Der Albtraummörder - Gerald Gräf - E-Book

Der Albtraummörder E-Book

Gerald Gräf

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Beschreibung

...von Albträumen, die selbst den Tod noch überdauern... Im Landeskriminalamt Hamburg gilt sie als stocksteife Langweilerin, die kein Privatleben zu haben scheint, doch die junge Kriminalrätin Teresa Kohlwein lässt sich nicht beirren. Mit stoischer Emotionslosigkeit treibt sie die Aufklärungsquote nach oben und scheut auch nicht davor zurück, ihre Freizeit für die Ermittlungsarbeit zu opfern. Zwei Jahre nach dem Terroranschlag in der Hafencity brütet sie noch über den Akten, obwohl der Fall offiziell abgeschlossen wurde. Ihre Intuition aber sagt ihr, dass die wahren Zusammenhänge, die sich hinter dem furchtbaren Attentat zu verbergen scheinen, noch ungeklärt sind. Im Fokus ihrer Ermittlungen steht der ehemalige Kriminalbeamte Daniel Brechter, der als Drahtzieher des Anschlags überführt werden konnte. Doch Brechter ist aufgrund einer dissoziativen Identitätsstörung schuldunfähig und befindet sich in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Teresa kommt nur mühsam voran. Als eine neue Mordserie von ungeahnter Tragweite die Dimensionen des Verbrechens zu sprengen droht, lautet der Auftrag des Polizeipräsidenten: Alles andere liegen lassen, der Fall hat Priorität. Eine fatale Fehleinschätzung ...

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Zum Buch

Im Landeskriminalamt Hamburg gilt sie als stocksteife Langweilerin, die kein Privatleben zu haben scheint, doch die junge Kriminalrätin Teresa Kohlwein lässt sich nicht beirren. Mit stoischer Emotionslosigkeit treibt sie die Aufklärungsquote nach oben und scheut auch nicht davor zurück, ihre Freizeit für die Ermittlungsarbeit zu opfern. Zwei Jahre nach dem Terroranschlag in der Hafencity brütet sie noch über den Akten, obwohl der Fall offiziell abgeschlossen wurde. Ihre Intuition aber sagt ihr, dass die wahren Zusammenhänge, die sich hinter dem furchtbaren Attentat zu verbergen scheinen, noch ungeklärt sind. Im Fokus ihrer Ermittlungen steht der ehemalige Kriminalbeamte Daniel Brechter, der als Drahtzieher des Anschlags überführt werden konnte. Doch Brechter ist aufgrund einer dissoziativen Identitätsstörung schuldunfähig und befindet sich in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Teresa kommt nur mühsam voran. Als eine neue Mordserie von ungeahnter Tragweite die Dimensionen des Verbrechens zu sprengen droht, lautet der Auftrag des Polizeipräsidenten: Alles andere liegen lassen, der Fall hat Priorität. Eine fatale Fehleinschätzung …

Zum Autor

Gerald Gräf, Jahrgang 1957, lebt in einer kleinen Ortschaft am Rande Hamburgs. Neben zwei autobiografischen Werken, »DIE LIQUOR-STRATEGIE« und »WO BITTE GEHT’S DENN HIER ZUM LEBEN?« (Letzteres zusammen mit seiner Partnerin Iris Lewe) veröffentlichte der Autor bisher folgende Bücher: »DER SCHATTEN VON APOPHIS« Mystery-Science-Fiction-Roman, »GOTTES UNSICHTBARE ARMEE« Thriller, »DER MODELLBAUER« Thriller, »DER PAKT DES TERRORISTEN« Thriller. In dem vorliegenden Buch »DER ALBTRAUMMÖRDER« verfolgt ein alternder Killer einen perfiden Plan. Nicht die Opfer sind das Ziel seiner Begierde, sondern die Augenzeugen … und deren zukünftige Kinder.

Hoppe, hoppe Reiter …Er ist von Blut befleckt, der Anfang der Geschichte … Voller abscheulicher Taten, die sich unserer Vorstellungskraft entziehen. Mit Bestien bevölkert, die unsere Albträume nähren. »DER MODELLBAUER« ist einer von ihnen.

wenn er fällt …Mit dem »DER PAKT DES TERRORISTEN« wird der Kreis des Bösen erweitert. Seine zerstörerische Kraft fordert zahlreiche Opfer und erschüttert die Welt in ihren Grundfesten.

dann schreit er.Am Ende der Geschichte stehen wir vor dem Nichts. Jener unbeschreiblichen Dunkelheit, die alles bisher Dagewesene verschlingt. Es ist »DER ALBTRAUMMÖRDER«, der sich dem zu widersetzen sucht. Denn er glaubt sie zu kennen – deine tiefsten Ängste …

Ich hasse ihn … und gleichzeitig bewundere ich ihn.

Er hat mich benutzt. Wie einen billigen Handlanger. Ausgerechnet einen wie mich, dem die erste Leiche bereits zu Füßen lag, als diese seltsame Kreatur noch in die Windeln machte. Ich war nur eine Randfigur in seinem perfiden Plan. Ein Mitläufer, der bereit war, sich bedingungslos unterzuordnen. Schwach und kraftlos. Am Ende wollte er mich loswerden, doch ich hatte Glück, denn die Bullen haben ihn geschnappt.

Ich hätte ihn töten sollen, als ich noch die Gelegenheit hatte, aber jetzt ist er unerreichbar für mich. Spielt sein seltsames Spiel, trickst und manipuliert und entzieht sich geschickt jeglichen Konsequenzen.

