Der Schatten von Apophis - Gerald Gräf - E-Book

Der Schatten von Apophis E-Book

Gerald Gräf

4,6

Beschreibung

Während in Deutschland eine kleine Gruppe der FREOLEN – einer von Altersarmut geprägten Aussteigerbewegung – in einem verlassenen Bergwerk um das nackte Überleben kämpft, bricht an anderen Orten auf der Welt ein gnadenloser Kampf um ein Laser-Signal aus, in dem sich eine mysteriöse Botschaft zu verbergen scheint. Etwas Gewaltiges bedroht die Erde, und nur durch ein gewagtes Experiment könnte es gelingen, der globalen Vernichtung zu entgehen. Der Schlüssel hierzu befindet sich in dem Signal, dessen Existenz auch eine religiöse Ordensgemeinschaft in Aufruhr versetzt. Getrieben von seinen Visionen begibt sich Gerrit Berger auf die Suche nach dem geheimnisvollen »Netzflicker«, denn in seinen Träumen muss er erkennen, dass allein der alte, rätselhafte Mann eine Antwort auf die entscheidenden Fragen der Zukunft geben könnte. »DER SCHATTEN VON APOPHIS« ist ein Mystery-Science-Fiction-Thriller mit sozialkritischem Hintergrund - spannend und eigenwillig.

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INHALTSVERZEICHNIS

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

FÜNFZEHN

SECHZEHN

SIEBZEHN

ACHTZEHN

NEUNZEHN

ZWANZIG

EINUNDZWANZIG

ZWEIUNDZWANZIG

DREIUNDZWANZIG

VIERUNDZWANZIG

FÜNFUNDZWANZIG

SECHSUNDZWANZIG

SIEBENUNDZWANZIG

ACHTUNDZWANZIG

NEUNUNDZWANZIG

DREIßIG

EINUNDDREIßIG

ZWEIUNDDREIßIG

DREIUNDDREIßIG

VIERUNDDREIßIG

FÜNFUNDDREIßIG

SECHSUNDDREIßIG

SIEBENUNDDREIßIG

ACHTUNDDREIßIG

NEUNUNDDREIßIG

VIERZIG

EINUNDVIERZIG

ZWEIUNDVIERZIG

DREIUNDVIERZIG

VIERUNDVIERZIG

FÜNFUNDVIERZIG

SECHSUNDVIERZIG

SIEBENUNDVIERZIG

ACHTUNDVIERZIG

NEUNUNDVIERZIG

FÜNFZIG

EINUNDFÜNFZIG

ZWEIUNDFÜNFZIG

DREIUNDFÜNFZIG

VIERUNDFÜNFZIG

FÜNFUNDFÜNFZIG

SECHSUNDFÜNFZIG

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NEUNUNDFÜNFZIG

SECHZIG

EINUNDSECHZIG

ZWEIUNDSECHZIG

DREIUNDSECHZIG

VIERUNDSECHZIG

FÜNFUNDSECHZIG

SECHSUNDSECHZIG

Es gab Tage, an denen sich eine unbeschreibliche Angst in ihm ausbreitete. Nachdem er endlich Zuflucht bei den Freolen gefunden hatte, war die Hoffnung in ihm aufgekeimt, dass die Visionen verschwinden würden, doch nichts dergleichen geschah. Sie verfolgten ihn immer noch. Er sah diesen monströsen, dunklen Unheilsbringer durch die unendliche Schwärze des Raumes taumeln und ahnte, dass er unsagbares Leid über die Menschheit bringen könnte.

Er sah ihn und erschauderte…

EINS

August 2015, Deutschland, Ortschaft bei Hamburg.

D ie mich umgebende Realität verflüchtigte sich. Einer Nebelmaschine gleich, die, wie in einem rückwärts laufenden Film, den zuvor freigesetzten Dampf rückstandslos wieder in sich hinein sog. Ich schüttelte den Kopf, rieb mir die Augen und rückte näher an das Feuer heran, um mich zu wärmen. Funken flogen gegen meine Hose, und während ich zum wiederholten Male zur bereits halb leeren Flasche griff und noch etwas von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit in mein Glas gleiten ließ, rannte Benny los. Pfeilschnell und hoch konzentriert. Der mit einem Gewicht von 35kg eher behäbig aussehende Rüde entwickelte hierbei ein erstaunliches Reaktions potenzial. Eben noch lag er träge herum, im nächsten Moment jagte er in geschmeidigen Bewegungen kraftvoll hinter einem kleinen, schemenhaften Schatten her, der da im Halbdunkeln der hereinbrechenden Dämmerung durch unseren Garten um sein Leben lief.

»Bennyiiiiii!«

Ingas Stimme überschlug sich fast. Ihr Blick fiel zuerst auf ihre leeren Hände, in denen sie eben noch die Hundeleine hielt, und dann – mehr oder weniger orientierungslos – suchend auf die große, frisch gemähte Rasenfläche. Die Leine um Bennys Hals hüpfte herrenlos hinter ihm her und gab dem Betrachter auf diese Weise einen Anhaltspunkt über Position und eingeschlagene Richtung der tierischen Jagdgesellschaft. Verblüfft bemerkte Inga nach kurzer konzentrierter Inaugenscheinnahme das hetzende Duo auf der dunkel grünlich schimmernden Rasenfläche.

»Benny… komm sofort zurück!«, rief sie mit energischem Tonfall in die aufkommende Schwärze hinein.

Das Feuer in unserer Nähe loderte knisternd auf. Die Wärme war angenehm, vertraut ursprünglich. Der Golden Retriever hatte ausgezeichnete Ohren, schien sie aber nicht zu hören. Oder er wollte nicht. Die anderen Gäste blieben gelassen sitzen, aßen Würstchen vom Grill, tranken Wein oder Bier und unterhielten sich mit leisen Stimmen. Die Katze war viel zu schnell für Benny und verschwand nach kurzer Verfolgungsjagd in der dichten Hecke, die den Garten zum Nachbargrundstück abgrenzte. Der Dicke – so nannte ich den sechsjährigen Vierbeiner hin und wieder, obwohl er eigentlich gar nicht dick war – hätte ihr sowieso nichts angetan. Er konnte keiner Fliege etwas zuleide tun und ordnete solche Vorkommnisse unter »spielen mit sich bewegenden Objekten« ein.

Etwas unsicher erhob ich mich aus dem alten, bereits unansehnlichen, weiß-gräulichen Plastik-Gartenstuhl und holte Benny, der jetzt unschlüssig und enttäuscht vor der hohen Hecke herumlungerte, zu unserer kleinen, geselligen Gruppe zurück, die sich um den Feuerkorb aus massivem Gusseisen zusammengefunden hatte. Inga befestigte die Leine nun doch lieber an einem Ast.

»Falls hier noch mehr Katzen auftauchen, Gerrit«, sagte sie mit besorgter Miene zu mir.

Die Dunkelheit hatte jetzt das ewige Spiel zwischen Tag und Nacht fast gewonnen, und im Feuerkorb knisterten und züngelten die wärmenden Flammen dem Mondlicht entgegen. Ich legte noch einige Holzscheite nach. Der Vorrat an Brennmaterial würde noch für Stunden reichen. Ein Zirpen, ein insektenhaftes Brummen erfüllte geheimnisvoll die Augustwarme Abendluft, und immer wieder durchkreuzten kleine, dunkelgraue Fledermäuse in halsbrecherischen Flugmanövern schemenhaft unser Blickfeld.

Wir saßen im hinteren Bereich des Gartens, der dort – abgesehen von den beiden Nachbargrundstücken – nur noch von einer großen Graswiese begrenzt wurde. Hier störten wir niemanden. Mehrere große Fichten und eine riesige alte Birke flankierten uns in ihrer unbeweglichen Unerschütterlichkeit und vermittelten ein Gefühl der Geborgenheit.

