt? Wie blöd die sind? Die Chiffre war beigelegt.

– Na ja, sagte Marta, – dann haben wir ja was in der Hand.

– Warum?, sagte Celine. – Was kann ich mit einem Brief anfangen?

– Es wird über Antoinette gelästert, sagte Marta. – Niemand redet schlecht über die First Lady. Gib den Brief Ulises.

– Ulises? Der kleine Diplomat?

– Klar, der kleine Portugiese, sagte Marta. – Der mit dem komischen, rausstehenden Penis. Tut mir leid, nein, der Spanier.

Einen Augenblick lang sprach keine von ihnen ein Wort.

– Ja, sagte Celine. – Aber wir brauchen noch mehr als das. Ich muss die Kontrolle übernehmen.

Es war so zermürbend, eine Welt zu verlieren, dachte Celine, oder auch nur zu begreifen, dass eine Welt verloren gehen konnte. All die Ziegelsteine, die Kinder und die Baumkronen, alles, was sie von ihrem Fenster aus sehen konnte, schien jetzt unnahbar und weit weg. In einer solchen Situation blieb ihr zum Überleben bloß, was immer ihr gerade am nächsten war. Und das beständige Vergnügen ihres Lebens war dieses Hin und Her von Gesprächen zwischen Freundinnen, vielleicht weil ein Gespräch der letzte verbliebene Ort war, an dem Worte zärtliche Dinge sein durften. Sie mochte die Art und Weise, wie ein Gespräch unerwartet Wesen hervorbringen konnte – Konzepte, von denen sie nicht sicher war, ob sie an sie glaubte, oder von denen sie nicht wusste, dass sie an sie glaubte –, und dann fiel ihr plötzlich ein, dass diese Schönheit des Gesprächs für einen anderen Zweck improvisiert werden konnte.

– Worin sind wir die Besten?, sagte Celine.

Marta hob amüsiert eine Augenbraue.

– Im Reden, sagte Celine korrigierend.

Sie konnte ihren Mann nicht verlassen, denn ohne eigenes Geld wäre sie auf die Gastfreundschaft anderer angewiesen. Es war richtig, dass sie jederzeit einen anderen Mann hätte verführen und so einen gewissen Einfluss auf ihn hätte erlangen können, doch das schien ihr eine eingeschränkte und prekäre Macht zu sein – wieder einmal von der Laune eines Mannes abhängig zu sein. Alles war also, wie immer für diejenigen, die kein eigenes Geld besaßen und keine klaren Möglichkeiten, welches zu verdienen, äußerst begrenzt und beschränkt. Doch die Macht, die sie zerstört hatte, so dachte sie plötzlich, war vielleicht dieselbe Macht, die ihr helfen konnte. Sie hatte eine Vision von einer Gruppe von Schriftstellern und Künstlern in ihrem Umfeld, die ihr im Gegenzug für Unterhaltung und Snacks ihre eigenen Argumente und Fiktionen präsentieren würden – ein Einflussfeld, wolkenhaft und einhüllend.

– Wir brauchen Schriftsteller, sagte Celine.

– Wir scheinen die Schriftsteller nicht zu haben, sagte Marta.

– Ich meine, wir brauchen andere Schriftsteller, sagte Celine. – Wir schmeißen Partys.

Allein, so sorgte sich Celine, es war nicht klar, wie sie ohne weiteres eine Party veranstalten könnte, die von den Schriftstellern als cool empfunden würde. Die Frage nach Coolness war immer sehr kompliziert, und sie schien vor allem Schriftsteller zu interessieren.

– Schriftsteller?, fragte Marta. – Ist das jetzt dein Ernst? Hast du noch nie einen Schriftsteller getroffen? Wir geben ihnen Alkohol und Chicas. Wir geben ihnen Glamour.

Celine sah Marta an. Im Sonnenlicht des Fensters waren ihre alten Aknenarben deutlicher zu erkennen. Sie war sehr attraktiv. Plötzlich, dachte Celine, ergab sich die Möglichkeit auf etwas Hoffnung.

– In der Geschichte der Welt, sagte Marta, – waren die Bestechlichsten, die Tödlichsten und die Unschuldigsten immer die Schriftsteller gewesen.

7

Literatur war überall. Die Welt war ein Dschungel namens Schreiben. In dieser Welt wurden Schriftsteller zu Politikern, und Politiker schrieben für Zeitungen, und inzwischen schrieben sich alle jeden Tag gegenseitig, als wäre ein Erlebnis erst dann ein Erlebnis, wenn es sein eigenes Bild in Wort und Schrift bekommen hatte. Worte wurden auf Zeitungsblätter gedruckt, auf Notizbuchfetzen und Briefe gekritzelt, in Archiven gehortet, an Wände geklebt oder zu kleinen Heftchen gebunden, um sie in den Arkaden zu verteilen. Das Papier, das sie verwenden mussten, war grob, schwer und fleckig und riss sehr schnell, die Worte selbst aber, so schien es, wurden leichter und leichter, schnell skizzierte Symbole, um das Universum in einem zarten, unbeschreiblichen Netz zu fangen. Und je unbeschreiblicher ein Netz ist, desto unmöglicher ist es, ihm zu entkommen.

