Wo bitte geht's denn hier zum Leben? - Gerald Gräf - E-Book

Wo bitte geht's denn hier zum Leben? E-Book

Gerald Gräf

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Beschreibung

Zwei Menschen … Zwei Schicksale … Eine Geschichte, die beide miteinander verbindet. Iris Lewe und Gerald Gräf haben eines gemeinsam, als sie sich in einer Trauergruppe kennenlernen. Beide sind verwitwet. Beide haben in der Mitte ihres Lebens den Ehepartner verloren. Jetzt sind sie auf der Suche nach Orientierung; nach einer Zukunft ohne Leid und Schmerz. Der vor ihnen liegende Weg ist lang, mühsam und voller Rückschläge, doch sie sind nicht allein, und was sie finden ist mehr, als sie zu hoffen gewagt haben. Diese autobiografische Liebesgeschichte ist erfrischend anders, denn sie wird aus zwei Perspektiven erzählt. Unabhängig voneinander schildern die beiden verwitweten Autoren von Kapitel zu Kapitel den schwierigen, aber zuweilen auch amüsanten Weg ihrer überaus vorsichtigen Annäherung. Ein Buch mit einer Geschichte, wie sie nur das Leben selber schreiben kann.

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WO BITTE GEHT'S DENN HIER ZUM LEBEN?

Wie aus Trauer Liebe wurde …

Gerald Gräf – Iris Lewe

WO BITTE GEHT'S DENN HIER ZUM LEBEN?

Wie aus Trauer Liebe wurde

Impressum:

© 2017 Gerald Gräf – Iris Lewe

Autoren: Gerald Gräf – Iris Lewe

Bildrechte Coverfoto: © Clipdealer GmbH

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN e-Book: 978-3-7439-0740-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autoren unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Vorwort

Wege zum Leben

Jeder, der einen geliebten Menschen verloren hat, kennt den tiefen, alles umfassenden Schmerz. Dieser ist manchmal nicht zu ertragen, und mitunter indet der Betroffene keinen Trost, auch nicht nach Jahren der Verzweiflung.

Wie lange die Trauerphase dauert und wie tief sie ist, ist sehr individuell. Jeder empfindet sie auf seine ganz persönliche Art und Weise. Doch es ist wichtig, die Trauer zu durchleben, denn es gibt keinen Weg um die Trauer herum, sondern nur durch sie hindurch. Dieser Weg ist zweifellos hart, kostet eine fast übermenschliche Anstrengung und gehört zu den schwierigsten Aufgaben, die einem Menschen auferlegt werden können. Und weil das so unsagbar schwer ist, entscheiden sich manche Menschen auch für die Verdrängung, sei es durch Ablenkung, Betäubung des Schmerzes oder das sich Hineinstürzen in eine übermäßige Aktivität. Doch dieses funktioniert auf Dauer nicht. Irgendwann bricht sich der Schmerz ungehindert Bahn, und das womöglich noch viel schlimmer, als wenn der Betroffene die Trauer durchlebt hätte.

Eine maßvolle Aktivität kann der Schlüssel zu einem Leben nach dem Verlust sein. Unser Leben wird immer von Aktivität geprägt; sie ist unsere Antriebsfeder und der Motor des Lebens. Wer sich von der Aktivität verabschiedet, kann schnell in eine Depression abgleiten. Auch wenn es zuerst nur kleine Schritte sind, die der Trauernde wagt, so ist es doch enorm wichtig, dass sie getan werden.

Oft beherrschen Zwänge das Leben der Trauernden, denen sie sich nicht so leicht entziehen können. Sei es die Familie, die Arbeit oder die Gesellschaft: Vielfach wird erwartet, dass man nach einer kurzen zugestandenen Phase der Trauer ohne Beanstandungen wieder funktioniert. Doch es muss dem Trauernden erlaubt sein, einige Dinge für sich zu ändern, wenn er dieses wünscht. Ein neuer Freundeskreis, andere Prioritäten im Beruf, die Suche nach Antworten: Nur er oder sie kann entscheiden, was in dieser schwierigen Phase für ihn wichtig ist. Ein Trauernder braucht jede nur denkbare Unterstützung bei dem schwierigen Prozess, sein Leben neu zu ordnen. In unserer leistungsorientierten Gesellschaft sind Tod und Trauer leider noch immer ein Tabu und sollen möglichst im Verborgenen stattfinden. Doch das Sterben und der Verlust sind ein normaler Bestandteil unseres Lebens, und daher sollte beiden auch der ihnen zustehende Platz eingeräumt werden.

