Strategie - Adam Thirlwell - E-Book

Strategie E-Book

Adam Thirlwell

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Beschreibung

Moshe liebt Nana und Nana liebt Moshe. Und sie versuchen ihr bestes und alles. Aber das reicht nicht. Dann kommt Anjali hinzu. Anjali ist Nanas Freundin. Sie ist sehr schön. Zuerst küssen sich Nana und Anjali nur. Und zuerst schaut Moshe nur zu. Irgendwann sind sie zu dritt. Eine ménage à trois in der Tradition von Milan Kundera und Woody Allen beginnt. Aber so einfach, wie sie sich das alles vorgestellt haben ist es gar nicht. Adam Thirlwell inszeniert meisterlich ein extravagantes Rollenspiel zwischen Leser, Erzähler und Protagonisten. Spielerisch, verwegen und mit beeindruckender stilistischer Eleganz verbindet er Elemente der großen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. »Ein faszinierender Roman, der Ihre sofortige Aufmerksamkeit verdient.« The Independent

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Seitenzahl: 347

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Adam Thirlwell

Strategie

Roman

Aus dem Englischen von Clara Drechsler und Harald Hellmann

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungI1 Das Vorspiel1234562 Die handelnden Personen123456789101112II3 Sie verlieben sich123456789101112134 Eine Romanze123456789101112131415165 Verwicklung12345676 Sie verlieben sich12345678910111213141516171819207 Sie entlieben sich12345678910111213141516171819208 Eine Romanze1234567899 Verwicklung12345678910111213141510 Sie entlieben sich1234567891011121314III11 Das Finale1234567891011121314

June Goldman (1921–1998) gewidmet

I

1Das Vorspiel

1

Als Moshe behutsam die pinkfarbenen, plüschbesetzten Handschellen um die Handgelenke seiner Freundin schließen wollte, bemerkte er eine winzige Falte auf ihrer Stirn.

Ich denke, Moshe wird euch gefallen. Seine Freundin hieß Nana. Ich denke, sie wird euch auch gefallen.

»Pussy!«, sagte er. »Stimmt was nicht?«

Er hockte neben ihrem Hals. Sie lag auf dem Bauch und hatte die Arme über den Kopf gestreckt wie eine Turmspringerin.

Folgendes stimmte nicht: Nanas Hände waren zu schmal für die Handschellen. Deswegen das winzige Stirnrunzeln. Es gab ein logistisches Problem. Und Nana war ein Mädchen, dem es auf Logistik ankam. Sie nahm ihren Sex ernst. Aber es war schwierig, Sex ernst zu nehmen, wenn ihre Hände herauszurutschen drohten, sobald sie sich bewegte. Es war nicht ganz das Wahre, erklärte sie. Das Bewegen machte den Reiz daran aus.

»Oh, nein! Süßer!«, sagte Nana, als sie aufschaute und Moshes betrübtes Gesicht sah. »Was ist los?«

Unbeirrt dachte Nana, dass sie dann eben so tun musste. Sie musste eben still liegen und sich nur im Geiste bewegen. Sie war lieb zu ihm. Es stimmte, räsonierte sie wehmütig in die Steppdecke, ursprünglich war der Plan ein anderer gewesen. Schon klar, dass sie ihm eigentlich hilflos ausgeliefert sein müsste und Moshe, der Tyrann, schadenfroh den Verlust der beiden Schlüsselpaare für die Handschellen, der richtigen und des Ersatzpaars, mimen sollte. Aber der Spaß läge in der Improvisation.

Mir gefallen die beiden. Sie sind ein Do-it-yourself-Paar, und das gefällt mir.

Nana hatte sich etwas ganz Bestimmtes vorgestellt. Sie hatte es ihm in groben Zügen geschildert. Nana sollte gefesselt sein und dann unbarmherzig anal genommen werden. Sie wollte, dass ihr starker Mann seine Potenz unter Beweis stellte. Und daraufhin hatte Moshe – weil sie ein Paar waren, das nach Gemeinsamkeit strebte – einen Abstecher zum Sh!, Hoxtons Sexshop mit Gesichtskontrolle, vorgeschlagen.

Gesichtskontrolle? Aber ja. Für Männer ohne Frauenbegleitung kein Zutritt.

In Sh! sahen sich Moshe und Nana vier Minuten lang nervös um. Bei Sh! roch es nach Räucherstäbchen. Moshe fand, sie sollten gehen. Dann änderte er seine Meinung. Wenn sie jetzt gingen, überlegte Moshe, sähe das so aus, als wäre ihnen Sexspielzeug peinlich. Das sähe so aus, als hätten sie Angst vor Sex.

Ich weiß nicht, warum das Moshe solche Sorgen machte. Es stimmte. Moshe hatte Angst. Er hatte Angst vor Sexspielzeug. Besonders der 12''-Dildo mit einem geäderten Finger speziell für den Anus machte ihm Angst. Aber er wollte nicht ängstlich aussehen. Er wollte lässig aussehen.

Sie kauften einen zierlichen und biegsamen Dildo mit Leopardenmuster, für Sie oder Ihn, der, in seinem Karton verstaut, unter dem Bett herausguckte. Sie kauften ein paar Stricke. Als Andeutung von Bondage kauften sie einen schwarzen Leder-BH für Nana. Er war drei Nummern zu klein. So was wie ein Sport-BH aus Leder. Er quetschte ihren Busen platt. Für die Rolle der Devoten nahm Nana die Brüste einer Dreizehnjährigen in Kauf. Moshes Aufgabe war die Dominanz. Also war Moshe der Käufer und Nutznießer der pinkfarbenen, plüschbesetzten Handschellen – oder wäre es gewesen, wären die Verschlüsse, Zähne, Schließen oder was auch immer nicht zu weit für Nanas zarten Knochenbau.

Sie waren zu weit. Sie musste so tun, als ob.

Moshe ließ es mit den Handschellen und nahm das pink-farbene Bondage-Seil. Er schlang es wie eine Acht um Nanas pro forma gefesselte Hände und knotete es dann am Bettgestell fest. Er arrangierte ihre Handgelenke zu einem schlappen, fluoreszierenden Kreuz.

Nana fand es auf schmerzhafte Art angenehm. Was perfekt war, dachte sie. Es fühlte sich genau richtig an. Sie wollte dem Schmerz Vergnügen abgewinnen.

Dann spreizte Moshe ihre Pobacken.

Nanas erste Reaktion war Scham. Doch darauf folgte schnell Vergnügen. Moshe schnüffelte in ihrer Ritze. Das hatte seinen Reiz. Beharrlich leckte und schleckte er an Nanas Arschloch. Er stippte seine Zunge in die dunklere, gefältelte Rosette.

