Der Mund der Wahrheit - Lilith of Dandelion - E-Book

Der Mund der Wahrheit E-Book

Lilith of Dandelion

4,9

Beschreibung

Armand muss sich nach einem schweren Unfall wieder an die Welt gewöhnen. Ursache war ein Streit mit seiner Freundin Suse. Diese wiederum verarbeitet den Verlust, indem sie sich unsichtbar macht -- aber dann trifft sie den knapp 16 Jahre alten Joschi und kommt auf neue Ideen. Joschis Bruder ist ein Dropout, er nennt sich Tumbleweed und schläft im Wald. Aber auch er findet Hilfe. Erik verändert sich auf ungewöhnliche Weise, glaubt, er würde nun ein gemiedener Freak werden, doch das Gegenteil ist der Fall. Andrea muss mit ihrer Transsexualität klarkommen, Richard ist schwul und hilft ihr weiter, Frank ist in Rechtsradikalismus abgeglitten und erlebt ausgerechnet am Hünengrab Dinge, die ihn nachdenklich stimmen. So alltäglich die Umgebung ist, in der sich diese Menschen begegnen, so mysteriös ist vielfach der Hintergrund. Wie in Schnitzlers 'Reigen' begegnen sich alle diese Personen in verschiedenen Zusammenhängen und erleben Veränderungen. Nicht immer bleibt das, was hier geschieht, auf dem Boden der Realität. Lassen Sie sich überraschen.

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1 Mysteriöser Garten, Federzeichnung

INHALTSVERZEICHNIS

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DER REKONVALESZENT

WIE ARMAND LERNTE, SICH WIEDER IN DER WELT ZURECHTZUFINDEN

2 Parkanlage in Edinburgh

Er sei seit seinem Unfall ein wenig sonderlich, meinten seine Freunde; denn einige, vorwiegend alte Saufkumpane, hatte er rundweg von seinem Krankenlager fortgeschickt, er wolle sie auch in Zukunft nicht mehr sehen; brüskiert verbreiteten sie, wenn mit Suse nun ganz Schluß sei und er nur noch den Besuch seiner Mutter wolle, sei doch was im Busch, dem ist das Motorrad wohl über gewisse Teile gefahren.

Nun, mit Suse war schon vorher Schluß gewesen, kurz vor dem Unfall. Und gegen die Pflegeinstinkte seiner Mutter war kein Kraut gewachsen, vielleicht konnte er sich zunächst einfach nicht dagegen wehren mit dem gebrochenen Schädel.

Einig waren sich aber alle: Es ist ein Wunder, daß er noch lebt, daß er noch bis drei zählen kann und weiß, wie er heißt.

Wunder oder nicht, Armand genas. Er nahm sich dafür so viel Zeit, als ihm in sieben Jahren Arbeit als Urlaub zugestanden hätte. Die Prognose war nicht günstig. Von lebenslanger Sonderlichkeit sprachen die Ärzte nicht, aber von sehr langsamer Rehabilitation und von Zweifeln daran, ob einiges überhaupt wieder herstellbar sei. Man muß sehen, kein Patient gleicht darin dem anderen.

Als er der Bewältigung des Alltags näherkam, langsam zwar und mit häufigem Ausruhen und Denkpausen, da erwies er sich als ruhig und konzentriert, wo alle erwarteten, er werde vergeßlich und ungeschickt sein.

Einer Fremden, ausgerechnet einer Fremden fiel auf, er benehme sich wie ein Weiser.

Es war sein erster großer Ausflug nach der Entlassung aus dem Krankenhaus. Armand, von der unvermeidlichen Mutter begleitet, besuchte ein Eiscafé, den legendären Eisberg — „da trifft sich doch nur Jugend“, kokettierte Mutter, und Armand war viel zu galant, um diese Bemerkung hingehen zu lassen.

Er besah die Hast der Sommerschlußkäufer nicht verwirrt wie ein Ausgeschlossener, auch nicht mit den Angstgefühlen dessen, der des städtischen Lebens entwöhnt ist. Vielmehr war verwunderte Ruhe und eine philosophische Unerschütterlichkeit um ihn, mit der er nicht nur auf das Toben der Zivilisation reagierte, nein, er begegnete ebenso stoisch den Versuchen der Mutter, ihn ins Leben hineinzuziehen, indem sie ihn auf vorbeigehende junge Damen hinwies und sein Urteil abfragte. Das sah ihr gar nicht ähnlich. Aber er erkannte milde ihr Programm, ihn wiederzubeleben.

Unbewegt sah er hinter den vergnügten, wohlhabenden und gut gekleideten jungen Frauen her. Wo er sonst, fasziniert vom ersten Eindruck, seine Reaktionen mit hochgezogener Schwerenöterbraue kaschierte, der schöne, der zu schöne Bengel aus gutem Hause, den nun manche gar nicht mehr erkannten, dabei entstellte ihn äußerlich nichts, so verquollen gleich nach dem Unfall das Gesicht auch gewesen war. Aber der Riß in seinem Schädel war ein Riß in seinem Denken geblieben und — schmerzlich für die ihm Nahestehenden — auch ein Riß in seinen Gefühlen. Schmerzlich auch für ihn? Man merkte es ihm nicht an.

Er sah längst nicht mehr so gut aus wie früher. Seine Haare waren kurz und struppig, sein Blick konnte, wo er früher selbstgefällig war, rebellisch wirken, obwohl er sich nicht so fühlte. Oder er hob sich zum Betrachter wie das Lächeln der Anne Frank. Viel mehr Frauen als früher schauten ihn an und verzagten. Viel mehr Männer als früher schauten ihn an und faßten Hoffnung, ohne zu wissen, warum.

Er sprach sehr wenig. Es fiel ihm noch schwer, Sätze zu bilden. Das lag nicht an einem Mangel an Konzentration; auch waren seine Sprechwerkzeuge nicht des Gebrauches entwöhnt, wenn er damit auch reichlich faul geworden war; es lag daran, daß für seine neue Welt ein Wortschatz nur schleppend mitgeliefert wurde. Nichts paßte mehr.

Doch nun kommen wir zu der erwähnten Fremden.