Die Gruppe war klein.

Neben mir selbst meine drei erwachsenen Kinder und wenige enge Freunde. Die beiden Töchter, Alexandra und Beatrix, waren schon über zwanzig, mein Sohn Darius knapp darunter. Wir wollten reden, das Unfassbare irgendwie verarbeiten. Das Alleinsein war unerträglich, in der Gruppe stützten wir uns gegenseitig. Der Kreis um das Feuer herum war ein Trauerkreis, eine Zusammenkunft leidender Seelen.

Vor drei Monaten war meine Frau Gilda gestorben. Die Frau, mit der ich dreißig Jahre meines Lebens verbracht hatte, die Mutter meiner drei Kinder. Jeder trauerte nun auf seine Weise: Ich, die Kinder, unsere Freunde. War das alles wirklich passiert? Ich stand wie unter Schock und hatte den Bezug zur Realität verloren. Ich hatte keinen Halt mehr, alles schien verschwommen, bleiern und sinnlos.

Erneut füllte ich mein Glas mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, die so heiß wie das Feuer der Hölle in meiner Kehle brannte. Meine Seele wollte sich betäuben, der grausamen Realität entfliehen. Auch der Whiskey brachte keine Erlösung, ich wusste das, aber ich ließ mich treiben. Wir redeten, erinnerten uns, stellten Fragen, waren ratlos, verunsichert und ohne Vorstellung über die Zukunft, die jetzt wie ein öder Landstrich vor uns lag, dessen grenzenlose Leere jeden Reisenden zur Bewegungslosigkeit verführte.

Warum wir?

Der Alkohol weckte wieder den Zyniker in mir. Wäre ich nur halb so stark wie Gilda, hätte ich meine leidvolle Verzweiflung überwunden und nicht im Alkohol ertränkt. Doch ich war kraftlos, mürbe und ohne jegliche Energie, obgleich mich ein seltsames Gefühl der Zweisamkeit überkam. So, als wäre sie noch in meinem Kopf. Ein Abbild, eine Signatur ihrer Seele, die Summe unserer Erinnerungen? Ich war zu berauscht, um darüber nachzudenken, doch irgendetwas in meinem vernebelten Geist gab mir die Gewissheit, dass es so etwas wie einen Kontakt zwischen uns gab.

Benny schaute mich mit seinen treuen Hundeaugen verständnisvoll an. Es schien fast, als würde er meine tragische Geschichte kennen. Stark angeschlagen stand ich auf und kippte den Inhalt eines vollen Whiskeyglases in das lodernde Feuer, das sich jetzt im Feuerkorb zu voller, gelbroter Pracht entwickelt hatte. Die Stichflamme war gut einen Meter hoch; es zischte, qualmte und roch irgendwie süffig nach Alkohol, Holzkohle und einer Essenz aus Tannennadeln und Baumrinde. Die anderen Gäste wussten nicht so recht, wie sie mein Verhalten einordnen sollten.

»Pass auf, dass du hier nicht alles abfackelst, Gerrit!« Alex schenkte sich noch etwas von dem lieblichen Wein ein, den er und seine Frau Elisabeth selbst mitgebracht hatten, hob die Augenbrauen und fügte gedankenvoll an, dass es doch wohl eigentlich etwas schade um den guten, teuren Whiskey wäre.

»Vielleicht sollten wir jetzt besser gehen«, sagte Elisabeth und leerte ihr Glas in einem Zuge. »Es ist spät geworden und wir sind doch alle ziemlich erschöpft.«

Ich sah die beiden bereits in doppelter Ausführung und antwortete unter größter Konzentration. »Was soll’s, ich hab sowieso keinen Durst mehr!«

Meine Worte klangen gedehnt, manche Laute verschluckte ich stotternd und meine Stimme schien nicht von mir selbst zu stammen. Beatrix schaute mich prüfend an. Ich war definitiv betrunken und musste mich dringend zurückziehen – eine unumstößliche Tatsache, die ich selbst gedanklich gerade noch so realisieren konnte. Ohne einen weiteren Kommentar setzte ich mich hastig in Bewegung und torkelte unsicher über den Rasen zum Haus hinauf. Besorgte Stimmen ereilten mich. »Alles okay, Daddy?«

Nein, nichts war okay!

Beatrix kam hinter mir her gelaufen und verfolgte mich beunruhigt bis ins Schlafzimmer hinein, das mich inzwischen jeden Abend mit einer leeren, geräuschlosen Einsamkeit begrüßte. Der Alkohol entfaltete jetzt seine volle Wirkung. Orientierungslos bekam ich irgendwie die Hose ausgezogen und fiel dann bäuchlings – mich der Schwerkraft völlig hingebend – auf das Bett. Ein Weinanfall überkam mich, es war wie eine Explosion der Gefühle, hemmungslos und laut. Ich weinte mich in den befreienden Schlaf und verstummte nur langsam. Beatrix blieb noch eine Weile bei mir sitzen und wartete, bis ich endgültig eingeschlafen war. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren und sehnte die alles verschlingende Schwärze herbei, doch dann geschah etwas Seltsames, von dem Beatrix nichts zu bemerken schien.

Die Realitäten verschoben sich, ich sah Nebelbänke und aufkommende Dunkelheit. Der Nebel verdichtete sich, schwarze Wolken türmten sich in endloser Weite um mich auf. Ich wollte träumen, verdrängen und vergessen, doch die Bilder in meinem Kopf drängten sich mir in einer berauschenden Vollkommenheit auf, neben der die Realität wie eine zweitklassige Holografie verblasste. Ich sah futuristische Städte im Nebel, riesige Komplexe aus Glas und Stahl, auf deren Dächern parkähnliche Gärten angelegt waren. Geräuschlos glitten silberne Fluggeräte so langsam durch die Lüfte, dass man das Gefühl hatte, sie müssten eigentlich auf der Stelle wie ein Stein vom Himmel fallen. Genetisch optimierte Menschen bewegten sich graziös und geschäftig zwischen den Gebäuden hin und her. War das die Stadt der Zukunft, die mir hier im traumverhangenen Übergang zum Schlaf begegnete?

Dichter Nebel verschleierte mir erneut die Sicht, und die silberne Stadt verlor an Schärfe. Die Konturen verschwommen und wurden fast transparent. Die Schwärze gewann wieder an Substanz, und ich versank allmählich in den süßen, kleinen Bruder des Todes. Doch dann, kurz bevor ich endgültig eintauchte, sah ich eine Szene aus meinem Leben, von der ich nicht wusste, ob sie jemals stattfinden würde. Es schien, als ob sich mir eine Realität offenbarte, die in der Zukunft lag – oder zumindest in einer möglichen Variante zukünftiger Ereignisse.

Ich sah mich selbst – Gerrit Berger – als alten Mann. Meine Frau war tot, doch in dieser Vision – oder war es vielleicht das Abbild einer wahrscheinlichen Wirklichkeit – lebte Gilda noch. Wir waren beide ein altes, aber rüstiges Ehepaar, das emsig den Garten hinter dem Haus bestellte, um sich an wohlschmeckenden Früchten und wunderschönen Blüten zu erfreuen. Ich sah ein schattiges Plätzchen mit einer kleinen Holzbank, auf der wir uns nach vollendeter Gartenarbeit ausruhen konnten. Gleich neben der Bank wuchsen Bananen, Orchideen und tropische Palmgewächse. Ich ging in das Haus, um eine Tasse Tee für Gilda und mich zu kochen. Im Flur hing ein großer, farbiger Kalender mit beeindruckenden Landschaftsfotografien. Wälder und Wüsten, Flüsse, das Meer, der Dschungel, die Berge und stimmungsvolle, farbenprächtige Sonnenuntergänge waren darauf zu sehen. Es war Dienstag, der 30.09.2031.

ZWEI

Oktober 2031, Deutschland, Ortschaft bei Hamburg.