Vielleicht sollte ich hier präzisieren. Nana war blond. Überall. Ich will mit »dunkler« keinesfalls dunkel sagen. Nein, Nana hatte ein sehr blasses Arschloch. Es war ein Albino-Arschloch.

Moshe amüsierte sich mit ihrem Schweiß und ihrer Scheiße und dehnte ihr rosa Arschloch, indem er ihre Arschbacken mit den Händen auseinander zog. Das war also Zungenanal, dachte sie befangen – eine neue Erfahrung. Nicht direkt das, was sie anmachte, aber interessant war Zungenanal schon. Es war ein Kribbeln ganz neuer Art für sie.

Nana sagte: »Red doch mit mir.« Um genau zu sein, sagte sie, damit die Pornografie zu ihrem Recht kam, mit lasziver Stimme: »Redochmimi.«

2

Es gibt viele Einstellungen zum Reden beim Sex. Es gibt alle möglichen Arten, beim Sex zu reden. Manche geben gerne barsche Befehle. Sie sagen zum Beispiel: »Lutsch meinen Schwanz.« Das mit den Befehlen kann ziemlich paradox werden. Da sagt zum Beispiel ein Junge: »Bitte mich, meinen Schwanz lutschen zu dürfen«, das wäre ein Befehl zu einer Bitte. Oder ein Mädchen beziehungsweise Junge sagt: »Befiehl mir, deinen Schwanz zu lutschen«, also der Befehl zu einem Befehl. Das verkehrt den Befehl fast in eine Bitte. Andere Leute überlassen lieber ihrem Partner das Reden. Sie wollen gutturale, nie versiegende Obszönitäten hören. Das ist besonders erregend, wenn jemand vermutet, der Partner sei verklemmt. Es gibt aber auch Menschen, die Reden nur zur Bestätigung brauchen. Mit manchen muss man nicht einmal reden, um ihnen die Bestätigung zu geben, die sie wollen. Ihnen genügen schon Geräusche. Für diese Menschen sind Laute beim Sex eine andere Art des Redens. Das andere Extrem erfordert, wie ich annehme, einen gewissen Grad von Realitätsverschiebung oder Rollenspiel. Viele Menschen sind beim Sex gerne jemand anderer. Viele Leute stellen sich beim Sex gerne vor, jemand anderer sei jemand anderer.

Und Nana war heute auf Sexfantasien eingestellt. Sie wollte eine Geschichte. Sie wollte ein Rollenspiel.

Normalerweise lehnte Nana jedes Reden beim Sex ab. Selbst ein Flüstern störte sie. Aber jetzt, in einer Wohnung im schmuddeligeren Teil von Finsbury, leicht irritiert durch die Lederwäsche der Frau auf dem Dildo-Karton und das schwarze Kabel der Nachttischlampe von Habitat, war Nana redefreundlich eingestellt. Eine Fantasie würde Moshe eine Freude machen, dachte sie. Es würde den Abend ins Rollen bringen.

Sie war übereifrig. Sie dachte dabei an Beruhigung. Aber Nanas Bitte machte Moshe nicht ruhiger. Wenn überhaupt, machte sie ihn nervöser. Moshe war ein Nervenbündel.

Reicht es denn nie, einfach unanständig zu sein? Das ging Moshe durch den Kopf. Warum so kompliziert? Aber er ließ sich nicht entmutigen, noch nicht. Er überlegte. Er entwickelte einen Plot. Er dachte sich, dass Nana eine bühnenreife Vorstellung wollte, und da hatte er Recht. Sie wollte eine detaillierte Fantasie. Sie wollte, dass er sich etwas ausdachte.

Moshe dachte sich eine antisemitische Sexfantasie aus. Das mag überraschend kommen, ich weiß, aber das war die Sexfantasie, die Moshe schließlich einfiel.

Er leckte und schleckte und verhöhnte zwischendurch sein Mädchen aus der besseren Gegend, die einzige Tochter eines reichen Goj, mit Geschichten aus der Schatzkiste von Moshes jüdischer Ahnenreihe. Das war die Rache des Underdogs. Genauer gesagt, Nana hätte ihn für einen Underdog halten können, aber Moshe hatte Einfluss und Manieren. Moshes Vater war auf der Jungfernfahrt der SS Shalom im Jahr 1964 dabei gewesen. Die Shalom war Israels ganzer Stolz – der Inbegriff von schnieke, bis hin zur wulstigen Modernität der Eames-Ledersessel in jeder Kabine. Sie verfügte sogar über eine Synagoge.

Ihr Lover war aus einflussreichem Hause. Moshes Urgroßvater beispielsweise war ein Held des East End. Er war Preisboxer. Man nannte ihn Yussel the Muscle. Und Nana war bloß Papas kleine Prinzessin. Im Gegensatz zu Moshe war sie verwöhnt und nicht metropolenerfahren. Sie wohnte in einem Villenvorort. Sie wohnte, sagte Moshe angeekelt, in Edgware.

Und das stimmte auch. Das war nicht erfunden. Nana lebte mit ihrem Vater in Edgware. Edgware ist ein Vorort im Norden von London.

An diesem Punkt seiner Geschichte hielt Moshe eine disziplinarische Maßnahme für angebracht. Ihm war das Material ausgegangen. Also gab er ihr ein paar zaghafte Klapse. Nana grinste, hob den Kopf und ließ ihn dann wieder hängen. Er schlug sie erneut, diesmal fester, nur rutschte Moshe, weil er aufgeregt war, die Hand aus und klatschte nach unten, und er klapste ihr unbeholfen auf die fleischige Stelle, wo Pobacke und Oberschenkel aufeinander treffen.

Sein Ungeschick ärgerte ihn. Er kam sich plötzlich lächerlich vor, wie er da zwischen Nanas Beinen kniete, mit dem rechten Arm in der Luft. Er fühlte sich nicht tyrannesk. Er fühlte sich nicht sultanesk. Er fühlte sich wie nichts als Moshe.

In der Wohnung über ihnen stolperte ein kleines Kind. Es fiel auf den Boden und fing an zu heulen.

Das machte Moshe noch nervöser.

Armer Moshe. Er war ein nervöser Sadist, ein schüchterner Arschficker. Er hatte eben keine Übung. Das machte ihm Sorge. Na ja, das war eine seiner Sorgen. Eine andere Sorge galt der Frage, wie viel Übung Nana darin hatte. Beide Sorgen gehörten untrennbar zusammen.

Ganz entgegen seiner Veranlagung schlug Moshe Nana. Er schlug sehr fest zu. Nana gab einen unartikulierten Laut von sich.

