Der Pakt des Terroristen - Gerald Gräf - E-Book

Der Pakt des Terroristen E-Book

Gerald Gräf

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Beschreibung

KÖNNTE DAS UNFASSBARE WIRKLICH GESCHEHEN? DIE ZERSTÖRUNG DER HAMBURGER ELBPHILHARMONIE ...? Als Kriminaloberkommissar Daniel Brechter in einem Hamburger Hospiz von den bizarren Hintergründen einer nie aufgeklärten Mordserie erfährt, erwacht in dem selbst ernannten Spezialisten für außergewöhnliche Fälle erneut der Jagdinstinkt. Zusammen mit seinem anderen Ich begibt sich der psychisch angeschlagene Polizist, der vor Jahren nur knapp dem Folterkeller des Terroristen Wolfgang Möller entkam, auf die Suche nach dem Glasaugen-Mörder. Unvollständige Akten, verloren gegangene Beweisstücke und manipulierte Informationen erschweren seine Bemühungen, doch plötzlich nehmen die Ermittlungen einen unerwarteten Verlauf. Brechter scheint die Kontrolle über den Fall zu verlieren. Außerdem ist er völlig auf sich allein gestellt, denn die Stadt wird von einem mysteriösen Attentäter erpresst, der scheinbar wahllos Menschen tötet. Alle Kräfte konzentrieren sich jetzt auf den Drohnen-Killer, der die Hamburger Behörden vor ein unglaubliches Ultimatum stellt. Das Morden geht weiter, bis das neue Wahrzeichen der Stadt in Schutt und Asche liegt.

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Zum Buch

Als Kriminaloberkommissar Daniel Brechter in einem Hamburger Hospiz von den bizarren Hintergründen einer nie aufgeklärten Mordserie erfährt, erwacht in dem selbst ernannten Spezialisten für außergewöhnliche Fälle erneut der Jagdinstinkt. Zusammen mit seinem anderen Ich begibt sich der psychisch angeschlagene Polizist, der vor Jahren nur knapp dem Folterkeller des Terroristen Wolfgang Möller entkam, auf die Suche nach dem Glasaugen-Mörder. Unvollständige Akten, verloren gegangene Beweisstücke und manipulierte Informationen erschweren seine Bemühungen, doch plötzlich nehmen die Ermittlungen einen unerwarteten Verlauf. Brechter scheint die Kontrolle über den Fall zu verlieren. Außerdem ist er völlig auf sich allein gestellt, denn die Stadt wird von einem mysteriösen Attentäter erpresst, der anscheinend wahllos Menschen tötet. Alle Kräfte konzentrieren sich jetzt auf den Drohnen-Killer, der die Hamburger Behörden vor ein unglaubliches Ultimatum stellt. Das Morden geht weiter, bis das neue Wahrzeichen der Stadt in Schutt und Asche liegt.

Zum Autor

Gerald Gräf, Jahrgang 1957, lebt seit frühester Kindheit in einer kleinen Ortschaft am östlichen Rande Hamburgs. Neben zwei autobiografischen Werken, »DIE LIQUOR-STRATEGIE« und »WO BITTE GEHT’S DENN HIER ZUM LEBEN?« (letzteres zusammen mit Iris Lewe) veröffentlichte der Autor bisher den Mystery-Science-Fiction-Roman »DER SCHATTEN VON APOPHIS« und den Thriller »GOTTES UNSICHTBARE ARMEE«. Mit »DER MODELLBAUER« folgte 2016 ein weiterer Thriller. Das vorliegende Buch »DER PAKT DES TERRORISTEN« ist der zweite Fall für den Hamburger Kriminalbeamten Daniel Brechter, der bereits in »DER MODELLBAUER« mit dem abgrundtief Bösen konfrontiert wurde.

Das Morden stirbt nie …

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Epiolg

PROLOG

Oktober 1977, irgendwo im Osten Hamburgs

Ich erzittere vor Erregung. Es fühlt sich an, als wenn ich durch die Tür hindurchsehen könnte. Ein lebloser Körper, schlaffe Gliedmaße, totes Fleisch, das sich mir willig hingibt. Ich kann ihn bereits riechen, diesen süßlichen Duft des Todes, der sich wie ein Parfüm um ihre weichen Konturen legt.

Ich muss nur die Tür öffnen …

Spüre ich Angst oder Skrupel? Eigentlich nicht. Beihilfe zum Mord? Wird mir niemand anhängen können. Wie denn auch? Es wäre ein völlig haltloser Vorwurf, der sich durch nichts beweisen ließe. Der Glasaugen-Mörder tötet die Frauen, ob ich nun in Erscheinung trete oder nicht. Es ist ganz allein seine Entscheidung. Ich kenne die Gründe nicht, die ihn antreiben, und will sie auch gar nicht wissen. Er ist das Monster, nicht ich.

Eines ist allerdings nicht zu leugnen: Meine postmortalen Aktivitäten sind ungewöhnlich, erfüllen aber nicht einmal den Tatbestand einer Vergewaltigung. Und dennoch: Jeder, der davon erfahren würde, wäre zutiefst schockiert. Es ist ein riskantes Spiel. Früher oder später könnte mir die Sache zum Verhängnis werden, doch ich kann immer noch umkehren. Niemand hindert mich daran. Ich muss diese Tür vor mir nicht öffnen. Im Gegenteil, ich kann den ganzen Wahnsinn hier und jetzt beenden. Ich muss endlich damit aufhören. Ich muss es. Sofort …

Als der Mann mit dem grauen Trenchcoat den unbekleideten, leblosen Körper der jungen Frau vor sich liegen sah, zerfloss die Welt um ihn herum wie die Bilder auf einem Zelluloidstreifen, der in der Hitze einer züngelnden Flamme dahinschmolz. Konventionen, Gewissen, ethische Grundprinzipien, Gesetze und Moral, Schuldgefühle und der eigene Anspruch auf ein verantwortungsbewusstes Handeln in einer Gesellschaft, deren Funktionalität auch auf seinen schmächtigen Schultern ruhte: All dies war innerhalb weniger Momente verflogen. Was zum Vorschein kam, hätte einen heimlichen Beobachter an das krankhafte Gebaren eines tollwütigen Tieres erinnert.

