Grell und Süß - Adam Thirlwell - E-Book

Grell und Süß E-Book

Adam Thirlwell

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Beschreibung

Die coolste, wildeste, eindrucksvollste junge Stimme Großbritanniens Eine gute Erziehung und ein guter Job. Eine schöne Frau, einen Hund und ein Haus in den Suburbs: unser postmoderner Held besitzt alles. Doch dann steht ihm der Sinn nach Nervenkitzel: Gefühle für eine Frau, die nicht seine ist, eine Orgie und mehrere Schusswechsel. Eine Ereigniskette intolerablen Ausmaßes nimmt ihren Lauf. Adam Thirlwell lässt diesen schillernden Teufelskerl durch sein ebenso rücksichtsloses wie unschuldiges Leben rasen, das schlagartig aus dem Ruder läuft. Quecksilbrig, melancholisch, angenehm bösartig: ein extravaganter und weltgewandter Großstadtroman. »Ein wundervoll ausgeklügelter Roman über Sex, Liebe, Verlust und Moral – eine Glanzleistung.« Daniel Kehlmann

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Seitenzahl: 469

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Adam Thirlwell

Grell und Süß

Roman

 

Aus dem Englischen von Tobias Schnettler

 

Über dieses Buch

 

 

In Brasília endet gerade die Nachtschicht, in Tokio wird eben der erste Whisky Sour getrunken – und unser Held wacht neben einer Frau auf, die nicht seine ist. Eigentlich lebt er zusammen mit seiner Frau und seinem Hund bei seinen Eltern, hat eine gute Ausbildung und bis vor kurzem auch einen guten Job gehabt. Doch dann überkam ihn das Unheimliche – ob der neuen Arbeitslosigkeit, ob seiner Gefühle für die Frau neben ihm oder ob der Rückkehr seines alten Freundes Hiro, ist schwer zu sagen. Fest steht, dass eine intolerable Kette von Ereignissen beginnt: Lügen, Betrug und Schikanen, eine Orgie, ein Bordell und eine Reihe von Schießerein.

»Grell und Süß« ist ein extravaganter und weltgewandter Großstadtroman, das Vorstadt-Noir einer leidgeprüften und weltgewandten Generation.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Adam Thirlwell wurde 1978 in London geboren, wo er auch lebt. Seine bisher erschienenen Romane »Strategie«, »Flüchtig«, »Grell und Süß« und »Die fernere Zukunft« wurden international hochgelobt, sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Er war 2003 sowie 2013 auf der »Granta’s List of Best young British Novelists« und erhielt 2008 den Somerset Maugham Award. Als London-Redakteur ist er für die »Paris Review« tätig, war gemeinsam mit Daniel Kehlmann S. Fischer Gastprofessor und hat zusammen mit Hans-Ulrich Obrist und Rem Kohlhaas das »Studio Créole« entwickelt, eine Performance-Reihe zur Übersetzung.

Tobias Schnettler wurde 1976 in Hagen geboren und studierte Amerikanistik. Er arbeitet als Übersetzer in Frankfurt am Main und hat zuletzt unter anderem Bücher von Nell Zink, Andrew Sean Greer und John Ironmonger übersetzt.

Inhalt

Widmung

Motto

1. Madama Morte

Blut

… in dem unser Held erwacht …

… um seine Verwandlung zu entdecken …

… deren Wirklichkeit er anzuzweifeln versucht …

… und überall Blut …

… was kleinere Fallen und Sackgassen mit sich bringt …

… nach Art vieler Katastrophenmythen …

… aber er gibt trotzdem sein Bestes …

… & verlässt den blutigen Schauplatz …

Der Dauphin

… in eine andere Welt …

… ein Vorkommnis, das vielleicht normaler ist, als es erscheint …

… vor allem für einen Dauphin oder Delfino …

… der in letzter Zeit um seine Leistungen besorgt ist …

… & seine Arbeitslosigkeit …

… deshalb gestresst von dem Gefühl der Katastrophe …

dann mehr Blut

… doch die Katastrophen ziehen sich zurück …

… bis das Blut ihn erneut aufhält …

… also macht er einen Abstecher in einen Superstore …

… bevor er nach Hause zurückkehrt & seine Frau belügt …

… denn Lügen sind eine Möglichkeit, eine neue Welt zu erfinden …

… & können ganz beiläufig passieren …

… wenn auch das Splattermäßige bleibt, als Andenken, oder als Beweis …

2. Utopia

Die Wasserpistole

… als sein Seelenverwandter Hiro …

… im vorstädtischen Panorama auftaucht …

… mit seiner Neigung zur Utopie …

… & seinem manischen Tonfall …

… in der Lage, die Welt zu verändern …

… wo Verbrechen tugendhaft sein können …

… was eine verführerische Erkenntnis ist …

Täuschung ist einer der Vorzüge der Faulheit

… denn es wirkte überall so, als würde nichts passieren …

… was unserem Helden erlaubt, neue Begierden zu entwickeln …

… geschützt durch das Alibi seiner Traurigkeit …

… was jedoch verstörende nächtliche Phantasien erzeugt …

… in Anbetracht der offensichtlichen Komplikationen …

… deren Struktur eine umfassende Traurigkeit offenbart …

… die vergessene Kunst des Glücklichseins …

Die Orgie

… eine pastellene Atmosphäre, von einer Party unterbrochen …

… auf der es zu melancholischen Enthüllungen kommt …

… die das endlose Zurückweichen der Identitäten beweisen …

… & die Gefahren jeder Party …

… denn Partys bringen schwierige Unterhaltungen mit sich …

… in denen die Oberflächen lecken oder auslaufen …

… & werden, zum Beispiel, zu einer Orgie …

… überraschend sozial …

… durch das Vorhandensein von Geheimnissen schmerzhaft gemacht …

… was zu schwierigem Wissen führt …

… eine komplizierte Kategorie …

… durch das, was sichtbar ist & unsichtbar …

… mit möglicherweise dunklen Konsequenzen …

3. Gemein, Unbeholfen, Heimlich, Hinterhältig

Glücklich sein ist möglich, aber schwierig

… was zu Gerüchten von freizügigen Taten führt …

… die eigentlich recht gesittet sind …

… was Stillschweigen erfordert …

… heikel beizubehalten …

… Beispiele einer größeren Philosophie …

… von unbedeutenden Absichten …

… um solche multiplen Welten zu vermehren …

Tagebucheinträge

… für die ihm Hiro als Vorbild dient …

… den unser Held in einen Saunaclub begleitet …

… wo er sich im Aufstieg befindet …

… entdeckt den Drang zu Selbstbeschreibung …

… wie sein Verhalten in diesem Schlafzimmer …

… in dem alle moralischen Werte revidiert werden …

4. Die Pistole

Die Pistole

… die Grundlage für größere Pläne …

… mit Schusswaffen als Accessoires …

… und einem kriminellen Plan …

… um ein sehr hell erleuchtetes Nagelstudio auszurauben …

… was sie hyperschnell erledigen …

… mit Zweifeln am Seelenleben …

… und großen finanziellen Auswirkungen …

5. Die lange Fiesta (Das Horoskop)

Die lange Fiesta (Das Horoskop)