Sie servierte in dem Eiscafé, auf das die Wahl der beiden gefallen war. An ihrem knappen schwarzen Kleid mit der Halbmondschürze steckte ein kleines Schild: „Fräulein Kurland“, denn dies war ein konservativer Betrieb und gestand die Würde des Frauseins nur den verheirateten zu.

Sie sah an seinem Blick, daß er der Bestellung seiner Mutter nicht beipflichtete, aber zu verwirrt, zu schüchtern, zerstreut oder rücksichtsvoll oder alles zugleich war, um ihr ins Wort zu fallen.

„Einmal Sahnebaiser“, wiederholte sie schwerhörig die Bestellung der alten Dame, „und was darf ich Ihnen bringen?“

Er nahm die Karte und zeigte stumm auf die Zeile mit dem Glas Tee. Aha, Besuch aus dem Ausland.

„Ein Glas Tee, sehr wohl.“

„Was, nur Tee? Keinen Kuchen? Tee kannst du doch auch zuhause haben…“

Doch kein Besuch aus dem Ausland.

Die Stimme der Mama, die sich schon aufs Verwöhnen gefreut hatte, zerbröselt im Stimmengewirr hinter der Bedienerin. Hier hat man keine Vornamen. Die Kolleginnen ertrotzen das Du: „Fräulein Kurland, nimmst du bitte mal die Bestellung von Tisch Vier auf?“

Die Kasse rasselt den Rest mütterlicher Verwunderung nieder.

Agnes Kurland tritt einen Augenblick aus ihrer Professionalität heraus. Das kleine Chromtablett schwankt einen Moment, der Löffel scheppert auf der Untertasse. Agnes serviert zum ersten Mal seit ihrer Lehre ein Fußbad.

„Tut mir leid, ich habe ein wenig übergeplempert“, entschuldigt sie sich wie eine Anfängerin.

„Ich danke Ihnen dafür“, antwortet er doppelbödig.

Er kam wieder. Allein.

Es schien ihm kühn, denn er war, kaum, daß er aus der Tür trat, in einen Wirbel von Befürchtungen geraten, fast in eine Panik, in der er sich unfähig fühlte, sich an Verkehrsregeln, an die Lage des Cafés und an den Rückweg von dort zu erinnern, er fühlte, daß er seine Adresse vergessen könne. Er kannte solche Zustände, begleitet von der Panik, jeder könne es ihm ansehen, was mit ihm los sei. Aber früher hatte er sie selber herbeigeführt. Der Unterschied lag nun im Fehlen von schlechtem Gewissen. Hierfür kann er ja nichts.

Und er fürchtete, daß er beim Zahlen der Zeche hilflos in seinem Kleingeld wühlen werde, ohne zu wissen, wie man daraus fünf Mark achtzig zusammensetzt. Und er verfügt nicht über genug, um ihr vertrauensvoll einen Schein zu reichen und das Wechselgeld entgegenzunehmen. Und gar auf die Schnelle ein passendes Trinkgeld draufzurechnen. Ein Zögern, eine Komplikation, eine Nachfrage, ob alles in Ordnung sei, würde schon sein Gleichgewicht ins Wanken bringen. Er hätte auch nicht genug, um sich von einem Taxi nach Hause fahren zu lassen, falls er nicht zurückfand. Die Begleitung der Mutter war ihm da gefährlich willkommen.

Als er dann aber ging, war alles viel einfacher als vorgestellt.

So, wie man Radfahren und Rudern nicht verlernt, ging das auf einmal, was er versuchte, wenn er es versuchte. Das Leiden bestand vielleicht gar nicht so sehr in einem wirklichen Verlust an Fähigkeiten, vielmehr schien sein Mangel an Zutrauen zu sich selber den Ausfall erst zu diktieren, kurz „ich rede es mir nur ein“. Und hier, gestählt von Trips und Haschisch, schnappte die Falle wieder ein: „wenn so ein Gedanke Fakten schaffen kann, dann ist damit nicht zu spaßen.“

Agnes Kurland war nicht überrascht, ihn zu sehen. Er näherte sich den Tischen zögernd und setzte sich an den Rand des Geschehens. Man nahm kaum Notiz von ihm. Die Zeitung, die er sich gekauft hatte, diente zuallerletzt als Lektüre. Fast mußte Agnes lachen.

Doch bevor sie sich ihm widmete, mußte sie sich erst diesem Ekelpaket mit Laptop zuwenden, das leider zuerst da war und nun ungeniert Preußen an Österreich anschloß.

„Bringen’s mir an Kleinen Schwarzen, aber schaun’s, daß er net so knapp ist wie Ihr Kleines Schwarzes!“

Sexist.

Und dann der schüchterne Rebell mit der ungelesenen Zeitung.

„Ein Glas Tee. Wann haben Sie Dienstschluß?“

Jeden anderen — zumal nach der kurz zuvor konsumierten Anspielung — hätte sie mit einer schnippischen Bemerkung standrechtlich gevierteilt.

„Wir dürfen hier keine Verabredungen treffen“, beschied sie nur amtlich.

„Sie halten mich vielleicht für einen Draufgänger, aber Draufgänger gehen drauf, so ging’s mir fast — ich möchte mit Ihnen reden, okay? Das Café schließt um sieben, ich warte auf der Parkbank gegenüber…“

„Ich könnte doch auch früher Schluß haben.“

„Ich warte auf der Parkbank. Jetzt und immerdar.“

Witzbold.

Sie verrichtete den Rest ihres Dienstes eher fahrig und betete, der Österreicher werde das Interesse an ihr verlieren. Armand ging, warf keinen Blick zurück — das enttäuschte sie schon ein wenig — und fuhr tatsächlich drüben im Park damit fort, die Zeitung nicht zu lesen.

Sie zog sich hastig um und folgte ihm.

Als sie dann kam, war er nicht mehr auf der Bank; er saß ein Stück näher am Flußufer auf dem Gras.

„Ich bin geflüchtet“, erklärte er den Gelübdebruch.

„Vor den Omas?“ wunderte sie sich, denn da saßen jetzt drei silberhaarige Grazien von zusammen etwa 220 Jahren auf der Bank und plauderten angeregt.