Es war neu, elegant, hochwertig, modern und…

»Es kratzt.«

»Was?«

»Das neue Hemd. Es kratzt irgendwie.«

Ich versuchte mühsam, mit der rechten Hand an die Stelle am Rücken zu kommen, die an sich mehr oder weniger unerreichbar war, und schaute mich nach einem geeigneten Hilfsmittel um, welches ich zum Kratzen einsetzen könnte.

»Stell dich nicht so an. Immerhin wolltest du doch auch, dass dein Blutdruck kontrolliert wird, oder? Das ist alles nur Einbildung«, sagte Gilda etwas gereizt.

Ich grinste leicht und gestikulierte bedeutungsvoll mit den Armen in der Luft herum. »Das ist keine Einbildung, diese Biosensoren im Hemd kratzen tatsächlich. Das Produkt ist noch nicht ausgereift.«

»Du bist doch sonst immer so für den technischen Fortschritt.«

»Aber nicht, wenn er kratzt.«

»Dann zieh dir doch ein T-Shirt drunter.«

Ich schüttelte den Kopf und antwortete sachlich: »Erstens funktionieren die Sensoren so nicht mehr korrekt und zweitens ist mir dann zu warm.«

»Na dann eben nicht.« Für Gilda war die Sache hiermit erledigt; ich hingegen fing an, mich zu ärgern, da ich wieder einmal nicht bedacht hatte, dass der technische Fortschritt zumeist auch mit diversen Unannehmlichkeiten verbunden war. Ein Oberhemd mit eingewebten Biosensoren, die meinen Blutdruck überwachen sollten! Angeblich die medizinische Innovation des Jahres. Alles nur Theorie, in der Praxis liegt der Teufel im Detail. Der Fortschritt kann auch nerven!

Schöne neue TEC-Welt! Die TEC-Technologie, die sich seit einigen Jahren endgültig durchgesetzt hatte, erlaubte in jeglicher Hinsicht eine weitaus schnellere Übertragung und Verarbeitung der Daten, als dies mit den alten Systemen bisher möglich gewesen war. TEC stand für Technical-Electronic-Light und basierte auf dem Prinzip der Informationsverarbeitung mittels Laser-Licht. Die neuartigen Licht-Computer konnten hundertmal schneller arbeiten als die herkömmlichen PCs; ihre Erfindung eröffnete eine Vielzahl neuer, innovativer Möglichkeiten.

Während ich unschlüssig vor dem Kleiderschrank stand, begann Gilda, ihre Haare zu föhnen. Wir waren jetzt Mitte siebzig, hatten aber immer noch eine ansehnliche volle Haarpracht. Die kurzgehaltenen blonden Locken und ihre weißlich helle Haut passten recht gut zu der schlanken Figur von Gilda und verliehen ihr etwas von einer altgriechischen Büste. Mein Haar hatte die Farbe eines…, ja was denn eigentlich? Schwer zu beschreiben. Ich würde behaupten – straßenköterfarbig. Im Prinzip hatte ich mit Überschreitung des dreißigsten Lebensjahres mit einer Glatze oder zumindest einer Teilglatze gerechnet, da die gefürchteten Geheimratsecken sich immer weiter nach oben arbeiteten. Doch Fehlanzeige. Irgendwann blieb der Status quo erhalten, es fielen keine weiteren Haare mehr aus, und ich konnte bis zum heutigen Tage meine füllige, bis über die Ohren liegende Matte hegen und pflegen.

Das Dröhnen aus dem Badezimmer schien kein Ende zu nehmen. Komisch, dass noch niemand einen geräuschlosen Föhn erfunden hatte, sinnierte ich spontan. Vielleicht eine Marktlücke. Ich musste zu gegebener Zeit darüber nachdenken, doch insgeheim wusste ich genau, dass es mir als pensionierten Bürokraten wohl kaum gelingen würde, eine neue technische Innovation auf den Markt zu bringen, zumal wir so gut wie kein Geld für irgendwelche Investitionen auf dem Konto hatten. Allerdings: So ging es vielen. Das Angebot an Konsumgütern war riesig, doch immer mehr Bundesbürger waren pleite – oder zumindest fast pleite. Man wurschtelte sich so durch, nahm Kredite auf oder frönte dem Minimalismus.

Wir gehörten zu denjenigen, die etwas über denen standen, die sich so durchwurschtelten. Auf einen der neuen Elektrowagen oder die neueste Generation an Folien-Bildschirmen mussten wir hingegen ebenso verzichten wie auf einen der zahlreichen Erlebnisurlaube für fitte Rentner. Der uralte Kombi mit dem nicht mehr zeitgemäßen Verbrennungsmotor würde eben noch eine Weile durchhalten müssen.

Das Telefon klingelte. Ich ging hin und nahm mit der Rechten den Hörer, während ich mit der Linken weiterhin verzweifelt versuchte, mich dort zu kratzen, wo die Haut auf das verflixte Hemd reagierte. Leider schien der Juckreiz zu wandern, es ließ sich keine verlässliche Stelle lokalisieren – ich kratzte mal hier und mal dort.

»Ja, Berger.«

»Hallo Gerrit, hier ist Elisabeth.«

»Elisabeth! Wie geht’s euch? Was gibt’s Neues?«

»Wir wollen morgen die Übertragung schauen. Wollt ihr vorbeikommen und mitgucken?« Und sofort fügte sie hinzu: »Inga und ihr Freund kommen auch.«

»Die Marsmission?« fragte ich.

»Genau. Für so was hast du dich doch früher immer sehr interessiert.«

Ich überlegte. Die erste bemannte Marsmission: Eigentlich ein Knüller. Schon seit Monaten fieberte die ganze Welt dem Tag der Landung entgegen, der nach einigen Verzögerungen für den morgigen Tag geplant war. Ein chinesisches Projekt, das für viel Aufsehen gesorgt hatte, da China einen Großteil der Vorbereitungen hinter verschlossenen Türen durchführen ließ. Plötzlich startete die Rakete; 220 Tage sind seitdem vergangen.

Der erste Astronaut auf dem Mars – was für ein Meilenstein für die Menschheit. Es stimmte, früher war ich ein geradezu fanatischer Science-Fiktion-Fan gewesen, doch jetzt, wo mir meine eigene Endlichkeit zunehmend bewusst wurde, hatte ich das Gefühl, dem Fortschritt nicht mehr folgen zu können. Oder vielleicht wollte ich auch nicht; es war ein irgendwie nicht einzuordnendes, fremdartiges Gefühl, über das ich mich selbst zunehmend empörte. Gilda zeigte seit jeher wenig Interesse für derart spektakuläre Ereignisse, doch ich wusste, dass sie mir zuliebe mitkommen würde.

»Ja, du hast Recht«, sagte ich zögerlich.

»Ihr kommt also?«

»Na klar. Sollen wir was mitbringen? Ich hab noch ein paar Silvesterraketen im Keller und dann…«

»Ein, zwei Flaschen Wein würden reichen, Gerrit. Wir treffen uns um 19 Uhr.«

»Ja, in Ordnung. Bis dann.«

»Bis morgen. Und grüß Gilda von mir.«

Während ich den Hörer auflegte, fragte Gilda: »Wer war das?« Ihre Stimme klang anders als sonst. Vielleicht eine akustische Täuschung, da sie den Fön jetzt abgeschaltet hatte?