In der gewöhnlichen Welt sah es so aus, dass alle eine Show machten, eine Zeitschrift gründeten oder eine Begeisterung für eine bestimmte Art des Schreibens entwickelten. Dann gingen sie in Bars, um über diese Shows und Zeitschriften zu reden und sich über das Layout des Titelblatts, die Schriftart und die Rückständigkeit des aktuellen Schreibens zu streiten. Es war das neue Zeitalter des Publizierens, das stellten alle allmählich mit Erstaunen fest, während sie durch die Gassen, die Wälder und die Konzertsäle schlenderten – so wie man vielleicht eine Modenschau betritt und sich langsam und mit Erstaunen gewahr wird, dass das gesamte Dekor, sogar der Stuhl, auf dem man sitzt, aus Blumen besteht. Und vielleicht wird es von nun an überhaupt kein anderes Zeitalter mehr geben – bis die Sonneneruptionen und Asteroiden schließlich alles vernichten. Geschichten vervielfältigten sich sehr rasch, so wie Keime oder Sporen von jedem verwesenden Etwas ausgehen, während draußen die unheilbringenden Hunde umherstreiften. Die Menschen wollten ihre eigenen Crônicas verfassen oder die Schriften anderer Leute kommentieren, wobei sie das Schreiben nur unterbrachen, um noch mehr lesen zu können, was wiederum zu noch mehr Schreiben führte. Es war, als wäre das Schreiben ein Rauschmittel oder zumindest eine Obsession, und niemand dachte ernsthaft über die Auswirkungen der Produktion so vieler Worte nach – weder die Auswirkungen auf diejenigen, die mit Worten beschrieben wurden, noch auf diejenigen, die die Worte produzierten, noch auf eine Welt, in der so viele Worte existierten.

Eine Welt, in der das Schreiben allgegenwärtig ist, ist in Wahrheit eine Welt des Lesens. Alle schrieben sie – doch das bedeutete auch, dass alle lasen und schließlich eine ernste Krankheit des Lesens erlebten.

Und unter diesen Worten und Artikeln befanden sich die Verleumdungen über Celine und ihre Freundinnen sowie über viele andere Frauen, die sich böswillig als berühmt bezeichnet fanden. Noch nie war es so einfach gewesen, zu diffamieren und zu verleumden, zu stalken und zu attackieren: Es war das goldene Zeitalter der Psychose. All diese Texte waren anonym, und die Anonymität schien Straffreiheit zu gewähren, so wie jeder über die Hausparty lästerte, die Celine zu ihrem achtzehnten Geburtstag veranstaltet hatte. So fühlten sich jene Schriftsteller unbesiegbar und unsichtbar, und vielleicht waren die beiden Zustände identisch.

Celine verstand all dies und fand es dennoch widerwärtig. Sie hatte die Befürchtung, dass sich die Bedeutung verlagerte, vielleicht nicht nur verlagerte, sondern dass sie verschwand, und dass dies geschah, weil es keine echten Informationsquellen mehr gab. Es wurden so viele Informationen in Echtzeit veröffentlicht – lokale und überregionale Informationen –, und jede von ihnen war verzerrt. Jeder Satz erweiterte Objekte oder Personen über ihren natürlichen Lebensraum hinaus und schuf Bilder und Gerüchte – so wie ein Schatten von einer Person abgeschält und in eine Silhouette verwandelt werden kann.

Und sonst schien kein Mensch – womit sie natürlich meinte, kein einziger Mann – ihre Wut zu teilen oder die Gewalt zu würdigen, die diese Manie des Schreibens verriet. Na ja, sicher, sagten sie, wenn sie versuchte, es zur Sprache zu bringen, aber hast du gesehen, was sie über Antoinette geschrieben haben? Es schien, als ob sie auserwählt worden wäre, die Dinge zu verstehen, bevor andere sie verstanden, und das gerade deshalb, weil sie sich in erbärmliche Pornographie verwandelt hatte. Auf diese Weise entblößt zu sein, bedeutete, in einem völlig unterworfenen Zustand zu existieren – ohne jeglichen Schutz davor, von Leuten erfunden zu werden, die weniger einfallsreich oder intelligent waren als sie selbst. Allerdings verlieh ihr dies ein Wissen, das niemand sonst teilte. Die Menschen schienen zu glauben, dass sie die Macht besäßen, ihr eigenes Bild zu bestimmen. Sie wussten nicht, dachte Celine, dass sie von anderen Menschen und den Worten anderer Menschen bestimmt wurden.

