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Homsarecs sind eine Art Menschen - aber keine gewöhnlichen. Sie sind Wunschtraum für die einen, Schreckensvision für die anderen. Sie sind wehrhafte, überwache, heißblütige, scharfzähnige und sehr schöne, aber kurzlebige Mutanten. Ihre Häuser liegen mitten in unserer gewohnten Umgebung. Uns nennen sie 'Cro'. Sie lieben die Cro-Magnon, locken sie in ihre Gemeinschaft und führen sie in ihre Sitten und ihre erotischen Rituale ein, bei denen das Geschlecht des Partners kaum eine Rolle spielt. Nachdem uns im ersten Band "Homsarecs!" der junge Cro Iván seinen Weg zu den "Wilden" und sein Leben bei ihnen erzählt hat, befinden wir uns jetzt in der Hauptstadt der Homsarecs, in Sukent. Einer von ihnen, Lelo, 18 Jahre alt, kommt auf die schiefe Bahn. Wie reagiert die Gemeinschaft? Wir lernen den Dogen von Sukent kennen, der ein soziales Herz hat -- und recht bald auch andere Gefühle für den hübschen Einbrecher hegt. Aber Lelo bleibt unberechenbar. Unterdessen vollziehen sich an anderem Schauplatz unheimliche Dinge. Der Todfeind der Homsarecs, der doch in einem Wachkoma liegende Krasnov-Gurian, scheint im Haus umzugehen. Er ist ein Teledux, kann auf geistiger Ebene lenken. Und wer ist schuld daran, dass zwei Amazonen von ihren eigenen Kollegen aus der Wache vergewaltigt werden? Zugleich droht den Homsarecs ihre eigene Hauptstadt zu entgleiten. Clevere Geschäftsleute ziehen die in finanziellen Dingen völlig naiven Homsarecs über den Tisch. Das könnte in einer bewaffneten Auseinandersetzung enden. Der Roman ist reich an bunten Bildern aus dem Leben fremder Völker, er ist voller Anspielungen auf andere Kulturen und Zeiten. Die Homsarecs haben eine eigene Sprache und Sitten. Und sie hoffen verzweifelt, dass das Rätsel ihres kurzen Lebens endlich gelöst wird.
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Seitenzahl: 865
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Die Liebe
des Dogen Tanguta
zu dem kleinen Gauner Lelo.
& Das Schicksal des Aimoré von den
Nachtschwalben in der Hand seiner Feinde. &
Die große kleine Amadux, die Ausbilderin
der Amazonen & ihre Mädels. &
Wie sich die Hauptstadt
der Homsarecs
entwickelt,
seit es dort Geld gibt;
Iváns weiteres Schicksal &
die zahlreichen Liebesaffären unserer Helden
& wir sehen einige neue Gesichter
in der reichen, bunten
Welt der
HOMSARECS!
Erzählt
von einem von ihnen,
Isatai von den Kranichen,
dem Waffenbruder Seiner Exzellenz des Dogen
und um Wahrheit bemühten Beobachter
der meisten Ereignisse.
MMXV-MMXVI
1 Ein Krieger aus dem Nachtschwalben-Stamm
Ouverture
Amazonen und eine öffentliche Bestrafung
Der Täter ist rückfällig
Lelo als Demonstrationsobjekt
Kooperiere!
Das Gelöbnis
Umkehr ist schwer
Doppeltes Unglück
Feiern unter Tränen
Die Liebe zu den Cros
Eine Männernacht
Isegrim ganz unten
Elias Brochermann
Der Babynerv
Himmlische und irdische Herrschaft
Die Goldstickerin
König Harakiri vor der Sala de Thing
Rätselhafter Übergriff
Es gibt für alles ein erstes Mal
Rebellisches Parlament
Der Mond der Heiligen Hochzeit
Ein Schwur auf Tod und Leben
Aufbruch nach Sukent
Konspiratives Treffen
Wir haben Krieg
Es ist vorbei
Nachkriegszeit in Sukent
Sühnezeit
Nachwort
1 Ein Krieger aus dem Nachtschwalben-Stamm
2 Lelo, der junge Tunichtgut
3 Isatai, der euch diese Geschichte erzählen wird
4 Salix, Kommandantin der Amazonen und Erynnien in Sukent
5 Pax, selbstbewußte Amazone
6 Spex von den Delphinen/Ligo
7 Amadux, die Ausbilderin der Amazonen und Erinnyen
8 Cochise, der Cro-Eltern hat und ,Taxi‘ fährt
9 Heathea, Chirurgin und Therapeutin
10 Josef/Josefine kann streng sein
11 Isegrim als Pais des Dogen
12 Saiko, Sklave und Agent der Krone
13 Ira, Richterin in Spe
14 Hemyarik, der entthronte König der Junggesellen
15 Iván, wie er die Pilger empfängt
16 Pitro Krasnov-Gurian vor seiner Rückentführung aus Sukent
17 Eine Seite aus dem ‚Lohebrannt‘ von 1648
18 Tarfur in der Amtstracht des Dogen
19 Tanguta in der Nacht des Großen Reprend
20 Der Doge am Morgen nach der Schlacht
21 Isegrims Tante Nox
22 Isegrims Buchstabenplättchen
23 Stammbaum des aus Usbekistan eingewanderten Familienzweigs
2 Lelo, der junge Tunichtgut
Lelo wurde davon wach, daß eine harte Hand ihn packte und zum Aufstehen zwang.
Es war die Stadtwache. Er war nackt, kniete auf einem feuchten Teppich, merkte, daß er in seiner Betäubung wohl uriniert hatte.
Vor ihm stand ein großer Teller mit Asche und den Resten von Papavers. Die Pfeife war vom Rand des Tellers gerutscht und hatte ein glühendes Klümpchen auf den feinen seidenen Knüpfteppich gespien, den nun ein schwarzes Loch für immer verunzierte.
Die scharfe Stimme seiner Tante traf ihn schmerzhaft. Er blinzelte und sah, wie sie gegen ihn gestikulierte, als wolle sie ihn mit der bloßen Hand wie mit einer Pistole erschießen.
„Verhaftet ihn! Verhaftet diese Schande für die Familie! Das ist nicht mehr mein Neffe, dieses Luder, das bei seinen Wohltätern eingebrochen ist. Gott weiß, wieviele Kumpels er hierher verschleppt hat. Und in meinem Haus Papavers rauchen, sag mal, geht’s noch? Ich will, daß er hart bestraft wird! Der Richter ist schon im Dienst, ich habe im Dogenpalast angerufen. Weg mit ihm, weg, ich kann ihn nicht mehr sehen.“
„Wer ist sein Erziehungsberechtigter?“
„Ich fürchte, ich bin seine einzige Verwandte.“
„Sind Sie mit einer öffentlichen Körperstrafe durch die Amazonen einverstanden?“
„Ach, macht, was ihr wollt. Meinetwegen auch das. Bessern wird es ihn ja doch nicht.“
Die Wache zog ihn auf die Füße, und während die Kollegen anfingen, eine Schadensaufnahme zu machen, begleitete ihn noch das Gezeter seiner Tante. „Chinesische Unterglasur-Schalen, jede ihre 500 Bayernmark wert, jedenfalls unersetzlich! Fünf davon haben sie zerschlagen! Der barocke Sessel, 300 Jahre alt, ist ruiniert. In der antiken Kaffeeröstpfanne haben sie Fisch gebraten, die ist auch hin. Und der Teppich! Brandlöcher... und ich glaube gar, dieses Schwein hat draufgepinkelt...“
3 Isatai, der euch diese Geschichte erzählen wird
Natürlich sind wir Wilde! Aber wie Ihr auf dem Bild seht, können wir uns durchaus auch mal für Euch feinmachen. Ich bin Porträtmaler aus Weimar und habe die Ehre, euch diese Geschichte zu erzählen. Wenn ihr den ersten Band dieser Romanfolge schon kennt, könnt ihr dieses Kapitel überschlagen.
Mein Vater war Guipago der Große; diesen Namen verdankte er seinem Ruhm als Arzt und als einer der wenigen, die den Mut hatten, das Rätsel unseres frühen Todes zu erforschen. Seiner Ansicht nach spielte unsere Unfähigkeit zu schlafen eine entscheidende Rolle.
Meine Mutter war eine berühmte Amazone, als sie jung war. Sie heißt Tatli, nannte sich aber später nur Elena, denn sie lebte lange Jahre in einem Cro-Haus. Das tat sie hauptsächlich, um sich um Iván zu kümmern, den Sohn ihrer Adoptivtochter Ruth und des regimekritischen Journalisten Maurice Potozki. Den führten seine aufklärenden Aktivitäten mehrmals ins Gefängnis, wo er ungerechtfertigt festgehalten und mißhandelt wurde. Ruth war verschwunden, angeblich, um sich dem Lebensstil der Wüstlinge, wie sie uns nannte, zu entziehen. Also lebte Tante Elena im Haus und half Iván großzuziehen, der nicht ahnte, daß eine Homsarec quasi seine Großmutter war.
Wir waren vor etwa 20 Jahren noch um einiges wilder als heute. Wir fragten nicht immer korrekt nach der Zustimmung unserer Sexpartner, sondern nahmen uns, was uns gefiel. Wir pusteten sie an, das macht wehrlos, denn unser Atem enthält Somnambulin, das auf Cros betäubend wirkt. Eine kleine Dosis entspannt Muskeln und Gemüt, eine große führt zu Bewußtlosigkeit. Wenn unsere Opfer aber erst einmal ein paar Tage in unserer Hand waren, ließen wir sie gehen. Die meisten kamen zurück, angezuckert von von unserem Lebensstil. So wurde es wenigstens behauptet. Inzwischen ist dieses Verfahren verboten. Der freie Wille ist oberstes Gebot.