Die Verwandlung war von hemmungsloser Intensität, dauerte nur Minuten, in denen er all seine moralischen Grundsätze über Bord warf, und hinterließ, als sich ein kurzzeitiges Gefühl der Befriedigung eingestellt hatte, einen verwirrten, fassungslosen Mann, der nicht glauben konnte, was er eben gerade getan hatte.

… was er zum wiederholten Male getan hatte!

Sein Blick fiel auf die Frau. In ihren Augen spiegelte sich das fahle Licht seiner Taschenlampe. Wie verabredet befand sich die Leiche in vorbereiteter Weise auf einer alten Matratze, die in der Ecke des Raumes auf dem Fußboden lag. Er hatte lange gebraucht, um in der Dunkelheit die richtige Parzelle auf dem riesigen Kleingartengelände zu finden, und wollte bereits den Rückzug antreten, doch dann entdeckte er das hölzerne Pferd im Vorgarten des kleinen Grundstückes, schlich vorsichtig um das marode Schrebergartenhaus herum und betrat den Geräteschuppen, in dem sich die Frau befinden sollte.

Und tatsächlich …, da lag sie.

So leblos wie eine Schaufensterpuppe, und dennoch von dieser begehrenswerten Frische, die seinen Idealvorstellungen sehr nahe kam.

Alles so, wie sein Lieferant es beschrieben hatte …

Jetzt, nachdem er sich dem unbändigen Trieb – der wie ein bösartiger Tumor in ihm wucherte – hingegeben hatte, verspürte er vor lauter Ekel den aufkommenden Drang, sich zu übergeben. Er biss sich kraftvoll auf die Lippe und verließ hastig das Areal, in dem sich um diese fortgeschrittene Uhrzeit keine Menschenseele mehr aufhielt. Die schwarzen Wolken am Himmel rissen kurz auf, sodass eine helle Mondsichel zum Vorschein kam, die den morastigen Weg vor ihm in ein gespenstisches Licht tauchte.

Der Wagen stand weit außerhalb des Kleingartengeländes. Auf halbem Weg suchte er Schutz hinter dem Stamm einer alten Eiche, um sich seines Mageninhaltes zu entledigen. Der Schweiß trat ihm auf die Stirn; seine Knie wurden weich, und als ihm der plötzliche Schwindelanfall die Sinne zu rauben schien, krallten sich seine Finger in die raue Oberfläche des knorrigen Baumes. Schwer atmend lehnte er sich gegen den Stamm und nahm mit zitternder Hand das Taschentuch, um sich die Kotze aus dem Gesicht zu wischen. Dann setzte er seinen Weg fort. Schwankend erreichte er schließlich den weißen Daimler und ließ sich kraftlos in den Ledersitz der Luxuslimousine fallen.

Es war wieder geschehen …

Ein vertrautes Geräusch riss ihn aus seiner Lethargie. Es fing an zu regnen. Mit leerem Blick beobachtete er die zahllosen Tropfen, die sich auf der Windschutzscheibe sammelten, um dann im spärlichen Schein der Straßenbeleuchtung zu einem undurchsichtigen Film zu verschmelzen, hinter dem die Welt ihre gewohnten Konturen verlor.

Plötzlich kam ihm der Beginn dieses seltsamen Arrangements in den Sinn, das er vor ungefähr einem Jahr mit dem Anderen getroffen hatte.

Eine Vereinbarung, eine stillschweigende Übereinkunft, die keiner von beiden jemals wirklich ausgesprochen hatte. Ein vages, alkoholbefeuertes Konstrukt, das damals plötzlich im Raume stand und sich auf seltsame Art und Weise verselbstständigen sollte. Von Faktoren belebt, die vermutlich irgendwo zwischen Zufall, blindem Vertrauen, Kontrollverlust und Seelenverwandtschaft anzusiedeln waren.

Eigentlich war der Zeitpunkt für einen derartigen Rückblick alles andere als günstig. Das lähmende Selbstmitleid wurde dadurch noch verstärkt, aber ihm fehlte die Kraft, seinen Geist durch einen befreienden Impuls aus der Schockstarre herauszulösen.

Warum kann ich mich nicht dagegen wehren …?

Die bizarre Symbiose mit dem Anderen war auf Treibsand gebaut – er wusste das –, doch in den letzten Jahren hatten die Fantasien einen derart hohen Stellenwert in seinem von Einsamkeit geprägten Leben eingenommen, dass selbst die verantwortungsvolle Position in der Hamburger Justiz ihn nicht davon abhalten konnte, in den Sumpf des Verbrechens hinabzusteigen. Von Berufs wegen eigentlich keine Besonderheit für den jungen, aufstrebenden Staatsanwalt, auf dessen Schreibtisch sich zahlreiche Akten türmten, aus denen das Blut förmlich herauszuquellen schien, doch es gab ein dunkles Geheimnis im Leben des unauffälligen Einzelgängers …

Seit seiner zufälligen Begegnung mit dem Mann, der die Hamburger Polizei unter dem Pseudonym Glasaugen-Mörder seit Jahren in Atem hielt, wechselte der hochrangige Beamte bisweilen in die Rolle des Täters, um sich dem unstillbaren Hunger nach Befriedigung hinzugeben.

Zuerst hatte er lange gezögert – aus gutem Grund.

Der entsprechende Passus im Strafgesetzbuch ließ keinen Zweifel aufkommen: Die von ihm praktizierten Handlungen wurden als Straftat eingestuft. Allein hierfür käme eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren in Betracht. Wenn dann noch bekannt werden würde, dass er mit einem gesuchten Serien-Killer zusammenarbeitet, dürfte dies das Fass endgültig zum Überlaufen bringen. Schließlich profitierte er auf außergewöhnlich niederträchtige Weise von den brutalen Morden des Glasaugen-Mörders und nutzte seine Funktion als Staatsanwalt geschickt aus, um die Fahndung nach dem mehrfachen Frauenmörder zu erschweren.