… was seine labile Stimmungslage verbessert …

… durch den neu entdeckten Machismo …

… dessen Beibehaltung vielleicht weitere Gewalt erfordert …

… diese dunkle Stimmung …

… wo Größe möglich sein könnte …

… aber nur, wenn er unter vier Augen mit Romy sprechen kann …

… wovon ihn ein anderes Mädchen in einer Art Falte abhält …

… & in dieser Falte über Fernsehen redet …

… bis er schließlich Romy anfleht …

… & dann beobachtet Candy still eine stumme Kommunikation …

… was zu einer freundlichen, aber verstörenden Unterhaltung führt …

… die dann eskaliert …

… bis die Gedanken wieder blutig werden …

6. Tropicália

Tropicália

… & wieder einmal betritt er eine fremde Welt …

… was überall passieren kann …

… auch wenn es im Augenblick nicht zu sehen sein mag …

… sondern erst später, in der Zukunft jenseits der eigentlichen Geschichte …

… wo er seine Frau ein letztes Mal sieht …

… & seine Verwandlung versteht …

… erst, als alles vorbei ist …

… was eine neue Art zu denken erfordert …

… & so beschließt er, es aufzuzeichnen …

… wahrscheinlich in Form eines Buches …

7. Das Ding Selbst

Ungeplante Gewalt

… das die grenzenlose Freiheit unseres Helden aufzeichnet …

… es beginnt in einem Café …

… mit einem Kellner im Hintergrund …

… der unserem Helden mit seiner Nichtbeachtung Angst einjagt …

… was zu improvisierter Gewalt führt …

… doch Improvisation ist eine schwierige Methode …

… wenn es gut ausgehen soll …

Die Welle der Erotik

… & in eine neue, energiegeladene Atmosphäre …

… trotz vieler Haken …

… wie dem Ausbleiben von Candys Ansprachen …

… Sackgassen des Verlangens …

… & anderer Probleme der geisterhaften Kommunikation …

… nach denen unser Held erotischen Trost zu finden versucht …

… was er zu rechtfertigen versucht …

… weil es zu utopischen Erfahrungen führt …

Das Aussen bricht Herein

… doch dann wird seine Utopie unterbrochen …

… durch bewaffnete Eindringlinge …

… & ganz sanft schleicht sich der Schrecken ein …

… in Form eines zerstörten Raumes …

… & einer Pistole …

… was, wie er nicht leugnen kann, irgendwie eine gerechte Strafe ist …

… selbst wenn es noch viel schlimmer wird, als er sich vorstellen konnte …

… & die Dunkelheit sinkt herab …

8. Zeit-Traurigkeit

Ihr letzter Ausflug in die öffentliche Welt

… viel später wachen sie schließlich auf …

… & entscheiden, die öffentliche Welt zu betreten …

… wo sich Romy für immer von unserem Helden trennt …

… & deshalb versucht er in seiner Wut, über Leiden zu sprechen …

… auch wenn er kein Experte auf diesem Gebiet ist …

Spielzeugfinale

… sondern eher wie ein kaiserlicher Amtsschreiber oder Angeklagter …

… ganz unerwartet mit seinem Schicksal konfrontiert …

… aber auch ganz definitiv …

… in einer weiteren Katastrophe der Zeit …

9. Noir

Das Entsetzliche

… nach der er verändert erwacht …

… und alle Schuld von sich weist …

… als Rächer …

… mit seinem Sidekick Hiro …

… ein kurzer Abstecher …

… bevor sie ihre Rache mit minimalem Gewalteinsatz ausüben …

… die doch wohl das gute Recht unseres Helden ist …

Das Süsse

… jedenfalls scheint es so …

… auch wenn das Schicksal wieder einmal auf der Lauer zu liegen scheint …

… in Gestalt eines Gegners …

… der ihnen eine Verfolgungsjagd liefert …

… die in einem Wald endet, oder auf gemeinschaftlichem Grund …

… wo es zu einer Unterhaltung kommt …

… die zu Gewalt führt …

… & unseren Helden außerhalb all seiner üblichen Kategorien versetzt …

… in ein kleines Sprachdelirium …

… von dem aus unser Held seine jüngere Geschichte überblickt …

Für Alison

Umrissen

»Wieso sollte gerade ich als Versuchskaninchen für die Launen eines Schöpfers herhalten? Wieso nicht der Buchhändler Pascha, oder Hennechen, der Dampfschiffagent?«

Knut Hamsun, Hunger, 1890

1. Madama Morte

Blut

… in dem unser Held erwacht …

Als ich aufwachte, blickte ich kopfüber auf eine Reihe Samtbilder an der Wand über dem Bett. Jesus stand auf seinem Heiligenschein neben einer besonders hellen Madonna – ich meine jetzt die fromme Sorte, nicht die Disco-Version. Zwischen den beiden war ein Tropicana-Strand – Palme, Palme, Palme, und blauer Sand. Ich dachte, sie könnten mir vielleicht gefallen, diese Samtbilder. Ich mochte diese grelle Stimmung. Doch ich wusste auch, dass mir diese Stimmung zwar irgendwie gefiel, aber dass es nicht die Stimmung meines Schlafzimmers war, so wie die Frau, die hier, in dem, was ein Hotelzimmer zu sein schien, neben mir schlief, nicht meine geliebte Ehefrau war. Diese Art von Problemsituation war das, und ich weiß natürlich, dass manche Leute so was überhaupt nicht schlimm finden würden – und dass neben jemandem aufzuwachen, der ethisch nicht zu einem gehört, der ganz normale Weg ist, auf dem die meisten Menschen in den Bereich der Moral eintreten, also, Kleiner, gewöhn dich dran – aber es gelang mir nicht, es ganz so locker zu sehen. Schon seit längerem hatte es atmosphärische Probleme gegeben – kleine Brüche und Risse, wie Schmetterlinge im Herbst, alles erinnerte ein wenig an Tropicália, und das machte mir ein bisschen Angst. Und genauso hatte ich jetzt das Gefühl, mein Kopf sei ganz woanders, und mir war ziemlich schlecht. Ich wusste, dass mein Telefon neben mir liegen musste, und wusste, dass ich drauf schauen sollte, aber gleichzeitig tat ich’s nicht. Wenn du mich an diesem Punkt auf das Sofa einer Talkshow gesetzt und mich gefragt hättest, wie’s mir geht, hätte ich gesagt, dass ich im Grunde sehr, sehr traurig war. Denn ich bin wirklich kein besonders toller Hecht, kein Gangster. Ich bin kein cooler Typ. Bei Frauen war ich immer schon schüchtern. In der Rolle des Vollgas-Machos war ich ungefähr so authentisch wie diese weißen Tussis, die sich Gang-Zeichen gebend fotografieren lassen. Es war absolut nicht normal für mich, irgendwo aufzuwachen, ohne zu wissen, wie ich dorthin gekommen war. Eine normale Freizeitbeschäftigung war für mich, mich auf mathematische Probleme zu konzentrieren, oder auf Wahlmodelle – ich meine, meine Hobbys waren immer harmlos und verkopft. Und trotzdem ging diese neue Sache immer weiter, und ich hatte keine Möglichkeit, es aufzuhalten. Meinem Kopf ging es eindeutig sehr schlecht. In Brasília musste jetzt die Nachtschicht zu Ende sein, in Tokio tranken sie ihren ersten Whiskey Sour. Viertausend Meilen entfernt schwebten Drohnen lärmend in Formation über Bergpässen und tiefen Schluchten, und hier unten auf der stillen Erde lag eine Frau neben mir, die nicht meine Frau war. Sie hieß Romy, und sie war eine meiner besten Freunde. Sie war blond, und wenn man sie in einer Bar sah, war ihr Haar so eine herrlich regungslose Masse, die auf einer Seite ihres Halses herunterhing, aber jetzt war ich eingeweiht und wusste, dass sie nicht naturblond war. Sie hatte kaum Haare zwischen den Beinen, aber das Haar, das dort war, ein einzelnes Büschel, war eindeutig dunkel. Ich versuchte mich darauf zu konzentrieren, während das Licht die Nylonvorhänge zum Leuchten brachte und Romy weiter schlief. Denn selbst wenn man verwirrt oder traurig ist, muss man trotzdem weitermachen. Ich kann mich an einen Bodhisattva-Satz erinnern – cool bleiben, aber nichtgleichgültig – und dieser Satz ist nie falsch. Es ist ziemlich sicher eine Regel, nach der man leben kann, und solche Regeln sollte man in Ehren halten. Wenn ich durch diesen Bericht überhaupt irgendetwas beweisen kann, dann hoffentlich, wie wichtig Regeln fürs Leben sind, was vielleicht auch der Grund ist, weshalb ich beschlossen habe, meine persönliche Moralgeschichte mit diesem Blut-Vorfall zu beginnen. Das war, glaube ich, der Punkt, an dem sich meine gewohnten Kategorien in Luft auflösten. Ich stand auf, zog mich an und überlegte, wie ich wieder nach Hause gehen könnte – ich meine, in welchem Zustand und mit welchen Erklärungen. Aber es war auch noch sehr früh. Es war zugleich viel zu spät und sehr früh, deshalb dachte ich mir, geh ich erst mal frühstücken, denn manchmal ist die einzig richtige Verhaltensweise, sich um die normalen Dinge zu kümmern. Man muss die Dinge schrittweise durchdenken. Also trat ich auf den Parkplatz hinaus, ging zum Hotelrestaurant und setzte mich. Von der Nische aus, in der ich saß, sah ich alles ganz klar. Es war nichts Besonderes. Insekten kreisten langsam in der grünen Morgendämmerung, sie entstanden einfach aus dem Nichts, aus der hellen und körnigen Luft. Mein Auto parkte vor unserer Tür, und daneben stand etwas, das wie ein Cadillac-Leichenwagen aussah, aber den ignorierte ich. Und das war vielleicht ein Fehler – zu ignorieren, was andere Leute als eindeutiges Zeichen verstehen würden. Wenn man es gewöhnt ist, unfrankierte Briefe zu erhalten, oder Anrufe, bei denen ein Mann fragt, ob er mit der Leichenhalle verbunden sei, ich meine, wenn man sich mit den Methoden auskennt, mit denen die Mafia einem Mann mitteilt, dass er gebrandmarkt oder vogelfrei oder todgeweiht ist, dann könnte man vielleicht sagen, dass ich einen Fehler gemacht habe. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, dann hätte ich das volle Ausmaß der Schrecken verstanden, die ich noch kennenlernen sollte, das Gemetzel und die Ballistik, wäre ich in der Lage gewesen, einen solchen Looping zu vollführen, wie ihn mir diese Art zu sprechen jetzt ermöglicht, dann hätte ich vielleicht so gedacht. Aber ich hatte noch nie ein Auge für das Offensichtliche. Ich weiß nicht, wieso. Andere Leute wussten normale Dinge zu schätzen, wie die Parkplätze von Einkaufszentren oder Café-Sonnenschirme oder was auch immer – Kaffeemaschinenkaffee vielleicht. Aber ich nicht. Mir lagen meine eigenen Grübeleien viel mehr. Es war sehr hell und sehr traurig in diesem Restaurant. Das Radio führte Selbstgespräche, aber ich hatte niemandem, um mich zu unterhalten, also saß ich in meiner Nische mit Blick auf das leere Schild und las die laminierte Speisekarte. Ich wartete. Ich sah aus dem Fenster. Ich sah immer wieder auf die Uhr und auf die Landschaft, zehn Minuten lang: auf meine Uhr und dann auf die Landschaft, meine Uhr und dann auf die Landschaft. Warten mag ich überhaupt nicht. Endlich kam eine Kellnerin aus der Küche. Auf ihrer Brusttasche stand ihr Name. Dieser Name war Quincy. In einer anderen Schriftart wünschte mir eine andere Plakette einen schönen Tag. Und es war ein schöner Tag, keine Frage. Es war schön wie in einer Computeranimation, wenn ich nur nicht mit einer solchen alles durchziehenden Angst aufgewacht wäre.