Ich hasse ihn und gleichzeitig beneide, ja bewundere ich ihn. Über fünfhundert Tote, zahllose Verletzte – und das an einem einzigen sonnigen Tag. Ein unglaublicher Coup. In den Foren belohnen sie ihn mit der höchsten Punktzahl.

Nur ein kleiner, tolldreister Streich, hatte er gesagt. Eine sensationelle Posse, ein grandioses Spektakel. Da sah ich den Wahnsinn in seinen Augen. Eine teuflische Tat, doch die bloße Anzahl der Toten ist bedeutungslos. Es sind die Veränderungen, für die er verantwortlich ist. Nachhaltige Veränderungen, die mit seiner Person, seinem Namen und seiner Geschichte in Verbindung stehen. Und das auf lange Zeit.

Und ich …, ich war nur ein beschissener Assistent. Ein Rädchen im Getriebe des Terrors. Jemand, der sich hat einschüchtern lassen. Der sich erpressen und vor den Karren dieses Wahnsinnigen spannen ließ. Niemand wird sich je an mich erinnern. Hatte ich wirklich geglaubt, mir damit einen Gefallen zu tun? Ich zermartere mir das Gehirn, doch es gibt keine Erklärung für meine Taten und meine Versäumnisse.

Jetzt bin ich von seinen Befindlichkeiten abhängig, denn ein Wort von ihm würde genügen. Trotz des Wahnsinns in seinem Geist; sie würden ihm zuhören. Dann wäre ich fällig. Ich würde von der Bildfläche verschwinden – einfach so. Als hätte es mich nie gegeben. Kein Platz in den Annalen des Terrors, keine Erinnerungen an die spektakulären Taten eines verkannten Genies. Und das ausgerechnet jetzt. Zu einem Zeitpunkt, an dem sich mir der Mechanismus offenbarte, den niemand für möglich gehalten hätte. Diese unglaubliche Erkenntnis über die menschlichen Gene, die in der Lage sind, den Schrecken noch über Generationen hinwegzutragen.

Doch meine Zeit ist ohnehin reif – nach so vielen Jahren.

Aber nicht auf diese Art. Nicht wie bei all den anderen Gesichtslosen, die niemals aus dem Schatten ihrer Bedeutungslosigkeit heraustreten. Wenn, dann muss es mit einem großen Knall geschehen. Etwas Aufsehenerregendes, mit dem ich ihm das Wasser reichen kann. Etwas mit Bestand. Etwas, das über Generationen hinweg transportiert wird. Und das schon bald. Je eher, desto besser. Denn es dauert nicht mehr lange, dann erinnere ich mich nicht mehr. Dann betrete ich ihn: diesen Grenzbereich zwischen Leben und Sterben. Genau wie diese verschlagene Kreatur entziehe ich mich den Konsequenzen meiner Sünden. Langsam, aber stetig, vielleicht auch schneller als erwartet. Niemand weiß es. Dann, am Ende des Weges, sind wir beide wie verblödete, geifernde Hyänen, die sich misstrauisch umkreisen. Bis uns die Ewigkeit endgültig verschlingt …

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

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Epilog

1.

K inderlachen … Poltern, Getrampel, Gejohle, wildes Durcheinander-Geschnatter und zwischendurch immer wieder die lenkenden, aber liebevollen Stimmen der Erzieherinnen.

In den Gruppenräumen des Kindergartens war die Stimmung auf dem Höhepunkt, denn bald begann die tägliche Lesepause. Die Kleinen waren aufgekratzt und neugierig. Jede Woche wurden sie mit einem neuen Thema überrascht, und in jeder der drei Gruppen wurde aus einem anderen Buch vorgelesen.

Keine x-beliebige Geschichte aus der profanen Kinderbuchecke, sondern etwas Spannendes, mit dem die Erzieherinnen auch Wissen vermitteln wollten. Themen wie der menschliche Körper, Natur, Technik oder die Umwelt. Manchmal ging es um eine Jahreszeit, um Naturvölker, Bäume, Insekten, Schiffe, Mondraketen oder Mikroskope. Die Jungs liebten Indianer, die Mädchen Pferde. Der Vielfalt waren keine Grenzen gesetzt. Lernen sollte Spaß machen, und das bereits im Kindergartenalter. Die Zeiten hatten sich geändert; reine Aufbewahrungsstätten waren die Kitas schon lange nicht mehr.

Die Einrichtung in Hamburg-Duvenstedt war voll belegt. Es war nicht leicht, einen der begehrten Plätze für den Nachwuchs zu ergattern. Die Gebühren waren gering, das Gebäude erst wenige Jahre alt und die gut ausgebildeten Fachkräfte bei den zumeist wohlhabenden Eltern so beliebt, dass sich der einzige Mann im Team – der Hausmeister aus Polen – über so viel Harmonie zu wundern begann. Manchmal schaute er auch misstrauisch drein, denn die gute Laune und das chronische Grinsen einiger aufgekratzter Mütter, die offensichtlich Schauspielunterricht nahmen, ging ihm gelegentlich gehörig auf die Nerven.

In der blauen Gruppe ging es heute um einen alltäglichen Stoff, den jedes Kind kannte – das Wasser.

Auf den ersten Blick ein langweiliges Thema, doch spätestens bei dem Kapitel über die Geysire waren die Kleinen sichtlich fasziniert. Heiße Quellen, aus denen das Wasser wie von Zauberhand in die Höhe schießt, und das in einem immerwährenden geheimnisvollen Rhythmus: Von so etwas hatten die meisten Blauen noch nie gehört.