Hierbei war äußerste Vorsicht geboten.

Der kleinste Fehler könnte ihm zum Verhängnis werden. Außerdem: Seine Zukunft – beruflich wie privat – befand sich in den Händen eines unberechenbaren Killers. Er hatte sich erpressbar gemacht, und was noch viel schlimmer war: Der Mann hätte sicher keine Skrupel, ihn mit in den Abgrund zu reißen, falls er der Polizei doch noch in die Fänge gehen sollte.

Eine beängstigende Vorstellung.

Bisher war es ihm immer wieder gelungen, schützend die Hand über den Glasaugen-Mörder zu halten, doch die Welt war voll von zufälligen Faktoren, die sich nicht in vollem Umfang kontrollieren ließen. Auf Dauer wäre er nicht in der Lage, die Spur seines Schützlings zu vertuschen. Der Mann schien professionell und gewissenhaft zu arbeiten, dennoch könnte ihm irgendwann ein gravierender Fehler unterlaufen.

Und wenn schon, mein Wort gegen sein Wort. Man würde einem Verbrecher dieses Kalibers nicht glauben. Nicht so eine abstruse Geschichte …

Trotzdem nagten Zweifel an ihm. Vermutlich würde niemand dem Killer Glauben schenken; außerdem gäbe es keine stichhaltigen Beweise für seine Mittäterschaft, doch allein die im Raum stehende Anschuldigung wäre von einer derart monströsen Dimension, dass die Presse sich wie ein Rudel hungriger Löwen darauf stürzen würde.

Es wäre sein sicherer Untergang.

Doch jetzt gab es kein Zurück mehr.

Letztlich musste er sich eingestehen, dass er Gefallen an dem ungewöhnlichen Arrangement gefunden hatte, das, so seine Hoffnung, so schnell nicht außer Kontrolle geraten konnte.

Und falls doch …?

Eine Katastrophe, die ihm das Genick brechen würde. Ein vorbestrafter Staatsanwalt, noch dazu mit einer derartig abscheulichen Straftat im Gepäck, wäre untragbar. Er würde nie wieder eine Tätigkeit im öffentlichen Dienst ausüben können. Mehr noch: Man würde ihn an den Pranger stellen und wie einen geisteskranken Freak durch alle Instanzen der Boulevardpresse treiben. Der Skandal würde ihn bei lebendigem Leibe auffressen. Er wäre gebrandmarkt, und das für den Rest seines Lebens.

Für diesen Fall lag im Wandsafe seines Hauses in Hamburg-Volksdorf ein geladener Revolver, den er für fünfhundert Mark auf dem Kiez gekauft hatte. Die Waffe vermittelte ihm ein Gefühl der Sicherheit, das allerdings trügerisch war, denn tief in seinem Inneren pulsierte eine diffuse Ahnung, dass er sie aus Angst vor dem Tod nicht benutzen würde.

Es gab nur einen Faktor, von dem sie wirklich profitierten. Die gegenseitige Abhängigkeit war der Klebstoff, der beide zusammenhielt – und der für eine gewisse Stabilität sorgte. Name, Adresse, Tätigkeit, persönliche Angelegenheiten: Nichts davon war jemals Gegenstand ihrer Kommunikation gewesen. Doch genauso, wie es dem Anderen gelingen könnte, seine Identität zu ermitteln, so wäre es auch für ihn ein Leichtes, die Ermittlungsarbeiten entsprechend zu manipulieren, um dem Killer endgültig das Handwerk zu legen.

Schließlich hatte er dem Glasaugen-Mörder von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden.

Der erste Kontakt war reiner Zufall gewesen. Eine groteske Situation, die so aberwitzig trivial war, dass sie einem Jerry-Cotton-Roman hätte entsprungen sein können. Die Erinnerung daran zauberte ein Lächeln auf sein schmales, von der Übelkeit gezeichnetes Gesicht.

Wie so oft hatte er im Schutz der Dunkelheit das Aktualitätenkino im Bahnhofsviertel besucht, um unerkannt einen der drittklassigen Schundfilme zu sehen, die Tag und Nacht in Endlosschleife über die Leinwand des AKI in der Kirchenallee flimmerten. In dem Schmuddelkino saßen zumeist nur wenige Männer im Zwielicht des Vorführraumes. Sie trugen oft dicke Hornbrillen, hatten Hüte auf ihren spärlich behaarten Köpfen und waren sichtlich bemüht, sich gegenseitig aus dem Weg zu gehen. Mit hochgeklappten Mantelkragen, die Hände tief in den Taschen vergraben, starrten sie stumm auf die Leinwand, auf der sich die Episoden des desaströsen Film-Geschmacks aneinanderreihten.

Sie suchten Zerstreuung und Ablenkung, verspürten aber nur wenig Lust, die nervtötende Anwesenheit eines Gesprächspartners zu akzeptieren. Einige liebten es, von erotischen Obszönitäten überrascht zu werden, die in vielen der Filme präsentiert wurden, und andere wiederum nutzten das flackernde Dämmerlicht und die spärliche Belegung des Saales, um sich selbst zu befriedigen.

Da die Filme generell ohne Unterbrechung liefen, kam und ging jeder nach Belieben. Die Männer begegneten sich nur selten und redeten fast nie miteinander. Manchmal allerdings erhoben sich zwei gleichzeitig aus ihren Sesseln, um im Foyer bei voller Beleuchtung aufeinanderzutreffen.

Auf diese Weise war er dem Glasaugen-Mörder begegnet.

Als sich ihre Blicke kreuzten, tat er etwas, von dem er selbst überrascht wurde. Er sprach den Fremden augenzwinkernd an. Es waren nur wenige Worte, die sich auf den eben gesehenen Film bezogen, doch aus einem unerfindlichen Grund sprang sofort ein Funke über, der die beiden Männer gleichermaßen zu elektrisieren schien.