3

Moshe machte sich bereit, im Knien. Er tunkte zwei Finger in ihre Möse, und sein Daumen drückte gegen ihr Arschloch. Seine Finger bildeten die Konfiguration, mit der man gemeinhin eine Bowling-Kugel greift. Dann feuchtete er seinen Penis an und schob ihn dorthin, wo er ihr Arschloch zu finden hoffte, während er den Penis mit der rechten Hand nach unten drückte.

Nana bat ihn aufzuhören. Sie sagte, es täte zu weh.

Das war Moshes Stichwort, nicht nachzulassen.

»Jede Schickse lässt sich gern von einem Judenjungen ficken«, antwortete Moshe etwas dick aufgetragen.

Welch heroische Beharrlichkeit. Etwas irritiert spielte Moshe seine Geschichte weiter durch. Ich finde solche Beharrlichkeit vorbildlich, wirklich. Mancher mag darüber spotten. Mancher mag sich darüber auslassen, dass es beim Sex nur auf Erfahrung ankommt – aber ich glaube das nicht. Auch Beharrlichkeit ist heroisch. Moshe verhielt sich vorbildlich.

Auf der linken Hand balancierend, mit der anderen mädchenhaft seinen Penis lenkend, während der dünne Zeigefinger das Arschloch lokalisierte, versuchte er ihn reinzustecken. Aber dieses Arrangement brachte ein unlösbares Problem mit sich. Seinem untauglichen, zitternden linken Arm fehlte die Kraft. War ja schließlich auch ziemlich schwierig, dachte Moshe – ein reglos daliegendes Mädchen in den Arsch zu ficken. Er spielte mit dem Gedanken, Nana zu sagen: »Lustsklavin! Kannst du ein bisschen hochkommen?« Aber Nana konnte ihm nicht behilflich sein. Das wusste er. Er wusste, dass sie ihm nicht ihr gefügiges, erwartungsfrohes Arschloch entgegenstrecken konnte. Das Geile war ja, sich nicht anmerken zu lassen, dass man es geil fand.

Das hielt ihn auf. Nana, das Gesicht platt gedrückt, bemerkte das. Wenn sie schielte, konnte sie das Dunlopillo-Etikett auf der Matratze lesen, das blass durchs Laken schimmerte.

Doch es gibt Augenblicke der Erleuchtung, und das war so einer.

Moshe machte sich lang, streckte den Arm und bekam eine Tube Handcreme – Ren Tahitian Vanilla Hand and Body Milk – neben dem Bett zu fassen. Er schnippte sie mit Daumen und Zeigefinger auf und strich sie sich in seiner Erschöpfung einfach auf seine Schwanzspitze, über die Eichel, das Vorhautbändchen, über seinen ganzen erigierten Schwanz. Dann legte er die Tube neben Nanas blonde, flaumig geschnittene Haare und ließ sie für alle Fälle dort liegen.

Von der Creme wurde sein Schwanz knallrot und brannte. Er stieß wieder gegen sie und spürte eine ungewohnte, warme Enge, also hielt er inne. Wellen der Erleichterung über-spülten Moshe. Er gestattete sich einen selbstgefälligen Moment. Wer hätte das nicht getan? Wir wollen uns doch nichts vormachen. Er fickte seine Kleine in den Arsch. Er verharrte in ihr, fühlte, wie er sich tiefer in sie hineinschob.

Das war die Krönung von Moshes Abend.

Er zog seinen Penis ein Stück zurück, ein Stück zurück, ehe er weiter vorstieß, und da rutschte er raus, runter und dran vorbei. In seiner Panik, bestürzt und beschämt, versuchte er, ihn schnell wieder in sein unnatürliches Futteral zurückzustecken, landete aber bloß in Nanas verdutzter Vagina.

Optimistisch fickte er Nana trotzdem weiter. Er redete sich ein, Sex von hinten sei praktisch das Gleiche wie ein Arschfick. Er schraubte sich rein. Er wagte ein paar Stöße. Er versuchte es aus einem neuen Winkel.

Aber nein.

Das war kein Analverkehr. Daran bestand kein Zweifel. Moshe wusste es selbst. Es war das Gegenteil von Analverkehr. Es war stinknormaler, heterosexueller, vaginaler Geschlechtsverkehr.

Er entspannte sich auf Nana und dachte an Israel.

Das hätte nun der Tiefpunkt von Moshes Abend sein müssen. Aber das war es nicht. Es kam noch schlimmer. Er lag schweigend da und begann zu denken. Beim Nachdenken wurde er ein wenig hysterisch. Ja, als es ihm überlassen war, zu machen, was er wollte, wurde Moshe hysterisch.

Eine verkrampftere Sexszene als das hier, dachte Moshe, kann es nie gegeben haben. In der gesamten Geschichte des Sex kann es keine verkrampftere Szene gegeben haben. Seine Gedanken wanderten ganz allgemein zu den anderen Paaren, den satten und zufriedenen Paaren in aller Welt. In jedem anderen Schlafzimmer schrien Mädchen und Jungen zu zweit, zu dritt oder, wer weiß, zu viert vor Ekstase. Sie bäumten sich auf, dachte Moshe, der unbewegliche Klotz. Sie waren ekstatisch. Das wusste er ganz sicher.

4

Ich möchte auf Moshes Problem näher eingehen. Es ist ein universelles Problem. Es ist der universelle Unsicherheitsfaktor, selbst nicht universell sein zu können.

In seinem ersten Buch, Über die Liebe, formuliert der französische Romancier Stendhal seine Theorie, warum wir gerne lesen. Sie lautet wie folgt: »Wie nun der Mensch über seine eigene Physiologie fast nichts weiß, außer durch vergleichende Anatomie, so verhindern bei den Leidenschaften unsere Eitelkeit und eine Anzahl anderer Ursachen, dass wir über unsere inneren Vorgänge Klarheit gewinnen, es sei denn, wir beobachten die Schwächen anderer. Wenn mein Versuch zufällig einen Nutzen bringen sollte, dann den, dass er den Geist zu derartigen Vergleichen anregt.«

Ich will das erklären. Genau, wie man nicht weiß, wie der eigene Magen aussieht, so wenig weiß man auch, wie die eigenen Gefühle aussehen. Dass man nicht weiß, wie der eigene Magen aussieht, liegt an der Haut darüber. Dass man nicht weiß, wie die eigenen Gefühle aussehen, liegt an der eigenen Eitelkeit und einer Anzahl anderer Ursachen. Um das Problem der Haut zu umgehen, haben wir Anatomiebücher. Um das Problem der Eitelkeit und anderer Ursachen zu umgehen, haben wir Romane.