Alle Wälder und Tintenfische und Windhunde waren von der literarischen Welt verschlungen worden, so wie eine Schlange einen Elefanten umschlingt. Diese Welt existiert natürlich überall dort, wo Menschen dargestellt werden, und ihr Wesen ist der Kompromiss, der Terror, die Eitelkeit, die Mode und der Tod – denn im Geschäft der Darstellungen ist jeder Wert subjektiv und daher unbeständig, und daher immer nur mit Gewalt hervorzubringen. Und doch sind die Proportionen zwischen dieser Welt und der anderen gigantischen Welt sehr beweglich und löslich. Jeden Moment, so stellte sich heraus, konnte die alte Welt vollständig verschwinden und zu kleinen digitalen Symbolketten werden, die sich in der weißen Luft auflösen.

8

Sie hatte alles für ihre erste Party mit Marta und Julia vorbereitet. Es hatte zwei Wochen gedauert. Sie stellten für den Abend extra Assistenten ein, die Drinks zubereiteten oder immer wieder Teller aus dem Balthazar brachten, dem Restaurant drei Straßen weiter, das allen aufgrund seines altmodischen Glamours so gut gefiel. Sie erstellten Listen mit interessanten Leuten und überlegten, was man essen könnte, ohne die Unterhaltung unterbrechen zu müssen. Es war ein komplexes Unterfangen, und sie genossen diese Art von präziser Planung. Wie bei allen Unterfangen gab es auch hier Rückschläge: Blumen, die am Morgen der Party an die falsche Adresse geschickt wurden, und Bauarbeiten, die plötzlich vor dem Haus begonnen wurden und die Straße unpassierbar machten. Dann konnte niemand die Eiswürfel finden.

Schließlich aber kam der Abend, und Celine saß allein mit Marta herum. Zuerst herrschte bloß eine nervöse Atmosphäre, etwas Winziges, aber Aufgeladenes, das die Teller mit den Snacks um sie herum und die fahrigen Assistenten so winzig und unwirklich erscheinen ließ, so wie alles unwirklich erscheint, wenn das eigentliche Ereignis noch nicht begonnen hat – so wie Leute, die darauf warten, dass eine schwierige Telefonkonferenz beginnt, ein munteres Gespräch über ihre Kinder führen, das in Wirklichkeit aber nervös und unkonzentriert ist. Und als Cato endlich auftauchte, um einen Neuankömmling anzukündigen, war es nur Julia, die zur Familie gehörte und also gar nicht als Gast zählte.

Einige Stunden lang saßen die drei noch beieinander und aßen die mit Marmelade gefüllten Croissants, die sie bestellt hatten. Dann gingen sie zum Wodka und anderen Spirituosen über.

Gegen 11 Uhr traf der erste Gast ein. Es war Rosen, ein milliardenschwerer Finanzmagnat. Er war ein Freund ihres Vaters, es hieß, er sei Jude, obschon Rosen selbst nie erwähnt hatte, ob er tatsächlich Jude war oder nicht, und er lebte in dem kleinen Land hinter der Grenze, da es von dort aus einfacher war, Geld an verschiedenen Orten zu bewegen. Er sei nur kurz in der Stadt und habe sie besuchen wollen, sagte er. Er konnte nicht ahnen, dass hier eine Party stattfand. Er war zart und freundlich, und einen Moment lang schien es, als wäre ihr Vater anwesend, doch irgendwie verwandelte er sich in etwas Solideres oder Eleganteres als ihr echter Vater, und Celine fühlte sich von einer Art Nostalgie getroffen. Wenn sie Rosen sah, musste sie stets an seine Größe denken, denn er war auf eine Weise groß, an die sie sich nie recht erinnerte, so dass sie, wenn andere Leute etwas über diese Größe sagten, ihre eigene Wahrnehmung immer wieder neu prüfen musste, und sie fragte sich, ob diese Diskrepanz daher rührte, dass er zu anderen Leuten streng und sogar brutal sein konnte, während er ihr immer mit größter Freundlichkeit begegnete. Sie war froh, dass er hier war, sagte sie. Er sei wirklich nur gekommen, um hallo zu sagen, sagte er. Er würde sich einfach in eine Ecke setzen und lesen.

Und das tat er auch. Er setzte sich in eine Ecke und nahm ein Buch hervor, so dass es bald schien, als wäre er überhaupt nicht anwesend.

Schließlich, kurz nach Mitternacht, traf ein zweiter und letzter Gast ein: der berühmte Produzent Hernandez. Hernandez hatte ein sanftes, gutaussehendes Babyface mit leicht wildem Haar. Zur Begrüßung nahm er gerne das Gesicht der anderen Person in die Hände und küsste sie feierlich auf die Stirn. Dies wirkte seltsamerweise gleichzeitig väterlich, sarkastisch und geil. Er kleidete sich über seine Verhältnisse. Heute Abend trug er etwas Enges und Samtiges. Er mochte Frauen, doch vor allem mochte er Verschwörungen. Er sah sich in dem leeren Raum um, nickte Rosen zu, der sein Nicken nicht erwiderte, und wandte sich dann wieder an Celine. Er sagte, es war in etwa so, wie er es erwartet hatte. Sasha hatte allen gesagt, wenn sie zu ihrer Party gingen, seien sie für ihn gestorben. Also, fügte Hernandez mit einem Lächeln hinzu, konnte er natürlich nicht fernbleiben. Hernandez bewegte sich stets in Kleingrüppchen, wobei niemand genau wusste, mit wem er zusammenarbeitete oder wie weit seine Freundschaften reichten. Am liebsten sagte er unter vier Augen zu jemandem, dass alle anderen zwar dieses dächten, sie aber wüssten, dass es jenes sei. In der Öffentlichkeit aber lebte er eine ständige Unbestimmtheit.