An den reißerischen Titel des Filmes konnte er sich nicht erinnern – es war irgendetwas mit einer perversen Todesgöttin –, doch die anstößigen Praktiken, die darin tabulos thematisiert wurden, entfesselten ein Gespräch zwischen den beiden Kinogängern, welches sie bei Bier und Korn in der Kneipe gegenüber fortführten.

Hierbei ließ sich keiner in die Karten schauen. Im Gegenteil: Entrüstet echauffierten sie sich über die zügellosen Szenen – um dann das Gesehene Stück für Stück zu relativieren.

Auf diese Weise tasteten sie sich gegenseitig ab, ohne ihre wahren Gefühle offenzulegen. Der Alkohol lockerte ihre Zungen, aber nichts wurde offen angesprochen. Während des gesamten Gesprächs gelang ihnen das Kunststück, die Kontrolle über das seltsame Spiel der Andeutungen zu behalten, in dem nichts anderes geschah, als um den heißen Brei herumzureden.

Es blieb bei einem Dialog zwischen den Zeilen, doch am Ende der Begegnung erahnte jeder, was sich wirklich hinter der Fassade seines Gegenübers verbarg. Es bedurfte nur noch eines Beweises, um das theoretische Konstrukt auf eine tragfähige Ebene zu versetzen, in der sich Absichten in Realitäten verwandelten.

Als sich ihre Wege an jenem Tag wieder trennten, gab es einen – natürlich rein hypothetischen – Plan, wie die Annäherung vonstatten gehen könnte. Die Lösung war ein toter Briefkasten, über den sich Informationen oder Objekte austauschen ließen. Ein sicheres Versteck an einem geheimen Ort, den beide kannten und in dem sich eine Mitteilung sicher verwahren ließ. Und zusätzlich hierzu ein vorab abgesprochener Zeitplan für die Leerungen des Briefkastens, sodass sie sich nie begegnen würden, um jede Art der Auffälligkeit zu vermeiden.

Er erinnerte sich noch genau an das seltsame Gefühl, als er zum ersten Mal das Versteck aufsuchte, um den endgültigen Beweis für die Richtigkeit seiner Annahme in Händen zu halten.

Ein kleiner, vollgekritzelter Zettel, mit dessen Existenz sich alles verändern sollte.

Natürlich begab er sich ohne allzu große Erwartungen zu dem verlassenen Werksgelände, auf dem der verrostete Sicherungskasten hing, den sie für ihre Zwecke auserkoren hatten. Keine Frage, dachte er auf dem Weg dorthin, das Ganze war nur ein Bluff, ein prickelndes Spiel, das mit der Realität nichts zu tun hatte. Ein kurzer Ausflug in die Welt des Hypothetischen, der mit einem befreienden Aufatmen enden würde. Kein Deal, nichts von Bedeutung, keine verbindliche Absprache, kein Abstieg in die Untiefen des Verbrechens.

Und dennoch …

Irgendwo tief in seinem Inneren gab es eine Gewissheit, die sich sachlich nicht erklären ließ. Eine Signatur von einem Gefühl, welches ein Kribbeln in seinem Bauch auslöste, das sich mit jedem Schritt verstärkte, dem er seinem Ziel näherkam. Hin- und hergerissen zwischen dem unbändigen Verlangen, endlich einen Weg gefunden zu haben, mit dem sich die eigenwilligen Fantasien in die Realität umsetzen ließen, und der heuchlerischen Hoffnung, dass ihre doppeldeutige Konversation nichts weiter als ein trügerischer Akt der gegenseitigen Verarschung gewesen war, fingerte er zitternd das bedeutungsvolle Papier aus dem grau lackierten Sicherungskasten.

Und tatsächlich: Ort und Zeitpunkt der ersten Leichenplatzierung waren ebenso darauf vermerkt wie die Gegenleistung, die der Absender für seinen ungewöhnlichen Service erwartete.

Zweitausend Mark; in kleinen Scheinen.

Die Summe sollte nach Vollendung der Tat innerhalb von fünf Tagen im toten Briefkasten deponiert werden, danach würde man weitersehen.

Ein überaus akzeptabler Preis, war sein erster Gedanke, nachdem sich die Gewissheit in ihm manifestiert hatte, dass der Deal mit dem vermeintlichen Serien-Killer in die heiße Phase überzugehen schien. Noch war alles nicht mehr als eine Absichtserklärung, doch in seinem Kopf sah er plötzlich ein buntes Karussell, auf dem sich anstelle von hölzernen Pferden die nackten Körper toter Frauen im Takte der Jahrmarktmusik drehten.

Zweitausend Mark – lächerlich! In seiner Eigenschaft als Staatsanwalt würde er noch viel mehr für seinen neuen Erfüllungsgehilfen bewerkstelligen können – sofern sich seine Ankündigungen tatsächlich bewahrheiten sollten. Zusammen wären sie der Polizei immer einen Schritt voraus.

So wie auch dieses Mal.

Es funktioniert immer noch, dachte er fasziniert und ließ die blassen Gesichter der drei toten Frauen im Geiste Revue passieren, bei deren Mord er mitgewirkt hatte – wenn auch nur indirekt.

Immer war es der gleiche Typ gewesen. Junge, blonde, hochgewachsene und schlanke Frauen von ansprechender Schönheit. Es ließ sich nicht leugnen: Der Andere hatte Geschmack. Er strangulierte seine Opfer und entfernte die Augen, um sie gegen einfache Glasaugen auszutauschen. Eine groteske Arbeit, da es sich bei den Augen um Massenware für Puppen handelte, doch in dem schummerigen Zwielicht war die grausige Manipulation ohne genaueres Hinsehen kaum zu bemerken.

Seitdem sie den Deal geschlossen hatten, platzierte er die Leichen immer an unterschiedlichen Orten, wo sie auf den Besuch des Nächsten warteten – auf ihn, den Staatsanwalt mit einem Faible für frische Frauenleichen.