– Ich warte schon zehn Minuten, sagte ich.

– Was?, sagte Quincy.

– Das soll keine formelle Beschwerde sein, sagte ich. – Ich finde bloß, Sie sollten wissen, dass ich schon vor gut zehn Minuten gekommen bin. Keine große Sache.

– Aha, sagte Quincy.

Ich glaube, es war ihr ziemlich egal, aber ich hatte wenigstens versucht, ihr zu helfen. Ich bestellte mein vegetarisches Frühstück. Meine Spiegeleier nahm ich einseitig gebraten, ganz klassisch. Die Farbe meines Safts war orange. Ja, ich wollte Kartoffelpuffer. Ich aß meine Pommes mit Appetit. Ich nahm Ketchup und Senf. Und als ich fertig war und mit einem Stück Toast den rotgelben Teller gewischt hatte, putzte ich meine Brille mit dem Feuchttuch, das mir Quincy für meine Hände gegeben hatte. Das war nett von ihr, denn die Hände der Leute sind oft voller Bazillen. Es ist immer gut, vorsichtig zu sein. Durch das Feuchttuch roch meine Brille ganz rein, aber mir brannten auch die Augen davon. Ich sah hinaus, über die horizontal verlaufenden Stromkabel hinweg, dann über die horizontalen Linien hinweg, die auf den Asphalt gemalt waren. Dann über die vertikalen Straßenschilder hinweg. So leer war die Welt. Ich fühlte mich gefangen und war sehr traurig. Obwohl ich natürlich, im Nachhinein betrachtet, nicht annähernd so traurig war, wie ich hätte sein sollen, denn im Nachhinein betrachtet würde mich das Schicksal noch viel mehr in die Mangel nehmen, als es das schon getan hatte. Das Schicksal hatte mich umzingelt, wie die Zacken einen Kronkorken. Andererseits ist nie offensichtlich, wann man anfangen kann, solche Begriffe wie im Nachhinein oder zu spät zu verwenden, denn die wirken zwar wie ganz normale Ausdrücke, verbergen aber viel mehr, als nützlich ist, und so ist es eines der großen Probleme des Lebens, dass man bei jeder Niederlage glaubt, den absoluten Tiefpunkt erreicht zu haben, und deshalb neigte ich wie jeder andere dazu, mir vorzustellen, dass dieser zerrüttete Zustand, in dem ich mich befand, der schlimmste denkbare Zustand war, wenn ich doch eigentlich in etwas steckte, das meinem Idealbild von mir als charmantem und offenherzigem Menschen viel mehr Schaden zufügen würde, so als säße ich in einem tödlichen Kirmesfahrgeschäft, in dessen Verlauf ich so Groteskes und Grausames kennenlernte, wie ich mir nie vorgestellt hatte, und von diesem Punkt an war mir das, was ich vorher gewusst hatte, völlig egal. Doch hier, in diesem Hotel, fühlte ich mich schlecht.

… um seine Verwandlung zu entdecken …

Weil ich es überhaupt nicht mag, das Falsche zu tun. Ich bin absolut dagegen. Und eine Sache, die mir falsch vorkommt, ist, neben einer Frau aufzuwachen, die nicht die eigene Ehefrau ist. Oder sagen wir mal, es gibt bessere und schlechtere Arten, etwas so Übles zu tun, und ganz allgemein, wenn ich die Situation so sorgfältig wie möglich betrachtete, musste ich zugegeben, dass es ein besonderer Fehler war, es mit einer Frau zu tun, die in verschiedener Hinsicht der beste Freund war, denn ich würde in jeder Kneipe, in die man mich stellen würde, bereitwillig behaupten, dass Sex mit einer gemeinsamen Freundin in der Hierarchie der Fehltaten für die geliebte Ehefrau wahrscheinlich höher einzustufen ist als Sex mit einer flüchtigen Bekanntschaft. Zumindest würde ich sagen, dass es möglicherweise so war – doch über solche Moralfragen dachte ich jetzt nicht so methodisch nach, wie ich es gerne getan hätte, eine Zerstreutheit, unter der die Menschen in dieser hektischen, sorglosen Zeit allzu oft leiden, denn ich spürte gleichzeitig einen Druck auf den Gedärmen, und auch das beschäftigte mich. Als ich zu dem Hotelzimmer zurückging, in dem Romy vermutlich mehr oder weniger high auf mich wartete, mit auf sicherlich reizvolle Art verschmiertem Eyeliner, bereute ich plötzlich, nicht die Toilette des Restaurants benutzt zu haben. Denn einerseits gefiel es mir nicht, noch einmal ins Restaurant zu gehen, um die Toilette zu benutzen, aber andererseits, die Vorstellung, in das Hotelzimmer zurückzukehren, mich hinzuhocken und in der kleinen Kabine, direkt neben der schlafenden Romy, zu explodieren … das gefiel mir überhaupt nicht. Aber dann kam ich auf eine Lösung, auf die ich stolz war. Bevor ich ins Zimmer ging, beschloss ich, würde ich auschecken, dann leise meinen Rucksack nehmen – denn ich habe fast immer meinen Rucksack dabei, zum Teil, weil es einfach so viele Dinge gibt, die ich immer bei mir haben muss, als Glücksbringer oder aus Voodoo-Gründen oder aus Gewohnheit, aber auch, weil es einfach die beste Methode ist, finde ich, um Dinge mitzunehmen, wenn man auch an seine zukünftige Gesundheit denkt – und mich davonzustehlen. Und anschließend würde ich mir in irgendeinem Diner einen Kaffee holen und die Toilette benutzen, die es dort gab, und dann mit klarerem Kopf einen Plan fassen, wie ich zu meiner Frau Candy zurückkehren könnte, ohne dass sie mich voll und ganz hassen würde. Das sah mir überhaupt nicht ähnlich – eine Frau im Bett zurückzulassen, ohne mich richtig zu verabschieden. Ich muss ganz klar zugeben, dass es vielleicht unhöflich erscheinen würde. Aber letztendlich muss man sich zwischen verschiedenen Formen von Höflichkeit entscheiden – und ich sah Romy schließlich sehr häufig. Es würde viele Gelegenheiten geben, das und andere Aspekte unserer gemeinsamen Geschichte zu besprechen. Und obwohl mich eine sehr düstere Panik gepackt hatte, war da dennoch das Gefühl, dass diese Aktion tatsächlich eine Art Macho-Charme hatte. Es fällt mir nicht leicht, es einzugestehen, aber als ich dort an der Rezeption stand und einen Kalender vom falschem Monat im falschen Jahr las, erlaubte ich mir diesen schäbigen Moment des Triumphs. Du, dachte ich, bezahlst dafür, dass ein Mädchen ausschlafen kann. Okay, sie war kein Drogendealer-Groupie und kein Latina-Popstar, aber trotzdem, es war schon was. Außerdem kam mir der Gedanke, dass, wenn das hier wirklich gerade passierte, ich mich für längere Zeit in medizinische Betreuung begeben müsste. Jemand musste sich genauer ansehen, welche Tabletten ich nahm. Aber das war bloß ein Einschub. Und ich möchte an diesem frühen Höhepunkt des Innehaltens und der Idylle auch behaupten, dass diese Art zu denken etwas vielleicht verwerflich Machomäßiges hatte, aber es zugleich auch von Anteilnahme zeugte, denn was könnte rücksichtsvoller sein, als jemanden schlafen zu lassen, wenn er noch nicht aufstehen will? – und eine solche Anteilnahme hatten sich meine Mutter und mein Vater immer von mir gewünscht. Sie mochten es, wenn ich an die anderen Menschen dachte. Sie glaubten an die Theorie, dass man in diesem Leben hart arbeiten müsse. Du bist zu ungeduldig, Booby, sagte meine Mutter in verschiedenen Situationen meines Lebens zu mir, etwa, wenn ich ruhmreicher erscheinen wollte, als ich bin. Wieso machst du nicht mal langsam? So redete sie immer. Wach auf, mein Schatz, würde meine Mutter dann sagen. Wenn es das ist, was du willst, dann musst du dir die Zeit nehmen, es zu bekommen. Was hab ich falsch gemacht, dass du so ungeduldig bist? Willst du, dass alles immer nur heller Sonnenschein ist?