Für den Trauernden kann der Kontakt mit Gleichgesinnten eine große Hilfe sein. Sei es in einer Trauergruppe oder auf rein privater Ebene; das Verständnis unter ebenfalls Betroffenen hat unserer Erfahrung nach eine ganz andere Qualität. Nicht jeder ist bereit, sich anderen im Gespräch zu öffnen, und das ist auch gar nicht nötig. Der Besuch einer Trauergruppe ist auf jeden Fall einen Versuch wert. Dort wird niemand gezwungen, sein Inneres zu offenbaren, doch bereits das Zuhören kann Wunder wirken, denn dabei erfahren Betroffene, dass sie nicht allein sind und andere genauso fühlen wie sie selbst.

Und manchmal kann es sogar passieren, dass sich eine Frau und ein Mann in einer Trauergruppe kennenund lieben lernen. Dies ist sicher die Ausnahme, allerdings – wie unsere Geschichte beweist – auch nicht ausgeschlossen. Doch diese Annäherung war ein langer Prozess, begleitet von vielen Irritationen und Unsicherheiten. Der neue Partner soll und kann kein Ersatz für den Verstorbenen sein, und auch die Einbindung der jeweiligen Familien in die neue Beziehung brauchte Zeit und Geduld. Wir haben unsere geliebten verstorbenen Partner in unsere neue Partnerschaft integriert. Sie sind niemals vergessen und fest in unseren Herzen verankert. Für uns ist es ein unglaublich großes Geschenk, dass wir uns gefunden haben, und wir können dafür nicht dankbar genug sein.

Doch ob eine neue Partnerschaft nun früher oder später oder möglicherweise auch gar nicht entsteht, ist überhaupt nicht wichtig. Erst einmal geht es darum, das eigene Leben in die Hand zu nehmen und wieder zu füllen, vielleicht mit neuen Menschen, neuen Interessen oder Hobbys. Und dabei steht am Anfang immer der Entschluss zur Aktivität, ob sie nun in den Kreis einer Trauergruppe oder einen anderen Ort der Begegnung führt. Offen sein für Neues, interessiert bleiben und auf Menschen zugehen: Das ist die Voraussetzung für ein neues, lebenswertes Leben nach dem Verlust. Unsere Erfahrungen haben uns gezeigt, dass es sich lohnt, behutsam in ein neues Lebensgefühl einzutauchen, in dem auch das alte Leben seinen festen Platz hat. Wir wünschen uns, dass wir mit diesem Buch Trauernden Mut machen, sich auf einen Neuanfang einzulassen.

Überhaupt ist jede Art von Lebenskrise immer auch eine Chance. Wie dieser Aufbruch in ein neues Leben auch aussehen könnte, ein Versuch lohnt sich allemal.

Allen anderen Lesern wünschen wir viel Freude beim Lesen einer Geschichte, die wir lediglich aufgeschrieben haben. Erdacht hat sie ein Autor, der mit unerschöpflicher Fantasie seit jeher Geschichten schreibt, die uns in vielerlei Hinsicht berühren.

Das Leben selbst …

Iris Lewe und Gerald Gräf

Kapitel 1

Der Anfang vom Ende

Trauer ist eine Primzahl. Sie ist nicht teilbar, außer durch sich selbst. Das musste ich schmerzlich erfahren.

Ein Jahr ist es jetzt her, dass mein geliebter Ehemann Rainer völlig überraschend gestorben ist. Wenn ich zurückdenke, kann ich es kaum fassen, wie viel in diesem Jahr passiert ist, was sich alles verändert hat, was ich alles geschafft habe. Bereits nach einem halben Jahr habe ich mir mehr oder weniger notgedrungen eine Wohnung gesucht, unser Haus, in dem wir zur Miete wohnten und das vom Dachboden bis zum Keller vollgestellt war, leer geräumt, habe den Hausstand für eine Dreizimmerwohnung reduziert und bin umgezogen. Ein unglaublicher Kraftakt, und ich frage mich noch immer, woher ich die Energie bekommen habe, das alles zu bewältigen.

Ja, die Trauer. Ein Gefühl, das ich in dieser Intensität und Ausprägung zum ersten Mal erlebe, obwohl ich bereits viele liebe Menschen verloren habe – Großeltern, Schwiegereltern, meinen geliebten Onkel. Aber der Tod meines Ehemannes, mit dem ich noch so viel erleben wollte, der mit 62 Jahren doch noch nicht alt war und der so viele Pläne hatte, das ist ein völlig anderes Kaliber und einfach unbeschreiblich.