Wir wünschen uns oft, wir könnten das Bewußtsein so schön verlieren wie die Cros. Wir können das nicht. Wie gesagt, wir schlafen niemals tief, sondern dösen nur drei bis vier Stunden. Unsere Körpertemperatur liegt normalerweise bei 38,5 °C. Unsere Zähne sind messerscharf, aber man sieht es nicht, sie haben grade Schneiden. Sie sind jedoch empfindlich und wachsen bei Beschädigung oder Verlust nach.
Emotionen beeinflussen unsere Temperatur. Wenn wir uns aufregen, steigt sie. Wenn sie steigt, regen wir uns auf. Diesen Teufelskreis nennen wir den ‚Zustand‘. Ab einem Alter von Vierzig hat es uns üblicherweise hingerafft. Irgendwann kamen wir in diesen Sog, meistens getriggert von aufregendem Sex, und das hatte zur Folge, daß wir nicht aufhören konnten. Es gab da einen Punkt, den wir ‚ohne Wiederkehr‘ nannten, ab dem eine Umkehr des Prozesses nicht mehr möglich war. Dann kamen wir in einen Temperaturbereich, der uns getötet hat. Das nennen wir unseren ‚Fluch‘.
Dann aber trat Iván in unser Leben, den die Neugier zu uns führte.
Sein Vater verschwieg ihm, wie eng seine Verbindung zu den Homsarecs war. Das mußte er tun, um ihn zu schützen, denn die staatlichen Institutionen, denen schon Maurice aufgefallen war und die ihn ein Stück weit gebrochen hatten, warfen nun auch ein Auge auf Iván und planten seine Umerziehung.
Pitro Krasnov-Gurian, der Innenminister und Chef der Geheimpolizeit, prägte das politische Klima. Er hatten den Vater mit brachialer Gewalt eingeschüchtert, und so wollte er auch den Sohn zur Raison bringen und für seine Zwecke einspannen. Er stellte auch Iván nach und bedrohte sein Leben. Dann aber, kurz nachdem die Rechtsdiktatur gestürzt war, als die neue Regierung Frieden mit dem Homsarecs schloß und Pitro für seine Taten zu acht Jahren Gefängnis verurteilt worden war, erkrankte er an einem Wachkoma, dessen Ursache nicht zu ermitteln war. Sein Neffe Karl Josef setzte durch, daß er aus dem Gefängnis in unser Haus überführt und von uns gepflegt wurde, wie groß die Verwunderung der Zuständigen auch sein mochte.
Iván wurde zur Hoffnung der Homsarecs, als sie entdeckten, daß der Kontakt mit ihm sie vor dem ‚Zustand‘ schützte. So setzte ein Pilgerzug der Unseren ein, vor allem Männer, die mit Iván zusammentreffen wollten. Sehr bald kam der Begriff ‚Segnung‘ auf. Iván selber konnte sich diesen Effekt nicht erklären; wie er selber sagte, hätten sie statt seiner Hand auch die Blätter eines Gummibaums küssen können.
Damals entstand auch die Erkenntnis, daß es einen Zusammenhang zwischen unserer dunklen Sitte des Kannibalismus und dem frühen Tod geben mußte. Zwar gab es das strikte Verbot, aus diesem Grund zu töten; aber den Cros Tote zu stehlen oder ‚vom Lebenden zu essen‘, also von denen, die durch den ‚Zustand‘ gestorben waren, kam immer noch vor. Der König untersagte das. Aber an das königliche Verbot hielten sich nicht alle.
Einen weiteren Fortschritt machte der Kampf gegen den ‚Fluch‘, als die Amazonen begannen, ein Ritual zu entwickeln, das NuRiCa, bei dem wir uns auf das Geben konzentrieren und uns als Opfergabe fühlen, um die unheilvolle Wirkung unserer Begierden aufzuheben. Dieses Ritual geht damit einher, daß die Ritualpriesterin, immer eine Frau, Schnitte in unsere Haut macht, so daß wir ein wenig Blut opfern. Dies soll die unheilige Verbindung zu unserer kannibalischen Vergangenheit lösen.
Da wir just vom König sprechen: Wir haben ein einzigartiges System, unseren Herrscher zu wählen. Er steigt durch seine selbstlose Haltung zu einer Machtposition auf. Immer der von uns, der sich am intensivsten damit beschäftigt, was das Wohl der Cultura fördert, erlangt dadurch Befehlsgewalt und gibt sie vielleicht schon wieder im nächsten Moment ab. Es ist ein fluktuierender Wandel, ähnlich wie eine Wolke von Staren ihre Flugrichtung bestimmt. Jeder kann in diesen Stand aufsteigen, Mann oder Frau, Homsarec oder Cro, jeder in der Cultura. Dieses Wort bedeutet, daß unsere Gesellschaft nicht nur aus Homsarecs besteht oder von ihnen allein bestimmt wird, sondern die Cros, die sich uns anschließen wollen und können, sind Teil der Cultura — und ein sehr wertvoller Teil. Sie sind uns telepathisch oft ebenso nah verbunden wie die Unsrigen. Und das ist auch kein Wunder, denn genetisch unterscheiden wir uns kaum. Homsarecs bekommen auch Cro-Kinder und umgekehrt. Also können auch Cros unsere Könige werden und sind es auch schon gewesen.
Unser weltlicher Herrscher ist der Doge von Sukent, unserer Hauptstadt. Er wird vom König berufen. Zur Zeit ist es ein Schotte mit Namen Tanguta Gustave MacIntyre. Er ist dem Stadtparlament, der ‚Sala de Thing‘ gegenübergestellt, die oft auch seine Entschlüsse einschränkt oder kippt. Seine Residenz befindet sich im Palast in der Stadtmitte. Auch der Doge kann ein Cro sein, und der vorletzte war einer.
Unser Doge ist auch ein Krieger. Ich bin mir dessen bewußt, was ein Krieg ist. Unsere Scharmützel sind eher mittelalterliche Ritterspiele. Wirklicher Krieg ist Not, Angst, Bomben, Flucht, Hunger, Durst, Hitze, Kälte, Verlust, Trauer, Trauma. Verglichen damit, ziehen wir in kleine Raufereien, um anderen, die sich das auch so ausgesucht haben, aufs Haupt zu hauen. Die Opfer echter Kriege hingegen, meist schuldlose Zivilisten, haben meinen vollen Respekt.
Sukent ist eine mitten in einem Lagunensystem liegende alte Stadt, durchzogen von Kanälen; es war, bevor es die Homsarecs als ihre Hauptstadt erwählten, so baufällig, daß die Lebensqualität nicht mehr ausreichte, um die Menschen zu halten. Also erboten sich Homsarecs, die Ruinen zu renovieren und vor allem durch den Bau von Schleusen den Wasserstand in der Stadt zu regulieren. So machten sie mit wenigen Mitteln und viel Arbeit aus dem Trümmerhaufen eine begehrenswerte Stadt. Und hier leben unsere Helden, hier würde Madame Nox gern ihren Ruhestand genießen, wenn nicht ihr ungeratener Neffe in ihr Haus eingebrochen wäre, Schäden angerichtet und den Schlafmohn weggeraucht hätte, den sie dringend gegen ihre Knieschmerzen braucht.
Und hier sorgen die Amazonen und ihre mit Strafgewalt ausgestatteten Kolleginnen, die Erynnien, mit Pfeil und Bogen oder mit der Peitsche für Ordnung.
4 Salix, Kommandantin der Amazonen und Erynnien in Sukent
Das X am Namensende steht für die Kriegerin, die auch Erynnie werden kann, also eine öffentliche Bestraferin. Und so war die Strafordnung zu der Zeit, als Tanguta zum Dogen berufen wurde: Erynnien lernen, die Missetäter gleich bei Ergreifung abzustrafen. Gegen diese Strafe kann Widerspruch eingelegt werden. Allerdings erst nach Vollstreckung. Pech, wenn sie unberechtigt war. Aber dann wird eine Kompensation angeboten. Die sofortige Strafe ist das höhere Gut. Wie bei jungen Hunden mußte die Strafe der Tat auf dem Fuß folgen, war der Gedanke.
Lelo wurde also aus dem Haus seiner Tante zur nächsten Wache geführt, die sich hinter der Byzantinischen Kathedrale befand.
Nackt, barfuß und schmutzig wurde er von den Wachen an Handschellen durch die Gassen gezogen und geschubst — er hatte nicht vor, groß Widerstand zu leisten, war aber noch verlangsamt von all dem Papavers, das er geraucht hatte, denn die Vorräte seiner Tante waren beachtlich. Die alte Amazone hatte wohl wegen ihrer Kriegsverletzungen aus der Vergangenheit so viel im Haus. Seine Tante war Mitglied eines wohlhabenden Stammes, und ihr Haus wurde ‚Fort Nox‘ genannt — wenigstens von denen, für die Lelo in der vergangenen Nacht die Tür geöffnet hatte.
Er war naß, und ihm war kalt. Asche klebte auf seinem Leib. Unter Aufsicht durfte er in der Wache duschen. Dann bekam er ein Lendentuch mit der großen Beschriftung, es handle sich um öffentliches Eigentum, und wurde dem Haftrichter vorgeführt.