– Ich glaube, darum geht’s hier gar nicht, sagte ich.

– Natürlich, sagte sie. – Streite es ruhig ab.

Ich glaube, Mütter sind die Atmosphäre, in der man leben muss, und ich denke, das gefällt mir, aber gleichzeitig ist es eine milde Form von Strafverfolgung, auf denkbar liebevolle Art. Und trotzdem strengte ich mich sehr an, alles im Sinne meiner Eltern zu tun, was in dieser Situation bedeutete, das weniger glückliche Leben anderer Menschen zu berücksichtigen. Der Mann, der an diesem frühen Morgen die Rezeption besetzte, wirkte ein wenig traurig, also dachte ich voller Zuneigung an ihn. Er hatte einen schwierigen Job, überlegte ich, einen anstrengenden Job, zu dem vermutlich gehörte, mit den Lieferanten für die Küche zu telefonieren, genauso wie mit Jugendlichen, die ihm Telefonstreiche spielen wollten, und einer Frau, die um vier Uhr nachmittags auf der Stelle ein Zimmer brauchte, und so weiter, und dazu musste er die Formulare fürs Ein- und Auschecken ausfüllen und die Wartungsmannschaft für den Pool überwachen und außerdem die Kreditkartenmaschine bedienen. Es war alles andere als leicht. Sein Name war Osman, und Osman, das spürte ich deutlich, schien einen tiefsitzenden Schmerz zu verbergen. Er drehte sich um, um nach einem Tacker oder sonstigem Bürogerät zu suchen, und hinter seinem Ohr war eine dunkle Narbe, wie von einem Bajonett oder einem Säbel oder einer Machete. Vielleicht war Osman in seinen besten Tagen ein furchteinflößender kaukasischer Warlord gewesen, bevor ihn der Lauf der Dinge hierher verschlagen hatte: in die Filiale einer Hotelkette, wo er Anrufe entgegennahm. Und zu Hause verwahrte er seine Videos, Videos, in denen er vielleicht seine Truppen inspizierte. Ich hoffte, dass es so war, denn es ist wichtig, eine Verbindung zu seiner Vergangenheit zu bewahren.

– Einen schönen Tag noch, und besuchen Sie uns bald wieder!, sagte Osman.

– Dir auch, Mann, sagte ich.

Ich meinte es so. Eine Frau mit Kopfhörern schrubbte die Holzterrasse vor den Zimmern. Ich wollte ihr ein sanftes Lächeln zukommen lassen, doch sie sah mich nicht. Dann dachte ich, meine tote Großmutter würde mir entgegenkommen, zumindest sah sie auf Fotos so aus. Sie wirkte entspannt. Es war sehr verstörend. Doch als ich näher herankam, war sie nicht mehr meine Großmutter. Es war überhaupt niemand. Also versuchte ich es zu vergessen. Ich konnte den Fluchtweg erkennen, zurück zu etwas, das ich als mein normales Leben bezeichnen konnte. Er war ganz nah. Im Zimmer waren die Vorhänge jetzt in leuchtend weißes Licht getaucht. Ich versuchte den Deckenventilator abzuschalten, weil er so ein stumpfes Geräusch machte, aber stattdessen schaltete ich bloß die Nachttischlampe ein. Romy merkte es nicht. Ich ging zum Schreibtisch, gegen den mein Rucksack gelehnt stand. Und obwohl ich das vorhatte, was die Schundliteratur früher die perfekte Flucht genannt haben muss, wollte ich ihr doch einen Abschiedskuss geben. Ich weiß nicht, ob das Schund ist, und wenn, dann vielleicht eine andere Variante von Schund, romantischer Schund, aber trotzdem, gehörte sich das nicht? Eine Frau zum Abschied zu küssen, wenn sie noch schläft? Machen Liebhaber das nicht so? Also ging ich zum Bett und beugte mich über sie. Romy schlief auf dem Bauch, und auf dem Kissen war neben ihrer Nase ein dunkler Blutfleck.

… deren Wirklichkeit er anzuzweifeln versucht …

Alle denken, sie werden nicht anwesend sein, wenn jemand stirbt, ich meine, wenn jemand stirbt, der nicht die eigene große und angetraute Liebe ist. Alle denken, dass die Dinge in der korrekten Reihenfolge geschehen, aber natürlich tun sie das nicht, oder nicht immer. Die Zeit, so hat es der Fakir einmal gesagt, hat die tückische Eigenschaft, immer wieder neuen Kummer zu erfinden. Irgendwann tritt alles einmal ein. Grausame Kombinationen sind jederzeit möglich, und ich bin mir eigentlich gar nicht sicher, ob es Kombinationen sind oder eher verschiedene Aspekte derselben Sache. Das waren die Erkenntnisse, die sich mir aufdrängten, während ich da stand. Ich war da und dann wieder nicht. Ich war wie ein Hologramm oder eine optische Täuschung. Oder wie ein Neonschild. Ich ging an und wieder aus, und ich war finster. Ich sah nach unten. Was bist du für eine große Nummer?, fragte ich mich selbst. Eine verdammt mickrige Nummer. Ich blickte auf. Der Deckenventilator drehte sich immer noch im Kreis. Das war im Grunde auch eine Version von mir. Ich sah wieder auf Romy hinab. Ja, alle denken, sie kennen die Reihenfolge, in der die Dinge geschehen werden, aber das stimmt eigentlich überhaupt nicht. Auch ob etwas geschehen ist oder nicht, ist meist nicht offensichtlich. Ich glaube, wir übertreiben es mit diesem Gedanken, dass die Dinge wirklich sind. Oder zumindest versuchte ich zu durchdenken, wie wirklich etwas war, wenn es bisher vollkommen privat war. Ich meine, probier mal dieses Miniquiz aus. Wenn eine heiße Frau versucht, dich auf der Rückbank eines Taxis zu küssen und ihr beide auf Ketamin seid, fährst du dann nach Hause und erzählst es deiner Frau? Ich glaube nicht. Du behältst die heiße Blonde für dich, als stereoskopische Dias für kalte Winterabende, und deshalb existiert sie überhaupt nicht. Oder nehmen wir an, dein Ehemann weiß, dass du nicht rauchst, aber in Wirklichkeit gönnst du dir manchmal heimlich eine Zigarette – wieso solltest du ihn nicht in seinem Glauben lassen? Du kaust ein Kaugummi, um deinen Atem aufzufrischen, und gehst nach Hause, als sei nichts passiert. Und wenn du dich so verhältst, als sei nichts geschehen, wenn nichts an dir je darauf hindeutet, dass etwas geschehen ist, ist es dann wirklich geschehen? Das ist die Frage, die ich mir stelle. Das ist, was ich meine, wenn ich sage, dass nichts geschehen ist, oder zumindest eines der Dinge, die ich meine. In diesem Augenblick war die Situation nur mir bekannt, also war sie vielleicht überhaupt nicht bekannt. Obwohl es nicht ganz einfach ist, es so zu sehen, wenn man sich selbst in dieser Situation befindet.