Drei Morde bisher, die auf das Konto des Glasaugen-Mörders gingen; drei sichere Verstecke, die er im Schutze der Nacht aufsuchte, um seinen absonderlichen Trieb zu befriedigen. Drei Leben, die ausgelöscht waren. Weitere würden folgen …

Sie begegneten sich nie.

Der Informationsaustausch über den toten Briefkasten verlief reibungslos. Niemand schien von den Verbrechen, die beide – nacheinander – begangen, Notiz zu nehmen. Die Polizei tappte im Dunkeln.

Doch das Gefühl der Befriedigung war kurz und von schwindender Intensität. Heute war es besonders schlimm gewesen. Kaum hatte er sich von der Leiche abgewandt, fühlte er eine Welle von Selbstvorwürfen in sich aufsteigen. Hinzu kam ein neuartiges Gefühl, das die Übelkeit in ihm auszulösen schien: Ekel vor sich selbst. Vor dem, was aus ihm geworden war.

So konnte es nicht weitergehen.

Er war kurz davor, die Kontrolle zu verlieren. Die Gedanken verselbstständigten sich. Schon seit Längerem fiel ihm auf, dass sich sein ganzes Denken darauf auszurichten begann, die nächste Frauenleiche aufzusuchen. Je eher, desto besser.

Die Abstände werden kürzer. So schnell …?

Als der Motor des Daimlers kraftvoll aufbrüllte, nahm der Plan in seinem Kopf Gestalt an.

Er könnte die Morde zukünftig in eigener Regie begehen, um die lästige Abhängigkeit zu beenden. Dann läge es in seinen Händen, die Intervalle seinen persönlichen Bedürfnissen anzupassen. Dann wäre er endlich frei, um das Verlangen immer dann zu stillen, wenn es am heftigsten in ihm brannte.

Großer Gott …

Kopfschüttelnd trat er das Gaspedal durch und biss sich auf die schmale Unterlippe, bis das Blut hervorquoll und einen dunklen Fleck auf seinem Trenchcoat hinterließ. Mit quietschenden Reifen schoss der Daimler davon und schleuderte eine dreckige Wasserfontäne hinter sich auf, die von grauweißem Dieselruß vernebelt wurde. Wären Passanten auf dem Gehweg gewesen, hätten sie voller Verwunderung beobachten können, wie der Fahrer des Daimlers so lange mit den Fäusten gegen das Lenkrad schlug, bis der schwere Wagen auf die Gegenfahrbahn schleuderte.

1.

40 Jahre später

Z ögerlich, doch voller Neugierde, überließ er seinem Mitbewohner die Kontrolle … und genoss mit geschlossenen Augen den verlockenden Abstieg in das immerwährende Reich des Schreckens. Wie schon viele Male zuvor tat er es in dem Bewusstsein, die eigenen Bedürfnisse einem höheren Ziel unterzuordnen, um das Böse in dieser Welt zu bekämpfen – notfalls auch mit dessen Hilfe.

Schwarz schimmerndes Wasser sickerte aus den grob gehauenen Wänden. Der nackte, zerklüftete Fels, durch den der Obdachlose orientierungslos stolperte, glänzte matt im schwachen Schein der Grubenlampen, die über ihm ihr fahles Licht in die Dunkelheit des unterirdischen Stollens verströmten. Einige von ihnen flackerten – und tauchten die Szenerie in ein gespenstisches Zwielicht –, andere wiederum hatten ihren Dienst komplett eingestellt, sodass der verwahrloste, bärtige Mann mit den langen, fettigen Haaren immer wieder aufs Neue in das dunkle Nichts hineinstrauchelte, das sich schier endlos vor ihm auftat.

Gehetzt blickte er sich um, doch noch konnte er nicht erkennen, wer ihm nach dem Leben trachtete. Die Geräusche kamen näher. Hallende Schritte, Wasser spritzte auf, keuchender Atem schlug ihm in den verschwitzten Nacken. Seine Kräfte schwanden, doch die Todesangst schien ihm Flügel zu verleihen. Ein zähnefletschendes Brüllen aus den Tiefen des Stollens trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Etwas verfolgte ihn, war ihm auf der Spur und heftete sich an seine Fersen, um …

Es … will mich töten. Nein, bitte nicht … bitte …

Plötzlich fiel er der Länge nach hin. In der öligen Lache unter ihm spiegelte sich sein schmerzverzerrtes Gesicht; der steinerne Boden ließ seinen Körper erzittern, und für einen kurzen Moment schien es, als wenn sich sein verschrecktes Bewusstsein an einen anderen Ort begeben würde.

Doch die Angst ließ seine Sinne erwachen …

Er konnte spüren, dass sich etwas Fremdartiges, abgrundtief Böses über seinen Rücken beugte. Grunzende Laute und ein übel riechender Atem ließen ihn erschaudern und lähmten seine Muskeln. Wie erstarrt gab er sich seinem scheinbar unabänderlichen Schicksal hin und wartete darauf, dass das Monster ihn packen würde, doch schließlich erwachte sein Überlebenswille, und er mobilisierte alle ihm verbliebenen Kräfte, um sich dem drohenden Angriff seines Verfolgers zu entziehen.

Ruckartig sprang er auf die Knie und setzte zur Flucht an, da schlangen sich mächtige, starke Klauen um seine Fußgelenke. Seine Beine schwenkten nach oben; er wurde bäuchlings weggezogen und war nicht mehr imstande, seinen Körper auf den Rücken zu drehen. Panisch griff er um sich, doch die feuchten, felsigen Wände boten keinen Halt, sodass die Haut an seinen Händen aufriss und seine dreckigen Fingernägel abbrachen. Sein Gesicht schlitterte über den steinigen Boden und zog eine verschlierte Blutspur hinter sich her. Das unbekannte Wesen schleifte ihn wie einen Kartoffelsack über den kalten Fels. Er schrie sich die Lunge aus dem Leib, doch niemand schien seine Hilferufe zu hören. Immer schneller bewegte sich das seltsam anmutende Gespann durch die verwinkelten Gänge des Bergwerkes, bis der Obdachlose verstummte.