Auch ein städtischer Pflichtverteidiger war anwesend, wie üblich. Er war grantig, weil er wegen dieser frühen Vorführung um fünf Uhr Morgens keine Zeit hatte zu frühstücken. Die Wachen, die Lelo festgenommen hatten, schilderten die Situation, wie sie sie vorgefunden hatten. Er wurde nach den Namen seiner Komplizen gefragt und schwieg. Er wußte sie auch nicht, hatte nur ihre Stammzeichen in Erinnerung. Daß er als Ortskundiger in ein Fenster eingestiegen war und seinen Kumpels die Tür geöffnet hatte, stritt er nicht ab.
„Name?“
„Lelo von den Wölfen. Cro-Name: Leonard van Loben. Neffe der Amazone im Ruhestand Nox von den Wölfen.“
„Ach, verwandt mit der Geschädigten? Das wird dir einen Dreck nützen. Reißt dich eher tiefer rein.“
Nun wurde er der Erynnie vorgestellt, die die Bestrafung vornehmen würde, es war die Leiterin der Hauptwache, die Kommandantin der Amazonengarde Salix.
„Na, da hast du aber Glück“, sagte eine der Wachen spöttisch, denn Salix hatte eine harte Hand, das wußte man. Und während er wartete, erzählte ihm dieser redselige Wachmann, daß sie anscheinend vornehmer Herkunft sei, es hieß, sie sei die Tochter des vorletzten Dogen; sie sei schon weit über vierzig, was für Frauen bekanntlich nicht so ungewöhnlich ist wie für Männer, und sie habe einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung des „Neuen Rituals des Cannibalismus“, einer Sühne für die alten Unsitten. Soso. Na, da kann Lelo sich ja richtig freuen.
Sie besprach das Strafmaß mit dem Haftrichter und dem Verteidiger.
Lelo hatte die Wahl, eine kürzere öffentliche Bestrafung zu akzeptieren oder eine längere innerhalb der Dienststelle, bei der nur der Verteidiger und natürlich die Bestraferin anwesend sein würden.
„Nur Anfänger lassen sich verdeckt bestrafen“, murmelte ein weiterer Kandidat, der mit Lelo zusammen in einer Zelle auf die Strafe wartete, „da langen sie viel härter hin. Wenn du eine Chance hast, wandle das noch zu einer öffentlichen Strafe. Zu peinlich? Ach, lachhaft. Du bist also ein Held. Glückwunsch.“
Dann war er auch schon dran.
Lelo entschied sich für die nichtöffentliche Strafe. Er bereute das gleich darauf.
Salix, berüchtigte Bogenschützin und immun gegen männlichen Charme, nicht unfähig, Gnade walten zu lassen, aber von unbestechlicher Gerechtigkeit, war vor allem für ihre Fähigkeit bekannt, auch den größten Masochisten so bestrafen zu können, daß er dabei keine Lust zustande bekam.
Sie machte ihn ruppig fest und fing unvermittelt heftig an, machte ihn nicht liebevoll warm, wie er es bei Spielen gesehen hatte — seinen ersten Versuch als Passiver hatte er damals bedauernd abgebrochen, das war nicht seins, merkte er. Nun war er mit dem Schmerz konfrontiert, war geknebelt, konnte nur stöhnen, seine Augen waren verbunden, und diese Erynnie schlug ihn routiniert und plauderte dabei mit einer Kollegin, die gerade zur Morgenschicht erschien und noch etwas Zeit hatte. Manchmal schien sie nicht einmal richtig hinzusehen und traf ihn schlecht, auch mal knapp neben die Eier, so daß zum Schmerz noch Angst kam. Er mußte keine haben, sie war perfekt, kannte keine Ausrutscher, alles, was sie tat, war Absicht, auch die coole Ignoranz, die sie dadurch ausdrückte, daß sie zwischendurch mal einen Tee trank und ein Brötchen aß, während er nichts sah und sich fragte, wann es weitergehen würde. Jede Sekunde konnte es das, jedes Geräusch konnte der Auftakt zu weiteren Qualen sein. Er flehte um Gnade und mußte somit Seiner Exzellenz dem Dogen vorgeführt werden.
&
Der Doge Tanguta, Adresse für Gnadengesuche, wurde in den frühen Morgenstunden um seine Meinung gefragt, um sieben Uhr, als sein Büro öffnete, da war Lelo bereits seit zwei Stunden in Salix‘ Hand. Der Doge sortierte die neu eingegangenen Strafprotokolle und Gnadengesuche. Seine rötlichen Locken waren noch feucht vom Duschen, und er hatte eine schlichte Robe angetan. Da er heute auch richterliche Aufgaben hatte, trug er die gehörnte Kappe der Dogen. Er war einer der schönen Menschen, die sich ihrer Schönheit nicht bewußt sind und die auch kein Interesse an ihrem eigenen Aussehen haben. Schmeicheleien pflegte er beinahe barsch abzutun. Er war noch nicht lange im Amt und erst im selben Jahr dem ‚Zustand‘ durch die Begegnung mit Iván entgangen.
Seine Exzellenz ließ sich den Täter vorführen. Er betrachtete einen nackten Jüngling von achtzehn Jahren, sah sein androgynes, verheultes Kindergesicht, umrahmt von langen dunkelbraunen Haaren. Seine Augen waren gesenkt. Aber als er sie mit dem Ausdruck des Flehens um Hilfe zum Dogen aufschlug, wurde diesem klar, daß er es mit einem verwöhnten Lustknaben zu tun hatte, wie sich viele in den Wohngemeinschaften der Homsarecs herumtrieben, wo sie nichts lernten, als sich niedlich zu machen und jeder ernsthaften Beschäftigung aus dem Weg zu gehen. Sein Hintern und seine Beine waren schon von zahlreichen Schlägen mit roten Streifen überzogen. Aber er flog nicht, wie Tanguta sehen konnte, und das sollte er auch nicht.
Und der Doge hörte von den Schäden, die der Einbrecher zu verantworten hatte.
„Unsere Gesellschaft beruht auf Ehrlichkeit und Vertrauen“, sagte er, „wir schauen einander in die Seele. Das ist uns heilig. Was du getan hast, erschüttert die Grundfesten dieses Vertrauens. Madame Nox, deine Tante, ist eine verdiente und großartige Amazone, Kriegerin und Schützerin der Cultura. Du hast sie sehr schockiert durch den Einbruch. Sie gibt uns freie Hand, dir eine Lektion zu erteilen, die du nicht vergessen wirst. Den Rest der Strafe, weitere zwei Stunden Schläge, wirst du öffentlich verbüßen. Meine Damen, bringen Sie ihn zwischen die Säulen des Todes und treiben Sie es ihm aus, Häuser durch Fenster zu betreten.“
Lelo wurde nun doch öffentlich, nämlich auf dem Kleinen Platz, angekettet, während es hell wurde, und Salix legte ihn rücklings auf eine Decke zwischen die beiden Strafpfähle, die zwischen den Säulen aufgestellt waren, wo man in alter Zeit Todesurteile vollstreckt hatte. Sie verband ihm nicht die Augen, damit er sähe, daß er gesehen wurde, zurrte einen ledernen Gemächtschutz an ihm fest, was seine schlimmsten Befürchtungen weckte; sie klinkte seine Fußgelenke, die in metallnen Fußschellen steckten, in den höchsten Ring an den Pfählen. Seine Hände waren mit Handschellen gefesselt, die an einem eisernen Ring festgemacht waren, der ins Pflaster eingelassen war. Aus den Striemen war an zwei, drei Stellen ein wenig Blut gesickert; vor dem Gang nach draußen hatte Salix die Fläche mit einem desinfizierenden und versiegelnden Mittel bestrichen. Darum auch legte sie ihn nicht direkt auf das Pflaster des Platzes.
So allen Blicken preisgegeben, empfing er noch eine Stunde lang scharfe Hiebe auf die Innenseiten seiner Oberschenkel, von denen jeder einzelne ihm mindestens ein Wimmern, gelegentlich einen schrillen Schrei entlockt hätte, wäre er nicht auch geknebelt gewesen. Seine Striemen schwollen blaurot auf. Auch wenn es wehtat, zog er sich ein wenig an den Pfählen in die Höhe, denn auf dem Hintern zu liegen, war um einiges schmerzhafter. Sie nahm ihm den Knebel ab und tauschte ihn gegen einen, der Luft durchließ, als sie Tränen in seinen Augen sah, keinen Moment zu früh, denn seine Nase war schon blockiert.
Leute, die zur Arbeit gingen, ließen es sich nicht nehmen, spöttische Blicke auf den Delinquenten zu werfern. Man war nicht in Hast, man konnte sich einige Minuten der Anteilnahme an seinen Qualen gönnen. Auch in dieser peinlichen Situation war er den Blicken der Passanten ausgesetzt, die vom Kleinen Platz zur Klosterinsel übersetzen wollten. Während der ganzen Aktion war ein weiteres Paar Amazonen dazu abgestellt, sie beide zu bewachen. Sie standen still rechts und links von ihnen, die Hellebarden senkrecht aufgestellt in der rechten Hand. Allzu aufdringliche Beobachter wurden durch die Hellebarden ferngehalten.
Die Wachen waren angewiesen, nicht mit ihm zu reden. Und das war auch gut so, denn seine Fähigkeit, Männer wie Frauen einzuwickeln, übertraf noch sein Talent, Gelegenheiten zum Abstauben auszukundschaften.
Zu solchen Bestrafungen wurden manchmal auch die jungen Erynnien als Praktikantinnen mitgenommen, die ihre Ausbildung unter Amadux erhielten. Diese, eine energische und fröhliche Frau von Anfang Fünfzig, ist kleinwüchsig. Es hat sie einige Durchsetzung gekostet, daß die Garde, vor allem die Männer, sie als Ausbilderin akzeptiert haben. Aber Amadux überzeugte sie durch ihre Kraft, Ausdauer und Klugheit. Gerade, daß sie so klein ist, ist ihr großer Vorteil, und das war schon so, als sie noch aktiv kämpfte. Sie kam unbeachtet durch die Linien, irrtümlich für ein Kind gehalten; man unterschätzte sie, und schon kontrollierte sie die Situation.