„Die zerreißen sich da die Mäuler über Punks. Sehe ich aus wie ein Punk?“

Sie schaute ihn an, er war ganz in Schwarz, Lederhose und T-Shirt, dazu Ohrringe und ein breites Nietenarmband.

„Doch. Schon.“

Er hat auch dieses direkte und schonungslose Verhalten wie die Punks, denkt sie, also, er sieht schon aus wie einer, der vor zehn Jahren einen Iro hatte.

Er faßte ihre Hand. „Du und ich — wir sind von einem Stamm“, sagte er. „Ich glaube, du denkst richtig, und du siehst. Ich kann nur noch Menschen um mich haben, die so sind…“

„Ja — wie? Erklär’ mal.“

„Ich hatte einen Unfall, der hat mir den Hirnkasten zerschmissen. Einzelheiten erzähle ich dir bei Gelegenheit. Jetzt nur das Wichtige. Wie alt mögen diese Terroristinnen da sein?“

Er wies auf die armen alten Omis.

„Anfang, Mitte Siebzig…“

„Waren 1938 wahlberechtigt?“

„Sehr anzunehmen.“

„Dann hat eine von hundert nicht für Hitler gestimmt.“

„Ja — und?“

„So denken sie noch. Ich fühl’s. Ausländer raus und Ordnung.“

Er spinnt ein bißchen.

„Das war nicht immer so“, widerspricht er ihrem Gedanken, „aber seit diesem Unfall höre ich denken — oder bilde es mir ein, dann kann ich mich unter paranoid einstufen… Agnes!“ Er ließ ihre Hand immer noch nicht los, „ich brauche Hilfe von ehrlichen Sehern wie du es bist. In meinem Kopf ist eine Tür aufgegangen. Der Tod ist stärker als LSD.“

Wenn sie nun fortlief? Zum ersten Mal ließ er jemanden in das Chaos blicken, das in ihm tobte. Und gleich holte ihn die Scham ein. Aber da müssen wir durch, denn ich brauche einen Spiegel, der nicht verzerrt.

„Mal was anderes“, sagte er und kramte einen kleingefalteten Zettel aus der Tasche.

„Ich habe euch nichts zu geben/ bin eben am Leben.

Mir bleibt die schweigende Wut/ mein einziges Gut.

Mein Leben verdank’ ich den Starken/ ich stahl mir den Mut.

Wir treiben wie lecke Barken/ auf schwarzer Flut.

Widme ich dir. Heiratest du mich?“

„Ja, ja, nur keine Zeit mit so Kinkerlitzchen wie Kennenlernen vergeuden.“

Sie nahm den Zettel. Verzweifelte Hieroglyphen, der widerspenstigen Hand in harter Arbeit abgerungen.

„Es ging damals noch ganz schlecht mit dem Schreiben, jetzt ist es besser. Ich werde mal versuchen, es abzutippen.“ Er nahm den Zettel wieder an sich.

„Machen wir einen Spaziergang?“

Er wollte einen Freund besuchen. Er sagte das Wort „Freund“ mit so einem merkwürdigen Unterton. Der Freund war nicht allein. Ein Grüppchen von Gleichgesinnten versammelte sich zum Auftakt des Wochenendes in seiner Küche, um zu beschließen, wo sie die Gegend unsicher machen wollten. Vorher sollte noch eine „Rolle“ geraucht und sollten dann ein Rockkonzert und diverse angesagte Kneipen abgeklappert werden.

„Eyh, Armand hat ‘ne neue Freundin.“

„Kenn’ ich! Du arbeitest doch im Eisberg! Na, hoffentlich biste keiner!“

Sie wurde es in diesem Moment.

„Ach, wie witzig“, murmelte Armand.

„Wie? Was? Heimlichkeit giltet nicht in der Clique.“

Agnes kam der Verdacht, Armand habe sie hergeschleppt, um ihr etwas zu demonstrieren. Denn sie amüsierte sich hier nicht, und auch er amüsierte sich nicht und war weit davon entfernt, sich ihrem Umzug anzuschließen. Das war ihr klar. Vielleicht wollte er ihr vorführen, wie unmöglich er seine einstigen Freunde fand. Und daß er ja einst dazugehört hatte. Wie sehr er sich also verändert hatte. Wie fern seine alte Welt ihm nun liege, und wie schwer es sei, sich in einer neuen zurechtzufinden.

Und daß er den Beistand von Menschen suchte, die dies alles verstünden — einfach durch die Situation.

Sie suchte seinen Blick. Er nickte. I know you know I know.

„Dann können wir ja jetzt gehen“, sagte er leise.

„Ihr fahrt nicht mit? Dope macht nicht verkehrsuntüchtig, eyh!“

„Vielen Dank, bin schon mal bekifft gegen einen Brückenpfeiler gefahren, einmal langt.“

„Ist schon gut, wir haben einfach was anderes vor“, beschwichtigte Agnes. Und das hatten sie ja auch.

Ja. Sie hatte ihn richtig verstanden. Er sagte, er schäme sich dafür, aber die Begegnung mit dem Tod hat ihm einen grimmigen, furchtlosen Humor verliehen, einen, der macht, daß man über alles lachen kann, zuvörderst über sich selber, was ihn anderen Leuten neuerdings eher unheimlich macht, denn diese Art Humor ist stärker als alles, was ihm noch passieren kann.

„Bist du wirklich bekifft gegen einen Brückenpfeiler gefahren?“

„Nein. Die Droge, unter der ich stand, hieß Übermüdung. Trotzdem glaube ich, daß das viele Dope in meinem Kopf eine große Rolle gespielt hat. Aber vor allem hatte ich zwei Nächte durchgemacht, Marathon-Beziehungskrach, nur geredet, geredet, Kaffee getrunken, geraucht, geredet, am anderen Morgen weggefahren, bloß weg, so weit Richtung Süden wie möglich. Hat auch geklappt. Auf einmal die Savanne vor mir, ein Wasserloch, riesige Herden von Zebras, Büffeln, Antilopen, darüber flimmernde Hitze. Und dann — klonk, Tor.“

Er lehnte sich zurück auf der Bank, auf der sie saßen, und dachte ein wenig mit geschlossenen Augen nach. „Als ich auf der Intensiv lag, kamen sie immer wieder, die Antilopen, Büffel, Zebras, Flamingos, Elefanten — vor allem Elefanten zogen an mir vorbei, alle, die je gelebt haben, in ihrem ewigen, ruhigen Schaukelgang. Stunde um Stunde. Glaubst du an Erinnerungen, die vor dem Ereignis stattfinden?“

„An das man sich erinnert.“

„Ja.“

„Déjà-vu oder so.“

„Ja.“

„Daß also die Tiere erst später kamen, als du im Koma lagst, aber du konntest sie schon vorher sehen? Ein Zeitloch?“

Sekunden später schon hätte sie diesen Gedanken nicht mehr nachvollziehen können.