Es war die Gruppe von Rita Engel und Jenny, der Auszubildenden. Während Rita, offiziell die Leiterin der Gruppe, vor Energie fast zu platzen schien – ständig arbeitete sie an Projekten, Aktionen und Angeboten für die Kinder –, war Jenny eher ein zurückhaltender Typ, dem es schwerfiel, aus dem Schatten ihrer aufgedrehten Vorgesetzten hervorzutreten. Sie hatte erst vor Kurzem die Ausbildung zur Kinderpflegerin begonnen und musste sich den Respekt der kleinen Monster noch erkämpfen.

Jenny hatte sich den Berufseinstieg anders vorgestellt und spielte mit dem Gedanken, den Vertrag vorzeitig zu kündigen. Vielleicht wäre es besser gelaufen, wenn sie in einer der anderen Gruppen gelandet wäre, doch Frau Marquard hatte sie nun einmal in die Obhut von Rita Engel gegeben.

Frau Marquard war die Leiterin des Kindergartens. Eine überaus besonnene Person, die wie ein ruhender Pol in ihrem kleinen Büro zwischen den Gruppenräumen saß. Manchmal übernahm sie auch eine der Gruppen, in der Urlaubszeit oder bei krankheitsbedingten Ausfällen, doch die meiste Zeit des Jahres saß sie auf ihrem Drehstuhl, telefonierte, tippte auf der klapprigen Computertastatur herum und erledigte den leidigen Papierkram. Ihr Markenzeichen waren die roten, widerspenstigen Haare, die sie immer streng nach hinten zusammengebunden hatte. Das zottelige, feuerrote Etwas an ihrem Hinterkopf sah wie ein Wischmopp aus und jeder, der ihr das erste Mal begegnete, vermutete eine überaus temperamentvolle Person vor sich zu haben, doch die rote Marquard ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen.

An diesem Tag des Oktobers 2019 jedoch geschah etwas Unvorhergesehenes.

In den Gruppenräumen kehrte jetzt Ruhe ein.

Die Kuschelecken wurden kurzerhand in Beschlag genommen, die Kinder bildeten einen Kreis, und es dauerte nicht lange, dann lauschten sie mit leuchtenden Augen und offenen Mündern den Ausführungen ihrer Erzieherinnen.

Rita Engel war wie immer voll in ihrem Element. Sie gestikulierte wild, las mit dramatischer Betonung, gab zwischendurch Erklärungen ab und blickte dann immer wieder grinsend in die Reihe der Kinder, die an ihren schmalen Lippen hingen.

»Und jetzt!«, sagte sie mit erhobener Stimme, als sich die letzte Seite des Buches schloss, »wer von euch kleinen Nasen hat noch eine Frage?«

Schlagartig reckten alle die Arme nach oben. Bis auf Paul, dem in derartigen Situationen fast nie etwas Gescheites einfiel. Seine Stärken lagen woanders. Im mathematischen Bereich war er den anderen Kindern weit überlegen.

»Ich glaube, heute bist du dran, Melinda«, entschied Rita Engel und warf einen fragenden Blick zu Jenny, die nur stumm nickte.

Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Melinda. »Ich, ich … äh … wie viel Wasser gibt es denn eigentlich auf der ganzen Welt?«, wollte sie wissen.

Rita hob die Augenbrauen. »Eine wirklich interessante Frage, Melinda«, sagte sie, und in ihrer Stimme schwang so etwas wie Bewunderung mit. »Sehr gut. Das wurde bestimmt schon von schlauen Leuten berechnet. Mal schauen. Guck doch mal nach, Jenny.«

Jenny stand auf, holte das Smartphone aus ihrer Handtasche und gab die entsprechenden Suchbegriffe ein.

»Ungefähr 1,4 Milliarden Kubikmeter Wasser gibt es auf der Erde«, sagte sie kurz darauf und runzelte die Stirn. »Was immer das bedeuten soll?«

»… der größte Teil der Erde ist mit Wasser bedeckt«, ergänzte Rita. »Das ist wirklich eine ganze …«

Plötzlich hörten alle einen lauten Knall.

Die Kinder zuckten zusammen; Jenny blickte sich beunruhigt um und Rita stand auf, um den Gruppenraum zu verlassen. Sie war sich unsicher, wie das Geräusch einzuordnen war. Am ehesten kam ihr noch die Fehlzündung eines Automotors in den Sinn, doch in der Sackgasse, an deren Ende sich der Kindergarten befand, war um diese Zeit eigentlich kein Betrieb.

Vielleicht nur einer dieser dummen Jungenstreiche, dachte sie genervt. Einige dieser Idioten scheinen einen unerschöpflichen Vorrat an Silvesterböllern zu haben.

Energisch schritt sie auf den breiten Flur hinaus und traf auf einen Teil ihrer Kolleginnen, denen es ähnlich zu gehen schien.

»Was war das, Rita?«, fragte Manu Becker aus der roten Gruppe.