Vergleicht das mit Moshes übertriebener Sorge, während er da auf Nana liegt. Er fürchtete, dass alle anderen besseren Sex hatten als er. Er war gekränkt. Um über eine Kränkung hinwegzukommen, muss man sich unvoreingenommen und leidenschaftslos mit anderen Menschen vergleichen. Wenn man das tut, begreift man, dass jeder sich ab und zu ungeschickt anstellt. Nur einige wenige Auserwählte sind bei jedem Analverkehr erfolgreich. Es rückt die Proportionen wieder zurecht.

Moshe brauchte einen Roman. (Er brauchte diesen Roman.) Moshe litt am Nichtvorhandensein des Romans. Dieser Roman hier zum Beispiel ist ein einziger großer Miniaturisierungsakt. Alles hat die richtige Größe. Hätte Moshe diesen Roman gelesen, wäre er glücklich gewesen.

Es ist ein universelles Problem. Seht euch doch selbst an. Vielleicht war eure erste Reaktion auf Moshes kleinen Kummer ja beispielsweise, ihn einfach abzutun. Vielleicht fandet ihr ihn in seiner Schwäche unrealistisch. Ihr konntet euch einfach keinen Jungen vorstellen, der in Sachen Sex so neurotisch ist wie Moshe. Vielleicht fandet ihr diesen Text dazu noch obszön. Na ja, zu Anfang vielleicht. Eure Eitelkeit und andere Ursachen haben euch auf diesen Gedanken gebracht. Aber ich glaube gar nicht, dass ihr wirklich empört seid. Ich vermute, dass ihr selbst genauso seid. Vielleicht, aber nur vielleicht, ja auch nicht. Aber ich stelle mir vor, euch ist irgendwann in eurem Leben etwas beinahe Identisches widerfahren.

Natürlich ist es das! Dieses Buch soll Mut machen. Dieses Buch ist universell. Es ist eine vergleichende Studie. Das Letzte, was ich möchte, ist, dass es nur mich betrifft.

Weil es universell ist, soll es in diesem Buch auch keine herkunftsspezifischen Schwierigkeiten geben dürfen. Moshes Name könnte zum Beispiel ein Stolperstein sein. Es ist ein sehr jüdischer Name. Den hat er, weil das die einzige Konzession ist, die Moshes Vater gegenüber seiner jüdischen Familie machte, nachdem er eine nichtjüdische Frau geheiratet hatte. Vielleicht wisst ihr nicht, wie man den Namen ausspricht. Schön, dann verrate ich es euch. Moshe spricht man »Moisha« aus. So müsst ihr den aussprechen. Seht ihr? Ich möchte das hier keineswegs zur Privatsache machen.

5

Was Nana betraf, ihr war ein wenig unbequem. Ihre Handgelenke hatten sich an dem Metall der Handschellen wund gescheuert, während sie so tat, als sei sie gefesselt. Außerdem hatte einer von Moshes eingerissenen Fingernägeln sie gekratzt.

Sie sagte zu ihm: »Af-hörn.«

Moshe beugte sich vor, zog das lose pinkfarbene Seil auf, dann rollte er sich auf den Rücken und sah zu, wie sein Penis zusammensank, sich zusammenzog und dann so blieb. Nana rieb sich die Handgelenke. Während sie rieb, registrierte sie ein kleinlautes Schweigen. Sie drehte sich auf den Rücken, um zu gucken, was mit Moshe war. Sie machte sich Sorgen, er könnte den Kopf hängen lassen. Sie machte sich Sorgen, er sei vielleicht traurig. Aber um keine Traurigkeit aufkommen zu lassen, dachte sie vernünftig, musste man nur vernünftig miteinander reden.

Ach, Nana, wenn die Dinge doch so einfach wären. Wenn Moshe, nur mal angenommen, die notwendige Gelassenheit besessen hätte. Aber er besaß sie nicht. Im Gegenteil, Moshe war theatralisch. Er war von Grund auf theatralisch.

Nanas Freund beherrschten zwei Emotionen, und keine von beiden half ihm weiter. Wie schon erwähnt, war das verbindende Element Hysterie. Moshe war ängstlich und beschämt. Er schämte sich, weil er vor ihr versagt hatte. Er war keine glaubwürdige Fantasie gewesen. Er war nicht realistisch rübergekommen. Und weil er dachte, er hätte sie enttäuscht, dachte er auch, sie sei sauer. Das musste sie ja sein. Und das schüchterte ihn ein, weil er dachte, dass sie vor Wut sarkastisch werden oder frustriert sein könnte. Das schüchterte ihn besonders ein, denn wenn Nana so richtig frustriert war, hätte er noch mehr Grund, sich zu schämen.

Unterm Strich war er also mehr beschämt als eingeschüchtert.

Aber Nana war weder sarkastisch noch frustriert, sondern ganz Entgegenkommen. Sie war freundlich und unbeeindruckt. »Alles okay mit dir?«, fragte Nana.

Sie ist ganz Besorgnis! Das Mädchen ist beunruhigt! dachte Moshe beunruhigt.

Seine Reaktion jedoch war simpel. Er improvisierte die Maske des entspannten Erfolgs. Alles war gut gelaufen, entschied er. Moshe war ein selbstsicherer Verführer. Zuerst hatte ein verblüffender Sexualakt stattgefunden, und nun, da sie erfüllt dalagen, beschloss er, sie wieder ganz aufs Neue zu umwerben, ihr die Geheimnisse seines lädierten Unbewussten anzuvertrauen. Deswegen hatten Leute Sex – wegen des Nachspiels, der stillen Vetrautheit, des Redens.

Dies war ein Abend, der ihnen unvergesslich bleiben würde. Bei Gott, ja.

Moshe antwortete nicht auf Nanas Frage. Er schilderte nicht seine seelische und physische Verfassung. Nun ja, nicht direkt. Er hielt ihr einen kleinen Vortrag.

Mit abschweifendem Blick, weil dies Ausdruck von – nein, nicht Verlegenheit – von Aufrichtigkeit war, sagte Moshe: »Ich war mal mit meinen Eltern in einem kleinen Restron in der Normandie. Da sah ich durchs Fenster so eine Art Befreiungs-Karneval, einschließlich einer Repro-Armee, die durch die Straßen marschierte.« Es hätte aber, und darauf wollte er hinaus, genauso gut die Besetzung sein können. Vielleicht spielten sie die Besetzung nach, sagte Moshe. Denn irgendwie konnte er über dem Dorf auch ein Schloss sehen, und wie sich blonde Männer in chemisch gereinigten Uniformen langsam bewegten, und einen winzigen Moshe, der irgendwie in die ganze Geschichte hineingezogen wurde.