„Genau das meine ich.“

„Und wenn du die Vision später, in deiner Erinnerung, vorverlegt hast? Und erinnerst dich, du hättest das schon vor deinem Unfall gesehen, es war in Wirklichkeit aber später?“

„Darauf bin ich noch gar nicht gekommen. Ich bin ganz sicher, ich hatte den Unfall wegen der Tiere am Wasserloch. Weil ich nicht in die Herde hineinfahren wollte.“

„Wenn man dich also nach der Unfallursache fragt, sagst du, du wärest einer Herde Antilopen ausgewichen?“

„Nein, sondern daß es eine Mikro-Schlafphase war. Und jetzt könnte ich auch eine brauchen. Gehen wir zu dir?“

„Bist du des Teufels? Ich kenn’ dich doch kaum.“

„Du weißt alles über mich.“

„Und ich habe einen Freund.“

Ja, sie hat einen Freund.

Es ist schon lange nichts Aufregendes mehr, aber Zufriedenheit ist ihr manches Mal lieber gewesen als die nervenzerfetzenden Affären, mit denen ihre Freundinnen sich bei ihr ausheulen, da preist sie dann ihr Schicksal, daß Thomas so solide ist.

Sie und Armand verabschieden sich ein wenig förmlich. Er hat sie um ihre Adresse gebeten, sie hat ein wenig gezögert. Dieser Desperado ist womöglich für jede Peinlichkeit gut… Er ist gekränkt, als er diesen Gedanken sieht. Und er nimmt ihre Spießeridylle wahr.

Agnes! Seit ich aus dem Krankenhaus gekommen bin — nein, seit ich aus dem Koma erwachte — bist du der einzige Mensch, der versteht, was in mir vorgeht. Sowas ist kostbar.

Er rennt in der Stadt herum. Er nimmt sie wieder in Besitz.

Wie kann sie seinen Antrag ausschlagen? Versteht sie denn nicht, was er ihr geben kann? Welche Tiefe er erfahren hat? Welche Einsichten er ihr mitteilen kann?

Tröste dich, Armand, die tiefsten Offenbarungen, das Geheimnis von Tod und Leben selbst, werden immer zum Gemeinplatz für den, der die Erfahrung nicht teilt, also halt den Mund.

Aber Agnes muß seine Gefährtin werden. Denn sie „denkt richtig“, wie er es in Ermangelung besserer Beschreibung nennt, seit er in so vielen Augen die Vermutung sieht, er sei behindert. Er versteht den Schmerz der spastisch Gelähmten, die bei klarem Verstand das Befremden und die blöden Witze ihrer unverkrampften Zeitgenossen verzeihen müssen, denn auch er eroberte mit ähnlichen Bewegungen, ähnlichem Gesichtsausdruck und Blick die Welt zurück, wenn die Anflüge auch immer seltener werden. Manche mögen ihn für verrückt halten. Das kommt der Wahrheit schon näher.

Denn, Armand, wenn du meinst, du weißt, was jeder denkt — wie willst du es nachprüfen? Sagst du es jemandem auf den Kopf zu, kann er trotzdem an die Stirn tippen, ob er sich nun durchschaut fühlt oder nicht. Wie willst du erfahren, daß du jemanden durchschaut hast? Willst du ihnen deinen Verfolgungswahn auf die Nase binden?

Agnes ist einer der wenigen Menschen, die ihn — das entwickelt sich schon — für voll nehmen. Mutter gehört natürlich auch dazu.

Die Kumpels wiederum haben anscheinend kaum die Veränderung gepeilt. Die fallen schon mal ganz weg.

Auf seinem flotten Spaziergang, er wollte sich müde laufen, ist er noch einigen Leuten begegnet, die „richtig denken“, unter anderem einem Punk, einer sehr alten Frau, einem türkischer Rentner mit bestickter Mütze und einem afrikanischen Küchenhelfer, der eben hinter der „Pizza World“ den Müll rausbrachte. Vielleicht lag es einfach daran, denkt Armand, daß er seinen eigentlichen Dünkel als Brille aufgesetzt hat, seine soziale Überlegenheit, und daß sie ihn einfach nur in Bescheidenheit angeschaut haben, daß er nur sieht, es fehlte diesen Menschen die Arroganz. Nur diese bedauern ihn nicht, weil sie es noch schwerer hatten. Nein, ich glaube nicht. Sie denken richtig. So wie Agnes.

Wenn er sie das nächste Mal trifft, muß er ihr von Willi erzählen.

Er war ein alter Alkoholiker. Kein Penner, aber mit denen war er den ganzen Tag zusammen. Er hatte ihren Tonfall angenommen und ihre Haltung. Dazu kam eine Attitüde des Opfers, defensiv, anklagend, eingekesselt in ein Gefüge von kleinlichen, bösartigen Lebensumständen, die in perfekter Verschachtelung den kleinsten Schritt zu einer Besserung seiner Situation vereitelten. Es war eine Verschwörung, eine Intrige am Arbeitsplatz seit seiner Lehre, Schikanen der Hauseigentümer, eine dämonische Ehefrau, kaltherzige Kinder, kafkaeske Ämter, das alles verkettete sich zur Ausweglosigkeit.