– Aber, ja, ich dachte, Beaumarchais hätte gesagt, dass er hier sein würde?, sagte Hernandez. – Er sagte, er würde mich hier treffen, dachte ich?

– Wer ist Beaumarchais?, fragte Celine.

– Der Diabetiker?, sagte Marta.

– Diabetiker?, sagte Hernandez. – Also, ich glaube nicht.

Hernandez sah sich um und betrachtete die dunkelroten Samtwände wie in einem Kino.

– Oder sind schon alle weg?, fragte er. – Ist es schon Morgen? Ist das eine dieser merkwürdigen Geschichten, wo man in ein Taxi steigt, und die Zeit bleibt stehen? War ich sieben Stunden lang in diesem Taxi?

9

Am nächsten Tag bat Celine Hernandez, ihr einige Informationen über die aktuelle Kunstszene zu schicken. Wenn man handeln will, muss Nachdruck in den Handlungen stecken, dachte sie. Nach der sozialen Katastrophe brauchte sie mehr Orientierung.

Laut Hernandez war alles, was man über Schriftsteller und Künstler wissen musste, dass sie gerne in Gruppen unterwegs seien. Einige von ihnen waren Faschisten, einige Radikale. Andere wollten mit Politik nichts zu tun haben. Jeder glaubte, dieser eine sei der Wahre, dieser andere sei ein Falscher. Für Außenstehende schien es unmöglich, die Gründe für diese Unterscheidungen zu verstehen.

Betrachten Sie, so Hernandez, zum Beispiel die jüngsten Karrieren von zwei Schriftstellern: Beaumarchais und Jacob. Jacob war derzeit ein radikaler Philosoph, doch er versuchte sich auch an Skripten, Essays und sogar Romanen. Er stand immer kurz vor dem großen Ruhm. Irgendwie ist er ihm entgangen. Die beiden sollten Freunde sein, doch Beaumarchais hatte gerade einen berühmt-berüchtigten Essay über Jacob geschrieben, sagte Hernandez, in dem er Jacob als kalt und feige bezeichnete. Die Reinheit, für die viele Journalisten Jacob lobten, schrieb Beaumarchais, war in Wirklichkeit sein Stolz und seine Angst, die ihn daran hinderten, es jemals zu etwas zu bringen. Celine fragte Hernandez, ob dies bedeute, dass er Beaumarchais lieber möge. Er sei sich nicht sicher, sagte Hernandez, ob man Beaumarchais überhaupt mögen könne. Er war sehr klug, allerdings auch manipulativ. Oft war es schwierig, ganz genau zu verstehen, was er eigentlich sagte, denn er murmelte ein wenig. Durchweg hinterhältig, egoistisch, ein Gauner, meinte Hernandez, allerdings war er auch fähig zu großer Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit. Wie jeder wollte er Ruhm.

Was er damit meinte, setzte Hernandez hinzu, war, dass Beaumarchais im Grunde ein Nichts war, oder vielleicht eher ein Koffer – dessen Inhalt das Leben nach und nach auspackte.

Celine fühlte sich erschöpft von der Situation, in der sie sich befand, wie auch vom Scheitern ihrer ersten Party, und dies war ein schwieriges Gefühl, denn es bestand aus vielen Gefühlen, nicht nur aus dem Gefühl der Angst oder der mangelnden Sicherheit, sondern auch, das wusste sie, aus der Verzweiflung darüber, dass ihre Eitelkeit so offengelegt worden war.

Die nächste ihrer Einladungen richtete sie an Beaumarchais und seine Freunde.

10

Und so versammelte sich in der darauffolgenden Woche eine Gruppe unbekannter Schriftsteller in Celines Haus zu ihrer zweiten ersten Party. Dieselben Assistenten waren angestellt worden, das gleiche Essen wurde abermals geliefert von Balthazar. Diese Schriftsteller versammelten sich trotz der allgemeinen faschistischen Missbilligung, die Celine anhaftete – vor allem, weil sie Schriftsteller waren, weil sie Freunde waren und weil sie so unbekannt waren, dass sie nicht das Gefühl hatten, Sashas Zorn könne ihnen jemals in irgendeiner Weise schaden. Sie trugen alle seltsame Kleidung – Tennisschuhe und schmutzige Hemden, wie Leute, die sich von einer langen Krankheit erholten.