Und das war alles. Das war sein Beitrag zu der Katastrophe: eine Anekdote über den Mini-Moshe, eine unterschwellige Angst – eine originelle Anekdote.

Was wollte Moshe eigentlich sagen? Ich werde es euch verraten. Er wollte eigentlich sagen, dass es ihm Leid tat. Er wollte Nana bitten, nicht sauer zu sein. Er versuchte ihr Mitleid zu erregen. Er wollte sagen, dass Moshe Angst vor den Nazis hatte.

Aber Nana war nicht wütend. Sie war kein Nazi. Sie war nur verwirrt. Sie fragte sich, ob Moshe verlegen war. Sie fragte sich, welche anderen Erklärungen es für diese Szenerie gab – Moshe, der charmante Plauderer im Bett, der ihr zwischen lauter Sexutensilien von seinen Kindheitsängsten erzählt.

6

Nana tat das Arschloch weh, wo Moshes Fingernagel sie gekratzt hatte. Darum rutschte sie hin und her. Sie suchte eine bequeme Stellung. Sie fragte sich, wie tief Moshe in ihren Arsch eingedrungen war, vorhin. Sie fragte sich, ob das bedeutete, dass sie jetzt infiziert war.

Er konnte sehen, dass sie ihn ansah – nackt, auf dem Rücken liegend. Er war entblößt. Moshe fürchtete, Nana würde auf seinen Bauch sehen, guckte an sich runter, und dort war sein Penis. Sein Penis sah dumm und glitschig aus. Er sah deprimiert aus. Moshe stand auf und suchte sich etwas zum Anziehen. Es war erst neun Uhr abends, aber er wollte nur noch seinen Schlafanzug.

Moshe kehrte zu seiner Travestie des Jüdischseins zurück. Er sagte: »Hat dir die jüdische Nummer nicht gefallen? Auf was Besseres bin ich nicht gekommen.«

Moshe grinste deprimiert.

Sie sah ihn an, stumm. Er war ein komischer Anblick. »Was ist?«, sagte er. Und sie grinste. Sie sagte: »Mein Engel, du bist nur halb jüdisch.«

Moshe stand vor ihr, den Körper leicht nach vorne gebeugt. Sein Körpergewicht ruhte auf dem rechten Bein, das nun in kariertem Schlafanzug steckte. Der Fuß seines linken Beins war etwas vorgestreckt. Und sein Knie leicht angewinkelt. Er zog sich seinen Schlafanzug an.

Nana fragte sich, warum sie glücklich war, wie sie so dalag, während nacheinander die Straßenlaternen angingen.

»Du bist ja nicht mal beschnitten«, sagte sie.

»Wir wollen uns doch nicht zanken«, ermahnte er sie, während er auf der Suche nach dem linken Schlafanzughosenbein durchs Zimmer hüpfte.

2Die handelnden Personen

1

Das hier ist zu weit gegangen. Ich sehe das ein.

Vor diesem Experiment mit Sex und Bondage sind Moshe und Nana einander begegnet und haben sich ineinander verliebt. Nachdem das passiert war, doch noch vor dem Analverkehr, haben sie auch die Missionarsstellung, die Ejakulation auf Nanas Gesicht, Oralverkehr, Rollenspiele, Lesbianismus, Undinismus, den Dreier und Fisten ausprobiert. Nicht alles davon mit Erfolg. Eigentlich kaum etwas davon mit Erfolg.

Falls diese Liste euch Sorgen macht, sollte ich etwas erklären. In diesem Buch geht es nicht um Sex. Nein. Es geht um Integrität, Anstand und Güte. In dieser Geschichte geht es um freundliches Entgegenkommen. Wenn meine Figuren in diesem Buch Sex haben, dann wie alles, was sie tun, aus moralischen Erwägungen.

Nachdem sie sich ineinander verliebt hatten, aber noch bevor sie mit lesbischer Liebe und Dreiern experimentierten, verknallte sich einer von beiden in ein anderes Mädchen.

Am Ende dieser Geschichte wird eine der Figuren an einem Gehirntumor sterben.

Wären die Dinge doch so einfach, wie sie aussehen. Würden Ereignisse doch ohne Vorgeschichte geschehen.

2

Das war also der Anfang und der Rest davon.

Es war ein Theaterstück.

Ihr Papa hatte Nana zu einer einmaligen Neuinszenierung ins Donmar Warehouse mitgenommen. Das Stück war Vera oder Die Nihilisten von Oscar Wilde. Es war der Auftakt einer Woche mit Werken von Oscar Wilde, erklärte Papa. Konzipiert hatte sie David Hare, der berühmte Verfasser politischer Bühnenstücke. Sie sollte zeigen, dass Oscar Wilde aktueller denn je war. Dass er ins einundzwanzigste Jahrhundert gehörte. Oscar Wilde als Homosexueller hatte begriffen, dass alles politisch war.

Papa war im Beirat des Donmar Warehouse, daher musste er hingehen. Das sei sein Job, sagte er. Er hätte keine Wahl. Und er wollte nicht alleine hin. Er wollte mit Nana reingehen. Er versprach, es sei toll. Es war, wie er behauptete, eine Neuinszenierung im zeitgenössischen Gewand. David Hare habe das Stück als Klassiker bezeichnet.

Aber es war nicht David Hare, der Nana überzeugte. Nein. Es war Papa. Sie ging mit, weil sie ihn liebte.

Hier ist eine Erklärung am Platz. Papa war Witwer. Nanas Mutter war gestorben, als Nana vier war. Und Nanas Mutter kommt in dieser Geschichte nicht vor. Nämlich deswegen, weil sie auch in der Beziehung zwischen Nana und Papa nicht vorkam. Sie kam auf unauffällige Weise nicht vor. Nana betrachtete sie einfach als Papas beste Freundin. Immer wenn Nana sich ihre Mutter vorstellte, stellte sie sich vor, wie sie mit Papa plauderte. Und Nana wollte diese Gespräche zwischen ihrer Mutter und Papa nicht stören. Es war ihr lieber, dass die Gespräche ohne sie weitergingen.

Aus diesem Grund waren Nana und Papa solch ein Duo. Deswegen gingen sie zu zweit in Vera oder Die Nihilisten.

Und damit fing es an, dachte Nana später immer. Dieses Stück war der Anfang.

Als die Lichter wieder angingen, nahm der privilegierte Papa Nana mit hinter die Bühne. Und da saß Moshe rittlings auf einem Plastikstuhl und räumte ein, ja, er sei der Star der Aufführung. Aber er habe das alles so satt. Er habe die ganze Bauchpinselei satt.