Willi besaß Konsequenz, Disziplin und Willenskraft. Er setzte sie ein, um alle um sich zu vergrämen, hatte sich in Prozessen ruiniert und endlich konsequent fast totgetrunken. Sein Delirium fand statt neben der Schädelfraktur mit Hirntrauma und inneren Verletzungen, vier Rippen- und etlichen anderen Knochenbrüchen mit Namen Armand Weiler, der eben aus dem Koma gekommen war und mehrmals mit Herzklopfen aufwachte, weil die zornbebenden Gestalten von Willis aggressiven Visionen als Racheengel durch den Raum geschritten und geglitten kamen. Langsam, zugleich mit Willis Lebenskraft, wichen sie freundlicheren, familäreren und verloren zugleich die Form, bis ein Engel kam.

Armand dachte erst, der gelte ihm.

Der Engel nahm von ihm aber keine Notiz, sondern ließ ihn wissen, Armand habe noch eine Menge zu lernen, er sei noch nicht dran.

Er sprach nicht solchen Klartext, wohlgemerkt. Er sah auch nicht aus wie ein Mensch. Er sah gar nicht aus. Es war ein Strom fremder Ionen im Raum, ein verändertes Magnetfeld, eine kleine Induktion, besondere Radiowellen und ein wenig zarte, aber strenge Gammastrahlung. Er war eine Ablenkung von Armands Kompaßnadel und ein Löschen und eine Neubelegung einiger Speicheradressen in seinem Kopf. Willi starb. Der Strom floß hinaus. Armand genas.

Er sah, daß die Ärzte ihm von Visite zu Visite mehr Chancen gaben. Er hörte ihre stumme Besorgnis. Er litt darunter, daß sie ihn aus seinen schönsten Träumen rissen, weil sich die Werte auf dem Monitor drastisch verschlechterten. Sie unterwarfen ihn den Strapazen der Wiederbelebung, die er hinterher dankbar hinnahm. Er sah die Ängste der Schwester, deren Sohn auch Motorrad fuhr. Die Schläuche hinderten ihn am Antworten.

„Ist es nicht wunderbar, daß so eine deformierte, blaurot aufgeschwollene Masse einige Tage später wieder das alte Gesicht wird, daß es sich quasi erinnert, wie es mal ausgesehen hat…“ sinnierte eine alte Unfallschwester zusammen mit einer Neuen. Sie wähnten ihn in tiefer Ohnmacht. Er berichtete es ihnen später und versicherte eifrig, sie müßten sich wirklich nicht für eine Bemerkung entschuldigen, die ihm so viel Zuversicht eingeflößt hatte.

Wenn die Mutter kam, gab es einen Besserungsschub. Sie hatte ihm einmal das Leben gegeben — sie gab es ihm wieder in kleinen Portionen, immer so viel, wie sie konnte.

Dann besuchte ihn Susanne. „Na? Gebe ich noch einen Bettpartner, Kindsvater und Brötchenverdiener ab? Sieh mal nach, ob alles dran ist.“

War das nun ein Witz oder Verbitterung? Sie schnappte natürlich ein. Er war verbittert. Hatten sie sich nicht gerade vor seinem Unfall getrennt? Er hatte ihren Besuch nicht gewollt.

Sie hat an der Tür gezögert, hat ihm noch eine Chance gegeben einzuhaken und zu sagen, er meine es nicht so, bleib doch.

Er schaut ihr nicht einmal nach. Das kam aber auch daher, daß wieder die Wanderzüge der Elefanten einsetzten. Sie sind schon seine Zuflucht geworden. Er schließt die Augen und versucht teilzunehmen an der stummen Selbstverständlichkeit der Tierexistenz. Nicht nach dem Sinn des Lebens fragen, nur leben. Keine Wahl, keine Qual.

Instinkt schreibt vor. Instinkt kennt keine zwei Möglichkeiten. Er kennt kein ‚ver-zwei-fein‘. Armand hat nicht gewählt, ob er überleben will. Er verlangt nicht dieses oder jenes zu seiner Bequemlichkeit. Er beklagt sich nicht über den Schmerz der Infusionsnadel in seinem Handrücken oder über den Druck des Schlauches in seiner Nase. Er leistet sich nicht den Luxus, den Ärzten zu mißtrauen. Er überläßt seine Genesung den Fachleuten. Er verzichtet auf eigenen Willen. Der Schädel, die schützende Hülle seines Denkapparates, hat einen Riß, also verharrt er still in Heilung.

Das Stillhalten raubt ihm manchmal schier den Verstand. In ihm kommt ungeahnte Bewegung auf, der Drang auszureißen. Emotion ist Bewegung. In plötzlichem Schmerz, als er sich einmal die Finger eingeklemmt hatte, sprang er herum und fand darin Erleichterung. Genauso, versteht er, hat er immer dem Eingeklemmtsein seiner Seele Luft gemacht, ist herumgezogen und hat jegliches Stillsein vermieden, hat es mit Musik verscheucht, mit Kumpels, mit lautem Reden und Alkohol. Hört ihr denn nicht dieses grauenhafte Geräusch, welches den Erdball umspannt und welches man Stille nennt?

Dies ist die schwarze Flut, die in sein Leck eindringt und ihn stetig füllt und endlich strudelnd herabzieht. Er gehorcht auch diesem.

Wider Erwarten hat ihn die Stille nicht getötet. Im Gegenteil. Er verläßt sie unwillig, voll Furcht vor Geräusch, Licht und Bewegung.

Das geht vorbei. Bis zur Entlassung hat er’s überwunden.

Dafür aber kommt der Schock, der Art Mensch in großen Rudeln ins Augen zu sehne. Überall nur Neugier statt Aufmerksamkeit, Egoismus statt Mitgefühl, Schadenfreude statt Hilfsbereitschaft; selbst die Liebe zu eigenen Kindern ist in erster Linie Brutpflegeinstinkt. Weibchen mit Jungen sind gefährlich, vor allem auf Rolltreppen und in Supermärkten. Den Medien kann nichts besseres passieren als die Katastrophen anderer. Die Leser freuen sich mehr über was Interessantes zu lesen, als daß sie den Grund für ihre Lektüre bedauern. Auch Armands Unfall hat der Unterhaltung gedient.