… und überall Blut …

Das Blut wirkte rot, aber aus der Nähe betrachtet sah es eher schwarz aus. Es war eine rote Flüssigkeit, die schwarz wurde, oder eine schwarze, die rot wurde. Es schien immer – wie sagt man das? – ungehinderter zu fließen. Ich glaube, ungehindert ist das gebräuchliche Wort für fließen. Dann versuchte ich Romys Namen zu sagen, aber sie gehorchte mir nicht – meine Stimme. Sie tat gar nichts. Ich versuchte zu atmen, und auch das war schwierig. Es war, als sei mein Herz irgendwo außen an meinem Körper befestigt. Ich hatte vom Frühstück immer noch den faden Geschmack von Spiegelei im Mund. Mit anderen Worten, ich fühlte mich absolut nicht ausreichend vorbereitet, wie in dem Albtraum, in dem man eine PowerPoint-Präsentation halten soll, aber den Laptop im Chevrolet eines Fremden vergessen hat. Ich fühlte mich ausgesprochen unwohl. Denn nehmen wir mal an, ich würde beim Speeddating aufgefordert, mich selbst zu beschreiben, dann würde ich sofort sagen, ich bin ein Musterbürger. Ich glaube, das ist nicht übertrieben. Meine Noten in Literatur waren gut, meine Noten in Mathematik waren spektakulär. Ich las die Klassiker. Ich hatte ein Talent für Prüfungen. Mir ist bewusst, dass nicht jedem ein solches Talent gegeben ist, und für dieses Privileg bin ich dankbar. Streng dich an, sagten meine Mutter und mein Vater, und du wirst Erfolg haben. Mach deine Prüfungen, sei fleißig. Du bist ein Wunderkind, sagten sie mir! Ich dachte immer, sie hätten recht, aber jetzt war ich mir nicht mehr sicher, ob das überhaupt genug war. Wie sich herausstellt, kannst du alle Vorfahren haben, die du willst, sie können wie Zuckerwatte um dich herum in der Luft schweben, aber an deiner Manie und deiner Verzweiflung können sie trotzdem nichts ändern. In dem Hotelzimmer war mein Verstand auf dieselbe Art langsam, wie Dub-Musik langsam ist. Ich erinnerte mich an einen Artikel über einen Jungen, der ins Bett ging und beim Aufwachen ein Mädchen aus dem Fenster springen sah. Ich wollte wirklich nicht daran denken, dass ich dieser Junge war, mit Abweichungen, aber die einzig andere Möglichkeit außer Selbstmord war, dass Romy irgendwie einen Krampfanfall oder Herzinfarkt erlitten hatte. Und natürlich war vor allem diese ganze Drogengeschichte Schuld daran und Ursache dafür, dass mir so etwas durch den Kopf ging, und weil ich derjenige war, der die Drogen besorgt hatte, gefiel mir das Ganze überhaupt nicht. Aber gleichzeitig war ich jetzt gar nicht so sehr an Ursachen interessiert, sondern mehr daran, was als Nächstes passieren würde. Ich hatte mir ein Leben nie als eine Konstruktion vorgestellt, aber jetzt kam es mir genauso vor, mein Denken, denn ich hatte diese Videos von Gebäuden vor Augen, die gesprengt werden, die einfach umknicken und in sich zusammenfallen. Und ich hatte nicht das Gefühl, dass man von mir erwarten könnte, zu wissen, was zu tun war. Es schien mir über die gewöhnlichen Kompetenzen hinauszugehen, über die ein Durchschnittsbürger verfügen sollte. Ich sah aus dem Fenster. Vor dem Fenster war alles sehr ruhig. Im Bad waren zwei Handtücher, zwei Badetücher, ein Bademantel und ein Badvorleger. In der Kloschüssel hatte sich ein wenig Papier vom Vorabend aufgebläht wie ein Fallschirm oder ein Tintenfisch. An der Wand hing ein weiteres Samtbild: der nackte Oberkörper einer schwarzen Frau, mit glänzenden Brüsten und einer Sonnenbrille, vor türkisem Hintergrund. Und draußen stand mein Auto, ach, draußen, wo es Sonnenlicht und den Himmel gab, und alles ganz normal war. Wolken sammelten sich. Wolken lösten sich auf. Hätte ich das Radio angeschaltet, hätte ich eine Stimme gehört, die die Auswirkungen des Wettersystems für unsere Stadt erklärte, aber das tat ich nicht, denn ich drehte das warme Wasser auf und wusch mir die Hände. Und ich dachte über Romy nach. Denn alles gründlich zu durchdenken war schon immer meine besondere Begabung. Ich hatte ausgecheckt, ohne darauf hinzuweisen, dass eine Frau in meinem Bett lag; ich hatte mehr als zehn Minuten lang unbemerkt in dem Restaurant gesessen. Der neutrale Betrachter könnte daraus, so dachte ich, die falschen Schlüsse ziehen. Und natürlich hätte ich das Normale tun können, das Legale, und einen Mann namens Osman um Hilfe bitten können und ihm erklären, kläglich flehend, dass ich meine Freundin komatös in meinem Bett vorgefunden hatte, aber dass ich mit dieser Situation nichts zu tun hatte, jedenfalls nur am Rande: Ja, ich vermute, ich hätte zurück zu Osman gehen können, um mit ihm über Krankenhaus- und Polizeifragen zu diskutieren, doch so normal waren die Stimmen in meinem Kopf nicht. Die Stimmen in meinem Kopf machten ihr eigenes Ding. Sie zogen es vor, dass ich das Ganze für mich behielt.

… was kleinere Fallen und Sackgassen mit sich bringt …

Ihr linker Arm lag auf ihrem Rücken, und ihre linke Wange war sanft gegen das Kissen gepresst. Es war wie die Kodachrome-Aufnahme eines schlafenden Kindes oder eines Engels, aber gleichzeitig auch nicht. Zuerst musste ich das Blut vom Kissen neben ihr aufwischen, denn das schien mir das liebevolle Vorgehen zu sein, und ich versuche immer, mich liebevoll zu verhalten. Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nicht entschieden, wie mein Gesamtprojekt aussehen sollte. Ich nahm ein Badetuch und legte es über das Blut. Das weiße Frottee wurde weinrot. Und ich überlegte, dass dies vielleicht das erste Mal war, dass ich das Blut von jemand anderem sah, ich meine jetzt Blut, das nicht aus einem kleinen Kratzer oder der Periode einer Frau stammte, sondern richtig strömendes Blut. Ich wollte es nicht anfassen, aber mir war klar, dass ich es musste. Ich hatte Angst vor dem Blut anderer Menschen, so wie ich diese vage Angst hatte, ohne Kondom in einer Frau zu kommen. Ich glaube, das ist nicht ungewöhnlich. Ich nahm das Badetuch und versuchte, es in der Badewanne auszuwaschen – was bedeutete, dass ich auf dem Badezimmerboden eine winzige Spur von Blut hinterließ, eine Spur, die tatsächlich winzig war, aber auch schauerlich und abstoßend. Dann kniete ich mich auf die Bettkante, nahm Romy von hinten in die Arme und hob sanft ihre Brust an. Es fühlte sich falsch an, ihre Brüste so zu berühren, und das Paradox kam mir einen kurzen Moment lang faszinierend vor, doch dann entfuhr mir ein Schrei des Schreckens. Ich konnte nicht anders. Er kam aus meinem Mund, bevor ich es merkte. Ich zitterte. Ich hielt sie so, als würde ich ein Heimlich-Manöver in Zeitlupe ausführen: Erst blickte ich auf das Kissen, eine Sauerei aus Polyester und Kotze und vermutlich noch mehr Blut, die volle Horrorshow, dann blickte ich zur Seite auf das, was einmal Romys Gesichtsausdruck gewesen war, doch jeglicher Ausdruck war jetzt verschwunden. Ich hielt sie so. Ich beugte mich zu ihrem Gesicht, und ihr Mund roch nach Kotze, aber gleichzeitig war es warm, und das, musste ich zugeben, war ein sehr gutes Zeichen. Wenn ich mich ganz stark darauf konzentrierte, hatte ich das Gefühl, dass sie noch atmete, und ich wollte mich noch stärker darauf konzentrieren, doch das ging nicht. Denn, um auf dich zurückzukommen, Herr Talkshow-Moderator, wenn du wissen willst, wie sich das Schicksal anfühlt: So fühlt es sich an. Du hältst einen Körper in den Armen, und dann hörst du ein forsches Klopfen, gefolgt vom Geräusch eines Kartenschlüssels, der in den Schlitz geschoben wird. So fühlt es sich an. Ich würde wahrscheinlich behaupten, dass es schon schön wäre, wenn das Schicksal auch mal einen originelleren Klingelton ausprobieren würde. Also legte ich Romy, ganz sachte, zurück auf das Kissen und lief zur Tür. Das Zimmermädchen sah mich an, mit Kopfhörern in den Ohren und Mopp und Besen in den Händen. Ich hatte keine Zeit, um zu prüfen, ob Blut an mir klebte. Wahrscheinlich ja. Vielleicht stören sich die Leute nicht mehr daran. Vielleicht ist Blut in dieser modernen Welt nichts Überraschendes mehr. Aber ich war immer schon altmodisch.