»Keine Ahnung. Vielleicht ein Böller? Oder …?«

Plötzlich schlug die Tür von Frau Marquards Büro mit einem scheppernden Krachen auf. Der Türstopper flog aus der Halterung, die Klinke ließ den Putz an der Wand zerplatzen, und um ein Haar wäre die Marquard, die fluchtartig ihren Arbeitsplatz verlassen hatte, um sich ebenfalls auf dem Flur einzufinden, von ihrer eigenen Tür erschlagen worden. Die Wucht des Rückstoßes war enorm. Die Kita-Leiterin griff sich mit schmerzverzerrtem Gesicht an die Schulter und japste nach Luft. »… Herr Dudek liegt …«, sie deutete auf das Fenster in ihrem Büro, »… da draußen auf dem Rasen. Er ist …«

»Ein Herzinfarkt?«, mutmaßte Rita Engel kreidebleich. »Wir rufen sofort einen Rettungs…«

»Da ist … Blut!«, stotterte Frau Marquard mit panisch aufgerissenen Augen. Sie zitterte am ganzen Körper. Ihre legendäre Gelassenheit schien sich in Luft aufgelöst zu haben. »Ein Schuss … Ich glaube, ich habe einen Schuss gehört.«

Die Frauen auf dem Flur schauten sich ungläubig an. Sorgenvolles Flüstern erfüllte den Gang. Was geschah hier? War dies das Ende ihrer kleinen, heilen Kindergarten-Welt? War das Chaos, das seit Jahren in den Städten immer weiter um sich griff, jetzt auch bei ihnen angekommen? In der beschaulichen Kita am Ende der Straße, in der nur kleine, unschuldige Kinder waren, die nichts weiter wollten als spielen, Spaß haben, staunen, toben und die Welt erkunden, die sich ihnen noch völlig unverdorben darbot. Jetzt fielen hier Schüsse, und der Hausmeister lag regungslos auf dem Rasen.

Sie alle hatten sich hier immer völlig sicher gefühlt. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass etwas passieren könnte. So wie an einigen Schulen, an denen es Amokläufe gegeben hatte. Furchtbare Gewaltexzesse, die so weit weg schienen, als hätten sie auf einem anderen Planeten stattgefunden.

Und jetzt? Würden hier in ihrer kleinen Oase der Unbekümmertheit die letzten Dämme der Menschlichkeit brechen? Oder gab es eine andere, einleuchtende Erklärung für den Vorfall?

Bisher hatten sie nur einen Knall gehört – vielleicht ein Schuss, vielleicht aber auch etwas ganz anderes. Der Hausmeister lag reglos auf dem Rasen und Frau Marquard hatte Blut gesehen, doch es war sehr wahrscheinlich, dass Herr Dudek lediglich einen Unfall gehabt hatte. Ja, eine schlimme Sache, aber kein Weltuntergang. Sicher keine Bedrohung für die Kinder und die Erzieherinnen.

Oder …?

Während Manu Becker ihr Handy mit zitteriger Hand aus der Hosentasche zog, näherte sich Rita Engel der Eingangstür, die aus Sicherheitsgründen immer abgeschlossen war.

»Lassen Sie bloß die Tür zu«, rief Frau Marquard energisch. »Finger weg …!«

Rita Engel drehte sich um. »Wir müssen doch wohl Erste Hilfe leisten«, kam es bissig zurück. »Der Hausmeister …«

Frau Marquard wollte partout nicht hören. Energisch schüttelte sie wortlos den Kopf und stellte sich in den Weg. Manu Becker hatte den Notruf bereits gewählt, doch als die Eingangstür mit einem brachialen Krachen aufschlug, fiel ihr vor Schreck das Handy aus der Hand.

Wie erstarrt blickten die Frauen auf den in Schwarz gekleideten Mann, der in der einen Hand ein Brecheisen und in der anderen eine Waffe hielt. Sein Gesicht wurde von einer Maske verhüllt, die nur seinen blau funkelnden Augen Freiheit gewährte.

In Rita Engels Universum gab es keine schwarz gekleideten Männer, die bewaffnet in Kindergärten eindrangen. Für sie sah das Ganze nach einem schlechten Actionfilm aus, der in Zeitlupe abzulaufen schien. Ihr erster Gedanke galt dem letzten Faschingsfest, bei dem sich eines der Kinder als Zorro verkleidet hatte – den Degen schwingenden Rächer der armen Leute. Dieser Mann, der sich seltsam ungelenkig bewegte, so als wäre er bereits im fortgeschrittenen Alter, erinnerte sie an das schwarze Zorro-Kostüm mit dem knielangen Umhang.

Sie stand wie angewurzelt da, den Mund weit geöffnet und beobachtete, wie der Mann das Brecheisen wegwarf und die Hand mit der Waffe anhob.

Schüsse fielen. Schreiend stoben ihre Kolleginnen auseinander, um in den Gruppenräumen Zuflucht zu finden. Der Fremde in dem schwarzen Kostüm schoss schnell. Viel schneller, als sie erwartet hatte.

Blutüberströmte Leiber fielen zu Boden.

Rita Engels Kopf schien zu bersten. Das Blut pochte mit enormer Intensität gegen ihre Schläfen, so als wenn es überkochen würde. Der Mann in Schwarz schien sie zu ignorieren. Sie dachte an die Kinder und sah in Gedanken, wie sich die Kleinen angstvoll und weinend in den Ecken der Gruppenräume versteckten.

Der Mann lief hinter den Flüchtenden her und schoss. Rita hielt sich die Ohren zu und begann zu schreien. Sie schrie so laut wie nie zuvor in ihrem Leben. Voller Panik sah sie, wie er in die Gruppenräume hineinlief. Vor ihrem geistigen Auge spielten sich unvorstellbare Szenen ab. Die Schreie der Kinder vermengten sich mit denen ihrer Kolleginnen; immer wieder fielen Schüsse.