Das ist nun aber doch nichts Neues! Oder? Als Armand das letzte Mal vor seinem Unfall die Straße betrat, glaubte er noch, alle Menschen seien ziemlich nett, würden im Notfall helfen, würden nur durch den Druck der Umstände schäbig und nur im Extremfall verbrecherisch handeln. Das Reden alter Leute über die Schlechtigkeit der Welt hat er als Verbitterung Einzelner abgetan.

Es war alles Illusion. In dem Drang, auch sich selber zu schonen, hat er nicht aufgeben wollen, an das Gute im Menschen zu glauben. Hat sich über seine eigenen Aggressionen, seinen Egoismus und seine Irrtümer in die Tasche gelogen. Wie konnte ihm dieser Glaube abhanden kommen, wo doch alle sich ein Bein ausgerissen haben, als es bei ihm um Tod und Leben ging, um das Gegenteil zu beweisen? Wieso sieht er es jetzt so? Wieso sieht er nur Neugier, Bosheit und Kälte?

Armand weiß nicht, ob die Illusion am Brückenpfeiler zerschellt ist oder ob sie ihm später abhanden kam. Vielleicht hat sie der Engel mit hinausgetragen. Oder sie ist in der schwarzen Stille auf den Grund gesunken. Sie ist weg.

Aber Neugier, Bosheit, Kälte — das kann doch nicht alles sein!

Der Mensch ist doch zu gutem Handeln fähig. Sonst hätten sie um ihn ja nicht Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt.

Er weiß, er wird mit seiner neuen Sicht, mit dem scharfen Blick, der das Häßliche so scharf sieht, nicht leben können, wenn nicht noch etwas Verzeihendes hinzukommt. Er muß dahin kommen, alle Boshaftigkeit als Schwäche und letzlich reparable Dummheit zu sehen. Er muß das. Schließlich hat er leben wollen.

Ein Panzer aus Chitin, der dem lebenden Tier feste Wohnung war, hält keinem Druck mehr stand, wenn das Tier gestorben ist.

Agnes kommt nach Hause, wird routinemäßig geküßt, macht routinemäßig Abendbrot und wird routinemäßig begattet.

In dieser Nacht vollendet Saturn die Wanderung von dem Punkt aus, den er bei ihrer Geburt einnahm, rund um die Ekliptik und kehrt zum ersten Mal wieder auf diesen Punkt zurück. Die Hülle bricht in Krümel, das Tier, das darin wohnte, ist lange tot.

Agnes schläft wie immer allein weiter, als Thomas gegangen ist, duscht, kleidet sich an und geht zur Arbeit. Alles ist anders.

Nehmen die Kolleginnen, die Chefin oder die Gäste keine Veränderung wahr an ihr?

Nichts. Sie ist korrekt und perfekt. Höchstens etwas ernster. Und mitten in der Abrechnung, mitten im betäubenden Lärm der Registrierkasse, kommt ihr ein Satz in den Sinn:

Wir treiben wie lecke Barken auf schwarzer Flut.

Da weiß sie, daß er heute kommen wird.

Armand hat sich viel Zeit genommen, um einen Turban zu wickeln. Er muß sein Haupt verhüllen, er hat doch gemerkt, er fühlt sich sonst dem Anprall mit der Welt noch nicht so recht gewachsen. Weiß verwirft er, denn es soll nicht nach Kopfbandage aussehen. Man soll bei seinem Anblick ja nicht erschrecken. Rot ist doch zu exotisch… Er entscheidet sich für einen gestreiften Baumwollstreifen in Zimt- und Bronzefarben. Er legt ihn zu einem nicht übertrieben hohen, eher schlichten Taliban. Dazu wählt er eine schlichte Leinenhose und ein langes Hemd von indischer Schnittform, läßt es über der Hose hängen und ergänzt dies mit einer kurzen Weste in Schiefergrau.

„Armand“, sagt die Mama, „eigentlich hattest du nun genug Narrenfreiheit, jetzt sollten wir mal langsam gesund werden.“ Er lacht und küßt sie. „Dein goldiger Humor! Mama, die Freiheit, und vor allem die Narrenfreiheit, das ist eine Krankheit, die lebenslang chronisch werden kann.“

Er ist glücklich — lassen wir ihn also.

„Wo hast du dich überhaupt in der letzten Nacht herumgetrieben? Ich habe dich überhaupt nicht heimkommen hören. Geht die Bummelei wieder los?“

„Ich hatte eine Nachtwache zu halten“, antwortet er geheimnisvoll. Ja, er hat bis zum Schluß in der Kneipe gesessen, die Agnes’ Wohnung gegenüber liegt, und hat das Wechseln der Lichter in den Fenstern unter Kontrolle gehabt.

Dann, als die Kneipe schloß, bewachte er die Geliebte noch eine Weile von der Bank an der Bushaltestelle aus. Endlich wußte er, daß alles getan war, und ging.

Sie schaut hinaus zu den Gästen auf der Terrasse — da sitzt er also im Orientlook mit Unschuldsblick und will seinen Erfolg einsammeln.

Ja, stell’ mir nur weiter nach, aber rechne damit, daß du kieloben trockengelegt und neu geteert wirst, Schlingel.

Das wird seine Zeit brauchen.

Nun macht sich aber wieder einmal der österreichische Schlepptop mausig. Tief Luft holen und raus. Die Bestellung aufnehmen und keine Miene verzogen. Armand sitzt in Hörweite.

„An großen Brauen bringen’s mir“, sagt er, „und welche Mehlspeisen haben’s? Kipferl? Topfenpalatschinken?“

Agnes zählt einige leckere Angebote auf, dem Herrn behagt alles nicht; „Butterkuchen hätten wir… Die gedeckte Apfeltorte ist wirklich zu empfehlen, vor allem mit Sahne… mit Obers…“

„Gut, dann die“, kommt’s wie das Ja zu einer Freiheitsstrafe.

„Aber fragen’s noch mal nach Topfenpalatschinken, vielleicht erklären Ihnen die Kolleginnen, was das ist.“

Agnes ärgert sich über diesen habsburgischen Kolonialismus. Und sie ist lange genug Bedienerin, um sofort einzuschätzen, welche Gäste einen Watschenmann für ihre schlechte Laune und ihr Bedürfnis nach Überlegenheit brauchen. Sie fühlt demütigende Absichten inzwischen sofort.