Moshe war Schauspieler.

Als Nana ihn das erste Mal sah, war das auf der Bühne – im Gegenlicht, melodramatisch. Nur dass sie ihn – damit zog sie ihn später auf, als sie ineinander verliebt waren – gar nicht richtig gesehen hatte. Nana wäre beinahe eingeschlafen. Oscar Wilde langweilte sie. Stattdessen hatte sie den Blick schweifen lassen – zum Lichtgerüst, zu dem aufgetakelten Paar, das sich links von ihr befummelte. Das polierte schwarze Holz ihres Sitzes und das unterdrückte Husten hinter ihr hatten sie genervt.

Aus diesem Grunde erkannte sie es nicht als Anspielung, als Moshe – der Schauspieler, der Prinz Paul Maraloffski gespielt hatte – später, hinter der Bühne, sich erhob und sein prinzliches Lächeln aufsetzte. Das Einzige, was sie sah, war eine Stelle mit Zahnstein oben auf Moshes beiden mittleren Schneidezähnen. Ein Auge war seltsamerweise kleiner als das andere.

Das mag gemein von ihr aussehen, war es aber nicht. Manche Menschen sind immer schön, und alle Menschen können manchmal schön sein, aber Moshe war ein Sonderfall. Er war ein Fleisch gewordenes Dramolett. Das lag zum Teil daran, dass er mit seinen eins siebzig eher klein geraten war, und an der leichten Wölbung seines Bauches. Hauptsächlich lag es an dem komischen, agilen Mienenspiel seines fleischigen Gesichts und seinen großen, braunen, unterschiedlichen Augen. Er war der unbeständige Typ, der sardonische, der verrückt-coole. Weil er wegen seiner schlechten Zähne gehemmt war, biss sich Moshe oft rechts unten auf seine Unterlippe. Das verlieh ihm einen gewissen Charme. Es gab ihm einen schüchternen Reiz.

Moshe war nicht hübsch, aber er war charmant. Er besaß eine verspielte Anmut.

3

Oft ist es langweilig, gar banal, wenn Menschen ihrem Partner zum ersten Mal begegnen. Manche Menschen haben damit Schwierigkeiten. Oft ist es einfach zu banal. Das ist vor allem für Menschen schwierig, die an großartige Dinge wie Bestimmung, Schicksalsfügung und Seelenverwandtschaft glauben.

Nadeschda Mandelstam hatte zum Beispiel damit Schwierigkeiten. Nadeschda war die Frau des sowjetischen Dichters Ossip Mandelstam, der im Gulag starb. Nadeschda glaubte an erhabene Dinge. Sie glaubte an Bestimmung. Sie beschrieb Ossip wie folgt: »An seiner Bestimmung hegte er nie Zweifel und nahm sie so selbstverständlich hin wie sein späteres Schicksal.«

Nachdem ich nun schon so weit ausgeholt habe, kann ich auch noch etwas weiter ausholen.

Ist das verlogen! »Er hatte nie den geringsten Zweifel an seiner Bestimmung und nahm sie so selbstverständlich an wie sein späteres Schicksal.« Ich finde das unmoralisch. Damit sagt Nadeschda durch die Blume, dass Ossip den Tod im Gulag schicksalsergeben hinnahm. Sie könnte auch gleich sagen, es sei reines Poetenglück für ihn gewesen, im Gulag zu sterben. Nein, eine derartige Selbststilisierung verstehe ich nicht. Ich stelle es mir schwierig vor, Nadeschdas Ehemann zu sein. Da wäre es schon schwierig, in Frieden einen Teller Nudeln zu essen. Es wären immer schicksalhafte Nudeln.

Sei's drum. In ihrer Autobiografie Das Jahrhundert der Wölfe beschreibt Nadeschda, wie sie den großen, romantischen Dichter Ossip Mandelstam kennen lernte.

»An den Abenden trafen wir uns in einem Nachtklub für Künstler, Schriftsteller, Schauspieler und Musiker. Er befand sich im Keller des größten Hotels der Stadt, in dem einige Beamte aus Charkow untergebracht waren. M. war es gelungen, einen Platz in dem Zug zu buchen, mit dem sie gekommen waren, und darum wurde ihm versehentlich ebenfalls ein sehr hübsches Zimmer in dem Hotel zugewiesen. Am ersten Abend kam er nach unten in den Klub, und wir fanden sofort mit der größten Selbstverständlichkeit zueinander. Für uns hat unser gemeinsames Leben dort begonnen, am 1. Mai 1919, obwohl wir uns gezwungen sahen, danach noch anderthalb Jahre getrennt zu leben.«

Wenn man diese Passage in eigenen Worten zusammenfasst, tritt die wahre Geschichte zutage. Und die lautet ungefähr so: Ossip tauchte ganz zufällig auf. Er ging in eine Hotelbar und unterhielt sich mit einer Gruppe von Mädchen. Eines von ihnen fand er ganz nett. Er sah diese junge Frau ein oder zwei Jahre nicht wieder und hatte sie völlig vergessen. Als er ihr wieder über den Weg lief, erinnerte sie sich nicht an ihn. Er musste ihr auf die Sprünge helfen. Sie verziehen sich das und redeten sich beide ein, dass es das Schicksal gewesen sein musste, das sie wieder zusammengeführt hatte.

Also, keine meiner Hauptfiguren war derart romantisch. Aber sie waren, wie wir alle, ein bisschen romantisch. Daher fanden sie es irgendwie schade, dass die erste Begegnung so banal verlaufen war. Es war irgendwie schade, dass sie sich nicht verliebt hatten.

4

Papa hatte ein gewinnendes Lächeln aufgesetzt. Er fragte Moshe über die Geschichte des Prinzen Kropotkin aus. Das wirkt vielleicht sehr intellektuell. Das wirkt vielleicht, als wüsste Papa alles über den historischen Hintergrund von Oscar Wildes Vera oder Die Nihilisten, ein Stück über den russischen Anarchismus. Aber das war nicht intellektuell. Es bewies nur, dass Papa das Programmheft gelesen hatte.

Papa war hingerissen von den wunderbaren Facetten, die er in Moshes Interpretation der Rolle des Prinz Paul Maraloffski entdeckt hatte.

Moshe blickte, ganz bescheiden, zu Boden und auf Papas zweifarbige Schuhe und deren ineinander greifende Kurven von Leinen und Leder.