»Elisabeth«, sagte ich, »sie haben uns für morgen Abend eingeladen.«

»Ach, ist da was Besonderes?«

»Na die Marsmission. Morgen landen die Chinesen, und alle sitzen vor dem Bildschirm. Die Sensation dieses Jahrhunderts.«

»Ach ja, hatte ich fast vergessen! Gehen wir hin?«

»Ich hab zugesagt.«

»Heute ins Kino, morgen zur Marsmission: Da haben wir ja ein volles Programm.«

Ich schwieg einen Augenblick, dann sagte ich: »Wir gehören doch zu den fitten Rentnern, da kann man schon mal an zwei Tagen hintereinander…«

»Oh, ja, ja, zweifellos, mir macht das nichts aus«, sagte Gilda lachend. »Wann fängt der Film denn an?«

»Du siehst fast aus wie Marsha Hunt«, sagte ich grinsend, als sie aus dem Badezimmer herauskam.

Gilda kniff die Augen zusammen. »Wer ist Marsha Hunt?«

»Eine Sängerin… Afrolook… ach, vergiss es.«

»Und wann fängt der Film nun an?«

»20:30 Uhr, aber das Hemd ziehe ich aus, es nervt.«

»Zieh an, was du möchtest«, sagte Gilda, »Hauptsache, wir kommen nicht wieder zu spät ins Kino.«

Bereits seit Längerem hatten wir den heutigen Besuch im 3D-Realismus-Kino geplant. Ein Erlebnis der besonderen Art, da der Zuschauersaal mittels dreidimensionaler, digitaler Holografien in das Filmgeschehen, das sich ebenfalls dreidimensional auf der Leinwand vor den Zuschauern abspielte, direkt mit eingebunden war. Regnete es im Film, regnete es auch im Saal. Da es sich bei dieser Art der Feuchtigkeit um holografisch simulierten Regen handelte, wurde man glücklicherweise dabei aber nicht nass. Noch nicht. Der Film war brandaktuell und handelte von einer Gruppe Freier Kolonisten, die sich seit Kurzem in den Null-Zonen zwischen den Ballungszentren in den Wäldern etablierten. Im allgemeinen Sprachgebrauch hatte sich für die Gruppierung der Freien Kolonisten der Kurzbegriff Freolen bei der Bevölkerung durchgesetzt. Die beiden englischen Wörter free und old bildeten hierbei das Konstrukt, woraus sich der Name Freolen ableitete. Die Bezeichnung Freie Kolonisten war den meisten zu lang und zu umständlich. Ein einfacher, einprägsamer Begriff musste her, und die Geburtsstunde der Freolen wurde eingeläutet. Die Story des Films hatte einen realen und hoch brisanten Hintergrund, denn die sogenannten Freolen gab es tatsächlich.

DREI

Juni 2031, Deutschland, Null-Zone bei Berlin.

Frank Bollert war froh, jetzt bei den Freien Kolonisten zu sein. Das jahrelange Leben auf der Platte in der Großstadt hatte ihn gezeichnet. Misstrauen beherrschte seine Gefühlslage, der Alkohol und die Einsamkeit waren seine besten und auch seine einzigen Freunde gewesen. Mit dem Trinken hatte ohnehin alles angefangen. Fast zwanzig Jahre lang hatte er so gut wie jeden Tag seine flüssige Dosis benötigt, andernfalls hätte er die ihm auferlegten Ziele im Büro nicht mehr erfüllen können. Doch eines Tages funktionierte auch diese – überaus fragwürdige – Methode nicht mehr, und die Probleme nahmen ihren Lauf. Gesundheitlich ging es mit Frank schnell bergab; der Alkohol verrichtete ganze Arbeit. Nachdem er den Job verloren hatte, trennte sich Johanna von ihm. Ein unzuverlässiger, notorisch lügender Alkoholiker, noch dazu arbeitslos und ohne nennenswerte Perspektive, war nicht der Partner fürs Leben, den sie sich vorgestellt hatte.

Frank landete buchstäblich in der Gosse der Großstadt und schlug sich von Jahr zu Jahr mehr oder weniger schlecht durch ein unstetes Leben als Obdachloser. Das jahrelange Trinken hatte ihn gezeichnet. Der Körper war aufgedunsen, seine Hände zitterten, und aus den Poren seines Körpers schien der Alkohol bereits herauszusickern.

Trotz der vollen schwarzen Haare sah der ehemalige Großhandelskaufmann älter aus, als er eigentlich war. Das Gesicht des Fünfundfünfzigjährigen war durchzogen von auffallend vielen Falten und Furchen, die ihm andererseits auch einen interessanten, markanten Ausdruck verliehen.

Umso bemerkenswerter war die Wandlung, die sich plötzlich vollzog. Er wollte raus aus dem Sumpf der Großstadt, er wollte mit dem Trinken aufhören und ein Leben ohne Ängste führen. Die Vorstellung, dass er seinen letzten, alkoholgeschwängerten Atemzug vollgekotzt in irgendeiner Gosse tätigen würde, versetzte ihn in Panik. Er mobilisierte all seine ihm noch verbliebenen Kräfte und schaffte es eines Tages tatsächlich auszusteigen. Er war jetzt bereits seit über einem Jahr trocken und hatte Anschluss bei den Freolen gefunden. Die Gruppe gab ihm ein Gefühl der Sicherheit; er konnte angstfrei durchatmen und Pläne für die Zukunft schmieden.

»Hilf mir hier doch mal mit der Plane, Frank«, rief ihm einer der Rudelführer zu.

»Na klar, ich komme gleich.«

Er half Walter bei der Befestigung der Plastikplane, die zum Auffangen von Regenwasser dienen sollte. Walter Reguleit war einer der fünf Rudelführer. Meistens waren es vier oder fünf, das Geschlecht spielte hierbei keine Rolle, es waren auch Frauen dabei. Obwohl das Schicksal ihm übel mitgespielt hatte, besaß der neunundsechzigjährige Reguleit eine fast absonderlich frische Ausstrahlung, die durch das wellige, mittellange, blonde Haar noch unterstrichen wurde. Sie mühten sich ab mit der großen Plane, die störrisch und unkontrolliert im Wind flatterte, der auf einmal anschwoll und die Kronen der Bäume in ein melodisches Rauschen versetzte.

»Halte du mal hier, ich gehe auf die andere Seite«, sagte Walter genervt.

»Wo ist denn die A-Gruppe, es sieht so einsam und verlassen hier aus?« Frank war etwas irritiert, dass niemand da war, der ihnen mit der Plane zur Hand gehen konnte.

»Die sind alle unterwegs«, antwortete Walter. »Jürgen und Heiner sind zum Baumarkt gefahren, um Camping-Gas zu kaufen. Manni, Elke und Julia organisieren Lebensmittel bei der städtischen Tafel und Medikamente für die Kranken. Ach ja, und Franziska ist anschaffen.«

»Anschaffen? Ist sie dafür nicht etwas zu alt?«, fragte Frank verunsichert.

Walter bog sich vor Lachen und ließ die Plane um ein Haar wieder los. »Mensch, Frank, das war ein Scherz. Verdammt, diese blöde Plane scheint ein Eigenleben zu haben.«

Nicht nur der Wind erschwerte ihm die Arbeit, seine rechte Hand bereitete ihm schon seit Längerem Probleme. Von den fünf Fingern konnte er nur noch zwei kontrolliert bewegen, die restlichen waren mehr oder weniger steif. Aus diesem Grund verlor er damals seinen Job. Nach weiteren Schicksalsschlägen war der soziale Abstieg auch bei Walter nicht mehr aufzuhalten, und irgendwann landete er bei den Freien Kolonisten.

Diese Gruppierungen bestanden hauptsächlich aus gestrandeten Obdachlosen, die sich zu sogenannten »Rudeln« organisierten. Solche Rudel, die aus 40 bis 50 Mitgliedern bestanden, gab es mittlerweile viele in Deutschland. Keiner kannte die genaue Zahl, doch nachdem die Behörden ersten Schätzungen zufolge seriöse Zahlen veröffentlicht hatten, war das Erstaunen groß. Um die 2000 Gruppierungen, die sich im ganzen Land verteilt hatten, wurden lokalisiert.