Als sie mit der Apfeltorte und dem Kaffee zurückkommt, ist der Österreicher rot vor Zorn.

„Sog’ns dem Tschuschen, doss er si schleicht!“

Zu Deutsch: „Schmeißen Sie den Ausländer raus.“

Armand, den das betrifft, lehnt sich gleichmütig zurück. Offenbar hat sich der Gast laut über Agnes beschwert, und Armand hat ihm contra gegeben.

Sie stellt Kaffee und Kuchen mit Sorgfalt vor den Gast, dabei zittert sie innerlich. „Topfenpalatschinken kennt man bei uns nicht“, berichtet sie dann, „aber Maulschellen hätten wir auf besonderen Wunsch.“

Wird er sich beschweren? Es ist ihr so egal. Sie hat ja einen Zeugen für das, was er über sie gesagt haben mag. Jetzt gibt es für sie nur Armands Bestellung.

Sie wird ihm von nun an den Tee bringen, jetzt und immerdar. Das ist ihr plötzlich klar. Und er sieht es und küßt ihr die Hand.

„Stell’ es dir nur nicht zu leicht vor! Du engagierst keine Krankenschwester, daß du es nur weißt! Vielleicht wirst du den Tag noch mal verwünschen, da ich ja gesagt habe.“

„Was kann mir denn noch passieren?“ lächelt er.

CARPINUS BETULUSODERDIE LIEBE ZU DEN BÄUMEN

3 Knick, Aquarell

SEIT AN BEGINN DER MENSCHHEIT HABEN DIE BÄUME ALS HEILIG GEGOLTEN. VIELLEICHT AHNTEN UNSERE AHNEN, WAS PASSIERT, WENN MAN DIE BÄUME DER WILLKÜR DES MENSCHEN ÜBERLÄSST. & ES WAR VIELLEICHT GAR NICHT SO DUMM, DIE BÄUME ZU HEILIGTÜMERN ZU ERKLÄREN, WIE DIE MISSIONARE DACHTEN.

DIES IST DIE GESCHICHTE VON EINER MANZIPIERTEN JUNGEN BAUMLIEBHABERIN & VOM DICKKOPF.

DIESE GESCHICHTE IST FÜR ALLE, DIE IN SACHEN BÄUME ZU DICKKÖPFEN WERDEN WOLLEN, ALSO LEGT EIN WENIG DIE MOTORSÄGE AUS DER HAND & LAUSCHT.

Sie wußte nicht, wie dieser Baum hieß, mit dem sie immer sprach. Fritzi setzte sich in den Schatten und schaute die sinnliche Verflechtung der Äste an, schaute in das lautere Grün des fischgrätgemusterten Laubes und lauschte ihm. Sie wußte, daß er zu ihr sprach. Natürlich vernahm sie keine Worte, sie war ja keine Spinnerin, sondern eine sehr vernünftige junge Frau von siebzehn Jahren. Sie wußte halt nur, wenn sie sich vom Boden erhob, manchmal erst, wenn sie fortgegangen war, was der Baum wollte.

Von einer Patenschaft hatte er gesprochen, die die Menschen für die Bäume übernehmen sollten. Er hatte auch gesagt, es sei ganz ohne Risiko für Mensch und Baum. Denn Fritzi hatte eingewandt, es könne ihr ganz nett in die Knochen fahren, wenn ihr Baum stürbe. Aber Bäume und Menschen sterben. Das ist natürlich. Und wenn der Baum stirbt, dann kann der Mensch ja eine neue Patenschaft übernehmen…

…und wenn der Mensch stirbt, übernimmt der Baum eine neue Patenschaft für einen neuen Menschen! Der Baum lachte. Da war sich Fritzi ganz sicher.

Sie saß so nah bei seinem Stamm, daß sie ihn mit ausgestrecktem Arm berühren konnte. Sacht schwingend, fast unmerklich wogend, wand er sich hoch zu seinem grünen Dach. Schwärzliche Stränge, wie unter der Rinde geschwollen, phallische Körper, sie zogen ihre Hand an, die sinnlichen Säulen. Sie strich mit den Fingerspitzen darüber. Sie drückte ihre Hand flach dagegen, bis es hinter der Rinde pochte — und wenn sie doch wußte, daß es ihr eigener Puls war… Haben Bäume kein Herz?

Von ihrem Bruder lieh sie sich ein Buch über Bäume. „Seit wann interessiert dich denn sowas?“ wundert sich Marcus. Sie habe sich halt in einen Baum verliebt, verrät sie unvorsichtigerweise, „in eine — mal sehen! — Hainbuche.“ — „Ach!“ trompetet der Jüngling, nun wieder ganz Pubertät, „Hein Buche? Haste dich in Hein Buche verknallt?“

Man muß an dem Supermarkt vorbei, hinter den Müllcontainern entlang, wo der Zutritt für Betriebsfremde untersagt ist, und durch das Loch in dem Zaum kriechen. Sie fällt nicht auf, wenn sie hinter den Supermarkt geht. Den leitet ihr älterer Bruder, und bei dem jobt sie, wenn er nicht grade sauer auf sie ist. Wenn sie zum Beispiel allzu leger die Kartons mit dem Weichspüler mit dem Teppichmesser aufschneidet und erwischt rundherum einmal alle Flaschen… Oh, weh. da war sie dann längere Zeit arbeitslos.