Ihre Stimme drohte zu versagen.

Sie schloss die Augen. »Ich bin auf Mallorca, ich bin … auf Mallorca, ich bin …«, flüsterte sie immer wieder mit brüchiger Stimme, während sie nach Luft rang. Dann zerplatzte der Traum, mit dem sie ihre Todesangst zu bändigen versuchte. Sie riss die Augen auf und schrie …

Plötzlich stand ihr der Mann gegenüber und Rita verstummte.

»Ich kenne solche wie dich«, presste er hervor. »Ich weiß, wovor du Angst hast.«

Seine blauen Augen wirkten seltsam leer. So leer, als hätte der Tod schon das Leben aus ihnen herausgesogen.

Er schien sie eine Ewigkeit anzustarren.

Dann kam das Nichts …

2.

Drei Monate vorher

D er Himmel über dem Hamburger Polizeipräsidium verdunkelte sich. Schwere Gewitterwolken zogen auf, und als die ersten Regentropfen, so groß wie reife Kirschen, gegen die gewölbte Fensterscheibe prasselten, blickte die junge Kriminalrätin nachdenklich in einen sich ständig wandelnden Schleier aus Dunst und Regen hinein.

Er ist ohne eine greifbare Struktur, dachte die schlanke Polizistin mit dem hellen Teint und den weichen Gesichtszügen. So wie alles andere auch. Kaum hat sich ein Muster herausgebildet, bricht es schon wieder auseinander.

Teresa Kohlwein hatte keine Angst vor Instabilität, schließlich gehörte das Chaos zu ihrer alltäglichen Polizeiarbeit, doch sie war stets bestrebt, die Interferenzen des Lebens aufzulösen, damit sich die Dinge in der Waage hielten, wie sie immer sagte.

Eigentlich hatte Teresa längst Dienstschluss, doch wie so oft brütete sie noch über den Akten, für die nur sie persönlich die offizielle Genehmigung für weitere Ermittlungen besaß. Es ging dabei um nichts Geringeres als den terroristischen Anschlag vom 29. August 2017, bei dem in der Hamburger Hafencity mehr als fünfhundert Menschen ums Leben gekommen waren. Der Fall – eigentlich waren es vermutlich mehrere Fälle, die miteinander in Verbindung standen – war heute, zwei Jahre später, längst abgeschlossen, doch Teresa konnte der Versuchung nicht widerstehen. Und der neu eingesetzte Polizeipräsident griff nach jedem Strohhalm, denn seitdem der Terroranschlag das demokratische Gefüge im Lande stark beschädigt hatte, ging alles drunter und drüber. Zumal einer der Terroristen – der Kopf der Gruppierung – aus den eigenen Reihen gekommen war.

Gegenseitige Schuldzuweisungen waren seitdem an der Tagesordnung. Der Fall war geklärt, doch das Chaos um die Verantwortlichkeiten hielt unvermindert an. Noch leitete Kriminaloberrat Otto Sänger die Hamburger Mordkommission – Teresa würde zweifelsohne in nicht allzu ferner Zukunft in seine Fußstapfen treten –, aber Sänger und die gesamte Führungsriege innerhalb und außerhalb der Polizei waren aufgrund des Attentats stark angeschlagen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, dann würden neue Leute das Ruder übernehmen. Erzkonservative Frauen und Männer, die mehr innere Sicherheit und einen stärkeren Staat versprachen.

Schon jetzt hatte es zahlreiche Rücktritte und einige Suizide gegeben, sodass ein Vakuum entstanden war, in dem die blonde Kriminalrätin mit der Bob-Frisur und dem auffälligen Mittelscheitel eigene Ziele verfolgen konnte. Ein Vorteil für Teresa, der die internen Machtkämpfe zuwider waren.

Die Akten wurden wieder geöffnet – inoffiziell und nach Dienstschluss. Schließlich war dies der Fall der Fälle, der Jahrhundertfall, wie ihn die 34-jährige Beamtin nannte, und Teresa galt als eines der hoffnungsvollsten Talente innerhalb der Polizei Hamburg.

Vielleicht hatten die Kollegen etwas übersehen? Oder nicht tief genug gegraben? Sogar der Staatsschutz und das BKA hatten die Sache bereits ad acta gelegt. Die Täter waren gefasst, weitere Ermittlungen unerwünscht. Sie alle hatten Angst, unliebsame Erkenntnisse ans Tageslicht zu befördern, vermutete Teresa. Schließlich hatten zahlreiche Skandale der Vergangenheit dazu geführt, dass es mit dem Vertrauensverhältnis zur Polizei nicht zum Besten stand. Weitere Defizite sollten nicht an die Öffentlichkeit gelangen.

Teresa war sich bewusst, dass sie mit Fingerspitzengefühl vorgehen musste. Schließlich hatte der Anschlag die westliche Welt erschüttert und den Rechtsstaat ins Wanken gebracht. Die politische Lage drohte zu eskalieren. Die Hardliner witterten Morgenluft. Angst und Misstrauen beherrschten das Denken vieler Menschen; die Stimmung im Land kippte rasant.

Nicht ohne Grund, denn dieser Anschlag hatte Europa und somit die Welt verändert und sich tief in das Gedächtnis der Menschen eingebrannt.