Und die Zahl wuchs stetig an. Die meisten der Mitglieder waren über 50 Jahre alt. Frauen waren hierbei leicht in der Unterzahl, aber dafür noch engagierter, was die Einhaltung der Regeln betraf. Und alle waren verbunden durch ein sich ähnelndes Schicksal, sie waren ohne Ausnahme seit Kurzem oder bereits seit längerer Zeit obdachlos. Sie waren die Verlierer dieser Gesellschaft. Die Alten, die keiner mehr wollte. Ständig auf der Suche nach einer Bleibe und immer am Rande des Existenzminimums.

Nach dem Beinahe-Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme und der damit verbundenen Deckelung der gesetzlichen Rentenleistungen war es zu einer beispiellosen Altersarmut in der Republik gekommen, die in alle Bereiche der Gesellschaft hineinreichte. Auch andere staatliche Leistungen und sogar die Pensionen im öffentlichen Dienst mussten drastisch gekürzt werden. Eine Grundsicherung nach altem Modell, bei der auch die Kosten für die eigene Wohnung vom Staat übernommen wurden, war unfinanzierbar geworden. Die Mittelschicht brach weg, stellenweise explodierten die Lebenshaltungskosten, und das Freihandelabkommen mit den USA erwies sich als reines Machtkonstrukt der global agierenden Konzerne.

Die öffentlichen Haushalte ächzten unter der Last. Insbesondere die Pflegekosten für die fast vier Millionen Pflegebedürftigen allein in Deutschland liefen völlig aus dem Ruder. Durch den demografischen Wandel hatte deren Zahl über die Jahre kontinuierlich zugenommen und lag im Jahr 2031 bei über fünf Prozent der Gesamtbevölkerung. Doch nicht nur in Deutschland, weltweit wurden immer mehr Menschen in den finanziellen Ruin getrieben, da sie medizinisch notwendige Behandlungen nicht mehr bezahlen konnten. Die Zwei- oder auch Drei-Klassen-Medizin war längst zur Realität geworden.

Zahlreiche Probleme mit dramatischen Folgen, die selbst eine sozial orientierte grüne Regierung, die momentan in Deutschland an der Macht war, nicht in den Griff zu bekommen schien. Etliche Rentner rutschten in die Armutsfalle. Sie konnten die Miete für ihre Wohnung nicht mehr bezahlen und wurden kurzerhand an die Luft gesetzt. Die Wartelisten auf eine der staatlichen Notunterkünfte waren lang, besondere Härtefälle wurden nicht berücksichtigt. Schnell stand der eine oder andere auf der Straße, und auch die Hilfe durch Angehörige oder Freunde war in vielen Fällen keine Selbstverständlichkeit.

Nun rächte sich jahrzehntelanges Lohndumping, Leiharbeit, unbezahlte Praktika, befristete Verträge, Teilzeit oder gar Arbeitslosigkeit. Auch das Heer der geringfügigen Minijobber, die in der Regel nichts in die Rentenkasse einzahlten, war in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen. Wenn dann noch Scheidung, Krankheit oder sonstige Schicksalsschläge hinzukamen, war der gesellschaftliche Absturz programmiert und kaum noch aufzuhalten. Die viel gepriesene Vorsorge: Wohnungseigentum, private Altersrenten, eine Berufsunfähigkeitsversicherung oder andere sinnvolle Absicherungsinstrumentarien konnten sich viele aufgrund der niedrigen Löhne und den immer schneller steigenden Lebenshaltungskosten erst gar nicht leisten.

Das dauerhafte Wohnen auf einem Campingplatz nach amerikanischem Vorbild nahm schon seit längerer Zeit auch in Deutschland stetig zu und entwickelte sich zu einem alltäglichen Erscheinungsbild. Neu war jetzt, dass diese Orte der Zuflucht illegal irgendwo in den Wäldern eingerichtet wurden und dass neben Zelten und Wohnwagen auch Hütten aus Holz und sonstigem Baumaterial in die Landschaft gestellt wurden. Früher wurden Wohnungen und Häuser besetzt, heute eben ein Stück Wald, vorzugsweise in der Nähe eines Gewässers.

»Wie viele hier im Lager sind denn krank?«, fragte Frank neugierig. Er war bereits seit einem Jahr bei den Freolen, in diesem Lager aber erst seit wenigen Tagen.

»Vier, einem von ihnen geht es besonders schlecht. Es geht wohl bald zu Ende.« Walter ließ die Schultern ruckartig heruntersacken.

»In dem Lager, in dem ich vorher war, haben wir solche Fälle ins Krankenhaus gebracht. Handhabt ihr das hier anders?«

»Kommt immer auf den Einzelfall an. Dort bekäme er vermutlich auch nur Morphium und Cortison, das haben wir hier auch. Im Übrigen würde er sich in der Klinik höchstwahrscheinlich einen der zahlreichen Krankenhauskeime einfangen, gegen die kein Kraut gewachsen ist. Man muss leider davon ausgehen, dass es ihm dort eher noch schlechter gehen würde als hier bei uns. Außerdem könnten sie sich dort in keiner Weise so um ihn kümmern, wie wir das hier machen. Zwischenmenschlich gesehen, meine ich«, erläuterte Walter beflissen. Nachdenklich fügte er an: »Im Ernst, Frank… oder hättest du Lust, dich von einem Pflege-Roboter versorgen zu lassen?«

Der Freole wusste, wovon er redete, schließlich war er ein Kolonialist der ersten Stunde und hatte schon so einiges miterlebt.

»Um Gottes willen«, antwortete Frank mit leerem Blick. »Grauenvoll und entwürdigend, Pflege-Roboter, wie schrecklich. Man ist nur noch ein Stück Fleisch.«

Sterbehilfe war sowieso kein Tabuthema mehr, da waren sich alle von Anfang an einig. Ein würdevoller, selbstbestimmter Tod unter Freunden war allemal ein erstrebenswertes Ziel, zumal ein gewisses Alter in der Regel ja bereits erreicht war. Vereinsamt und unter der Betreuung überlasteter Pflegekräfte in irgendeinem Krankenhaus oder Pflegeheim zu sterben, war keine gute Alternative. Der Tod ließ sich dort vielleicht etwas hinauszögern, doch das Leiden währte dafür umso länger.

Die Kolonisten-Zweckgemeinschaft war gut organisiert. Sie bestand nicht aus ständig betrunkenen, verwahrlosten Nichtsnutzen, sondern es waren kleine, widerstandsfähige Teams im fortgeschrittenen Alter mit unterschiedlichsten Fähigkeiten und – vor allem – mit einem besonderen Ehrenkodex. Niemand im Rudel wurde sich selbst überlassen, man hielt zusammen. Empathie war das neue Zauberwort dieser Schattengesellschaft. Da ihnen niemand half, regelten sie die Dinge eben auf ihre Art. Unkonventionelle Hilfe zur Selbsthilfe, man hatte ohnehin nichts zu verlieren.

Das Verhältnis zu den Behörden war seit jeher problematisch, insbesondere in der Gründungszeit der Bewegung vor zehn Jahren. Juristisch betrachtet standen die Freolen im Graubereich zur Kriminalität, und ihr Leben im Untergrund machte die Sache nicht einfacher. Doch sie bekämpften niemanden, hatten keine politischen oder sonstigen ideologischen Ziele. Freiheit war ihnen wichtig, Selbstbestimmung und das Leben in einer Gruppe Gleichgesinnter. Man verwendete alles, was noch zum Eigentum der Mitglieder gehörte, der Rest wurde organisiert oder gelegentlich gestohlen. Gewalt und Schusswaffen waren verboten; auf gut organisierten Beutezügen wurde mitunter allerdings geklaut, was nicht niet- und nagelfest war. Das Diebesgut diente ausschließlich der eigenen Verwendung und wurde unter dem Begriff »Erweiterter Mundraub« eingeordnet, wobei ausschließlich dringend notwendige Dinge auf den Listen der Beschaffungs-Teams standen. Es machte ohnehin keinen Sinn, zu viel hochwertiges Material in den illegal aus dem Boden gestampften Unterkünften zu verbauen, da natürlich ständig damit gerechnet werden musste, dass Sondereinheiten der Polizei das jeweilige Freolen-Dorf dem Erdboden gleichmachte.