– Zimmerreinigung, sagte sie.

– Aber ich bin noch hier, sagte ich.

– Dieses Zimmer ist nicht belegt.

– Aber ich bin hier, sagte ich.

Ich versuchte, gut gelaunt zu klingen, wie immer. Sie warf einen Blick herein, und vermutlich sah sie zwei nackte Frauenbeine. Sie sah mich an. Es war nicht völlig undenkbar, dass ich eine Art Mini-Don Juan war, oder zumindest möchte ich das gerne glauben.

– Die haben gesagt, Sie sind weg, sagte sie.

– Wir brechen gerade auf, sagte ich.

– Zehn Minuten. Zehn Minuten, Mister.

Vermutlich wurde mir mein Plan in diesem Augenblick zum ersten Mal bewusst, der Plan, der mir immer noch ausgesprochen umsichtig erscheint. Ich dachte, dass es vielleicht zwei oder drei Dinge gab, die unstrittig waren: Ich brauchte ärztliche Hilfe für Romy, ich musste diese Hilfe organisieren, ohne dass die Hotelleitung davon erfuhr und somit die Chance bestand, dass auch Candy und meine Eltern nichts davon erfahren würden, und Schnelligkeit war das oberste Gebot. Das war ein schwieriges Trio, aber eventuell nicht unmöglich. Ich wollte, dass es Romy gutging, und ich wollte in mein gewöhnliches Leben zurückkehren, wollte zumindest die Möglichkeit nicht aufgeben, dass es ein solches gewöhnliches Leben noch gab.

… nach Art vieler Katastrophenmythen …

Andere Leute haben vermutlich ihre eigenen Methoden, um so etwas zu durchdenken. Ich weiß, dass mein Vater in einer solchen Situation ganz ruhig die Anwesenheit des Teufels feststellen würde, denn er ist zwar nicht so gläubig, hat aber manchmal solche symbolhaften Momente. Für ihn ist überall ein anklagender Geist am Werk. Tatsächlich gehört es zu meinen allerersten Erinnerungen, in Schwimmflügeln dazustehen und darauf zu warten, dass mein Vater aus der Synagoge zurückkehrt, um mit mir schwimmen zu gehen. Mein Vater glaubt ganz leise und heimlich an Teufel, und auch wenn mich das nie so recht überzeugt hat, fällt mir jetzt auf, dass ich mich oft vor einer ganzen Reihe von Monstern fürchte. Ich nenne meine Teufel Monster, und letztendlich ist der Unterschied vielleicht nicht sehr groß. Ich erinnere mich an die mutierten Urzeitmonster im National Museum, und die jagen mir immer noch Angst ein, diese Bilder von einem grünen Gott und seinem Rachegott in Hundegestalt, dem alles verschlingenden Gott mit dem Krokodilkopf und der Feder der Wahrheit. Zumindest bleibt der Hundegott unten, in seinen Alabasterhallen. Die Szene in diesem Hotelzimmer fühlte sich dagegen eher nach dem an, was passiert, wenn die Götter ihre Leiter zur Erde hinaufsteigen, und wenn sie das tun, töten sie dich. Bist du je einem Gott begegnet? Genau so ist das. Sie können einfach nicht anders. Es tut ihnen aufrichtig leid, den Herren Göttern, aber sie werden dich fertigmachen. Wie diese Kinder fressende Göttin, die allzu gerne darauf verzichten würde, aber sich beim besten Willen nicht davon abhalten kann, deine kleine Tochter zu verschlingen. Oder wie die Götter, die einmal verlangten, dass in einer einzigen Nacht drei Tempel für sie gebaut würden. Doch die Morgendämmerung, so geht die Geschichte, kam zu früh – und deshalb erschienen die oben erwähnten Gottheiten und legten alles in Schutt und Asche, wie Footballspieler bei einer Massenvergewaltigung.

… aber er gibt trotzdem sein Bestes …

Und so ging ich mein wahnsinniges Projekt an, Romys Körper heimlich in die Obhut medizinischer Fachkräfte zu geben. Es war dieselbe verzweifelte Art von Zeitnot, wie wenn die Gameboy-Batterie aufgibt, während man gerade dabei ist, seinen Namen in die Highscoreliste einzutragen. Nur schlimmer natürlich. Es war, als sei keine Zeit mehr vorhanden, und als sei sie zugleich gedehnt. So vorsichtig, wie ich konnte, packte ich Romy unter den Achseln und zog an ihr, so dass ihre Beine neben dem Bett auf den Boden plumpsten, dann legte ich ihren Oberkörper auf den Boden. Es war nicht einfach, aber immer noch einfacher, als ihr das Kleid wieder anzuziehen. Das war, wie ein schwieriges Kleinkind anzuziehen, ein Kleinkind vielleicht, das übermüdet ist und nach der Turnstunde keine Lust hat, nach Hause zu gehen. Ihre Arme waren widerspenstig und ihre Beine plötzlich länger, als mir möglich erschien. Trotzdem schaffte ich es irgendwie, sie anzuziehen. Doch bevor wir aufbrechen konnten, fiel mir auf, dass ich das Zimmer ordentlich hinterlassen musste. Also zog ich den blutigen Kissenbezug ab, und das Bettlaken mitsamt Kotze und Speichel. Ich glaube, wenn ich jetzt etwas gesagt hätte, wäre meine Stimme viel tiefer gewesen, ein richtiger Bass, wie wenn sie in Horrorstreifen Stimmen verlangsamt abspielen, oder wenn die Batterie ausgeht, bei den Kassettenrekordern aus meiner Kindheit. Ich wusste nicht, was ich mit dem Laken, dem Kissenbezug und dem oben erwähnten durchnässten Badetuch machen sollte. Ich hatte eine Einkaufstüte, die allerdings, wie ich jetzt feststellte, an zwei Stellen durchlöchert war, und ich hatte meinen Rucksack, aber ich wollte, wenn irgend möglich, vermeiden, dass er mit Blut beschmiert wurde, denn dann hätte ich ihn loswerden müssen, wobei meine Sorge weniger dem Rucksack selbst galt, sondern eher seiner zukünftigen Funktion als Beweismittel gegen mich, für den Fall, dass Romy plötzlich sterben sollte. Ich sah mir den Abfallbehälter im Schlafzimmer an. Dieser Abfallbehälter war ein einfacher Eimer aus rostfreiem Stahl. Doch der Treteimer im Badezimmer enthielt eine unbenutzte, noch gefaltete dunkle Mülltüte. Ich schob eine Hand hinein und entfaltete sie, wie einen dieser Beutel für Hundescheiße. Dann stopfte ich vorsichtig den Kissenbezug und das Laken hinein, doch jetzt stand die Mülltüte weit offen, und das Blut war sehr gut zu sehen. Also nahm ich die Schnürsenkel meiner Turnschuhe. Vor Sorge und Angst schaffte ich es nicht, die Senkel herauszuziehen: Die Senkel blieben hängen, die Senkel waren schmutzig, und so fingerte ich an der Schnürung herum und war den Tränen nahe. Endlich hielt ich zwei Schnürsenkel in den Händen. Meine Füße schwammen ein wenig in den weichen Schuhen herum. Ich würgte die Tüte mit meinen Schnürsenkeln, dann legte ich sie vorsichtig auf dem Boden ab. Ich weiß, dass ein Laken und einen Kissenbezug und ein Handtuch zu stehlen eine Form von Verbrechen ist, und zwar ein Verbrechen, das bestimmt entdeckt werden würde, doch es kam mir auch eher geringfügig vor, die Sorte Verbrechen, die die Kreditkartenabrechnung ein bisschen in die Höhe treibt – und das war eindeutig eine bessere Art von Verbrechen, als wenn jemand das Blut entdecken würde, mit allen Überlegungen aufseiten der Behörden, die darauf folgen würden. Doch ohne das Laken sah ich jetzt, dass nicht nur das Kissen, sondern auch die Matratze so einen formlosen Fleck aufwiesen, eine schreckliche Art von Verfärbung. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Ich kann es mit nichts vergleichen. Es ist, als wolle man Kopak mit irgendetwas vergleichen, oder die Tundra. So leicht kann es passieren, dass eine Art von Formlosigkeit ein Leben unterwandert. Und in solchen Situationen würde meine Mutter, glaube ich, immer sagen, dass man einfach sein Bestes geben soll, denn mehr kann keiner erwarten, und so beschloss ich, es zu versuchen, was bedeutete, dass ich die Matratze umdrehen würde. Aber so eine Matratze ist sperrig. Und ich bin recht klein. Das meine ich ernst. Ich bin kein Gorilla Monsoon oder Brutus Beefcake oder irgendein anderer Wrestler. Wenn ich mir mal eine Stunde bei einem Personal Trainer gönne, was nicht oft vorkommt, betrachtet der mich mit einer Art vorsichtiger Ehrfurcht, so wie normale Menschen unglückselige Zwergwüchsige betrachten, denn letztlich muss jeder an seinen Platz in der endlosen Stufenleiter des Seins denken. Eine Matratze zu wuchten brachte mich daher zum Schwitzen und Keuchen. Ich bearbeitete die schwere Federkernmatratze, bis sie einen ungefähren Kreis beschrieb. Ich rollte sie zusammen, bis die Matratze, einen Augenblick lang, auf dem Kamm dieser durchweichten Welle zum Stillstand kam. Dann brach sie in sich zusammen und klatschte in die Waagerechte. Ich legte die Bettdecke darüber. Was bedeutete, dass ich in den vier Minuten, bis das Zimmermädchen zurückkehren würde, nur noch das Problem zu lösen hatte, Romys Körper aus der Tür und in mein Auto zu bugsieren, und zwar so, dass es möglichst normal aussah. Erst ging ich zum Waschbecken im Bad und versuchte meine Fingernägel sauberzuschrubben, doch das schien nichts zu bringen. Ich musste immer noch dringend auf Toilette, aber das war jetzt keine Option mehr. Nichts in diesem Zimmer würde mir je wieder helfen können.