Plötzlich veränderte sich der Untergrund.

Der Fremde zog ihn in einen gekachelten, hell erleuchteten Raum und legte seinen geschundenen Körper unsanft ab. Durch das Blut in seinen Augen blinzelte der zerlumpte Mann weißen Fliesen entgegen, in denen er ein quadratisches Muster zu erkennen glaubte, das ihm irgendwie bekannt vorkam.

Stöhnend drehte er sich auf die Seite.

Blut tropfte auf den Fußboden und floss in feinen Rinnsalen in einen verrosteten Abfluss, der sich in der Mitte des quadratischen Raumes befand. An der Decke flackerten Neonlampen. Der Boden war übersät mit Abfall, und aus den aufgeplatzten Fugen der Wandfliesen krabbelte allerlei Ungeziefer, das sich auf der Suche nach Nahrung im Raum verteilte.

Verschwommen sah er die rückwärtige Silhouette seines Peinigers. Der Mann stand an einem hölzernen Tisch an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Er schien etwas vorzubereiten. Dem Obdachlosen kam ein furchtbarer Verdacht.

Er hat dich nicht ohne Grund verfolgt.

Den verschiedenen Geräuschen nach zu urteilen baute er irgendetwas zusammen – oder war es vielleicht eine Demontage? Da waren metallische Laute zu hören, das Drehen eines Schraubenziehers, ein Klirren und Schaben, dann wieder so etwas wie das Knarren einer rostigen Schraube, die sich standhaft zu weigern schien, den vorgesehenen Platz einzunehmen.

Der Mann fluchte grunzend; sein schnaufender Atem ließ den Obdachlosen erschaudern.

Was will er mir antun? Woran arbeitet er dort?

Der Fremde trug ein pelziges Oberteil; die stark behaarten Beine waren nackt. Auf dem Hinterkopf sah er einen roten Schopf, der wirr in alle Richtungen abstand. Offensichtlich war das pelzige Wesen für längere Zeit beschäftigt, sodass sich der Obdachlose bemühte, auf die Füße zu kommen. Die Gelegenheit für eine Flucht schien günstig zu sein, doch seine Beine versagten, und als sich der Fremde zu ihm umdrehte, legte sich die Angst wie ein Kettenhemd um seinen misshandelten Leib.

Das Gesicht – nein, es war kein normales Gesicht, sondern vielmehr eine Fratze – grinste ihm unverhohlen entgegen. So, als wolle sie sagen: Du kommst hier nicht mehr lebend raus, du bist mein Gefangener und ich mache mit dir, was ich will.

Sein Antlitz war voll von Pockenbeulen, die Zähne verfault, schwarz und teilweise ausgefallen und in seinen Augen funkelte eine abgrundtiefe Bosheit, die dem Obdachlosen die Luft zum Atmen nahm.

Das Pockengesicht kam näher.

Mit hoch erhobenen Armen durchquerte er den Raum und zerquetschte dabei zahlreiche Insekten, die geschäftig seinen Weg kreuzten. In der Rechten blitzte die scharfe Klinge eines Teppichmessers auf, links hielt er eine Rolle Klebeband in der verkrüppelten, mit Pockennarben übersäten Hand.

»Der Innendekorateur ist wieder da!«, brüllte er, seine Stimme tief und verzerrt. Dann brach das Fratzengesicht in schallendes Gelächter aus. Er hielt sich den fettwanstigen Bauch, bog sich vor Lachen und spuckte währenddessen einen schleimigen Auswurf auf die Fliesen. Sein seltsamer Ausbruch war heftig und endete abrupt. Mit wenigen Schritten erreichte er den angstvoll zurückweichenden Obdachlosen, der die Hände schützend vor sich hielt. Er setzte sich auf die Brust des Mannes, drückte mit den Knien seine Arme auf den blutbesudelten Boden, dann beugte er sich grinsend zu ihm herab und schnitt mit dem Teppichmesser eine der Pockenbeulen auf, die sein abstoßendes Gesicht verunstalteten.

Eine eitrige, gelbrote Flüssigkeit tropfte auf den Obdachlosen herab.

»Findest du, dass ich hässlich bin?«, brüllte er dem am Boden liegenden entgegen.

»Bitte … nein … ich …«, krächzte der Obdachlose kraftlos und wandte sein Gesicht ab, um der eitrigen Flüssigkeit zu entgehen.

»Doch, findest du, hä. Stimmt doch, oder? Gib es ruhig zu«, fauchte das Pockengesicht geifernd. »Aber ich werde dich erlösen. Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du mich nicht mehr sehen müssen.« Erneut brach das pelzige Monster in schallendes Gelächter aus, das sich kurz darauf in einen röchelnden Hustenanfall verwandelte.

»Dann bist du noch viel hässlicher als ich, du elendiger Penner«, fügte er hustend hinzu.

Er legte das Klebeband neben sich ab, griff dem Obdachlosen in die Haare und zerrte seinen Kopf auf die Seite. Dann ergriff er das Ohr des Mannes, setzte das Teppichmesser direkt am Knorpel an und trennte die Ohrmuschel mit wenigen Schnitten ab.

Die erbärmlichen Schreie des Mannes interessierten ihn nicht. Nachdem er das abgetrennte Ohr neben dem Klebeband platziert hatte, zerrte er den Kopf des Mannes auf die andere Seite und wiederholte die Prozedur.

»Ohne Ohren siehst du gleich viel besser aus«, sagte das Fratzengesicht und schaute sich das dreckige Ohr des schreienden Mannes von allen Seiten prüfend an. Dann riss er ein Stück Klebeband ab, legte das Ohr auf ein Auge des Obdachlosen und befestigte es mit dem klebrigen Streifen. Er wiederholte den Vorgang, sodass die Augen des bedauernswerten Mannes mit seinen Ohren verklebt waren.