Beaumarchais war Autor und fast 40 Jahre alt. Er sah gebrochen aus, wirkte aber dennoch hoffnungsvoll. Wenn man ihm begegnete, war man oft erstaunt, wie groß und kräftig er war, wenn man bedenkt, wie gewandt und winzig seine Schrift erschien. Niemand würde sagen, dass er attraktiv war, doch wenn er lächelte, zeigte sich eine seltsame Schönheit auf seinem Gesicht, die sehr berührend war. Er versuchte immer noch, sein erstes Skript zu produzieren – eine schlichte Farce mit Doppelgängern, Verwechslungen und unvorhergesehenen Zufällen. Ihre Produktionsgeschichte war erschütternd. Erst lehnte sie die Comédie ab, dann fünf weitere Studios. Dann hatte Hernandez sich der Sache angenommen, und zwei Wochen später teilte die Comédie mit, dass sie es sich vielleicht noch einmal überlegen würden, sofern Beaumarchais das Skript um 20 Seiten kürzen könnte. Nachdem diese Kürzungen vorgenommen worden waren, wurde das Skript an die staatliche Zensurbehörde gesendet, wo es auf unbestimmte Zeit herumlag. Und da befand sich Beaumarchais noch immer – in der Entwicklungshölle. Es fiel ihm immer schwerer, Hernandez dazu zu bringen, auf seine Mitteilungen zu antworten. Er hörte immer wieder Gerüchte, dass Hernandez mit anderen Schriftstellern zusammenarbeitete.

Es war möglich, dachte er, dass er an Unterernährung sterben könnte. Er dachte, dass er vielleicht an einer inneren Krankheit litt. Vor kurzem hatte er versucht, ein Tagebuch zu schreiben, damit aber wieder aufgehört, weil er es hasste, als er selbst zu schreiben, ohne die Vervielfältigung, die der Dialog ermöglichte.

Vielleicht war das der Grund, warum Celine ihn mochte oder zumindest Sympathie für ihn empfand. Irgendwann an diesem Abend, daran würde sich Celine auf ewig erinnern, hatte sie an einer Wand gelehnt und dem leisen Geräusch der Unterhaltung gelauscht und die Gruppe beobachtet, die sie versammelt hatte. Die Atmosphäre hatte etwas Vagabundenhaftes und etwas von Underground, als diese Männer versuchten, unvorstellbare Zukünfte oder unvorstellbare Welten zu beschreiben – und wie alle Gruppenzusammenhänge waren sie äußerst dicht, was es beim Versuch, zwischen ihnen hin- und herzuschalten, schwer machte, zu erkennen, wo die Verbindungen lagen. Es gab nur kleine Fragmente und Hinweise: Du musst die Narkotika aus Martinique probieren – lange Revolution – es ist –

Alles war Aufbruch, Sprung, Schläue, Übergang, Flucht nach draußen.

Es war ein neuer Sprachstil für sie, und deshalb so verlockend. Beaumarchais zum Beispiel erklärte ihr bedauernd seine Theorie, dass er nicht verstehen könne, warum so viel Mühe in seine Erschaffung geflossen sei, wenn diese Mühe umsonst gewesen sein solle. Er sei fast 40 Jahre alt und außerdem ein sehr wertvolles und zerbrechliches Wesen, ein Objekt, dessen Erschaffung eine Menge Vorbereitung und Bildung erfordert habe – nicht nur Bildung, sondern auch Reisen, sogar Krankheiten seien Teil dieser Vorbereitung gewesen, und er bedauere sehr, dass diese Mühe, wie sie sehen könne, bisher nicht gefruchtet habe. Er sprach mit einer solchen Aufrichtigkeit und Trostlosigkeit, dass Celine merkte, sie mochte ihn.

– Was ist denn das eigentliche Ziel?, sagte Celine.

– Mit mir?, sagte Beaumarchais. – Es läuft. Beaumarchais hat etwas, was alle wollen, das weiß ich.

– Du brauchst nur die Gelegenheit, sagte Celine.

Beaumarchais hielt inne und sah sie mit warmer, hingebungsvoller Dankbarkeit an.

– So ist es, sagte er. – Aber zuerst brauche ich ein Bad, einen Haarschnitt und ein einwöchiges Nickerchen.

Sie waren besessen von Neuartigkeit und Originalität. Sie diskutierten heftig über die Literatur anderer, und Celine stellte fest, dass das Einzige, was sie daran hinderte, so heftig über die Literatur der Anwesenden zu diskutieren, die Tatsache ihrer gegenseitigen Anwesenheit selbst war. Es bestand die Möglichkeit, dass es sich dabei nur um Neid handelte und dass dies deshalb widerlich war, doch es bestand auch die Möglichkeit, dass sie eine leidenschaftliche Bindung an die Literatur als Ideal empfanden. Vielleicht waren diese beiden Zustände sogar identisch. Sie schienen zu glauben, dass ein Werk viele Jahre, vielleicht sogar alle Zeit, überdauern könnte, als ob ein Werk, das nicht überdauerte, deshalb wertlos wäre, und es war äußerst seltsam mitanzusehen, wie leidenschaftlich sie glaubten, dass aller Wert in der Zeitlosigkeit lag. Für sie alle besaß die Vorstellung von der Zukunft etwas sehr Romantisches, und sie waren der Überzeugung, dass der Weg in eine zukünftige Existenz in der Produktion von Werken liegt. Nur ein Werk kann über die Zeitspanne der eigenen Lebenszeit hinaus existieren. Wenn jemand von einem Roman erzählte, an dem er gerade arbeitete, fragte Beaumarchais, ob das, was er schrieb, das totale Schreiben sei. Er wolle alles darin haben, sagte Beaumarchais, denn wenn ein Schriftsteller nicht für sein Leben schreibe, würde es nicht die Ewigkeit überdauern. Jemand anderes unterbrach ihn und fragte, was Beaumarchais in diesem Fall über die Form denke. Oh, die Form, antwortete Beaumarchais, die wolle er auch. Er wollte alles.