Islamistischen Terroristen war es in einer Aktion gelungen, zwei Kleinflugzeuge, vollgepackt mit C4-Sprengstoff, in die Elbphilharmonie und die auslaufende Queen Mary 2 zu steuern. Zwei gewaltige Explosionen erschütterten Hamburg.

Das ehemalige Wahrzeichen der Stadt war seitdem aufgrund der schweren Beschädigungen gesperrt; die Queen Mary 2, das einst so stolze Kreuzfahrtschiff, wurde verschrottet. Über fünfhundert Tote und zahllose Verletzte waren zu beklagen.

Ein Ereignis, das einen Wendepunkt in der Geschichte Europas markierte. Seitdem hatte sich der Kontinent endgültig in eine Festung verwandelt.

Null Toleranz.

Teresa war politisch eher uninteressiert, musste als Führungskraft des höheren Dienstes aber auf dem Laufenden bleiben. Und zumindest so tun, als würde sie am politisch-gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

Inklusive Vorbildfunktion.

Ihr eigentliches Interesse aber galt dem jeweiligen Fall. Alles andere blendete sie aus. Was nicht sonderlich schwierig war, da es ohnehin wenig Abwechslung in Teresas Leben gab.

Die 3-Zimmer-Wohnung in Hamburg-Altona bewohnte sie allein. Die Eltern und der Bruder lebten in Berlin. Gegenseitige Besuche waren selten und von oberflächlicher Natur, sofern sich jemand in Hamburg blicken ließ. Teresa mied Berlin so gut es ging, zumal es bereits seit ihrer Jugend immer wieder zu Konflikten mit ihren Eltern gekommen war. Auch die Anzahl ihrer Freunde in Hamburg war eher bescheiden, da es einen triftigen Grund für die selbst auferlegte Isolation gab.

Desinteresse – auch in sexueller Hinsicht.

Sie hielt sich für unattraktiv, unscheinbar und war sich selbst genug. Ein undefinierbares, diffuses Gefühl, das bereits seit der Pubertät jegliches Verlangen in ihr unterdrückte. Keine intimen Gefühle für Männer – oder für Frauen.

Im Gegenteil: Zu viel Nähe bereitete ihr Unbehagen. Warum das so war, wusste sie nicht. Auch nicht, ob ihr dadurch letztlich etwas fehlen würde. Es war ihr egal und sie hatte auch nicht die Absicht, die Sache durch einen Arzt oder einen dieser Seelenklempner abklären zu lassen.

Sie war eben anders.

Und empfand ein Gefühl des Mitleids, wenn sich ein verliebtes Paar in der Nähe befand. Der enorme Aufwand für die Partnersuche und die nervenaufreibenden Auseinandersetzungen, die sich bei vielen Beziehungen nicht vermeiden ließen, blieben ihr schließlich nicht verborgen. Viel Energie, die ihrer Meinung nach nutzlos verpuffte.

Natürlich wusste Teresa, dass die anderen die Normalen waren und sie eine Außenseiterin, doch mit einer gehörigen Portion Gleichgültigkeit ließ es sich auch als absonderliche Einzelgängerin ganz gut leben.

Irgendwann wurde sie neugierig.

Im Internet gab es zahlreiche Artikel zu dem Thema Frigidität – der sexuellen Unlust. Dort wurden verschiedene Ursachen für die Gefühlskälte genannt. Hormonelle Störungen, Depressionen, Schmerzen, traumatisierende Erlebnisse oder eine Vergewaltigung waren nur einige der zahlreichen Gründe. Auch zum Thema Vaginismus – einer Art Verkrampfung der Vaginalmuskulatur – gab es eine Menge Material. Doch das Einführen eines Tampons bereitete ihr keine Probleme.

Vielleicht Asexualtität. Noch so eine Variante, für die es keine wissenschaftliche Erklärung gab. Man hat es, wenn man sich selbst als asexuell empfindet. Ein Leben lang. Kein Verlangen, gepaart mit dem Wunsch nach körperlicher Nähe – aber eben ohne Sex. Für die meisten ein Widerspruch.

Teresa entschied für sich, dass nichts davon auf sie selbst zutraf. Sie war weder frigide, asexuell oder krank, noch litt sie unter sonstigen sexuellen Funktionsstörungen. Wenn überhaupt, dann konnte man das, was mit ihr geschehen war, als eine Laune der Natur betrachten.

Eine gefühlskalte Polizistin ohne Empathie? Die nicht in der Lage war, sich in die Gedankenwelt eines Täters hineinzuversetzen? Völlig ungeeignet, so die einhellige Meinung zahlreicher selbsternannter Experten.

Doch sie lagen falsch.

Schließlich war sie keine Psychopatin. Gefühle waren ihr nicht fremd, und als rücksichtslose Egoistin konnte man sie ebenfalls nicht bezeichnen. Es ließ sich allerdings nicht leugnen, dass sie kalt und berechnend auf ihre Umwelt wirkte. Im Privatleben war dies ein Desaster, doch als Polizistin profitierte sie von der emotionslosen Disziplin, obwohl ihre Vorgehensweise von den Kollegen oft nur mit einem Kopfschütteln quittiert wurde. Auch aus dem Umfeld der Opfer kamen des Öfteren harsche Worte der Kritik.

Dennoch: Gepaart mit einer respektlosen, kaltschnäuzigen Hartnäckigkeit war es der Schlüssel zum Erfolg. Die Aufklärungsquote sprach eine eindeutige Sprache.