… & verlässt den blutigen Schauplatz …

Ich frage mich, ob ich mit der Situation vielleicht deshalb zurechtgekommen bin, weil dies das Zeitalter des ständigen Berechnens ist. An einem durchschnittlichen Tag ist man so mit Kalorienzählen und dem Wiederholen von Fitnessübungen und E-Mail-Checken beschäftigt, dass dieses Hin- und Herschieben von Körpern eigentlich viel weniger merkwürdig ist, als du vielleicht denkst. Es ist bloß eine andere Art, Aufgaben im Detail zu durchdenken. Ich zerrte Romy zur Türschwelle. Ich versuchte, es behutsam zu tun, doch das gelang mir natürlich nicht. Als Nächstes musste ich versuchen, sie auf meiner Schulterhöhe zu halten, und jetzt bereute ich die vielen Stunden, die ich mit News-Aggregatoren und YouTube-Videos verbracht hatte. Die gesamte Geschichte meiner vergeudeten Zeit machte mich traurig, als würde nachträglich zur Bedrohung, was mir nicht wie eine Bedrohung vorgekommen war, und ich schalt mich selbst dafür, dass ich, der immerzu auf Anzeichen von Bedrohung achtete, nicht bemerkt hatte, dass die wahre Bedrohung genau darin bestand, dass ich nichts anderes tat als zu existieren. Es war helllichter Tag, und das sind keine guten Bedingungen, um einen komatösen Körper aufrecht in ein Auto zu setzen. Mir kam außerdem der Gedanke, dass ich mich bei meiner üblichen Vorliebe für größere Frauen möglicherweise übernommen hatte. Doch das Zimmermädchen war irgendwohin verschwunden, um ihren Sohn anzurufen oder einfach herumzustehen und sich die Autos auf der Schnellstraße anzusehen, während sie sich eine schnelle Zigarette drehte. Niemand sonst war da. Einen Augenblick lang war das Schicksal damit beschäftigt, sich einen Burger zu kaufen, oder Aprikosensaft. Ich versuchte, die Beifahrertür meines Autos zu öffnen, und ich konnte die gesamte Abfolge zukünftiger Ereignisse vor mir sehen, und dann war es wie einer dieser Momente in Engelsgeschichten, wenn der weise Mann, der sein gesamtes Leben in der Wüste oder im Wald verbracht hat, plötzlich in ein irres Licht getaucht wird und ihm eine tiefgehende Offenbarung zuteil wird. Ich würde diese Vision gerne Liebe nennen, oder etwas in der Richtung. Es war, als könnte ich schläfrig meine Frau neben mir atmen hören, und ich dachte wieder, ich müsste weinen, aber dann ließ das Gefühl nach. Um uns herum standen ein paar tote Bäume, Palmen vielleicht, und sie machten trockene Klickgeräusche; die kleinen Palmen waren eine Sequenz alter Uhren. Eine Schmetterlingsart, von der ich dachte, sie sei längst ausgestorben, schien auf einer heißen Brise vorbeizuflattern. Ich schob Romy hinein, mit meiner Hand ganz sanft auf ihrem Kopf, wie ein Heiligenschein. Dann löste sich ein Schnürsenkel von der Mülltüte, die ich in der Hand hielt, und das Handtuch wurde sichtbar, ein einziger schlaffer, nasser, zusammengeknüllter Fleck. Ich dachte, das Teil würde komplett aufreißen, und geriet in Panik, aber ganz knapp kam es nicht dazu. Irgendwie schaffte ich es, Romy anzuschnallen, und dann begann ich zu zittern. Ich konnte meine Hände kaum dazu bringen, zu tun, was sie tun sollten. Das gehört wahrscheinlich dazu, sagte ich mir. So eine Scheiße gehört dazu. Dann bemerkte ich, dass Quincy eine Zigarettenpause machte und mich beobachtete. Es gibt ja auch keinen Grund, wieso ein Leben nicht gleich mit einer Lachspur ablaufen sollte, gar keinen. Obwohl, ich sage Zigarettenpause, aber das weiß ich natürlich nicht. Sie stand einfach da, in der Tür zum Restaurant, und fing über die Entfernung hinweg ein Gespräch an.

– Zigarette?, sagte sie.

– Bitte?, sagte ich.

– Wollen Sie eine Zigarette?

– Weiß ich nicht.

– Sie wissen es nicht?

– Ich meine, nein.

Wir legten eine Pause bei dieser offensichtlich unbefriedigenden Unterhaltung ein. Ich hoffte, dass sie es aufgeben würde, aber das tat sie nicht.

– Wie heißen Sie?, sagte sie.

– Wie ich heiße?

Manchmal ist es hilfreich, so auszusehen wie ich, oder zumindest so, wie ich auf bestimmte Menschen wirke, das heißt, jünger als ich eigentlich bin – ich habe ein Gesicht, das naiv wirkt und auch unschuldig, und dies war eine der Gelegenheiten, in denen mir das von Nutzen war. Also starrte ich sie einfach nur an. Ich ließ die Stille wachsen, bis sie ihr Angst zu machen begann.

– Gut. Macht ja nichts, sagte Quincy.