Kritisch überprüfte das Pockengesicht seine Arbeit. »Jetzt müssen wir nur noch so lange warten, bis dir die Dinger festgewachsen sind. Dann wirst du nie wieder etwas sehen. Nie wieder sehen … Nie wieder …«

Der Übergang kam ohne Vorwarnung. Wie immer katapultierte ihn der Andere aus den vielschichtigen Gefilden der Hölle heraus, ohne einen erkennbaren Grund hierfür durchblicken zu lassen. Keine Ankündigung, kein Dialog und natürlich auch keine abschließende Bewertung, um das Erlebte in irgendeiner Form einordnen zu können. Während er den Abstieg zulassen und kontrollieren konnte, unterlag der Mechanismus des Aufstiegs zurück in die reale Welt immer seinem Mitbewohner, der irgendwann – zumeist bereits nach wenigen Minuten – die Notbremse zog, um Schaden von seinem Wirt fernzuhalten. Schließlich waren beide aufeinander angewiesen.

Der Aufenthalt im Reich des Schreckens war immer auch mit Risiken verbunden, die in den Irrsinn führen konnten.

… oder in etwas, das noch viel schlimmer war.

Kriminaloberkommissar Daniel Brechter vom Landeskriminalamt Hamburg war überzeugt davon, dass es eine natürliche Erklärung für das Phänomen gab. Schließlich glaubte der fünfundvierzigjährige Sonderling, der mit Vorliebe blutige Horrorfilme konsumierte, nicht an so etwas Verrücktes wie Seelenwanderung, doch seitdem sich der ehemalige Terrorist und Serienmörder Wolfgang Möller in seinem Inneren eingenistet hatte, eröffneten sich völlig neue Möglichkeiten im Bereich der Verbrechensbekämpfung.

Es fühlte sich an wie eine … Bewusstseinserweiterung.

2.

Mittwoch, den 12. Juli 2017

H ildur Seilinger blickte in das faltige, mit Altersflecken übersäte Gesicht ihres Vorgesetzten, so als wollte sie sagen, Chef, sehe ich wirklich so aus, als wäre ich hier das Mädchen für Alles?

»Wieso ich?«, fragte sie kleinlaut, wohl wissend, dass ihr bisher nur wenige Sonderaufträge zugeteilt wurden, die sie von der eigentlichen Ermittlungsarbeit abhielten. »Johann hat bestimmt Kapazitäten und …«

Kriminaloberrat Otto Sänger, seit einem Jahr Leiter der Hamburger Mordkommission, beachtete sie nicht weiter, während er die Akte des neuen Kollegen aus Bremen überflog. Der Neue war kein unbeschriebenes Blatt. Sasha Huger, der sich im Nebenzimmer mit einigen Kollegen aus dem Alpha-Team unterhielt, hatte ein Versetzungsgesuch nach Hamburg geschrieben, da er in Bremen gemobbt wurde. Inoffiziell. Jedenfalls war seinen Andeutungen zu entnehmen, dass er mit den dortigen Vorgesetzten nicht besonders gut klargekommen war.

»Wer hier noch welche Kapazitäten hat, muss von oben, also von mir, beurteilt werden«, brummte Sänger überlaunig und schnitt Kriminalkommissarin Seilinger das Wort ab.

Hildur Seilinger, die ihren eignen Vornamen zum Kotzen fand, verdrehte die Augen.

»Kommen Sie mal mit«, sagte Sänger genervt und betrat den spartanisch eingerichteten Besprechungsraum, in dem sich neben Sasha Huger noch vier weitere Personen befanden, die innerhalb der Mordkommission eines von vier Teams bildeten.

Widerwillig folgte Seilinger ihm und setzte sich zu den anderen an einen der grauen Besprechungstische, die zu einem lockeren Kreis zusammengestellt waren.

Sänger hatte sich bereits am Vormittag ausgiebig mit Huger unterhalten; dementsprechend kurz fiel die Begrüßungsrede aus.

»Alle mal herhören«, sagte er bedeutungsschwer. »Ihr habt euch ja wohl schon bekannt gemacht. Herr Huger wird ab sofort hier seinen Dienst verrichten. Für Müller-Eckhard, der vorzeitig in den Ruhestand gegangen ist. Seid froh, dass wir so schnell Ersatz bekommen haben. Die Lage in der Stadt ist momentan außerordentlich schwierig, wie ihr ja wisst. Dieser Mord, der vermutlich mit Hilfe einer Drohne durchgeführt wurde, geistert durch alle Medien und beunruhigt die Führung. Bisher haben wir so gut wie keine Erkenntnisse in dieser Sache, insofern bitte ich um jegliche Unterstützung.« Sänger machte eine Pause, nahm die Brille ab, rieb sich die Augen und fuhr fort: »Also Herr Huger, ich stell Ihnen das Team noch mal vor. So viel Zeit muss sein. «

Während er redete, deutete er nacheinander auf die Teammitglieder. »Äh …, da haben wir Frida Birg, Louis Schäfer, Anette Berkun und Johann Pahlgruber.«

Sänger drehte sich um. »… und hier noch Hildur Seilinger, die die heutige Tour mit Ihnen absolvieren wird, Herr Huger. Der obligatorische Kram eben, den alle Neuen durchlaufen. Na ja, Sie kennen das ja wohl aus Bremen. Chipkartenstelle, Perso, Waffenkammer, Büromateriallager, Kantine und so weiter.«

Alle sahen ihn erwartungsvoll an, da Sänger seine kurze Rede so abrupt beendet hatte, doch der übergewichtige Brillenträger mit dem lichten Haaransatz und den buschigen Brauen starrte nur kurz auf den Boden und verschwand dann vor sich hin murmelnd in Richtung Flur.

»Ich muss dringend zur KTU«, rief er im Hinausgehen der Gruppe entgegen.

»Was ist denn mit dem los?«, fragte Huger grinsend, während er auf einem Kaugummi herumkaute.