Man siedelte vorzugsweise in den Wäldern der Null-Zonen zwischen den Ballungszentren. Seitdem die Bevölkerungszahl aufgrund des demografischen Wandels und der Landflucht in diesen Gebieten schnell gesunken war, wurden dort auch die Infrastruktursysteme nur noch in begrenztem Maße am Leben erhalten. Staatliche und private Investitionen blieben aus, viele der aufgegebenen Gebiete verwilderten wieder zur ursprünglichen Natürlichkeit zurück. Die unzureichende Infrastruktur war für die Freolen zweifelsohne ein Nachteil, doch auf der anderen Seite konnten sie in den Wäldern untertauchen und aus der Deckung heraus die überlebenswichtigen Versorgungs- und Beschaffungsmaßnahmen organisieren.

Und es gab noch einen weiteren Verbündeten: das Wetter. Die globale Erwärmung hatte mächtig zugelegt; es war zunehmend warm geworden in weiten Teilen Nordeuropas. Die Würfel waren gefallen, und es gab kein Zurück mehr. Die Länder dieser Welt hatten den Kampf gegen den Klimawandel verloren. Ein Kampf, den sie genaugenommen nie wirklich geführt hatten. Die eigenen Interessen, der Wohlstand und die unersättliche Gier nach immer mehr Wachstum ließen sie von Anbeginn an mit stumpfen Waffen kämpfen. In der klimatologischen Fachwelt gab es zwar noch hoffnungslose Optimisten, doch im Grunde wussten es alle. Der Point of no return war erreicht, das Rad der – klimatischen – Geschichte konnte nicht mehr zurückgedreht werden. In Europa stiegen die Durchschnittstemperaturen von Jahr zu Jahr kontinuierlich an, und die klassischen Jahreszeiten entwickelten sich immer mehr zu einem Relikt der Vergangenheit. Es gab tropische Temperaturen, starke Niederschläge und wenig Frost. Bedingungen, die den Freolen das Camping erleichterten.

Allerdings kamen mit der zunehmenden Wärme auch andere, unliebsame Gäste nach Nordeuropa, die hier zu ihrer Freude vor allem eines vorfanden – neue Nahrungsquellen. In Deutschland wurden über 50 Stechmückenarten nachgewiesen, wobei die Malaria-Mücke Anopheles plumbeus die Gefährlichste unter ihnen war, da sie das gefürchtete Sumpffieber in den Norden brachte. Doch auch andere exotische Mückenarten, die wegen des Klimawandels ihren Wohnsitz ausgeweitet hatten, übertrugen unliebsame Viren, die fieberhafte Erkrankungen auslösen konnten. Die Malaria war ein ernst zu nehmendes Problem, da der Krankheitsverlauf mit vielerlei schwerwiegenden Komplikationen verbunden sein konnte. Manch Infizierter starb sogar daran, wenn er nicht rechtzeitig behandelt werden konnte.

Frank Bollert hob den Kopf, schaute in den sonnigen Himmel, in dem sich in der Ferne die Wolkenberge türmten, und schlug mit der flachen Hand auf seinen Hals. Eine Mücke weniger.

»Wie konnte es nur so weit kommen, Walter? Warum ist diese Gesellschaft so auseinandergedriftet? So viele Arme, selbst unter den Jüngeren.«

Walter schaute ihn nachdenklich an. »Das hat was mit Globalisierung und Gier zu tun, Frank. Ein schleichender Prozess. Die Leute denken immer, sie müssen das schultern, dann geht’s wieder bergauf. Doch wenn du immer einen Schritt vor und dann zwei wieder zurückgehst, dann bewegst du dich insgesamt gesehen zwangsläufig nach hinten. Solidargemeinschaft adé, was soll’s.«

»Und wie sieht es mit den Bullen in dieser Gegend aus?«, fragte Frank. Sie hatten die Plane jetzt befestigt und gönnten sich, nebeneinander auf einem umgekippten Baumstamm sitzend, einen Schluck Wasser aus einer Feldflasche.

»Wie soll es schon aussehen.« Walter Reguleit hob die Augenbrauen und grinste ihn an. »Der deutsche Wald ist zum großen Teil in Privatbesitz.«

»Wie viel?«

»Ungefähr die Hälfte. Ein weiterer Teil gehört auch der Kirche.«

»Sind die auf unserer Seite?«

»Manchmal schon. Wir werden hier und da geduldet.«

»Aber legal sind unsere Dörfer trotzdem nicht, oder?«

»Nein, aber in Privatwäldern ist die Rechtslage nicht so eindeutig. Ärger gibt es immer mal wieder, auch in dieser Null-Zone, aber die Sicherheitsbehörden haben ganz andere Probleme.«

»Du meinst die Straßengangs in den Städten?«

»Nicht nur die vielen Gangs, auch die mächtige, organisierte Kriminalität macht ihnen schwer zu schaffen. Die schrecken vor gar nichts zurück.« Walter zog ein kleines Messer aus der Tasche und begann, seine Fingernägel zu reinigen.

»Scheiße, aber die Behörden versuchen immer wieder, unsere Siedlungen zu räumen und aufzulösen. Als ob ausgerechnet wir irgendeine besondere Gefahr darstellen würden«, sagte Frank und warf einen neidischen Blick auf Walters Messer.

»Stimmt«, erwiderte Walter mit einem Lächeln. »Aber das passiert immer seltener. Die merken so langsam, dass nach einer Räumung die Probleme erst so richtig anfangen.«

»Inwiefern?«

»Sie müssen sämtliche Bewohner eines Dorfes auf einen Schlag transportieren, unterbringen, versorgen und medizinisch behandeln. Außerdem müssen sie Beweise sichern, Daten erfassen und Personalien aufnehmen. Stell dir mal den logistischen Aufwand und die Kosten dafür vor. Auf Dauer ist es für den Staat viel billiger, wenn er uns toleriert. Wir sind sozusagen ein Staat im Staate.« Walter nahm sich einen kleinen Ast und fing an, mit dem Messer daran herumzuschnitzen.

Es gab tatsächlich bereits vor Jahrzehnten ähnliche alternative Wohnsiedlungen, die von staatlicher Seite toleriert wurden. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Freistadt Christiania, die bereits 1971 im dänischen Kopenhagen gegründet wurde. Auch hier setzte man auf Selbstregulierung und verwaltete sich unabhängig jeglicher staatlicher Behörden und Kontrollen. Der Staat duldete diese autonome Kommune als soziales Experiment, nachdem verschiedene Versuche einer Räumung fehlgeschlagen waren. Allerdings kam es seitdem auch immer wieder zu Auseinandersetzungen der unterschiedlichsten Art. Auch die illegalen Lager der nirgendwo willkommenen Sinti und Roma sorgten in der Vergangenheit immer wieder für politischen Zündstoff, und nicht selten wurden ganze Familienclans einfach zwangsumgesiedelt.

»In den Augen der meisten anderen Menschen sind wir doch nur der Abschaum, die unproduktiven Alten, die Verlierer eben«, meinte Frank und biss sich gedankenverloren auf die Lippe.

»Du liegst falsch, Frank. Es sind vielleicht viele, die uns nicht leiden können, aber sicher nicht die meisten«, erwiderte Walter Reguleit gelassen. »Und selbst, wenn es so wäre. Wir haben alle Zeit der Welt in einer verrückten und kranken Gesellschaft. Die Ewigkeit ist nur einen Steinwurf entfernt.«

VIER

Februar 2028, Australien, Sydney.