Lange habe ich gedacht, die Trauer verlaufe linear, wie bei einem gebrochenen Arm. Am Anfang tut es extrem weh, aber dann wird es mit jedem Tag besser. Aber so läuft das leider nicht. Die Trauer kommt in Wellen, in Kreisen. Ein paar Tage geht es mir gut und ich wiege mich in der trügerischen Gewissheit, das Schlimmste sei jetzt überstanden. Doch dann kommt sie mit voller Wucht zurück, nimmt mich in ihren Klammergriff und schüttelt mich so kräftig durch, dass ich meine, ich komme aus dieser Finsternis und endlosen Traurigkeit nie wieder heraus. Doch dann kommen wieder ruhigere Tage, und das Spiel beginnt von vorn.

Manchmal reichen ganz geringfügige Anlässe, dass der Gefühls-Tsunami mich überrollt: Ein Lied, ein gefundener Zettel, eine Erinnerung oder ein Foto. Noch immer bin ich nicht imstande, mir Fotoalben anzusehen, die unsere glückliche Zeit dokumentieren. Wenn andere mir erzählen, dass mir meine schönen Erinnerungen ja niemand mehr nehmen kann, denke ich, was nützen mir denn all die schönen Erinnerungen, wenn ich sie gar nicht ertragen kann? Wenn ich schon in Tränen ausbreche, wenn ich an einen schönen Sommertag in Büsum nur im Ansatz denke? Oder an unsere Wanderungen in Schweden, auf denen wir Pfifferlinge gesammelt haben?

Es stimmt, was ich gelesen habe: Es gibt keinen Weg um die Trauer herum, sondern nur durch sie hindurch, und man muss diesen Weg ganz allein gehen; niemand kann einem den Schmerz abnehmen oder auch nur mindern.

Ich bin dennoch vom Schicksal begünstigt, denn ich habe wunderbare Freunde, die mich tragen, und Eltern, die mich stützen. Und sogar einen netten Chef und tolle Kollegen, die so viel Verständnis für mich haben. Das hat wirklich nicht jeder und ich bin außerordentlich dankbar dafür.

Und dennoch: So wichtig und unverzichtbar die Unterstützung und Begleitung ist, die Trauer lässt sich nicht teilen. Ich bin jetzt in meiner neuen Wohnung, war sechs Wochen zur Rehabilitation, um wieder zu Kräften zu kommen, aber die Trauer hat mich immer noch eisenhart im Griff. In meinem Umfeld ist das Leben weitergegangen, jeder lebt inzwischen wieder seinen Alltag. Für die anderen ist ein Jahr eine lange Zeit, aber für mich hat sich mein ganzes Leben komplett verändert und nichts ist mehr so, wie es war.

Ich vermisse ihn so unendlich.

Am schlimmsten ist es, niemanden mehr zum Reden zu haben. Rainer und ich haben immer sehr viel miteinander kommuniziert, wir hatten uns immer etwas zu erzählen. Neulich hat in der Redaktion, in der ich arbeite, ein Kollege etwas Lustiges berichtet, und ich dachte, wenn ich nach Hause komme, muss ich das gleich Rainer erzählen. Aber dann kommt wieder die Erkenntnis, dass zu Hause kein Rainer mehr auf mich wartet, dem ich was auch immer erzählen könnte, und dass ich meine Mahlzeiten allein am Tisch sitzend und schweigend einnehmen muss. Und mit dieser Erkenntnis kommt auch wieder die Traurigkeit. In Gedanken kehre ich immer wieder zurück zum

1. Juli 2010. Der Tag, an dem das Unheil seinen Lauf nahm. Rainer hat einen Termin zur Darmspiegelung. Er ist seit einiger Zeit abgeschlagen und antriebsarm; seit kurzem hat er auch Magen- und Darmprobleme, aber die sind nicht gravierend. Es ist jedoch sicher besser, das einmal abklären zu lassen. Ich begleite ihn. Als er fertig ist, sagt er, er müsse noch zum Röntgen. In diesem Moment wird mir flau im Magen, und ich denke, wieso jetzt noch eine derartige Untersuchung, die haben ihm doch eben gerade mit einer Kamera in den Darm geguckt, was gibt es denn da noch zu röntgen? Danach wird er noch ins Sprechzimmer gerufen, dann gehen wir. Im Treppenhaus sagt er zu mir: »Ich habe einen Tumor und muss ins Krankenhaus.«

Das sitzt …

Als wir nach Hause kommen, hat unser Hausarzt, zu dem wir eine sehr vertrauensvolle Beziehung haben, bereits auf den Anrufbeantworter gesprochen und bittet uns, unverzüglich in die Praxis zu kommen. Er versucht uns Mut zu machen; das Ergebnis der histologischen Untersuchung liege erst morgen vor, aber selbst wenn der Tumor bösartig sei, bedeute das noch lange nicht das Schlimmste. Es wird beratschlagt, welche Klinik geeignet wäre. Am Montag schon soll er hin.