„Du kannst das eben, weil du so groß bist“ — das Argument, das die jüngsten Amazonenschülerinnen so gern geltend machen, galt bei ihr nicht. Der Umgang mit dem Bogen, dem Wurfbeil, dem Spieß — sie machte vor, was beherrscht werden mußte. Und auch der psychologische Kampf liegt ihr am Herzen. Mit Worten so gut fechten wie mit Waffen, das ist ihre Mission, ihre Widersacher ebenso wie ihre Schutzbefohlenen zur Einsicht zu bringen.
„Wo ist die Einwilligung?“ wollte Ruradix wissen, die großes Interesse an der Einhaltung solcher Regeln entwickelte, was ihr sicher auch eine Karriere als Pflichtverteidigerin eröffnen konnte.
„Frag ihn“, antwortete Salix, als sie neben dem öffentlich ausgestellten Lelo standen, als eine Pause eintrat, in der Salix ein Glas Wasser trank. Ein paar große Schlucke ließ sie aus ihrem in seinen Mund rinnen, nachdem sie seine Lippen mit den Fingern auseinandergedrückt hielt. Ob er das Wasser schluckte oder ausspuckte, das zeigte oft, wieviel Trotz noch da war, oder ob der Sträfling kooperierte. Lelo trank.
Dann konnte Ruradix ihre Frage stellen.
„Lelo“, begann sie und dachte nach. „Hast du diese Strafe akzeptiert?“
Er lachte bitter. „Natürlich nicht“, begann er, da hielt Salix seinen Mund zu. „Red‘ nicht“, lachte sie, „du hast den Einbruch begangen, und du weißt, was darauf steht. Das betrachte ich als Einwilligung.“
„Ich will es von ihm selber hören“, insistierte Ruradix. Amadux lächelte.
„Nun?“
Lelo schwieg.
„Er wird es nicht zugeben“, lachte Salix, „das wäre ihm eine zu große Erniedrigung. Und wenn du nach Legitimation fragst: Seine Exzellenz der Doge hat ihn gesehen und hat der Bestrafung zugestimmt. Wer nicht hören will, muß fühlen.“
„Aber wenn er fliegt?“
„Das wüßte ich schon zu verhindern. Er soll ja keinen Spaß haben.“
Sie nahm einen Stock aus dem Köcher. „Entschuldigt, ich muß weitermachen. Wir sind noch nicht fertig mit ihm. Ihr könnt gern weiter zusehen.“
Ruradix schaute zu, Amadux verabschiedete sich mit Dank und erlaubte Ruradix, während der restlichen Zeit bis zum Abführen des Delinquenten zuzuschauen.
Dann lief die Ausbilderin zum Quartier zurück, um das Morgentraining zu leiten, während Ruradix sich in Lelo verknallte. Das war nicht Mitleid. Sie schaute Salix bewundernd zu, wie die ihre exakten Schläge plazierte. Da ging nicht einer daneben, und nicht einer war zu mild. Lelo, nicht wieder geknebelt, weinte nun hemmungslos, denn Salix ließ ihn nicht fliegen.
Es folgte eine halbe Stunde von Verabreichungen im Stehen, die Hände hoch über seinem Kopf in Handschellen, dazwischen zwei Pausen zu je 10 Minuten, in denen er die Hände herunternehmen durfte. Und die letzte halbe Stunde, die wohl schmerzhafteste, war seinen Oberarmen und Schultern gewidmet, die sie mit einem feinen Riemen bläute, der aber tief eindrang, ohne die Haut zu verletzen. Es schlug neun vom Glockenturm, sie beendete die Bestrafung. Nun ließ sie ihn sich hinknien.
Sie kauerte sich nah an ihn und zog seinen Kopf an ihre Schulter. Flüsternd nahm sie ihm das Versprechen ab, nie mehr in fremde Häuser einzudringen. Er hatte Schluckauf und konnte nur noch nicken, als sie ihn dreimal fragte, ob er es versprechen werde.
Salix machte ihn los und führte ihn zur Wache zurück, eine der Erynnien begleitete sie.
Als sie ihn fortführten, lief Ruradix zur Gruppe und dem Morgentraining.
Das Laufen machte sie noch geiler. Und als sie während des Lauftrainings an ihn dachte, an seine Tränen und seinen Anblick, wie er sich unter Salix‘ Hieben wand, hatte sie ihren ersten Orgasmus.
In der Wache war inzwischen der Sekretär des Dogen eingetroffen und machte ein paar Fotos. Zu Lelos unendlicher Bestürzung wurde auch sein Gesicht von vorn und von der Seite fotografiert. Unter Aufsicht mußte er duschen, die Erynnie vom Dienst spülte ihn ab, trocknete ihn, überprüfte, ob noch Blut kam, und überließ ihn dem inzwischen eingetroffenen Arzt, der dem Protokoll eine Einschätzung der Schläge und der Spuren mitsamt Foto hinzufügte und der seinen Hintern und die Schenkel mit einem Pflaster hier und mit Salbe dort versorgte.
Die diensthabende Amazone sprach in Lingo Real die Aussegnung: „Nimm den Zorn von dem äußerst Gequälten, schütz des armen Knechtes Schultern“.
„Prenda Ira Torturadan, garda servo povro omuz.“
Von der Fessel befreit, sah Lelo sich mit einer schriftlichen Erklärung konfrontiert, er habe die Strafe erhalten, akzeptiere sie und werde die ihm zur Last gelegten Taten nicht wieder begehen. Die Hand gehorchte ihm kaum, als er zitternd unterschrieb. Die Erynnie begleitete ihn nun nach Hause in seine Wohngemeinschaft — einen Meister hatte er offenbar nicht, was gegen die Gesetze verstieß — und ging dann zur Adresse seiner Tante und informierte sie, daß er seine Strafe empfangen, sein Versprechen abgegeben habe und daß er nun wieder als reingewaschen zu betrachten sei, daß keine Vorwürfe mehr gegen ihn erhoben werden dürften. Und sie sei als seine nächste Verwandte in dieser Stadt gebeten, ihm einen Meister zu suchen. Sie würde es versuchen, sagte Tante Nox, aber sie könne ja niemanden zwingen, diesen Schlingel zu nehmen.
Am Tag danach begab Lelo sich sofort zum Quartier der jungen Erynnien und bat bei der Pförtnerin darum, die junge Erynnie sehen zu dürfen, die seiner Bestrafung beigewohnt hatte. Ein Gespräch in der Kantine wurde ihm erlaubt, als Ruradix zustimmte, ihn zu treffen. Amadux warf einen skeptischen Blick auf die beiden, die sich an den entferntesten Tisch gesetzt hatten, sie mit einem Mango-Lassi, er mit einem Tee. Sie grinste bei dem Anblick, wie vorsichtig er sich auf den Hocker setzte.
Das Gespräch bestand nur aus wenigen Sätzen. Das erzählte Ruradix später.
Lelo fragte sie: „Kannst du mir helfen? Du hast das ja gesehen. Ich will in Revision gehen. Das war Unrecht. Ich stand unter Schock, als ich das unterschrieben habe. Würdest du als Zeugin aussagen?“
Ruradix war überrascht. Das hatte sie nicht erwartet.
„Ich dachte, du würdest vielleicht mein Sklave werden wollen. Du warst so geil, so süß, wie du dich da gewunden hast, ich bin total drauf abgefahren, ich will dich. Revision? Wieso? Das war doch angemessen, nach dem, was du dir da geleistet hast…“
Zu ihrer unendlichen Bestürzung stand er auf und ging ohne ein weiteres Wort. Und daß seine Revision scheitern würde, konnte sie sich an fünf Fingern abzählen.
Amadux mußte sie trösten. „Laß ihn gehen“, sagte sie, „wenn er das kann und will, was du ihm angetragen hast, kommt er wieder.“
Ruradix bekam einen verträumten Ausdruck.
Es dauerte lange, bis sie Lelo wiedersah, über drei Jahre vergingen. Wir schrieben das Jahr 190. Ruradix war mit ihrer Ausbildung fertig und assistierte Salix inzwischen bei Bestrafungen.
Da wurden drei Verhaftete vorgeführt, die an einem Bankett Alten Stils teilgenommen hatten. Das heißt, das Opfer war einer der Unsrigen gewesen. Und siehe da, wieder war dieser Taugenichts dabei. War sogar bei der Organisation des Banketts beteiligt gewesen, und das bedeutete, er hatte geholfen, das Opfer zu beschaffen. Zwar konnten sie belegen, daß sie nicht das Große Verbrechen begangen hatten, nämlich Beschaffung durch Tötung. Dennoch war dieses Vergehen unbedingt mit einer Strafe zu verbinden, so stand es auch in einem Erlaß des Dogen.
Vom Lebenden zu essen! Eine der größten denkbaren Verfehlungen. Nicht nur wegen der Außenwirkung, wegen des Rufes der Cultura, den sie gerade erst zu bessern anfingen. Nein, es war auch, weil das Essen vom Lebenden die betraf, die der ‚Zustand‘ hingerafft hatte. Und das durfte doch nicht mehr vorkommen. Iván hatte jahrelang dafür gearbeitet. Der Verein NuRiCa setzte sich voll dafür ein. Wir wußten doch inzwischen, was Schuld war an dem ‚Fluch‘, der unser Leben verkürzte.