Es war schwer zu sagen, dachte Celine, ob sie gerade zu Macht kam oder nicht.

11

Einige Wochen lang kamen nur Beaumarchais und die ihm nahestehenden Personen zu Gesprächen in Celines Haus. Sie alle hielten sich für fortschrittliche Denker, und vielleicht waren sie in ihrer Gerechtigkeitsliebe tatsächlich fortschrittlich, doch sie wussten nicht, dass Celine mehr als alle anderen Gerechtigkeit suchte. Es ist immer schön, zwanzig zu sein, schrieb einer von ihnen viele Jahre später in einem Memoir, das erst veröffentlicht wurde, als die meisten von ihnen schon tot waren, doch in diesem Zeitalter zwanzig zu sein, machte die Menschen in doppeltem Sinne selig und glücklich – denn das Gefühl, die Zukunft zu gestalten, ist eine ganz einfache Form der Korruption. Die Partys, die sie liebten, waren ausschweifend. Als Celine sich ihren Plan mit Marta ausgedacht hatte, hatte sie sich diese Partys als etwas Elegantes und Geschmackvolles vorgestellt. Stattdessen zerfielen sie immer in Chaos und Neid und Enttäuschung, sie waren blumig und durchsetzt mit Versagen, und Celine fand über sich heraus, dass ihr diese Atmosphäre sogar noch besser gefiel.

Und dann geschah bald etwas Neues. Es war so selten, dass Beaumarchais und seine Freunde einer Szene angehörten, dass sie daher allen, die sie trafen, von den bedeutenden Kontakten erzählten, die sie knüpften. Allmählich gewannen Celines Partys an Bekanntheit – sie wurden gerade so bekannt, dass der Bekanntheitsgrad und die Berühmtheit in den Köpfen der Leute die Gefahr überwogen. Der Raum wurde übervoll und stickig. Es wurde schwieriger zu hören, was andere Leute sagten. In jedem Fall war es schwierig, seine Freunde zu sehen. In der Atmosphäre verlor man sie leicht. Manchmal musste man sich mit denen begnügen, die gerade da waren, und hoffen, dass die jeweilige Person dieselbe Sprache sprach.

Es begann sich ein Ensemble zusammenzufinden: etwas Kollektives und Verwirrendes. In ihr Haus kamen Romanautoren, Buchautoren, Starlets, Fixer, Schlemihle, Essayisten, Sammler, Kunsthändler, Akademiker, Agenten, Librettisten, junge Maler, die gerade von einer Reise zurückgekehrt waren, Philosophen, Sänger, verrohte Dichter. Einige von ihnen brachten ihr eigenes Essen mit. Ein emigrierter Soldat aus Polen schleppte seinen eigenen Samowar an, weil er den Menschen hier nicht zutraute, dass sie wüssten, wie man Tee zubereitet. Es war schwierig, sich darüber hinaus mit ihm zu unterhalten, denn die Sprache machte ihm Schwierigkeiten. Er wandte sich an Celine, nickte und sagte: die extreme Gegenwart. Sie fand es unpräzise oder sogar unverständlich, gleichzeitig aber unmöglich zu vergessen.

Es war bezaubernd und verwirrend – ein Park, in dem sich Geschichten entfalten konnten. Eines Abends sah Celine Ulises an ihr vorbeigehen, den kleinen madrilenischen Diplomaten, den Marta als einen möglichen nützlichen Akteur in ihrem Unterfangen erwähnt hatte. Celine flüsterte ihm etwas ins Ohr, was er jedoch nicht verstand, nahm dann aus ihrem Kleid die Nachricht von Sasha hervor, die belastende Worte über Antoinette enthielt, und reichte sie Ulises – dann zog sie sich zurück und ließ Ulises verwirrt neben einem politischen Theoretiker stehen, und er versuchte schweigend, herauszufinden, wie er dieses Beiblatt von Celine betrachten sollte, dieses Stück Papier, von dem er hoffte, dass es eine Art Sex-Botschaft war, während der Theoretiker ihn mürrisch anstarrte, die Finger rosafarben vom Zuckerguss einer Torte.