Am Freitag ruft der Doktor an. Das Ergebnis ist da, wie befürchtet ist der Befund bösartig. Wir sollen noch mal in die Praxis kommen wegen der Einweisung. Rainer sagt, ich solle allein gehen, er könne es nicht. Ich mache das, und der Doktor versucht mir noch einmal Mut zu machen. Das Wochenende verläuft in gedrückter Stimmung. Rainer sitzt viel auf der Terrasse, ist in sich gekehrt und schweigsam. Auch mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf: Wie wird das weitergehen? Er, der große, starke, vitale Mann, der bis dahin immer gesund war. Braucht er Chemotherapie, Bestrahlungen und alles, was damit zusammenhängt? Beginnt damit ein elender Leidensweg für ihn, … für uns?

Montagmorgen bringe ich ihn ins Krankenhaus, Dienstag wird er operiert, und alles verläuft gut. Mittwoch und Donnerstag geht es ihm prima, er ist gut drauf und fröhlich, ganz wie es seinem Naturell entspricht. Am Freitagnachmittag geht es ihm plötzlich nicht mehr so gut. Am Sonnabend verschlechtert sich sein Zustand, er muss ständig erbrechen und bekommt Medikamente gegen Übelkeit, obwohl er immer wieder betont, dass ihm gar nicht übel sei. Im Gegenteil, er hat Hunger, und ich bin entsetzt, was er so kurz nach der OP bereits zu essen bekommt. Am Sonntag sieht es auch nicht besser aus. Er wirkt sogar teilweise apathisch, und ich mache mir jetzt wirklich Sorgen. An diesem Tag ist es furchtbar heiß, über 30 Grad, und es müssen reihenweise Reit- und Motorradunfälle versorgt werden, deshalb ist kein Arzt greifbar. Ich bleibe lange bei ihm und gehe erst, als die Schwester mir versichert, dass heute auf jeden Fall noch ein Arzt nach ihm sehen wird.

Montag, der 12. Juli 2010, ist der schwärzeste Tag meines Lebens und hat sich auf ewig in meine Seele gebrannt. Aber das ahne ich noch nicht, als ich morgens gegen 8 Uhr im Krankenhaus anrufe, weil ich wissen will, wie Rainer die Nacht überstanden hat. Die Schwester ist gerade bei ihm und ich kann persönlich mit ihm sprechen. Er sagt, es gehe ihm »beschissen«, er würde ganz schlecht Luft bekommen. Er müsse zum Röntgen, und eventuell werde eine Magensonde gelegt. Ich solle den Kindern, die für den Nachmittag ihren Besuch angekündigt haben, absagen. Ich verspreche ihm das und sage ihm, dass ich auch bald zu ihm käme. Ich ahne nicht im Entferntesten, dass das die letzten Worte sind, die wir miteinander sprechen. Natürlich mache ich mir Sorgen, aber das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, ist eine erneute Operation. Ich pussele noch etwas im Haus herum, dann gehe ich runter und will ins Krankenhaus fahren. Da klingelt das Telefon. Es ist 8.45 Uhr. Ein Arzt vom Krankenhaus. Er sagt, dass er mir eine furchtbar traurige Mitteilung machen müsse …

Der Boden wankt, der Himmel stürzt ein, die Zeit steht still: In Sekunden ist meine Welt zusammengebrochen und nur noch ein Trümmerfeld. Ich kann nicht glauben, was ich da höre, ich habe doch eben noch mit ihm gesprochen!

DAS KANN NICHT SEIN!

Ein Satz, den ich immer wieder herausschreie, bis der Arzt da ist, den meine Nachbarin offensichtlich inzwischen gerufen hat, und mir etwas einflößt, das mich beruhigt. Ich bin besessen von nur einem Gedanken: Ich muss ihn sehen! Ich glaube nicht eher, was der Arzt im Krankenhaus gesagt hat, bis ich ihn mit eigenen Augen gesehen habe! Meine Freundin Kim und ihr Mann fahren mich hin. Es ist so heiß, aber das merke ich gar nicht. Nur der Wunsch, Rainer zu sehen, treibt mich an. Zuerst sitzen wir in einem Zimmer mit einem jungen Arzt und einer noch jüngeren Ärztin, die mit der Situation offenbar völlig überfordert sind und nicht viel sagen. Ich weiß nicht, was dieses Sit-in bezwecken soll, und das sage ich auch und verlange meinen Mann zu sehen. An der Zimmertür hängt ein Schild, dass der Eintritt nicht gestattet sei und man sich bitte an die Schwester wenden möge. Man öffnet sie für mich und ich trete hindurch.