Darum war es eine schlimme Verfehlung, an einem Bankett teilzuhaben. Unsere Toten waren aufzubahren, bis der Tod absolut gewiß war, und dann zu begraben, so lautete das Gesetz. Das war Konsens unserer Gesellschaft, ausgedrückt durch den Willlen des Königs.
Die Sache war umso heikler, als ja noch gar nicht klar war, inwieweit wir den ‚Fluch‘ wirklich schon überwunden hatten. Wie lange werden wir leben? Das konnte niemand sagen. Statt der früheren Frist, die wir kannten, hatten wir jetzt die Aussicht auf völlige Unsicherheit, ins offene Gelände eines Lebens, von dem wir noch nicht wußten, wie wir es einteilen sollten.
Kann man das NuRiCa mehr als einmal durchführen? Tatsächlich schien es nichts Endgültiges zu sein. Aber auch beim zweiten Mal schien es die volle Wirkung zu entfalten und womöglich noch stärker zu wirken.
Kunkamanito fiel drei Jahre nach seinem NuRiCa ein weiteres Mal in den Zustand, unterwarf sich von neuem und wurde wieder daraus herausgeholt und in abkühlenden Schlaf versetzt, der länger dauerte und der seine Temperatur noch weiter absenkte als beim ersten Mal. Wir wissen immer noch nicht, wie lange das wird gehen können. Manche sagen, das sei schlimmer, als zu wissen, wann es vorbei ist.
Das kann ich nicht so sehen. Ich danke Iván und der NuRiCa-Vereinigung für jede geschenkte Minute meines Lebens. Ich war einmal im Ritual, aber ich würde nicht zögern, mich ihm wieder und wieder zu unterwerfen, so lange es mir helfen kann. Und so sieht es auch Kunkamanito.
Und nun sahen sich Ruradix und Lelo wieder. Er wirkte zwar erwachsener, aber auch ein wenig durchtriebener. Alles Kindliche war vergangen. Nun war er erwachsen, hatte mit Ach und Krach eine Accademia zustandegebracht, künstlerische Fotografie war sein Fach. Somit war er also auch mündig.
Das Verhör war noch nicht vorbei, die Bestrafung mußte erst gefunden werden. Schläge durfte es in den nächsten Tagen nicht geben, zu groß die Gefahr, daß er nach einem kannibalischen Bankett in den ‚Zustand‘ kam, wie jung er auch noch sein mochte. Auf diesem Wege hatte die Cultura schon den einen oder anderen verloren, der eigentlich zu jung war, selbst ein Zwanzigjähriger war unter ihnen gewesen.
Wann hatte diese Sitte, manche sagen Unsitte, überhaupt angefangen? Ausgrabungen belegten sie bis in die frühe Vorzeit, und auch, daß es sich rächte. Krankheit war schon in der frühen Steinzeit der Begleiter der Kannibalen gewesen. In der Vergangenheit, solange es schriftliche Aufzeichnungen gab, war es immer schon verboten zu töten. Und am schlimmsten wäre es gewesen zu töten, um das Opfer zu verzehren. Das galt als eines der Großen Verbrechen, unsühnbar, mit Ächtung bestraft, der schärfsten Strafe, die wir kannten, dem sozialen Tod.
Dann wurde verboten, daß wir Artgenossen aßen. Die Strafe, die darauf stand, zu einem „Bankett Alten Stils“ anzustiften, war ebenfalls Ächtung; die Teilnahme wurde mit gemeinnütziger Arbeit bestraft, die unter unangenehmen Bedingungen stattfand. Das war eine Neuerung, die erst nach dem Ende von Iváns Bericht eingeführt wurde.
Und das war die Strafe, die ursprünglich für Lelo vorgesehen war. Der Grund war zum einen die verheerende gesundheitliche Wirkung, in der wir nun als Ursache das „Essen vom Lebenden“ erkannten. Es waren Stoffe in solchem Fleisch enthalten, die den Zustand lostreten konnten, Vergiftungswirkungen, die noch wochenlang anhielten. Der andere Grund war: Es war nicht klar, wann einer wirklich tot war, der im Zustand starb. Es war nie gelungen, jemanden daraus zu wecken, aber wußten wir definitiv, daß das der Tod war? Wir kannten seit Jahrhunderten die Warnung, daß des Todes sei, wer vom Lebenden gegessen hatte, aber wir hatten uns nie die Mühe gemacht, herauszufinden, was wirklich passiert, wenn wir starben.
Noch immer starben einige von uns im Zustand, und die Unsitte der ‚kulinarischen Bestattung‘ hörte nicht ganz auf.
Warum taten sie es immer noch? Sie glaubten, die besonderen Fähigkeiten unserer wilden Rasse kämen daher, die Wachheit, die an Wunder grenzende Kampfkraft, Hitze und Regenerationsfähigkeit.
Und nun hätte das eigentlich aufhören müssen. Nach dem Segen durch Iván und dem Neuen Ritual hätte der Fluch gebrochen sein müssen, und das war er ja für die meisten.
Nicht auszudenken, wenn das Zweifel an der ganzen Rettung wecken würde! Wenn der Fluch auf diese Weise fortbestand! Denn wer jetzt zu früh starb, gefährdete den Erfolg der ganzen Campagne. Wir vom S!O!S!, dem ‚Sovjet of Survivors‘, hätten uns gleich mit Fragezeichen schreiben können, wenn wir nicht bewiesen, daß wir 80 Jahre alt werden konnten. Aber um das zu beweisen, brauchten wir noch 40 Jahre.
Man sieht: Das Vergehen von Lelo und seinen Freunden durfte nicht zu gering eingeschätzt werden. Der S!O!S! war sich darin einig.
Das Urteil, gefunden unter Beistand des Verteidigers und vierer Erynnien, darunter Salix und Amadux, wurde vom Dogen Tanguta als oberstem Richter gefällt. Es lautete auf drei Wochen Sicherheitsverwahrung und Ausnüchterung in Einzelhaft, die Lektüre der Bücher des S!O!S! als Pflicht, um den Delinquenten die Schwere ihres Vergehens klarzumachen. Diese geheimen Bücher, eins aus dem 15.Jh., eins aus dem 17.Jh., enthielten Warnungen und Prophezeihungen und beschrieben den Fluch und seine Ursachen unmißverständlich. Sie waren geheim, um nicht den vollen Wortlaut zu veröffentlichen, was bei den Unseren, die so leicht zu beeindrucken waren, eine verhängnisvolle Wirkung gehabt hätte. Ausgesuchte Texte hingegen wurden mit pädagogischer Sorgfalt zugänglich gemacht.
Inzwischen war ein weiteres Dokument aufgetaucht, eine Promotion aus den Vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts, in der der Hergang von Erkrankungen durch sogenannte Prionen untersucht wurde. Diese Eiweißpartikel, kleiner als Viren, waren damals zwar noch nicht nachgewiesen, jedoch führte Doktor Abram Pierrebleu einen lückenlosen Nachweis des Zusammenhangs zwischen einer Erkrankung eines Naturvolks in Ozeanien und ihren kannibalischen Gepflogenheiten. Die Prionen, so vermutete der Doktor, passierten die Blut-Hirn-Schranke und führten zu motorischen Störungen, die sich auch in der Mimik der Betroffenen zeigten. Sie starben grinsend, hilflos am Boden liegend.
Mit wissenschaftlicher Akribie hatte Doktor Pierrebleu Beweise gesammelt und die Erkenntnis untermauert, daß es in erster Linie der Genuß von Gehirn war, der die Eintragung von Prionen in die Hirne der Patienten ermöglichte. Die „Kluge Pastete“ war das begehrte Genußmittel gewesen, das sie alle mit dem frühen Tod vergiftet hatte.
Man ließ nun die Verurteilten nicht einfach so lesen, was in diesen Büchern stand. Vor allem der Pierrebleu wurde in homöopathischen Dosen und unter Kontrolle verabreicht. Das geschah in therapeutischen Gesprächen, die ebenfalls unter der Mitwirkung von Amadux geführt wurden: Sie schulte die Erynnien in der Gesprächsführung, die darauf hinwirken sollte, daß die Sträflinge das nicht einfach als Horrorstory abtaten, sondern ernst nahmen und das Vertrauen entwickelten, daß man ihnen ein ähnliches Schicksal ersparen wollte. Wenn sie weinten, hatte sie gewonnen.
Werden wir denn noch so schnell, so stark, so mächtig sein? Werden wir unsere Hitze, unsere Kraft, unsere Schnelligkeit behalten, die nachwachsenden Zähne, den betäubenden und heilenden Speichel? Können wir im Kreis bleiben und unseren König oder die Königin telepathisch wählen? Bleiben wir mit der Basilosphäre verbunden? Welchen Preis zahlen wir für ein längeres Leben?
Das waren die Fragen, die manche stellten. Und die Gegenfrage: Welchen Preis willst du dafür bezahlen, daß wir immer noch so mächtig sind? Willst du unsere Macht mit dem frühen Tod erkaufen? Und ist es so schlimm, nicht mächtiger zu sein als die Cro, aber mit ihnen im Frieden?
Das ging vielen ans Eingemachte.