Endlich gab es ein Zielobjekt, das sich seiner als würdig erweisen könnte. Sie hatten lange gewartet, und nachdem die Suche nun bereits seit über sechzig Jahren ohne nennenswerte Ergebnisse andauerte, hatte der Orden zu Recht gehofft, dass Satan seine Manipulationen in anderer Art und Weise durchführen würde. Doch nun hatten sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigt, und sein Denken war von Sünde bestimmt. Er würde sich geißeln müssen, da er Genugtuung empfand. Endlich hatte er seinen Auftrag. Dies war seine Bestimmung, hierfür hatte er sich jahrelang vorbereitet.

Die Infiltration hatte sich gelohnt. Überall auf der Welt hatte der Orden viel Geld und Mühe investiert, um unter den Observatoriums-Belegschaften jeweils einen Informanten zu rekrutieren. Die Idealisten waren nicht immer mit Geld zu ködern, aber jeder hatte seinen Schwachpunkt. Die Methoden der Erpressung waren vielfältig, und der Orden hatte zahlreiche perfide Möglichkeiten, seinen Interessen Nachdruck zu verleihen.

Der Orden: Jene Familie der wissenden Glückseligen, jener Ort der bekennenden Bewahrer. Imago Dei, das Abbild Gottes. Verdammt seien die Gotteslästerer, die Ungläubigen. Nur der Mensch war berufen, kein anderes Wesen. So stand es auch bereits seit Menschengedenken in der Bibel.

Das Buch Genesis 1,27: Und Gott schuf den Menschen als sein Bild, als Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie.

Er fühlte wieder jenen Stolz in sich, zu den Auserwählten zu gehören. Jetzt, da Satan seinen Speer geworfen hatte. Jetzt, da sein Auftrag dringendes Handeln erforderlich machte. Der Orden hatte eine gute Wahl getroffen. Es war eine große Ehre für ihn, diesen Auftrag ausführen zu dürfen. Er war einer von ihnen, ein Bewahrer.

Er hatte Sydney gestern Nachmittag mit der Alitalia-Maschine aus Rom erreicht. Natürlich hatte er in der Business Class gesessen und war ausgeruht und pünktlich auf dem Kingsford Smith International Airport in Sydney gelandet. Der Februar des Jahres 2028 in Rom war völlig verregnet, aber hier in Sydney schien die Sonne, und der hellblaue Himmel zeigte sich von seiner wolkenfreien Seite. Das Hotel, der Mietwagen – alles war unter falschem Namen mit falschen Papieren gebucht worden. Die Fälschungen waren ausgezeichnet, der Orden hatte, wie immer, beste Arbeit geleistet. Qualität hatte seinen Preis; auch dieser Auftrag würde Unsummen verschlingen.

Geld ist der Organisation nicht so wichtig, Gott… ist uns wichtiger!

In Bankstown hatte er am Vormittag seinen Lieferanten kontaktiert und die Waffe, eine 9-mm-SigSauer mit Schalldämpfer und einem neuartigen Laservisier, erhalten. Jetzt im Hotel, das sich in der Nähe vom Hyde Park befand, reinigte er sie sorgfältig und prüfte sämtliche Funktionen. Natürlich würde er nichts dem Zufall überlassen. Der Orden konnte sich uneingeschränkt auf ihn verlassen. Er war gut in Form. Das jahrelange Training hatte seinen Körper gestählt, und die Reaktionsfähigkeit des 42–jährigen Vegetariers war immer noch überragend. Bereits zu anderen Gelegenheiten konnte er die Ordens-Brüder mit seiner tödlichen Effizienz beeindrucken. Er hatte seine Zielobjekte bisher immer fristgerecht terminiert. Nie gab es Anlass zur Kritik.

Nachdem er die Waffe wieder zusammengesetzt hatte, ging er in das Bad und wusch sich gründlich die Hände. Mit prüfendem Blick schaute er in den Spiegel. Der Kopf war kahl rasiert, die Augen schmal und die Nase wirkte fast zierlich wie die einer Frau. Zufrieden strich er sich mit der Hand über den kahlen Kopf.

Es wurde Zeit. Ein letztes Mal sprach er mit Gott. Ein reinigendes, tiefes Gebet, wie immer kurz vor der Auftragsdurchführung. Er verstaute die geladene Waffe im bereits umgeschnallten Schulterholster und ging in die Tiefgarage zu dem geliehenen Toyota. Im Kofferraum lag bereits der Reservekanister mit Benzin. Nur durch ein reinigendes Feuer ließen sich die entweihten Bauwerke Satans vernichten. Er würde die Route 44 nehmen und zwei Stunden fahren, bis er das Observatorium bei den Blue Mountains erreicht hatte. Die Rush-Hour war um diese Uhrzeit noch erträglich, und mit dem Linksverkehr hatte er bereits bei früheren Aufträgen in England und Südafrika Bekanntschaft gemacht. Er spürte die Vorfreude in sich aufkeimen, als er in den belebten Stadtverkehr Sydneys eintauchte. Satans Schergen waren überall. Mit List, Tücke und Täuschung versuchte der Teufel, die wahren Gläubigen der Welt zu blenden. Sie in den Zweifel zu treiben. Doch der Orden war wachsam. Er würde Satan einen Strich durch die Rechnung machen. Denn natürlich war es, wie es immer war. Der Mensch war das Abbild Gottes.

Imago Dei…

Daran würde auch SETI nichts ändern. Auch nicht, wenn sie tatsächlich etwas gefunden haben sollten.

FÜNF

Mai 2031, Deutschland, Berlin.

Bleiern hing die Luft über der quirligen Bundeshauptstadt, die mit über fünf Millionen Einwohnern auch im Jahr 2031 immer noch die bevölkerungsreichste Stadt der Republik war. Es war heiß und stickig zwischen den Bürotürmen der hektischen Großstadtmetropole. Weit über dreißig Grad. Eine unstrittig zu hohe Temperatur für diese frühlingshafte Jahreszeit, doch das moderne, mit allem Komfort ausgestattete Büro war selbstverständlich ausreichend klimatisiert. Sonst hätte es Dr. Carsten Sternberger auch nicht angemietet; immerhin brauchte er zu jeder Tageszeit einen besonnenen und klaren Kopf. Einige seiner Aufträge hatten einen so hohen Vertraulichkeits-Status, dass selbst seine Sekretärin nicht eingeweiht war.

Man konnte nie wissen, wie sich die Dinge entwickelten!

Er wusste, dass sie ihn nicht leiden konnte, und genau aus jenem Grund hatte er die unscheinbare Frau auch eingestellt. Antipathie war eine gute Grundlage für eine fruchtbare Zusammenarbeit. Der Erfolg gab ihm Recht. In gewissen Kreisen hatte sich seine Kanzlei als zuverlässiges Problemlösungsinstitut einen Namen gemacht.

… sich einen Namen gemacht!

Gegen sein Übergewicht und die damit verbundene Neigung zur übermäßigen Transpiration konnte allerdings auch die effektivste Klimaanlage wenig ausrichten. Der Bauch machte ihm zu schaffen. Solange er sich erinnern konnte, war er immer der kleine, dickliche Typ gewesen – bis zum heutigen Tag. Er hatte sich daran gewöhnt, sich arrangiert. Es gab andere Werte, mit denen man den gewünschten Respekt der Mitmenschen erlangen konnte. Er hatte früh gelernt, dass Macht und Geld jede andere negative Eigenschaft, seien es charakterliche Defizite oder Äußerlichkeiten, umgehend ins Bedeutungslose pulverisierten und zu ungeahntem Ansehen verhalfen.