Als Celine mit ihren Partys begann, dachte sie, auf diese Weise Autoren finden zu können, die Texte zu ihrer Verteidigung schreiben würden, oder dass sie selbst sich öffentlich besser ausdrücken könnte. Sie wollte ihr eigenes Bild erschaffen, auf dass es nicht von anderen Menschen geschaffen würde. Sehr schnell begriff sie, dass das Bild, das Fremde von ihr hatten, viel größer war als jedes Bild, das diese Schriftsteller hätten erfinden können. Inzwischen hatte sie jedoch herausgefunden, dass sie unbeabsichtigt zu einer noch größeren und unberechenbareren Macht gelangt war – sie war kein einzelnes Bild, sondern ein Medium, ein Ort, an dem Bilder leben konnten.

Das Miniaturuniversum, über das sie herrschte, war ungeheuer verführerisch – so wie jeder Nachtklub verführerisch ist, in den nur einer begrenzten Anzahl von Menschen Einlass gewährt wird. Auf individueller Ebene, da waren sich die Leute einig, schienen ihre Partys immer in einer Katastrophe zu enden, kollektiv gesehen aber schufen sie etwas von Schönheit und Dauer, da sie eine Wirklichkeit entstehen ließen. Die Gespräche, die auf diesen Partys geführt wurden, vermittelten Eindrücke von anderen Menschen, die unauslöschlich waren und deshalb gar nicht aufgeschrieben werden mussten. Wie auf der einen Party, als alle bis etwa sechs Uhr morgens tranken. Und als Cato in den Laden ging, um Kaffee zu kaufen, stand Beaumarchais’ Freund und Feind Jacob auf und begann einen Monolog aus einer alten Schrift zu rezitieren. Selbst ohne ihre düstere Schönheit wäre es wundervoll gewesen, wie er es schaffte, weiterzumachen, obwohl er so viel getrunken hatte. Jacob war schmächtig und nervös und körperlich unscheinbar, und das wusste er auch. Er hatte mittelbraunes Haar, eine mittelgroße Nase, eine mittelgroße Statur und ein mittelgroßes Bäuchlein, das dazu passte. Dies war ein sehr trauriger Zustand für ihn, wie er zu beklagen pflegte! Er war der Meinung, dass die Leute seine Texte nicht ernst nahmen, aufgrund seiner mangelnden Präsenz, was er durch die Dramatik seiner Rede zu kompensieren versuchte. Er befand sich gerade inmitten seines Monologs, als Cato zurückkehrte und flüsterte, dass die Amerikaner gerade von den Briten massakriert worden waren. Als sie davon hörten, standen alle auf und gingen, nur Jacob, der die Nachricht nicht mitbekam oder einfach nur wütend über den Verlust seiner Zuhörer war, fuhr mit seiner Rezitation fort. Als er in Ohnmacht fiel – er hatte sich die letzten 16 Stunden ausschließlich von Alkohol und Zigaretten ernährt –, war nur noch Cato da, der Jacob vorsichtig einen Verband um den verschwenderisch blutenden Kopf wickelte.

So waren diese Partys letztendlich nicht nur Partys für Schriftsteller und Künstler, sondern auch für Leute, die in weiteren Bereichen der Welt tätig waren – Wirtschaftsführer, Bürokraten, Versicherungsvertreter, faschistische Feinde Sashas, Bankiers, Werbefachleute, Radikale aus reichen Familien. Marta und Julia standen stets da und lauschten in dem heißen Raum, mit ovalen Schweißflecken unter den Achseln ihrer Kleider, und der Effekt war seltsam anziehend oder zumindest anregend, dachte Celine, die ihre flüchtigen Empfindungen immer mehr zu genießen wusste. Überall im Raum wurden sehr schnell sehr viele Worte gesprochen.

Celine begann zu glauben, dass die Party eine Kunstform war, wie es auch die Konversation war: absolut, anspruchsvoll – und unterschätzt, denn sie war eine Kunstform, die Frauen entwickelt hatten. 20 Jahre später, in Upstate New York, mittellos und im Exil, sagte jemand, der auch dort gewesen war, zu ihr, dass ihre Partys immer so großartig, weil überdreht gewesen seien: wie alle über Grenzgebiete und das Postsystem und internationale Allianzen sprachen. Sie habe das irgendwie anders gesehen, sagte Celine. Ihr Leben zu dieser Zeit sei eine Art langsames Erwachen gewesen. Es war das Leben einer Person, die gerade erwachte und sehr langsam begriff, inwelchem Umfeld sie sich befand.

Die Partys waren eine Abendschule, sagte Celine.

12

Es verging jedoch noch mehr Zeit, und Celine spürte, wie sich ihre Begeisterung etwas in Luft auflöste. Der Sommer war drückend heiß und vermittelte das Gefühl von einer Art Schwebezustand, als ob vielleicht nichts mehr passieren oder sie keine größere Wirkung mehr erzielen könnte. Das war durchaus akzeptabel, dachte sie, doch es war auch eine Enttäuschung. Bis eines Abends all das Gerede plötzlich Lenoir, den Polizeichef, hervorbrachte. Sein Auftritt hatte etwas Magisches! Celine hatte plötzlich das Gefühl, dass sie Zugang zur wahren Quelle haben könnte.