Ich löse Fälle, für die sich niemand zuständig fühlt …

Sie zahlt einen hohen Preis, dachten viele ihrer Kollegen argwöhnisch. Kein Privatleben, kaum Freunde, wenig Ablenkung, kein Ausgleich zu einem Job, der an den Nerven zehrt.

Die ist schnell ausgebrannt, hieß es.

Doch dem war nicht so. Es ging ihr gut. Doch dieser Zustand war nicht in Stein gemeißelt. Das wusste sie. Ohne die eigene Achtsamkeit war es nur eine Frage der Zeit, dann würde ihr Körper rebellieren.

So jedenfalls stand es in den Flyern des Medizinischen Dienstes.

Rückenschmerzen, Reizdarm, Depressionen, Burn-Out-Syndrom – der klassische Krankheitsverlauf eines Workaholics. Vielleicht wären dies tatsächlich die Konsequenzen eines unachtsamen Lebens, dachte Teresa selbstkritisch, aber es könnte auch alles ganz anders kommen.

Vielleicht ersticke ich eines Tages an der Zahnpasta? Oder ich werde Opfer eines Racheaktes!

Sie hatte nicht vor, sich durch ein derartiges Szenario beeinflussen zu lassen. Es gab keinen Grund, sich zu verändern, zu verbiegen oder die eigene Lebensweise zu verändern. Nicht, solange alles so weiterlief wie bisher. Sollten sich die Dinge eines Tages grundlegend ändern, würde sie sich mit dem Problem beschäftigen, wenn es vor der Tür stand. Nicht vorher.

Der starke Niederschlag ebbte ab und ging in einen Nieselregen über, der aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen schien. Teresa stand auf und ging zu der großen mobilen Pinnwand, die sie extra für ihren Jahrhundertfall hatte aufstellen lassen. Eine altertümliche Art, die Informationen eines Verbrechens darzustellen, doch Teresa liebte es, stundenlang gedankenversunken vor der überdimensionalen Tafel zu stehen.

Hier hatte sie einen kompakten Überblick über alle relevanten Informationen.

Querverweise, Fotos aller Beteiligten, Lebensläufe, Tatortbilder, Gutachten, Kopien von Dokumenten, Vermerke, Zeugenbefragungen, Verhöre, Kartenmaterial mit geografischen Hinweisen, Bildern von Tatwaffen und vieles mehr. Eine umfassende Sammlung an Informationen über den Jahrhundertfall. Und über die Fälle, die mit ihm in Verbindung zu stehen schienen. Die beschreibbare Pinnwand quoll fast über, doch das Chaos täuschte. Alles war nach einem Muster geordnet.

Informationsmaterial, das den Anschlag in der Hafencity betraf, der als eine der spektakulärsten terroristischen Aktionen aller Zeiten gewertet wurde, war im Zentrum der Wand angebracht. Dieser Fall stand im Mittelpunkt. Unterlagen über Verbrechen, Personen, Spuren und sonstige Ereignisse, die möglicherweise mit dem Attentat in Verbindung standen – direkt oder indirekt –, waren an den Rändern angeordnet. Offensichtliche Verbindungen hatte Teresa mit dem Filzstift markiert und hier und da Vermerke dazugeschrieben.

Ihre graugrünen Augen wanderten ruhelos umher und blieben dann im Zentrum der Tafel hängen. Das Bild dieses Mannes hatte sie schon oft betrachtet.

Was für ein unschuldig wirkender Sonnyboy, dachte sie fasziniert. Rote Haare, Sommersprossen, diese filigrane Brille auf der Nase und eine Figur, an der keine überflüssigen Pfunde zu entdecken waren. Mit dem blauen Sakko sah der Mittvierziger fast wie ein Konfirmand aus, der nicht einmal die kriminelle Energie aufbringen könnte, um die städtische Metro ohne gültigen Fahrausweis zu betreten.

Und dennoch handelte es sich bei dem Foto um den Mann, der für einen der weltweit größten Terroranschläge verantwortlich war. Es gab lückenlose, handfeste Beweise; niemand zweifelte an der Schuld dieses unscheinbaren Mannes. Einem ehemaligen Beamten der Hamburger Kriminalpolizei. Aus medizinischen Gründen für unzurechnungsfähig erklärt, wahnsinnig, unberechenbar und doch voller Geheimnisse und Widersprüche.

Der Mörder und Terrorist Daniel Brechter …

3.

D ie Räume sahen schäbig und vermüllt aus, an der Decke hingen unzählige Spinnweben und in der Küche stapelte sich das Geschirr im Spülbecken. Es roch nach verschimmelten Essensresten und kaltem Kaffee.

Wie gebannt starrte der alte Mann auf die geschlossene Tür vor sich.

Hinter dieser Tür geschahen seltsame Dinge. Etwas begann sich anzukündigen. Es befand sich jenseits seiner Vorstellungskraft. Schreie, die von Todesangst zeugten. Der Raum um ihn herum schien sich zu verzerren; die Wände waren plötzlich in Farben getaucht, die seine Augen noch nie zuvor gesehen hatten.

Als der alte Mann mit der Warze im Gesicht die Tür öffnete, sprang ihm das Grauen aus längst vergangenen Tagen entgegen. Verwirrt wich er einige Schritte zurück, stieß gegen den alten, abgewetzten Sessel und strauchelte zum Fenster. Mit zitternder Hand griff er nach dem schweren Vorhang und hielt ihn schützend vor sich.

»Was … was willst du … von mir?«, stöhnte der Mann, auf dessen Hose plötzlich ein großer nasser Fleck aufkeimte.