Rund um das Grundstück mit „ihrem“ Baum gibt es eine Mauer. Das Gebiet ist der Rest eines Gutes, dessen Wirtschaftsgebäude der Autobahn und dessen Herrenhaus dem Supermarkt zum Opfer gefallen sind. Nur dem Starrsinn einer unralten Erbin verdanken wir, daß die nördliche Zufahrt von der Siedlung zum Superfood noch nicht hat gebaut werden können. Fritzis Vater regt sich bei jedem Sonntagmittag darüber auf. Würzt das Kalbsfilet mit dem Adrenalin seiner Empörung. Manfred pflichtet ihm bei. Marcus, der Jüngste, fragt: „Darf ich aufstehen?“ Denn draußen auf der besonnten Freitreppe der Villa warten seit der Spargelcremesuppe die Kumpels mit ihren Skateboards. Fritzi hat sich bislang nicht für das Thema interessiert, bis von den Prellsteinen des alten Gutstores die Rede ist wegen denen das Denkmalschutzamt so anstellt, als wären sie der Turm von Pisa und das Ulmer Münster. Dabei ist an denen rein gar nichts. Sollen sie die Prellsteine doch ins Heimatmuseum stellen und die Fremden damit prellen statt uns. Da horcht Fritzi auf. Und beschließt, sich die Dinger mal genauer anzusehen. Sagt aber nichts. Geht daraufhin zum ersten Mal — so fing das nämlich an mit dem Baum — auf dieses Grundstück und entdeckt die Steine, schräg und abgewetzt, wie müde der Stöße von Rädern schwerer Heuwagen. So lehnen sie sich an kaum noch als Mauern erkennbarer Ziegelhaufen.

Ferner findet Fritzi: Knabenkraut, jede Menge Frauenmantel, Küchenschelle, Gewölle, die auf die Anwesenheit von Käuzen hindeuten — kleine Brüder wissen selten, wofür sich ihre großen Schwestern interessieren — viele wilde Kirsch- und Apfelbäume, eine Blindschleiche, einen Trauerfliegenschnäpper, ein Stieglitzpaar, rote Libellen und den dazugehörigen Teich, einst Löschteich des Gutes, inzwischen fast zugewachsen. Die großen Eichen sind schon gefällt. Um ihre Stümpfe ist hohes Gras und lichtes Gehölz von jungen Pappeln gewachsen. Und da ist natürlich der vornehme Distrikt der Hainbuchen mit dem Moosboden, ohne Unterholz. Hier toben die Wacholderdrosseln, einst Krammetsvögel geheißen und für einen Imbiß erdrosselt, nun dick und dreist und mit dem Flug alter Rosinenbomber.

An diesem Sonntagnachmittag, als Papa nichtsahnend bei einer guten Zigarre das Kalbsfilet verdaut, entdeckt Fritzi, Friederica von Gelbensande, ihren Baum.

Im unpassendsten Moment — nämlich, als sie in der Sportstunde zu zensiertem Sprung ansetzt — fällt ihr der Traum ein, den sie in der vorigen Nacht gehabt hat. Sekundenlang ist sie am Abflug gehindert. Sie winkt ab: „Moment! Gleich!“

Schon hat sie freundliche Geier am Hals, die nette Sportlehrerin und die noch nettere Referendarin. „Fehlt dir was?“

Oh, im Gegenteil! Sie haben nicht gesehen, daß ihr Blick träumerisch geworden ist. Wenn ihr nun wieder entfällt, was ihr eingefallen ist, bevor sie es nachträumen kann in einem Moment der Muße? Nein, sie wird es später noch wissen und ihren Raub in die Höhle schleppen und ungestört genießen.

Und das hat sie geträumt:

Sie hat den Baum vorsichtig, ohne die Wurzeln zu beschädigen, aus der Erde gehoben und nach Hause getragen. In ihrem Zimmer hat sie ihn in den Korbstuhl gesetzt und ist ins Bett gegangen. Sie träumte, sie sei von grünem Licht aufgewacht, das die Krone des Baumes verbreitete, grünes Licht wie Sonne im Mailaub. Nackt stieg sie aus dem Bett und hat ihn umarmt und umbeint, und er hat sie umzweigt und umwurzelt. Gewiegt haben sie sich wie im Wind und Baumhochzeit gehalten, er mit seinen dunkel wogenden Schwellungen in ihren hellen Frauenleib hinein. Jetzt weiß sie, wie das ist, was sie noch nie erfahren hat. Sein Puls war sie und sein Wiegen und nicht mehr Friederica. Ebenso war er nicht mehr Holz und rauhe Rinde, sondern afrikanische Samthaut, ein biegsamer, sanfter Mann hat ihr so dermaßen beigewohnt, daß sie feucht erwachte. Genau das erfährt sie, als die Nacht sich in ihre Sportstunde einmischt. Fritzi, du bist nun keine Jungfrau mehr, denn du weißt jetzt, wie das ist, und nur darauf kommt es an.

In dem Augenblick, als ihr dieser Traum in den Sinn kommt, ist er so gegenwärtig und wahrhaftig. Sekunden später lacht sie darüber und tut ihren Sprung. Aber nicht mit voller Kraft. Heute werden die Noten nicht berühmt. Fritzi, kriegst du deine Tage? Ja, in der Tat. Und dann fehlt sie schon auf Vorschuß beim nächsten Sportunterricht. So gut sie ist in dem Fach — sie mag es nicht.

Sie schleicht sich gleich zu „ihrem“ Grundstück und legt sich in die Sonne. Hierher kommt niemand. Die Omi, der das Land gehört, wohnt in Berlin; rundherum ums Land ist die Mauer oder mindestens der Zaun, und von dem Loch darin weiß nur Fritzi. Die hat es nämlich gemacht.

Eigentlich hat sie ja noch kein Recht, den Sport zu schwänzen. Erst übermorgen oder so. Aber es ist so heiß! Und die Kleinen haben schon Hitzefrei. Ungerecht ist das. Fritzi beschließt welches für sich selber und legt sich nackt auf den Moosboden, nicht einmal mit Kleidern drunter, und schläft ein.

Von Gewittergrollen wacht sie auf. Weil sie nicht unter Eiben schlafen darf, donnert es jetzt, um sie zu warmen… Blödsinn, da hatte sie was geträumt. Daß man unter Eiben nicht schlafen darf, schon gar nicht in der Sonne, dann dünsten sie nämlich ein Gift aus. Nein, sie liegt ja unter der Hainbuche, und die ist in jeder Hinsicht unverdächtig. Danke für den Hinweis. Die Sonne ist weg, bleigrau und schwer hat es sich gegen den Wind zugezogen. Und sie hat ihrem Baum ein kleines Opfer gebracht, pfui, Schweinkram. Kann sie doch schon morgen vom Sport fehlen. Eilig zieht sie sich an und kriecht durch das Loch im Zaun und sucht im Supermarkt Schutz vor dem Gewitter.