»Oh ja«, sagte Moshe. »Es hat eine Ewigkeit gedauert, diese Szene zu finden.«

Doch war Moshe wirklich so bescheiden? Nein, war er nicht. Moshe hatte ein rötliches Ekzem auf den Spitzen und Innenseiten seiner Finger, das er verbarg, indem er die Hände ballte und verschränkte. Er hatte seine Hände hinter dem Rücken verschwinden lassen. Darum verfügte er nur über eine begrenzte Anzahl stolzerfüllter Gesten. Also stand Moshe mit leicht geneigtem Kopf und fest hinter dem Rücken verschränkten Händen da und würdigte den Kunstverstand seines Mäzens.

Papa bewunderte die Würde, das unübersehbare Savoir-faire einer derart noblen Pose.

5

Moshe war ein gelangweilter Bühnenprofi. Er langweilte sich hinter der Bühne. Die Tristesse deprimierte ihn. Ich kann das gut verstehen. Vorgetäuschter Glanz ist deprimierend, wenn er nur Fassade ist. Aber es gab noch einen weiteren Grund für Moshes depressive Anwandlung. Es war kein Mitglied des Königshauses zugegen.

Des Königshauses?

Kürzlich, an einem Samstagmorgen, hatte Moshe in der Barbican Hall durch Benjamin Brittens The Young Persons Guide to the Orchestra geführt. Dieser Veranstaltung hatte die Königinmutter beigewohnt. Und Moshe fand es schön, Ihrer Majestät vorgestellt zu werden. Er fand es sehr schön, ihr vorgestellt zu werden.

Zuerst stellten sich die Musiker hinter der Bühne U-förmig auf. Moshe, der Neuling, landete am einen Ende der Reihe. Vom Flur her konnte er die Stimme der schwatzenden Königinmutter hören. Jedenfalls nahm er an, dass es die Stimme der Königinmutter war. Sie war nasal. Sie war sehr aristokratisch. Dann erschien sie endlich.

Moshe stand der Tür am nächsten. Das war eine Katastrophe. Das bedeutete, dass Moshe als Erster der Königinmutter vorgestellt wurde. In höfischer Etikette ungeübt, hatte Moshe vorgehabt, es einem der anderen nachzumachen. Er hatte sich vorgenommen, auf die Erste Geige zu achten. Die Erste Geige trug ein Frackhemd mit einer abgesteppten, plissierten und gerüschten Hemdbrust. Alle anderen trugen ordinäre weiße Hemden von Marks & Spencer. Die Erste Geige, dachte Moshe, würde wissen, wie man die Königinmutter ansprach.

Aber die Erste Geige konnte Moshe jetzt nicht helfen. Elizabeth dackelte unaufhaltsam näher, auf einer Bahn unterhalb von Moshes Brustwarzen. Sie war höchstens eins dreißig groß, schätzte er. Das zermürbte ihn noch mehr. Und Moshe blieb stocksteif stehen. Er verbeugte sich nicht.

Moshe gab ihr die Hand und sagte: »Hi.«

Die Königinmutter fabrizierte ein Lächeln. Ihre Hofdame, Lady Anne Screeche, erstarrte.

Unter allen möglichen Katastrophen war diese eher eine kleinere.

Das Besondere an königlichen Hoheiten ist, dachte Moshe verblüfft, dass sie königlich sind. Und damit hatte er Recht. Die Königinmutter war die Königinmutter. Aber genau die Königinmutter.

Dann begann das Gespräch. An einem Ende des Raums saß die Königinmutter in einem pompösen Lehnsessel, daneben zwei kleinere Sessel. Der Direktor des Barbican wählte zwei Leute für die beiden kleineren Sessel aus. Alle anderen sahen zu. Sie taten so, als sähen sie nicht zu, und aßen ihre Kaviar-Kanapees, doch sie sahen zu. In sorgfältig bemessenen Abständen wurde unter Oberaufsicht des Direktors einer der Sessel frei gemacht und neu besetzt.

Moshes Partner beim Gespräch war die Dritte Klarinette. Sein Name war Sanjiv, und er wohnte in Harrow Weald. Moshe langweilte sich. Sanjiv fragte die Königinmutter, ob sich in den hundert Jahren ihres Lebens viel geändert habe. Sie erwiderte ooh sicher doch. Sie hätte nie geglaubt, dass sie sich an Straßenbahnen gewöhnen würde. Dann wandte sie sich an Moshe und schaute mit ihren kleinen grauen Augen hoch in seine großen braunen Augen und sagte: »Aber man gewöhnt sich an alles? Nicht wahr?«

Flirtet sie etwa?, dachte Moshe, plötzlich bestrickt, berückt von dieser melancholischen Grande Dame. Er schaute sie an und fragte sich, ob er sie attraktiv finden könnte.

Er konnte.

Und was wäre sie für eine Freundin, dachte Moshe. Während die Königinmutter von ihrer kürzlich erfolgten Unterweisung im E-Mail-Schreiben erzählte, schweiften Moshes Gedanken ab. Er hatte einen Tagtraum.

Er als ihr Lustknabe. Er als Trost ihrer letzten Jahre. Er malte sich die Fotostrecke in Hello! aus – ein Bildbericht über die Königinmutter und ihren Galan. Nicht nur in Hello!, auch in Hola! würden Bildberichte stehen. Vielleicht würden sie sogar etwas in Paris Match bringen. Elizabeth und Moshe würden gemeinsam die ganze Welt bereisen, in einem einzigartigen Liebesnest von Yacht. Es wäre keine direkt sexuelle Anziehung, räumte er ein. Nun ja, vielleicht doch. Ihm wäre es gleich. Aber er stellte sich vor, dass es, realistisch betrachtet, einfach beiderseitige Vernarrtheit sein würde. Und wenn bekannt würde, dass ihr Testament zu seinen Gunsten geändert worden war und die Boulevardpresse unschöne Worte für ihn fand, würden die, die ihr nahe standen, verstehen. Ihre Hofdame, Lady Anne Screeche, würde verstehen.

Moshe blickte Elizabeth Windsor liebevoll an. Nachsichtig nahm er die aufgerauten Spitzen ihrer abgeschabten und himmelblauen Schuhe zur Kenntnis. Die Zeit wurde knapp, dachte er. Er spekulierte über die Reize, die ihr kunstvoll drapierter Chiffon verbarg. Ihre Beine waren seltsam, musste er gestehen. Ihre Schienbeine waren dick vom Wasser in den Beinen. Sie sahen aus wie aus Plastik. Sie hatte die Beine einer sehr ungewöhnlichen Barbie-Puppe. Und ihre Arme waren rissig und voller blauer Flecken.