Lenoir war bekannt für seine Unterdrückung, nicht der Stadt, sondern auch von sich selbst, was allerdings nicht hieß, dass er nicht gerne zuschaute. Und jetzt war er hier. Er saß gern allein an der Bar und drehte Zigaretten. Celine ging auf ihn zu, um mit ihm zu sprechen. Er erzählte gerne von sich, von seiner Kindheit in der Provinz. Sie waren arm, aber aufrichtig und glücklich, sagte er. Celine entgegnete ihm, dass sie sich nicht mehr an vieles aus ihrer Kindheit erinnern könne. Sie seien auch nicht reich gewesen, fügte sie hinzu. Sie erinnerte sich aber daran, dass ihre Mutter Klavier spielte, in einem Zimmer, das durchdampft war von der Wäsche, die auf dem Herd trocknete. Genau, sagte Lenoir, also verstand sie. Er hatte sich die Polizeischule durch den Verkauf von wissenschaftlichen Zeitschriften finanziert. Seine Eltern besuchte er noch immer jeden Monat.

Es schien, dass Lenoir sie mochte.

– Ich wollte sagen, sagte Lenoir. – Ich wollte sagen, wie sehr ich Sie unterstütze. Die Dinge, die die Leute über Sie schreiben. Ich glaube ihnen nie.

– Viele Leute sagen mir das, sagte Celine. – Also, sie sagen es mir unter vier Augen.

Lenoir schien verärgert über ihre Andeutung.

– Wenn ich irgendetwas tun könnte, sagte er. – Wenn ich das irgendwie verhindern könnte –

– Sie sind der Polizeichef, beteuerte sie. – Diese Stadt liegt in Ihren Händen.

– Aber sie sind nicht in dieser Stadt, sagte Lenoir. – Ich meine, die Autoren.

– Und?, sagte Celine.

Sie schien ihn verletzt zu haben, auf die Weise, wie Männer so leicht von Frauen verletzt werden konnten, als wären Männer Pfirsiche. Sie war diese Situation gewohnt, und doch lag darin immer etwas Beunruhigendes. Sie schauten gemeinsam auf die Party und versuchten, Ruhe zu finden. Eine Frau untersuchte einen großen Bluterguss an ihrem Arm, gerade neben ihrem Platinarmband.

– Gefällt es Ihnen hier?, fragte Celine.

– Mir gefällt es nirgendwo, sagte Lenoir.

13

Es war etwa eine Woche später, als Lenoir zurückkam, um sie unter vier Augen zu sehen. Das Zimmer war ein schwülheißer Würfel. Es schien, dass ihr Bild ihn verfolgte, dass sie ihn dazu gebracht hatte, etwas für sie tun zu wollen.

Es gäbe viele Menschen, die diese Texte über sie, diese Pornographie, nicht guthießen. Er hatte daher einen Plan ausbaldowert, um die Autoren zu finden, die so schreckliche Dinge verfassten. Sie hatten spezielle Verteilungsmuster im Postsystem ausmachen können: kleine Kontaktlinien zwischen bestimmten Buchhändlern und Hafenbehörden. Zum Beispiel schien es einen besonderen Knotenpunkt in London zu geben. Sie hatten Spione, die sie darüber informierten, dass dort Produktionszentren existierten. Jedoch war es schwierig, diese Zentren zu infiltrieren. Sobald eine Produktionsstätte gefunden wurde, eine Druckerei oder eine Buchhandlung, wurde sie geschlossen und an anderer Stelle wieder eröffnet. Sie brauchten also ihren Rat, sagte er.

– Meinen Rat?, sagte sie.

Es war jedoch offensichtlich, dass dies für Lenoir eine große Rede war, und so antwortete er nicht sofort. Er hatte einen riesigen Becher mit blassgrünem Eis als Geschenk mitgebracht. Es schmolz und rann bereits davon. Er hatte ein mattes Heilpflaster auf der Stirn kleben. Vermutlich, so dachte Celine, war das etwas, was eben passierte, wenn man versuchte, einen Staat mit Gewalt zu regieren, während der wahre Grund darin lag, dass Lenoir am Abend zuvor, als er spät von der Taxistation nach Hause kam, im Dunkeln gegen die spitze Ecke eines Bücherregals gelaufen war, das er in seiner neuen Mietwohnung vergessen hatte, so dass er nun eine dramatische Platzwunde über der Stirn hatte – dramatisch, aber sehr sauber, wie der Schmiss von einem Stilett.

– Ich hasse es wirklich, mich mit Literatur zu beschäftigen, sagte er.

– Wer tut das nicht?, stimmte Celine zu.

Ihr Kleid fühlte sich klebrig an. Ein Teller mit Feingebäck war schal geworden. Eine geronnene Schüssel mit pici cacio e pepe stand auf dem Boden und wurde von Martas Hund aufgeschleckt. Marta hatte das Tier zurückgelassen, da sie für eine Weile die Stadt verlassen hatte. Um Celine herum stand in Verpackungskisten ein gerade geliefertes Porzellanset, eine Reihe von Kreisen und Rechtecken, bemalt in grellem internationalem Blau, das auf seine Anordnung auf