Eine Kerze brennt, Blumen stehen da und das Fenster ist geöffnet. Er liegt dort, als wenn er schläft. Er sieht so gut und friedlich aus. Noch immer kann ich nicht glauben, dass er tot ist, aber als ich ihn berühre, stelle ich fest, dass er kalt ist. Und erst da muss ich wohl einsehen, dass es wahr ist. Nach 15 wunderschönen gemeinsamen Jahren hat er mich für immer verlassen, einfach so, von einem Moment zum anderen.

Meine Fragen nach dem Warum bleiben unbeantwortet. Irgendwann öffnet sich leise die Tür, und eine Frau tritt hinter mich. Sie spricht liebevoll mit mir, drückt meinen Kopf an ihre Brust und sagt: »Weine. Es ist ganz wichtig, dass Du weinen kannst.«

Sie erzählt mir, dass sie Ärztin ist und ihr Mann in ihren Armen gestorben sei. Am selben Tag habe sie im Fahrstuhl einem Kind auf die Welt geholfen. Beides sei einfach nicht aufzuhalten gewesen. Sie war bei Rainers Operation dabei, und der Tumor sei wirklich mächtig gewesen. Man wisse nicht, was ihm an Leid vielleicht erspart geblieben ist. Irgendwann, ich habe kein Zeitgefühl, geht diese liebe Frau wieder, die mir so gut es in dieser Situation möglich war, Trost gespendet hat, und später frage ich mich, ob es sie wirklich gegeben hat oder ob mir in meiner dunkelsten Stunde ein Engel erschienen ist. Denn in meinem Zustand kann ich das nicht mit Gewissheit sagen. Ich forsche nach und erfahre, dass es sie wirklich gibt. Sie ist Oberärztin und ich kenne jetzt ihren Namen.

Und ein Engel ist sie auch.

Zwölf Tage von der Diagnose bis zu seinem Tod. Es war höchstwahrscheinlich eine Lungenembolie und es ist nach Aussage der Ärzte blitzschnell gegangen. Sie haben noch versucht, ihn wiederzubeleben, aber es war vergeblich.

Kapitel 2

Lustlosigkeit

Eigentlich habe ich keinen Bock mehr. Absolut nicht. Seit nunmehr über einem Jahr bin ich dabei, und was hat es mir eingebracht? Viel hat sich nicht geändert. Und dennoch, vielleicht wäre es ohne die Gruppe noch viel schlimmer gekommen. Unerträglich schlimm. Ich habe kein Gefühl mehr für solche Einschätzungen.

Gefühle? Hab ich überhaupt noch welche? Oder ist mit Brigittes Tod alles in mir abgestorben? Lustlos schaue ich aus dem Fenster auf den neuen Wagen. Silberner Lack spiegelt die Sonnenstrahlen zu einem facettenreichen Farbenspiel, das die Netzhäute meiner Augen überfordert. Irritiert wende ich mich ab und widme mich wieder meinem Computer, dessen traurig dreinschauender Bildschirm mein einziges Fenster zum Rest der Welt zu sein scheint. In diesem Sommer des Jahres 2011 scheint die Sonne förmlich zu explodieren, die Aktivität der Sonnenwinde hat merklich zugenommen. So steht es im Internet. Dann muss es wohl stimmen … es ist mir egal. Wie so vieles andere auch. Eigentlich sollte Brigitte den Wagen fahren; jetzt nutze ich ihn allein. Emotionslos, wie die Teller, auf die ich meine Fertiggerichte klatsche, die ich dann noch eine Spur emotionsloser in mich hinein schlinge.

Das Alleinsein ist schwer, viel schwerer, als ich es mir vorgestellt habe. Jeder Tag wird erdrückt von der Trauer, die sich wie ein Leichentuch um meine deformierte Seele gelegt hat. Zwei Jahre sind bereits vergangen, doch es kommt mir vor, als wenn der Tod erst vor kurzem an unsere Tür geklopft hat. Rücksichtslos hat er sein Werk verrichtet, unser Leben zerstört.