Dann erfuhren wir von Kunkamanitos zweitem NuRiCa-Ritual. Wie gesagt, die Große Schamanin hatte es durchgeführt, und sie hatte ein Video davon angefertigt. Es war Kunkamanitos Idee gewesen. Er war völlig verzweifelt zum Amazonenhaus gegangen, als er zum zweiten Mal den Zustand an sich erkannte. Dies war das Stadthaus am Großen Kanal nahe dem Dogenpalast, in dem die Amazonen sich vor und nach dem Wachwechsel aufhielten. Hier betrieben sie eine Wachstube und hatten einige Ruheplätze für nächtliche Bereitschaft, eine Kantine, ein paar Zellen für die erste Unterbringung von Festgenommenen, eine Waffenkammer und dazugehörigen Wartungsraum, einen Bestrafungsraum für kleinere Vergehen, Sprechzimmer und Dokumentationszimmer. Es gab auch einen Kultraum, wo Rituale durchgeführt wurden, und dieser war Anlaufstelle für alle, die in den Zustand kamen. Die Zusammenarbeit mit dem Hospital war eng. Ständig waren hier eine Ärztin und eine für das NuRiCa geschulte Amazone im Dienst.
„Nun ist alles vergebens, und es wird uns allen so gehen, wir haben umsonst gehofft“ — das waren seine Gedanken, als er im Haus des Bündnisses ankam. Wenn er dorthin ging, so entsprang das mehr dem Entschluß, es die Damen wissen zu lassen, was sie wissen mußten. Sie ging es zu allererst an. Es war weniger seine Hoffnung, dort Rettung zu finden, denn diesen Gedanken hatte er schon aufgegeben, aber daß er so dachte, war schon Teil des Zustands. Wie es das Schicksal wollte, war die Große Schamanin gerade zu Besuch, Kirli hieß sie, und sie hatte einen Hilfsgeist. Sie zog sich vor jedem NuRiCa zurück und trommelte und sang, sodaß der Hilfsgeist in sie einfuhr. Sie fing nicht an, bevor das geschah. Sie war eine andere, wenn er in ihr war. Selbst ihr Serf Sinteska fürchtete sie dann. Ihre Stimme veränderte sich, ihr Verhalten war anders. Sie war hart. Und der Hilfsgeist war in ihr, wenn sie mit ihm spielte. Vielleicht war das das Geheimnis, warum es ihn bis in die tiefsten Gründe seiner Seele erschütterte.
Wenn sein schamanischer Meister, Kódutu, sie so hätte sehen können, es hätte ihn überzeugt, daß „sogar eine Frau“ echte und authentische Schamanin sein kann. Und so machte sie das Neue Ritual des Cannibalismus, das NuRiCA, bei Kunkamanito zum zweiten Mal, und er war der Erste, bei dem es zum zweiten Mal geschah. Sie machte ihm Linien an neuen Stellen, dieses Mal auf dem Rücken: Unter den Schulterblättern, kurz über den Nieren und zwei Fingerbreit oberhalb der Pospalte, leicht nach links und rechts versetzt. Und sie ließ ihn mehr bluten als beim ersten Mal. Drei Linien an jeder Stelle, das machte 18. Und noch zwei weitere kamen dazu. Es war nahezu ein Aderlaß, zudem schmerzhaft. Sie tröstete ihn. Er vertraute ihr. Und das war recht so.
Sie nahmen Kunkamanitos Ritual auf Video auf. Dieses ging als Kopie mit der nächsten Post nach Weimar und wurde Pitro gezeigt, wir erinnern uns, Pitro Krasnov-Gurian, einstmals der starke Mann in der nun gestürzten Regierung, der in unserem Haus im Wachkoma lag. Pitro nun zeigte starke Anzeichen von Aufregung. Er hatte Kunkamanito, kurz ‚Mani‘, immer als seinen Retter gesehen, auch, als er hilflos und reglos den Homsarecs in die Hände fiel. Mani sah damals die stumme Panik in Pitros Augen und wie ihm der Atem stockte, als er aus dem Gefängnis in unser Haus überführt wurde. Und er sah die Erleichterung, als Pitro Mani erkannte. Seine Erinnerung an ihn war fast die einzige freundliche aus ihrer Jugend, an den jungen Medizinstudenten, der für ihn, ohne daß er selber es wußte, eine Art Zuflucht gewesen war. Und nun sah Aimoré, wie Mani sich dem Ritual unterwarf.
Aimoré, Pitro, konnte sich uns durch Atem und Lidschlag mitteilen und wirkte immer so, als verachte und hasse er jeden, auch die, denen er sein Leben verdankte dadurch, daß sie ihm Nahrung gaben, ihn wendeten, ihn versorgten und entsorgten, ihn wuschen und rasierten.
Es war ein beträchtlicher Aufwand, den wir für ihn auf uns genommen hatten, so wie es Josefine wünschte. Sie, einstmals ‚Karl, das stramme Kerlchen‘, Pitros Neffe und Hoffnung für eine militärische Karriere, hatte sich anders entschieden. Auch sie beteiligte sich an der Arbeit, indem sie sein Zimmer putzte und die Bettwäsche erneuerte. Sie sprach mit ihm und sang und tanzte für ihn. Das kam so süß und spontan, wir waren bezaubert von ihrer Anmut. Was sie sang, konnten wir nicht verstehen, es war irgend eine asiatische Sprache, und die monotonen, aber sehr melodischen Klänge hatten etwas Hypnotisches.
Das Video, das wir anschauten, begann mit einer kurzen Ansprache, die Kunkamanito in die Kamera hielt.
„Vierzehnter April 189. Ich bin im zweiten Zustand. Es fühlt sich anders an als beim ersten Mal. Weniger heiß, eher psychisch niederschmetternd. Verzweifelt, mutlos. War alle Hoffnung umsonst? Niemand kann es wissen. Wir betreten Neuland. Ich bin bereit, alles zu versuchen. Ich ergreife jeden Strohhalm. Wir können anfangen, wenn Sie die Güte haben, meine Damen.“
Er kniete vor ihnen nieder und führte etwas Neues ein, das aber vollkommen am Platze schien. Er küßte jeder die Hand und führte sie an die eigene Stirn. Dann sprach er: „Ich lege mein Leben in Eure Hände.“
Wer ihn kannte, war verwundert. Kunkamanito der Stolze war zu vollkommener Unterwerfung in der Lage. Das war neu an ihm. Nun sah Aimoré, wie sein Freund Kunkamanito sich dem Messer der Amazonen zum NuRiCa auslieferte. Ainu, der an seinem Bett saß, fühlte ihm mal schnell den Puls und maß seinen Blutdruck. Oha, das regte ihn aber auf. Nahaufnahme, wie Kunkamanito das Blut über den Rücken rann. Schwenk auf sein Gesicht; konzentriert und ein wenig verkrampft. Nun absoluter Schmerz, als das Messer an seiner rechten Seite in die Haut drang. Er konnte ihn nicht verwandeln. Er biß die Zähne zusammen. Keine Träne entkam ihm. Er bat Kirli, näher zu ihm zu kommen, und sagte leise etwas zu ihr. Sie machte die Armfesseln von den Tischbeinen los und streckte seine Arme über seinen Kopf hinaus. Man sah seinen Brustkasten arbeiten.
Pax von den Schildkröten, die bei der Zeremonie assistierte, übernahm und hielt seine Hände und zog sie weiter, so daß seine Arme ganz gestreckt waren. Sein Gesicht war verdeckt. Er stieß abgehackte Schmerzlaute aus. Dann schrie er.
Es sind doch nur kleine Ritzungen, nicht tief. Drei Zentimeter lang, jede Linie. Aber so ein Drama...
Die Damen erschraken nicht, sondern machten weiter; sie kannten das, es brachte sie keineswegs aus dem Konzept. Das Blut floß. Jemand hielt seine Füße und zog sie in die andere Richtung, so daß sein ganzer Körper gestreckt war. Pax hielt seine Hände mit ihrer Rechten fest und strich mit der Linken an seinen Armen aufwärts in Richtung der Hände, mal den rechten, mal den linken Arm. Und so machte es die dritte Person, es war Trisax, mit seinen Beinen. Kirli war nun mit den Schnitten fertig und beobachtete den Fluß des Blutes. Obwohl sie nicht mehr schnitt, schrie er noch immer. Jetzt ging nur noch schwerer Atem, während sie ihn in gestreckter Haltung hielten. Noch immer floß Blut.
Aimoré schien den Anblick von Kirli, wie der Hilfsgeist in ihr war, nicht ertragen zu können, er schloß die Augen, wann immer sie ins Bild kam.
Bei den Einstellungen, die Kunkamanito zeigten, schaute er aufmerksam zu. Bisweilen stockte sein Atem. Ainu beobachtete seine Reaktionen; es war klar, daß auch Aimoré irgendwann in das Ritual mußte, denn schließlich war er drei Jahre lang Teil der Cultura gewesen und hatte gegessen, was wir damals aßen.
Manche bezweifelten die Wirkung des Rituals, wenn es mit zu wenig Respekt für die Damen Amazonen ausgeführt werde. Das wiederum wurde von anderen als ‚abergläubischer Quatsch‘ abgetan.
Die Kamera bewegte sich um Kunkamanito herum, denn bislang war sein Gesicht vom rechten Arm verdeckt gewesen. Nun aber wurde er sichtbar; und soweit es nicht von Haaren verschleiert war, erkannte man ein erst verhaltenes, dann strahlendes Lächeln.
Es war vorbei.
Pax und Trisax legten seine Arme und Beine vorsichtig auf dem Tisch ab.
Er fragte, ob er sich aufrichten dürfe. Sie halfen ihm und versuchten, die Schnitte nicht zu berühren. Er blieb noch lange so sitzen.
Sie redeten leise miteinander. Kirli sprach die abschließenden Worte. Sie besprengte ihn danach mit ein paar Tropfen Wasser und küßte ihn endlich. Das taten auch die anderen beiden Mädchen. Das waren keine höflichen Wangenküsse, sondern sinnliche auf den Mund. Und sein Gesicht hielten sie in beiden Händen.