»Da musst du dir nix bei denken«, kommentierte Anette Berkun Sängers flotten Abgang. »Der ist immer so. Aber du wirst schon noch merken, dass Sänger für seine Leute so ziemlich alles tun würde.« Sie drehte wie üblich mit einem Bleistift in ihren brünetten Locken herum, für deren Pflege sie eine Menge Geld ausgab. Ihr exquisiter Friseursalon lag in der Innenstadt und war fast so etwas wie eine zweite Heimat für die junge Kriminalkommissarin, die keinen Hehl daraus machte, dass ihr Frauen besser gefielen.

Johann Pahlgruber, der im Rollstuhl saß, bemerkte Seilingers schlechte Laune und bot sich als Ersatz an.

»Soll ich das machen, Hildur?«, fragte er.

Seilinger, die erst vor Kurzem ihren vierzigsten Geburtstag feuchtfröhlich gefeiert hatte, strich sich mit den Fingern durch die blonde Kurzhaarfrisur.

»Das ist lieb von dir, aber ich mach das schon«, antwortete sie dem erst 25-jährigen Angestellten im Innendienst, der bereits seit seiner Kindheit unter progressiver Muskeldystrophie litt. Die Erbkrankheit führte zu Muskelschwund, der in Schüben auftrat. Jeder hier wusste, dass Pahlgruber vermutlich irgendwann nicht mehr zum Dienst erscheinen würde. Momentan lebte der hagere Computerfreak in einer betreuten Wohngemeinschaft und arbeitete hart daran, seine Leistungsfähigkeit noch möglichst lange auf dem derzeitigen Level zu erhalten. Ein frustrierendes Unterfangen, dessen Sinnhaftigkeit er immer wieder in Frage stellte.

Da niemand etwas sagte, fühlte Huger sich genötigt, das peinliche Schweigen zu durchbrechen.

»Ich heiße übrigens Sasha und gebe dann morgen mal Frühstück aus«, sagte er und fügte augenzwinkernd hinzu: »Als Einstand. Ist das hier auch so üblich?«

Allgemeines Gemurmel, welches Huger als eine bescheidene Art der Zustimmung interpretierte.

Während Seilinger plötzlich aufstand und sich vor Huger aufbaute – mit einem Meter fünfundachtzig gehörte die alleinerziehende Mutter zu den Riesen unter den Frauen –, erhob dieser sich ebenfalls schnell aus dem Freischwinger und grinste breit. »Soll es losgehen?«

»Je eher haben wir es hinter uns«, murmelte Seilinger und musterte den Neuen genauer.

Sein Alter musste irgendwo in den Dreißigern liegen. Dunkelblonde kurze Haare, ein kantiges Gesicht, das gut zu seiner muskulösen Figur passte, und blaue Augen, die irgendwie zu funkeln schienen. Er trug Jeans mit einem schmalen Ledergürtel, dazu ein dezentes hellgraues Hemd und – Seilinger war überrascht – ein edles Paar braune Lederschuhe, die spitz nach vorne zuliefen.

Hugers positive Ausstrahlung und sein passables Äußeres gefielen ihr, obgleich die Seilinger nach mehreren unsteten Beziehungen eigentlich die Nase voll hatte von Männern – zumindest momentan.

Huger schien einen sechsten Sinn zu haben. Kaum hatten sie die erste Location ihrer Exkursion hinter sich gebracht, begab er sich in den Flirt-Modus, um Seilingers Vorsätze zu testen.

»Ich möchte mich hierfür revanchieren«, sagte er beiläufig. »Ich lade dich morgen Abend zum Essen ein. Da ich mich in der Stadt noch nicht auskenne, bestimmst du, wohin es gehen soll. Einverstanden?«

So ein Mist, dachte Seilinger überrascht. Eigentlich wolltest du doch nicht schon wieder …

»Hmm … ich weiß gar nicht …« Sie überlegte einen Moment. Huger war in etwa so groß wie sie, insofern würde es passen. Mit einem kleineren Mann an der Seite fühlte sie sich zumeist irgendwie deplatziert.

»Allerdings …, ach, warum eigentlich nicht? Also gut, wir gehen aber in das neue Restaurant in der Hafencity.«

»Okay, klingt gut.«

»Kein billiger Laden!«

Huger spielte nervös mit seinem Schlüsselbund. »Kein Problem, schöne Frau. Als Single hab ich einige Ersparnisse angehäuft. Außerdem dann noch die Drogengeschäfte, die so ganz nebenbei …«

Seilinger lachte laut auf. »Na klar, und bei den Nutten kassierst du wahrscheinlich auch noch ab, nicht wahr?«

»Woher weißt du …?«

»Bevor du mir jetzt noch von deinen Geheimagentenaktivitäten erzählst, brauche ich erst einmal einen Kaffee. Nächster Halt: die Kantine.«

»Einverstanden. Geht auf meine Rechnung.«

Dreißig Minuten später.

Huger ließ sich lobend über die Qualität des Kaffees aus, während sie die Kantine verließen und erneut den Fahrstuhl aufsuchten. Auf dem Weg zur Chipkartenausgabe, die sich im vierten Stock befand, blieb der ehemalige Bremer Polizeibeamte plötzlich mitten auf dem Flur stehen. Der breite Gang innerhalb des zentralen Rundbaus verlief kreisförmig und führte an zahlreichen Büros vorbei, deren Türen hier und da offen standen.

Huger hätte sich fast den Hals verrenkt, als er im Vorbeigehen einen rothaarigen Brillenträger mit zahlreichen Sommersprossen bemerkte. Ihm fiel auf, dass der Mann mit dem altmodischen grünen Sakko mit geschlossenen Augen hinter seinem Schreibtisch saß und offenbar nichts weiter tat, als vor sich hin zu sinnieren.

Seilinger, die bereits einige Schritte vorausgegangen war, drehte sich um und stemmte die Hände in die Hüften. »Worauf wartest du? Wir haben noch ein paar Stationen auf dem Zettel.«

»Ist das