Es hatte sich wenig geändert; der Materialismus regierte die Welt. Somit trug er seinen Bauch auch mit einem gewissen Stolz. Zu wenig Bewegung und zu viele Besuche in noblen, teuren Restaurants forderten ihren Tribut. Doch es gab auch Dinge, die er an sich selbst nicht akzeptieren wollte. Er war jetzt Mitte vierzig und musste seit einigen Jahren frustriert feststellen, dass seine Sehfähigkeit von Jahr zu Jahr schlechter wurde. Dieser Prozess – die sogenannte Altersweitsichtigkeit – war völlig normal und konnte durch das Tragen einer Lesebrille problemlos ausgeglichen werden. Da er von Berufs wegen viel lesen musste, wurde die Sehhilfe zu seinem ständigen Begleiter – und zu einem Objekt seiner Verachtung. Nach einem halben Jahr zog er erste Erkundigungen ein, und im Herbst letzten Jahres ging er dann in die Klinik. Die operative Laserbehandlung der Augen war eigentlich bereits seit Längerem ein Standard-Eingriff, doch er hatte gezögert und es vor sich her geschoben. Im Nachhinein ärgerte er sich darüber, dass er es überhaupt erst mit der nervenden Brille versucht hatte. Der Eingriff war zwar nicht gerade billig, dafür war das Ergebnis phänomenal. Er hätte zweifelsfrei sogar den Astronauten-Sehtest bestanden.

Sternberger hatte ausgezeichnete Kontakte zum Bundesministerium für Inneres; einer seiner wichtigsten Ansprechpartner saß dort in einer zentralen Schlüsselposition. Als gefragter Rechtsanwalt für besondere Fälle lag Sternbergers Büro natürlich an einer der besseren Adressen Berlins. Er legte großen Wert auf ein gewisses Ambiente und lebte auch sonst gern auf großem Fuße, allerdings nicht in der Öffentlichkeit. Dort war er so gut wie unbekannt. Aus gutem Grund, denn seine Klienten legten allergrößten Wert auf absolute Diskretion. Sternberger wusste, dass er sich diesbezüglich keine Fehler erlauben konnte, doch die überaus großzügigen Vergütungen rechtfertigten das Risiko. Sie erlaubten ihm die Aufrechterhaltung seines aufwendigen Lebensstils.

Der neue Auftrag war heikel, eigentlich eher etwas für einen Privatdetektiv oder einen Undercover-Agenten. Falls nötig, werde ich entsprechende Kräfte einfach anheuern, dachte Sternberger und drehte den Regler an der Klimaanlage noch ein klein wenig höher.

Es ging um nicht weniger als die nationale Sicherheit. Der Fall konnte Auswirkungen auf das ganze Land haben und die Demokratie in ihren Grundfesten erschüttern. Hinter den Auftraggebern verbarg sich die mächtige RT-Gruppe. Natürlich gab es keinen direkten Kontakt, alles lief über Strohmänner oder TEC-Kontakte. Das waren alles international überaus einflussreiche Leute: Großindustrielle, Banker, Investoren, Manager oder Vorstandsvorsitzende.

Sicherlich war auch einer der superreichen exotischen Spinner oder ein Star aus dem Filmgeschäft dabei, dachte Sternberger. Die halten sich immer für etwas Besonderes.

Man machte sich Sorgen, große Sorgen. Teile der Bevölkerung waren nicht mehr kontrollierbar, Politik und Behörden offensichtlich überfordert. Soziale Unruhen und Ansätze von Anarchie waren immer schlecht für das Geschäft. Ohne eine ausgewogene Balance konnten die global agierenden Unternehmen ihre Geschäfte hier im Lande nicht mehr in Ruhe abwickeln. Die Unterprivilegierten mussten wieder in den erforderlichen Zustand der apathischen Starre versetzt werden. Es waren in erster Linie die zahlreichen Obdachlosen-Horden, die sich zu einem ernst zu nehmenden Problem entwickelt hatten. Dummerweise sympathisierten Teile der Bevölkerung auch noch mit den verarmten Alten.

Sternberger hasste das Gesocks. Er war ein konservativer Verfechter der alten Schule und sympathisierte mit den Hardlinern, die mit aller Härte gegen die Freolen vorgehen wollten. Ein rechtsfreier Raum innerhalb der Republik konnte nicht geduldet werden, schließlich zahlten rechtschaffene Bürger hier ihre Steuern. Früher war dieses Land einmal sauber. Und jetzt wimmelt es überall von Obdachlosen und undurchsichtigen Individuen, die sich auch noch in Gruppen organisieren.

Sternberger sah das genauso wie seine Auftraggeber. Es musste endlich etwas dagegen unternommen werden. Er hatte das vorliegende Material über die Freolen aufmerksam studiert und befremdet mit dem Kopf geschüttelt. Was für Spinner waren das denn?

Er schaltete sein Telefon auf eine sichere Verbindung zum BMI. Er musste vorsichtig sein; nichts hiervon durfte an die Öffentlichkeit gelangen. Ein inoffizielles Gespräch mit seiner Kontaktperson würde erste Ergebnisse bringen. Auf dem Bildschirm seines Folien-Handys erschien das Bild des BMIMitarbeiters, die sichere Verbindung stand, die Verschlüsselungs-Kontrollleuchte blinkte.

»Carsten, wie geht’s dir? Verdammt heiß momentan in Berlin, was?« Obwohl es sich um eine sichere Verbindung handelte, sprachen sich beide generell nur mit Vornamen an.

»Hallo Gerhard. Danke der Nachfrage, ich komme zurecht und ja, ohne die Klimaanlage wäre ich schon erstickt. Es ist heiß, es gibt viel zu tun und die Stadt platzt bald aus allen Nähten.«

»Da hast du allerdings Recht. Die Probleme nehmen kein Ende. Eine überaus verrückte Zeit, in der wir leben.«

»Du nimmst mir das Wort aus dem Munde, Gerhard. Verrückt, und… man macht sich Sorgen. Die innere Sicherheit im Lande steht auf dem Spiel.«

»Man?«

»Mensch, Gerhard, tu doch nicht so ahnungslos. Du weißt doch genau, welche Personen im Hintergrund die Fäden ziehen. Diese Leute sind außerordentlich beunruhigt.«

»Ach ja?«

»Allerdings. Es stellt sich doch jedem normal den ken Bürger die Frage, warum der Staat nicht durchgreift? Aus welchem Grund werden anarchische Gruppierungen geduldet, die sich allem Anschein nach in einem rechtsfreien Raum bewegen?« Sternberger redete sich in Rage. Er hatte sich vorgenommen, ohne Umwege den Kern des Problems anzusprechen. Das spart Zeit. Außerdem fühlte er sich im Recht. Diese Leute hatten ihr Schicksal selbst zu verantworten. Offensichtlich waren sie einfach zu faul oder zu dumm gewesen, sonst wären sie auch nicht auf der Straße gelandet.

»Du meinst diese Freien Kolonisten. Zugegeben, ein Problem, aber ich finde, du übertreibst etwas«, entgegnete der BMI-Mitarbeiter vorsichtig.

»Wie ich hörte, ist die Polizei überfordert und anderweitig schon überlastet. Kann man nicht das Militär einsetzen?«

»Hör mal…«

»Langweilen dich meine Ausführungen, Gerhard?«

»Aber nein!«, log der BMI-Mann.

»Oder ihr schiebt denen ein Tötungsdelikt unter. Die Sache mit der Sterbehilfe ist doch überaus grenzwertig, findest du nicht auch?«

»Carsten, so läuft das leider nicht. Das ist reine Ländersache, das Militär hat da nichts zu suchen. Außerdem ist der Schaden, den diese Leute anrichten, relativ gering.«

»Mit anderen Worten, die Behörden schauen weg«, unterbrach Sternberger den BMI-Mitarbeiter und schnaufte verächtlich. Aus dem anfänglich höflichen, unverbindlichen Telefonat hatte sich beinahe ein festgefahrenes Streitgespräch entwickelt.