Moshe stellte sich plötzlich vor, wie die Königinmutter Heroin auf einem Silberlöffel aufkochte, während sie mit den Zähnen eine seidene Aderpresse strammzog, die um ihren Arm geschlungen war. Vielleicht band ihr ja auch Lady Anne Screeche den Arm ab – vielleicht erledigte Lady Anne alles für sie.

Nichts davon war sehr wahrscheinlich.

Und ich glaube, er tat recht daran. Ich halte es nicht für denkbar, dass die Königinmutter eine nymphomane Drogensüchtige war. Aber Moshe tat recht daran, es in Erwägung zu ziehen. Es ist immer wichtig, sich alternative Vorstellungen vom Leben der Reichen und Berühmten zu machen. Man kann dabei schön an der eigenen Einfühlsamkeit arbeiten. Es hilft, sich in andere hineinzuversetzen.

Oh, dachte Moshe. Oh, du Zuckerschnecke.

Und dann, als wäre er nicht schon entzückt genug, der handgeschriebene Dankesbrief. Adressiert an den Direktor des Barbican, auf sechs Oktavbögen Briefpapier aus dem Clarence House mit dem Prägestempel eines schnörkelig umkränzten ER und einer Krone drüber, schrieb sie:

»Es bedeutet für mich immer wieder große Freude und bange Erwartung, wenn ich meine Einladung ins Barbican bekomme. Alle Konzerte sind so perfekt. Aber es bedeutet auch bange Erwartung, gerade weil sie so perfekt sind! Jedes Jahr fürchte ich für die neuen Künstler. Ich fürchte, es könnte unmöglich sein, es wieder so zu genießen wie im Vorjahr.

Aber das habe ich!

Vielleicht haben Sie nie Sir Max Beerbohm gelesen, aber er ist einer meiner Lieblingsschriftsteller, und in seinem Buch Zuleika Dobson beschreibt er, wie jedermann sich in ein junges Mädchen mit Namen Zuleika verliebt, weil sie so schön ist. Natürlich ist es nicht ganz richtig, Sie alle Zuleika zu nennen, da Sie zu so vielen und alle so talentiert sind. Aber ich muss gestehen, dass ich jedes Mal, wenn ich Sie spielen höre, ebenso ehrfürchtig staune wie einer von Zuleikas Bewunderern.

Vielleicht finden Sie diesen Brief etwas zu leicht beschwingt für einen solchen Anlass, doch als ich Sie am Samstag verließ, fühlte ich mich so euphorisch, und ich fürchte, ich bin es immer noch.

Mit herzlichstem Dank verbleibe ich Ihre Elizabeth R.«

Was für ein entzückendes Geschöpf, hatte Moshe gedacht, als er seine persönliche Fotokopie las. Das alte Mädchen ist in Ordnung. Und was ist schließlich falsch an guten Umgangsformen, dachte Moshe? Und da stimme ich ihm zu. An solchen Tugenden ist überhaupt nichts falsch.

6

Und deswegen sehnte sich der arme, erschöpfte, ungeduldige Moshe im Gespräch mit Papa nach königlichen Umgangsformen.

Er kannte diese Treffen hinter der Bühne zur Genüge. Sie langweilten ihn. Wenn nicht gerade eine attraktive Witwe da war, waren solche Partys für Moshe bedrückend. Nicht der Champagner und die Kaviar-Kanapees bedrückten ihn, sondern die Leute. Der Verwaltungsrat nervte ihn. Da war man nun, dachte Moshe mürrisch, und sie erwarteten Dankbarkeit von einem. Sie wollten, dass man von ihren Erkenntnissen zur Schauspielerei fasziniert war.

Moshe hat seine Probleme, genau wie wir alle. Er kann ganz schön unwirsch sein. Besonders wenn er sich langweilt oder fürchtet. Gestehen wir ihm das ruhig zu. Ignorieren wir einfach diese mürrische Stimmung. Verzeihen wir die Tatsache, dass er Papas persönliche Höflichkeit nicht als solche erkannte.

Er war zwar nicht königlicher Abkunft, aber Papa hatte seine ganz eigene Etikette. Er hatte so etwas Herzliches an sich. Und obwohl ich das Wort »herzlich« nicht mag, ist es doch ein Wort, das Papa mochte. Daher werde ich ihn herzlich nennen. Ich werde sogar noch weiter gehen. In Anerkennung Papas und seiner weltfernen Instinkte werde ich ihm ein Bild zuordnen. Papa ist der gute Engel in dieser Geschichte.

Dass Papa so angeregt über Prinz Kropotkin plauderte, hatte zwei Gründe. Einmal war es Papas erster Auftritt als Verwaltungsratsmitglied. Daher wirkte er begeistert. Er beeindruckte den Verwaltungsrat mit seinem Engagement. Und abgesehen davon war er auch freundlich. Dass er mit Moshe über Prinz Kropotkin sprach, sollte Moshe schmeicheln. Es war keine Besserwisserei. Es sollte zeigen, dass Papa von Moshes Darbietung hingerissen war. Es war ein Kompliment.

7

Während Moshe deprimiert bei Papa stand, hatte sich Nana davongestohlen. Der schwierige Moshe hatte sie verunsichert. Sie wusste nicht, was sie zu einem Mann sagen sollte, der ihren Papa so beeindruckte. Hier dagegen war ein hübsches, gesprächiges Mädchen namens Anjali, das das funkelnde, grüne Glasperlennetz von Nanas Armband bewunderte. Nana sagte, das Armband sei oooh, furchtbar unbequem. Es sähe okay aus, würde ihr aber ins Handgelenk schneiden. Sie sah Anjali an und Anjali lächelte sie an. Nana nahm ihre kleine schwarze Brille ab und drehte sie am rechten Bügel zwischen zwei Fingern.

Anjali ist die zweite Heldin dieser Geschichte.

Nana bewunderte vor allem, wie Anjali geschminkt war. Darum will ich es beschreiben. Ganz oben auf den Wangenknochen trug Anjali pinkfarbenes Rouge, das sie bis zum unteren Lidrand verwischt hatte. Ums Auge herum trug sie kohlschwarzen Eyeliner. Unter den Brauen hatte sie dezent braunen Lidschatten aufgetragen, der sanft in den natürlichen Hautton überging.

Nana gefiel das. Anjali hatte Stil.

Nana nahm ein Glas Champagner. Dann nahm sie ein Miniblini mit rotem Kaviar und Sauerrahm. Dann ein weiteres Miniblini, auf dem eine schnucklige Garnele lag wie ein Minicroissant. Sie klemmte den Champagner in abenteuerlichem Winkel zwischen Mittel- und Ringfinger.

Sie sagte: »N cooler Name, Anjali klingt cool.« Sie sagte: »Ich heiße Nana.«