Schließlich verband ihm Pax die Stellen mit großen Pflastern und führten ihn zu seinem Schlafplatz. Trisax filmte weiter. Sie deckten ihn zu — „brauche ich so warme Decken? Ich bin doch kein Cro“, wunderte er sich. Doch, die werde er brauchen. Und tatsächlich schlief er fest und kühl.
Wir alle hätten zu gern gewußt, was Aimoré darüber dachte.
„Dürfen die Amazonen Sex mit den Sträflingen haben?“
So lautet eine etwas provozierende Frage, die mit Kreide an die Tafel im Seminarraum geschrieben steht.
Amadux hält hier ein Seminar mit Rollenspielen. Wir sind in einem Palazzo, dem Amazonen-Stadtquartier, direkt am Großen Kanal, nicht weit von der Akademiebrücke, wo ständig Fußgänger hinüber und herüber flanieren. Die großen Fenster gehen auf den Kanal, sind aber mit Gardinen gegen die Sicht verhängt, um Ablenkungen zu mindern. Hier sitzen die jungen Damen an Schreibpulten mit Bleistift, Tintenfaß und Feder. Die Schreibfläche ist geschrägt, darunter befindet sich ein Kasten für Bücher und Hefte. Auf dem Stundenplan steht „Psychologie der Kriminalität“.
Sie hat zur Zeit zehn Rekrutinnen in der Grundausbildung. Sämtliche sind Homsarecs. Sie sind es fast immer — bis auf sehr wenige Ausnahmen. Freydux war eine davon, und sie wurde auch nicht für den Kriegsdienst ausgebildet, sondern für Ordnungsaufgaben und Kriminalitätsbekämpfung, was spannend genug sein kann. Ihre Kameradin Pax hat ebenfalls die Ausbildung beendet und assistiert Amadux beim Seminar.
Als Objekt für die Lektion dient ein Freiwilliger, der sich davon eine Steigerung des Unterhaltungswerts der Haft verspricht. Lelo von den Wölfen, seit einigen Tagen mit anderen wegen Beschaffung eines Opfers für ein Bankett Alten Stils in Haft, ist von zweien der Gardisten aus Selknams Wache hergebracht worden. Sie werfen ihn mehr in den Raum, als daß sie ihn führen.
„Viel Spaß, die Damen!“ kommentiert der Wächter Khampa sein Erscheinen. Mit Langpeitsche, Axt und Spieß wirken die Wachen sehr martialisch. Khampa bietet an, bei den ‚Mädels‘ zu bleiben — obwohl, wie er versichert, klar ist, daß Amazonen selber für ihre Sicherheit sorgen können, aber es könnte ihnen ja etwas Arbeit abnehmen… Es ist Amadux klar, daß die jungen Gardistinnen ihres Seminars den Wachen die Köpfe verdreht haben. Amadux dankt ihnen sehr freundlich und legt ihnen nah, sich ihren üblichen Aufgaben zu widmen.
Sie fragt Lelo, ob er freiwillig hier sei, sie kündigt ihm an, sie werde an ihm verschiedene Fesselungen und Verfahren des Strafvollzugs demonstrieren; ob er damit einverstanden sei? Er wirft einen kleinen Blick in die Runde zu den jungen Damen und nickt. „Du bist also kooperativ?“ fragt Amadux noch einmal, denn sie liest da etwas, was ihr nicht ganz klar erscheint. Er grinst. So ganz versprechen könne er das denn doch nicht, ist seine Antwort, „aber es soll ja noch ein bißchen Spaß machen.“
Aha… Nun, das wird für die Seminaristinnen bedeuten, daß man ihnen auch den Umgang mit Widerstand erklären kann. Umso besser.
Wieder ist Lelo mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Seine erste Verhaftung, als er in den Palazzo seiner Tante einbrach, ist drei Jahre und drei Monate her. Er hat sich zwischen verschiedenen Wohngemeinschaften hin und her bewegt, blieb überall so lange, wie sie ihn durchfütterten, so lange es ihnen Spaß machte, mit ihm Sex zu haben; irgendwann kam dann aber doch die Frage, ob er nicht auch etwas zur gemeinsamen Speisekammer beisteuern möchte. Inzwischen ist die Liste seiner Vergehen lang, aber nichts wirklich Schlimmes ist passiert. Er hat niemanden verletzt, niemanden getötet, aber wer wird je sagen können, an wievielen Einbrüchen er beteiligt war, wo es um Diebstahl von Nahrungsmitteln, von Genußmitteln wie vor allem Papavers und Tee, und anderen nützlichen Dingen wie Kerzen, Seife, Parfum und Süßigkeiten ging? Nie was Großes, denn in Sukent kann nichts verkauft werden, und Tausch fällt auf. Dennoch ist er inzwischen ein versierter Fassadenkletterer geworden, kennt alle Wege über die Dächer und weiß viel über Schlösser und Seiteneingänge in den dunkelsten Subportalen.
Lelo ist nur begrenzt kooperativ.
Seine weichen Momente nach der ersten Bestrafung hat er bereut. Hat quasi seine Reue bereut. Das ist kein gutes Zeichen, findet Amadux.
Was genau will er? Warum ist er bereit, hier mitzumachen?
Sie nimmt ihn beiseite und erklärt ihm eine kleine Szene, in der er mitspielen soll. Er nickt und hat verstanden.
Sie steht auf einem breiten Podest, die Mädchen sitzen an Pulten unterhalb des Podestes. Sie demonstriert, wie man Gefangene auf sichere Weise fesselt, ohne Chance zu entkommen, ohne Gefahr für ihre Gesundheit. Lelo kennt offenbar schon Tricks, die er von seinen Kumpels gelernt hat, und das gefällt Amadux gar nicht. Aber um es den Mädchen zu zeigen, was man falschmachen kann, ist das sehr willkommen.
Sie steckt sich ein Messer für das NuRiCa-Ritual in den Gürtel und kündigt den Mädchen an, sie könnten in dieser Situation eine Überraschung erleben. Sie beugt sich runter, um Lelo die Füße zu fesseln. Blitzschnell bringt er das Messer an sich und hält es Amadux an den Hals. Die Mädchen schreien auf, werfen eine Hand vor den Mund. Sie packt das Messer sehr cool und zieht es weg. Dann dreht sie Lelo den Arm auf den Rücken und läßt ihn in gebeugter Haltung stehen. Er wimmert, sie tut ihm weh, aber völlig ungerührt doziert sie weiter: „Seht ihr, die Jungs sind immer für eine Überraschung gut, allerdings habe ich ja damit gerechnet, und viele wissen nicht, daß die NuRiCa-Messer nur an der Spitze scharf sind. Vielen Dank, Lelo, für deine Mitwirkung bei dieser Demonstration, und die, meine Damen, war natürlich so abgesprochen, um zu zeigen, was passieren kann.“
Amadux führt ihn ruppig zum schrägen Kreuz und macht ihn fest. Er ist ein wenig heiß. Sie wird ihn nicht schlagen können, für solche Lektionen bräuchte sie eine andere Versuchsperson. Er ist ja bei einem Bankett verhaftet worden, das ist vier Tage her, zu kurz, als daß er schon wieder von den gefährlichen Stoffen frei ist.
„Ihr seht“, fährt sie mit dem Vortrag fort, „ihr müßt immer auf der Hut sein. Auch scheinbar kooperative und resozialisierbare Strafgefangene können in solchen verführerischen Momenten plötzlich die Maske fallenlassen und euch die größten Schwierigkeiten einbrocken.“ Und sie fuhr fort, die Maßnahmen zu erläutern wie: „Zuerst die Hände fesseln und erhöht festmachen, dann die Füße. — Niemals allein in die Zelle“, und was dergleichen Vorsichtsmaßnahmen mehr waren.
„Eigentlich traurig, daß das nötig ist“, murmelte Lux.
Dieser Mann, ein Wiederholungstäter, sei ein Risiko, erklärte Amadux. Man kann versuchen, sie bei ihrem Trieb zu packen, sie mit den Waffen der Frau weichzumachen. Aber auch nur, wenn sie nicht ausschließlich schwul sind. „Sie werden alles versprechen“, sagte sie, „wenn sie geil sind. Aber das hält nur, solange sie geil sind. Umgekehrt sind sie aber sehr gut darin, euch schöne Augen zu machen, das kann dieser sehr gut, und mir scheint, er hat schon Erfolg damit. Phlox, verbinde ihm noch mal die Augen.“
Phlox trat an ihn heran und tat, worum die Ausbilderin bat. Sie fühlte seine seidenweichen Haare, sah seine großen Augen, bevor sie sie bedeckte, den schön geformten Mund — konnte nicht widerstehen, als seine Augen verbunden waren —, küßte ihn und löste sich mit einem Schrei von ihm. Ihr Mund blutete.
„Er hat mich in die Lippe gebissen“, schrie sie, „was sollte das?“
„Dich Vorsicht lehren“, murmelte Amadux.
Sie schaute zu ihm hin, sein Gesicht war undurchdringlich.
Plötzlich ging Phlox auf ihn zu und ohrfeigte ihn.