Und sie ging davon, in so einer seltsam benommenen Ratlosigkeit, während ich voller Melancholie und Neid auf ihre Position als glückliche und moralisch unbefleckte Angestellte zurückblieb, und mein eigener Zustand war immer noch von absoluter Panik bestimmt. Damit meine ich: Geschah es mir recht, so gestraft zu werden? Die Dinge würden noch viel schlimmer werden, aber trotzdem glaube ich, dass es mir zustand, diese Frage jetzt zu stellen. Alles, was ich getan hatte, war – zum allerersten Mal in meinem Leben –, neben einer Frau aufzuwachen, die nicht meine Ehefrau war. Ist das so schlimm? Die großen Dinge – wie Mord und Tod und Zerstörung – hatten tatsächlich keine Wirklichkeit für mich –, ich kam nie auf die Idee, dass einem solche Dinge wirklich zustoßen konnten, und jetzt, da so etwas passierte, verwunderte und verwirrte es mich. Ja, ich glaube, dass ich damals zum ersten Mal eine Ahnung davon hatte – so wie wenn man eine Katze sieht, die im Hintergrund durch eine Amateurpornoaufnahme läuft und sich hinsetzt, so kam mir, ganz im Hintergrund, dieser Gedanke –, dass ich dem Untergang geweiht sein könnte. Es war wie dieser Moment, wenn man am Himmel ein vorbeifliegendes Flugzeug sieht und einen traurigen Augenblick lang denkt, dass seine Motoren ausfallen könnten. Ich fand das wirklich unfair. Ich lehne Leiden ab, egal in welcher Form. Ich wurde Vegetarier, weil ich eine Vision von einer blutenden Kuh hatte, der man das Fell abgezogen hatte und die überall blutete, sogar aus den Augen. Mein Lieblingsgericht überhaupt ist Zai Er, vegetarischeGans, an der mir vor allem dieser edle Erfindungsgeist gefiel. Ich versuche, mir selbst das Banjospielen beizubringen. Suchanzeigen zu lesen macht mich traurig. Ich habe nichts Böses an mir. Aber jetzt pass auf, sagte sich das Schicksal, als es sich wie ein Kenner das Bild ansah, pass auf, dass kein Fleckchen des Bodens frei von Blutspuren bleibt. Ich halte das nicht für eine Übertreibung. Es passt zu den Tatsachen, wie ich sie sehe. Ich hätte es vorgezogen, wenn sich das Schicksal mehr auf die Zukunft von – keine Ahnung – Aldebaran konzentriert hätte, aber nein, anscheinend bevorzugte es mich. Und dazu möchte ich sagen, dass es überhaupt nicht fair war. Oder nein, ich meine, das dachte ich damals. Und sie sitzen irgendwo in ihrem schwarzen Schiff, deine Feinde, die Piraten, die draußen im Hafen treiben, und trinken Champagner. Sie sind in dem schwarzen Tankwagen. Das sind alle anderen. Aber du bist hier, und du bist ganz allein. Und du interessierst dich nicht mehr für die Dichtung der buddhistischen Weisen, oder für Filme, die mit Handkamera gefilmt wurden, oder was auch immer. Um diese ganze Kultursache geht es jetzt nicht. Sie ist nicht mehr deine – diese Kultur. Denn jetzt hast du, gegen deinen Willen, eine Metamorphose durchgemacht. Ich fühlte mich plötzlich leer, als wäre ich die Windsor Plantage, die sich durch eine einzige leichtsinnige Zigarette in die Windsor Ruinen verwandelt hatte. Ich fuhr vom Parkplatz, mit einem Auto, dessen Lenkung sich, wie mir jetzt auffiel, ziemlich merkwürdig verhielt und nach der mal jemand sehen musste, bevor auf der Straße etwas kaputtging und ich starb, doch auch wenn das ein Problem war, war es kein so großes wie eine bewusstlose Frau dabei zu haben, mit der man vielleicht eine verbotene Affäre hatte. Und ich sagte mir: Alter, du bist gerade der untalentierteste Gangster der Welt. Oder, anders gesagt, du warst immer schon hoffnungslos unschuldig. Deine Mutter hat immer gesagt, das sei deine netteste Eigenschaft. Und jetzt schau dich mal an.

Der Dauphin

… in eine andere Welt …

Und so kommt es, dass jemand aus einem Fenster oder ins Meer oder in eine andere Welt hineinfällt. Sie fallen einfach und werden mitgenommen. Wie mein Freund Wyman, der eines Morgens aufwachte und feststellte, dass ihn das Leben superfett gemacht hatte, ohne dass er verstehen konnte, wieso, woraufhin sich seine Wut darin äußerte, dass er die Jungfrau Maria und jede andere Gottheit, an deren Namen er sich erinnern konnte, lauthals anflehte, wobei es natürlich viele Gründe gab, wieso Wyman einen solchen Körperumfang hatte, Gründe, die Wyman lieber ausblendete – nämlich seine Vorliebe für Wuxi-Teigklöße und für Pommes mit Käse und Bratensoße, oder seine Mahlzeiten, bei denen LaMar’s Donuts den krönenden Abschluss nach drei Schmitter-Sandwiches bildeten – ganz zu schweigen vom Niedergang seiner juristischen Karriere und den krassen Nebenwirkungen seiner verschiedenen Aufputsch- und Beruhigungsmittel …

… ein Vorkommnis, das vielleicht normaler ist, als es erscheint …

Je mehr ich darüber nachdachte, während ich mit Romy, die zusammengesackt neben mir saß, zum Krankenhaus fuhr und ihr immer wieder die Hand vor den Mund hielt, so als wolle ich sie zum Schweigen bringen, obwohl ich nur prüfen wollte, ob sie noch regelmäßig atmete, war das wirklich Seltsame, dass man, wenn man morgens aufwacht, in der Regel alles an dem Platz vorfindet, wo es am Vorabend war. Das ist der eigentliche Wahnsinn, oder sollte es zumindest sein. Denn im Schlaf, oder genauer gesagt, im Traum, befindet man sich, oder denkt zumindest, dass man es tut, wie die Zaddiks der Schlafforschung herausgefunden haben, in einem Zustand, der grundlegend anders ist als der Wachzustand, und wenn man die Augen öffnet, ist deshalb eine unendliche große Geistesgegenwärtigkeit, oder vielmehr Auffassungsgabe nötig, um alles an dem Platz wahrzunehmen, an dem man es am Vorabend zurückgelassen hat. Ich will sagen, Aufwachen ist etwas so Schreckliches, dass es ein Wunder ist, dass es überhaupt jemand überlebt. Man könnte so leicht in die Highschool zurückversetzt werden, oder wegen eines unfassbaren Verbrechens angeklagt werden, oder entdecken, dass die eigene Frau plötzlich ein scheuer Schäferhund zu sein scheint. Nicht, dass jeder ständig als Esel oder als Käfer aufwacht, aber trotzdem, irgendwann passiert es jedem – denn als Esel aufzuwachen, muss nicht unbedingt heißen, dass man sich mit seinen neuen, großen Schlappohren noch ganz wackelig fühlt. Es kann in jedem der Hotels geschehen, an denen du jeden Tag vorbeikommst, durch das bloße Aufblähen einer Gedankenblase – und schon bist du da, im Bardo. Es ist nicht einmal notwendig, sagen wir mal, neben einer Frau aufzuwachen, die aus der Nase blutet und bewusstlos ist. Es kann viel kleiner sein als das, überlegte ich. In letzter Zeit passierte mir das immer häufiger – ich wachte auf und fühlte mich ein kleines bisschen verändert, einfach, indem ich neben meiner Frau aufgewacht war, mit einem Minihund zwischen uns. Mir ist klar, dir kommt das vielleicht nicht besonders psychedelisch vor. Aber lag ich wirklich so falsch? Zeig mir den verheirateten Mann, der immer noch zu Hause bei seinen Eltern und seinem neurotischen Hund wohnt, und der seine Wäsche in einen Weidenkorb legt, wie er es seit mehr als dreißig Jahren tut, damit seine Mutter sie einmal die Woche nach unten tragen und in die Waschmaschine stecken kann, und dann verrate mir, ob du es nicht für denkbar hältst, dass dieser Mann zu einem Gefühl von Katastrophe neigt. Ganz zu schweigen von weiteren Komplikationen der Gastfreundschaft, auf die ich gleich noch zurückkommen werde. An dieser Stelle kommt es nur darauf an, zu wissen, dass dies nicht die Lage war, die mein Ehrgeiz sich als meine Zukunft ausgemalt hätte. Und das ist vielleicht der Grund, warum ich jetzt jeden Tag aufwachte und von der Realität verstört war, wie eine Zeichentrickfigur, die nach einem Kampf auf dem Rücken liegt, während ihr Sonderzeichen um den geplätteten Kopf schwirren.

… vor allem für einen Dauphin oder Delfino …

Das Einzige, das mich von anderen Menschen unterscheidet, ist, dass ich wesentlich mehr denke. Wegen dieses exzessiven Denkens wurde ich innerhalb meiner Familie als Wunderkind verehrt. Denn wenn man mehr als andere Leute denkt, kann dieser Unterschied, selbst wenn er anfangs nur klein erscheint, sich enorm aufblähen, und am Ende gelangt man zu einem anderen Ergebnis. Es bedeutete ganz klar, dass ich mich vom Rest der Welt gesondert fühlte – immer, wenn ich einen Gegenstand sah, stand das Bewusstsein, dass ich ihn sah, zwischen mir und dem Gegenstand, wie eine Aura, und hinderte mich daran, ihn direkt zu erfahren – und das ist ein ziemlich trostloser Zustand. Alles, was ich je wollte, war, etwas aus meinem Leben zu machen – das war der einzige Ruhm, den ich für mich wollte. Und darin blieb ich einfach nur den Werten meiner Familie treu. Ich denke, jede Familie hat ihre eigenen Mythen, und unser Mythos war, dass wirklich alles möglich war. Meine Mutter versicherte mir jeden Tag, dass ich Großes erreichen konnte, so, als sei sie meine persönliche Sterndeuterin. Wir waren die Höflinge des inneren Lebens! Ich meine damit nicht, dass wir superreich waren oder riesige Fabriken und Anwesen besaßen, aber wir gehörten eindeutig zu den Einflussreichen, mit Mineralwasser im Kühlschrank und ausgefallenem Obst aus dem Supermarkt. Natürlich wurden an den Rändern fremder Länder Kriege geführt – kleine Kriege, ganz klar, aber trotzdem Kriege –, an denen unsere Armeen beteiligt