Amadux faßte sie beim Arm und zog sie weg. „Das geht gar nicht“, sagte sie, „er ist gefesselt, er konnte nicht sehen, daß ein Schlag kommt, er konnte nicht ausweichen, das bedeutet, er kann am Ohr“ — sie demonstriert durch Auflegen ihrer Hand auf die Wange, wie leicht die Fingerspitze auf dem Gehörgang landen kann — „oder an der Halswirbelsäule Schaden nehmen. Das willst du nicht.“
Und sie zeigte an Lelo, wie man das Kinn des geohrfeigten Objekts mit einer Hand festhält. Und sie müssen mit ihren Fingern die Distanz zum Ohr messen. Alle Mädchen durften das üben, am Ende sah er aus wie von Scham gerötet, und das stand ihm gut. Phlox‘ Lippe wurde von ihrer Freundin geleckt, nach einige Minuten war sie wieder wie neu.
Zwischendurch wurde Lelo, der sein kannibalisches Festessen ja erst nur wenige Tage hinter sich hatte und darum noch sehr durch Überhitzung gefährdet war, mit warmem Salzwasser abgekühlt, das Trisax mit einem Schwamm auf seinen Rücken und seine Brust auftrug, danach wurde er sanft abgetrockenet.
In solchen Momenten schaute er hilflos drein.
Das war ein gutes Zeichen, wußte Amadux, denn es bedeutete, daß Wohltaten ihn weichmachen würden, wo es die harten Strafen nicht konnten.
Zwischendurch servierten die Sklaven der Haftanstalt ein Essen für Amadux und die Mädchen. Lelos Arme wurden heruntergenommen, er blieb aber am Kreuz, lediglich der Knebel wurde entfernt. Bis die Damen gespeist hatten, mußte er zusehen.
Bevor das Essen abgetragen wurde, ging der Sklave der Anstalt mit einem Teller herum, und die Amazonen legten Reste von ihrem Essen darauf. Auch die Getränkreste wurden in ein Glas zusammengegossen. Lelo durfte sich an etwas längerer Kette auf den Boden setzen und die Reste essen. Man merkte ihm an, daß er fast zu stolz war, um damit anzufangen. Der Gedanke an Widerstand lag nah; aber nach so vielen Stunden in dem warmen Raum konnte er nicht anders, als zu nehmen, was man ihm gab. Das war umso notwendiger, als er lange nichts getrunken hatte. Und als er so konzentriert schluckte, was das Mädchen ihm gab, das er gebissen hatte, beobachteten die Amazonen ihn mit größter Aufmerksamkeit. Aber Blicke in die Runde wurden ihm nicht gestattet. „Augen senken!“ schnauzte Phlox ihn an.
Da ging auf einmal eine Welle von Lust und Hingabe durch ihn hindurch, eine rasende Sehnsucht nach der Heimat, die Vergebung heißt, und sofort danach verkniff er sich dieses Gefühl, machte seinen Rücken grade, spannte alle Muskeln an und würde diesen Augenblick später in seinem Tagebuch als einen erst einmal verpaßten Wendepunkt beschreiben.
Er trank den Rest des lauwarmen, mit Spuren von Wein leicht angewürzten Wassers — es gab Schlechteres. Gleich darauf kam der Knebel wieder rein, um den Mädchen seine giftigen Worte zu ersparen, und eine Augenbinde verhinderte, daß sie von seinen giftigen Blicken getroffen wurden. So ließ sie ihn mit auf den Rücken gefesselten Armen knien. Sie koppelte die Hände rücklings mit den Füßen, sodaß er relativ bequem knien, auch die Haltung wechseln, aber nicht aufstehen konnte.
Was Amadux aber lehrte, das hörte er.
„Wie gut sind seine Chancen zur Resozialisierung?“ fragte Amadux.
Die Mädchen gaben Einschätzungen ab, und sie stellten Lelo ein sehr schlechtes Zeugnis aus. Hohe kriminelle Energie, wenig Aussicht auf Einsicht.
„Das sehe ich anders“, sagte Amadux dann. „Wahre kriminelle Energie ist erfolgreich. Wer solche dummen, fast schon schwachsinnigen Aktionen unternimmt“ — an dieser Stelle verzog Lelo richtig zornig das Gesicht —, „kommt damit nicht weit. Das wirklich Böse ist intelligent. Dieser hier wird scheitern mit seinen Plänen, und das wird ihn irgendwann davon überzeugen, daß er so nicht weitermachen kann, sondern er braucht einen Herrn oder eine Herrin, damit er auf Kurs bleibt und weiß, was er zu tun hat. Der Quatsch, den er bisher gemacht hat, zeigt deutlich, daß es so jemanden nicht in seinem Leben gibt.“ Sie hielt inne und schaute zu ihm. Er zeigte keine Regung.
„Solche Verhaltensweisen müssen ihm abgewöhnt werden. Aber wir müssen in Liebe strafen“, fuhr sie fort. „Wenn die Strafe in Schlägen besteht, was ja meist der Fall ist, muß maximaler Schmerz bei minimalem Schaden erzeugt werden. Wie ist das zu erreichen? Erstens: Ihr müßt lernen, millimetergenau zu treffen. Bei der Aufnahmeprüfung habe ich ja eure Augen untersuchen lassen. Zweitens: Üben, üben, üben. Drittens: Ihr müßt genau wissen, wo jeder Schlag welche Wirkung hat. Der sicherste Bereich ist der Po. Hier ist am wenigsten mit Schaden zu rechnen, aber auch mit Lust, und das ist es nicht, was wir erreichen sollten.
Wie sieht es aber jetzt mit diesem Mann aus, meine Damen? Was habt ihr für Ideen, was bei ihm helfen wird?“
Sie bat die jungen Damen, vorzutreten und den Bereich ohne Berührung zu zeigen, auf den sie sich konzentrieren würden.
Eine nach der anderen trat vor und zeigte auf eine Partie seines mageren Körpers. Er war seit der letzten Konfrontation mit dem Staat dünn geworden.
Amadux schaute schweigend zu. Sie ließ sich nichts anmerken. Schließlich trat sie auch zu ihm hin und schaute ihn eine Weile an.
„Wir sollten uns, so meine ich, uns hierauf“ — sie zeigte auf seinen Kopf — „und hierauf“, sie näherte ihren Finger seiner Herzgegend — „konzentrieren.“
Und indem sie neben ihm stehenblieb und den immer noch Knienden am Arm an ihre eigene Seite zog, sein leichtes Sträuben ignorierend, sprach sie weiter: „Das Essen des unseligen Banketts steckt noch immer in seinem System, es ist noch nötig, ihm Zeit zu geben. Vier Tage sind nicht genug, wie ich sagte. Auch darf er nicht sich selbst überlassen werden. Noch darf er im Knast mit Gleichgesinnten zusammentreffen, die ihn in seiner Haltung von Trotz und Wut bestätigen. Was also tun wir mit ihm? Die Antwort ist kontrollierte Ausnüchterung. Wir haben ihn gewählt, weil wir, die Leitung der Strafanstalt, der Wachenrat und der Amazonenrat der Ansicht sind, daß wir eine gute Gelegenheit haben, durch die glückliche Situation, daß ihr noch nicht mit den Wachaufgaben und dem Tagesgeschäft belastet seid, ihm permanente Nähe von Amazonen zu verschaffen, wobei ihr immer zu zweit sein müßt. Wir werden menschlich und freundlich mit ihm reden, egal, was er antwortet. Es ist für euch auch eine Übung der Festigkeit in der Haltung. Ich möchte keine Ausraster erleben; die sind verzeihlich bei Übungen, in denen es auf nichts ankommt. Aber ihr seid keine Anfängerinnen mehr.
In dieser Phase muß er gut gepflegt werden. Er wird nicht schlafen können. Wir müssen uns regelmäßig ablösen. Er muß viel Wasser trinken, um die Gifte auszuspülen. Phlox, gib ihm noch ein Glas Wasser!“
Der Knebel kam raus, Lelo durfte trinken. Phlox flößte es ihm ein.
„Und dann die wichtigste Maßnahme: Massage. Ich fühlte eben, er ist hart wie ein Brett. Wir müssen ihm so viel Berührung geben wie irgend möglich. Feste Griffe, keine Zärtlichkeiten...“
„Wenn ihr an mich rankommt“, warf Lelo ein, der die Situation nutzte, daß er ohne Knebel war.
„Ihr seht“, sagte Amadux ungerührt, der es gut ins Konzept paßte, was er gesagt hatte, „daß er sich gegen Wohltaten wehrt. Er stellt lieber die Welt auf den Kopf, als das kriminelle Paradoxon aufzugeben. Was ist das kriminelle Paradoxon? Es ist Trotz und Widerstand gegen alle, die in seinen Augen die Regeln der Gesellschaft vertreten. Auch, wenn sie es gut mit ihm meinen.“ Amadux knebelte ihn nun wieder, denn sie wollte nicht durch weitere Proteste gestört werden. Seine Hände fesselte sie nun vorne.
„Er muß das tun, wenn seine Welt nicht zusammenbrechen soll. Das würde sie, wenn er die Erkenntnis zuließe, daß er sich außerhalb des Guten und Richtigen stellt. Niemand kann so leben. Niemand kann ohne ein grundsätzliches ‚Gut-Sein‘ leben, das er sich selber zuschreibt. Niemand kann ohne das Gefühl leben, er sei auf der richtigen Seite, auch wenn sie noch so weit von Recht und Gesetz entfernt ist. Das nenne ich ‚invertierte Moral‘. Es ist eine andersartige Wertkonstruktion, die aber den einen Zweck hat: Eine alternative Ordnung zu sein, die ihm einen Platz im ‚Recht‘ zuweist, auch wenn es aus unserer Sicht Unrecht ist. Er muß Staat und Garden zum verlogenen Spiessertum erklären und ablehnen. Um aber so eine zerbrechliche Weltordnung aufrecht zu erhalten, braucht er die Bestätigung seiner Kumpels. Darum werden ab jetzt wir