Die junge Frau grinste ihm unverhohlen entgegen. Ihr Hals war voller blauer Würgemale. Die Zunge hing ihr kraftlos aus dem Mund; Speichel tropfte auf den Teppichboden, und dort, wo einmal ihre Augen waren, konnte er nur blutige Höhlen sehen, aus denen sich fingerdicke Schlangen wanden. Die roten Reptilien mit dem schwarz-weißen Streifenmuster schlängelten sich um den Hals der Frau und würgten sie, sodass sich ihr Kopf wie ein Luftballon aufblähte. Er wurde größer und größer, bis er gegen die Decke stieß.

Die Frau fing an sich hin- und herzuwinden. Mit grotesken Bewegungen versuchte sie sich zu befreien. Doch ihr Kopf schwoll immer weiter an, bis er plötzlich mit einem lauten Knall auseinanderplatzte. Der Alte sah, wie matschige Gehirnmasse in alle Richtungen davonflog. Zitternd versteckte er sich hinter dem Sessel und schlug mit beiden Händen um sich. Er hörte ein leises Zischen. Die Schlangen näherten sich. Die Geräusche wurden lauter. Jeden Moment rechnete er damit, dass ihn eines der Reptilien erreichen würde, um die langen, gebogenen Zähne in sein Fleisch zu schlagen, doch dann verstummten die angsteinflößenden Laute.

»Lasst mich in Ruhe, ihr … Teufel«, röchelte er mit brüchiger Stimme. »Haut endlich ab. Hurensöhne. Ich hasse euch … Ich hasse euch alle …«

Die Stimme des Mannes wurde schwächer. Sein Kopf kippte gegen die Rückseite des Sessels, und nach kurzer Zeit war er eingeschlafen. Sein rasselnder Atem ging unregelmäßig. Der Kopf zuckte unruhig hin und her, und gelegentlich stieß er seltsame Geräusche aus, die wie das Grunzen eines Tieres klangen.

Eine Stunde später ging der alte Mann in das Bad, um seine Blase zu erleichtern. Während er sich die Hände wusch, betrachtete er sein Gesicht in dem zerkratzten Spiegel. Er fühlte sich wie gerädert. Der Anfall hatte Spuren hinterlassen. Zitternd rieb er sich die Augen und schüttelte den Kopf.

Jetzt, da er das siebzigste Lebensjahr überschritten hatte, ging es stetig bergab. Eine Ungerechtigkeit, die es zu akzeptieren galt. Schließlich waren viele aus seinem Jahrgang noch bei guter Gesundheit. Vor Vitalität strotzende Senioren, die Achttausender bezwangen und ganze Kontinente mit dem Fahrrad durchquerten.

Für ihn hatte das Schicksal einen anderen Weg vorgesehen.

Er kniff die blauen, kalten Augen zusammen und näherte sich dem Spiegel. Die riesige Warze prangte immer noch neben der Nase. Tiefe Furchen durchzogen sein kantiges Gesicht; der stoppelige Bart sah ungepflegt aus, und die spärlich wachsenden, grauen Haare auf seinem Kopf standen kreuz und quer. Es ließ sich nicht verleugnen, dass er älter aussah, als er eigentlich war. Ein Umstand, der auch den Schmerzen geschuldet war, unter denen er tagtäglich litt. Sie ließen sich dämpfen, doch die Arthritis hatte sich zu seinem ständigen Begleiter entwickelt. Ein treuer Freund, auf den man sich verlassen konnte.

Als wäre das nicht genug gewesen, spendierte ihm das launenhafte Schicksal ein weiteres heimtückisches Leiden, das all seine Pläne über den Haufen warf. Eine Diagnose, die ihm die Sinne raubte, sodass sich der kauzige Einzelgänger veranlasst sah, eine alte Gewohnheit wieder aufzunehmen. Die Einnahme der Mikrokügelchen.

Wechselwirkungen mit anderen Substanzen waren nicht ausgeschlossen.

Scheißegal, dachte er trotzig. Das ist die Strafe für deine Sünden. Man muss bezahlen; so ist es immer. Also lass es nochmal richtig krachen. Dann lohnt es sich wenigstens.

Die Inkontinenz, die Schmerzen, die Wahnvorstellungen: All dies war nur der Anfang eines langen Weges, an dessen Ende zwei Möglichkeiten standen.

Erstens: Suizid – und zwar solange er dazu noch in der Lage war –, oder zweitens: auf die Dunkelheit warten, die ihn irgendwann zweifelsohne einhüllen würde. Was vielleicht sogar von Vorteil war, denn sein leerer Geist würde den Teufel an seinem Bett gar nicht bemerken. Er würde ihm sabbernd entgegengrinsen, wenn er kam, um ihn abzuholen.

Doch vorher gab es noch einiges zu erledigen.

Seine Gedanken wanderten zu dem Mann mit den zwei Gesichtern, dem es gelungen war, die Welt zu verändern. Eine bewundernswerte Leistung. Schon lange spürte er neben dem Hass und der Wut auch einen nagenden Neid in sich wachsen. Und Bewunderung. Ein unangenehmes Gefühl, denn früher galt seine Bewunderung stets nur einer Person: sich selbst.

Er legte sich auf das Bett mit der verbeulten Matratze und starrte auf das Mobile, das über seinem Kopf von der Decke hing. Dort pendelten an feinen Fäden die Trophäen aus einer längst vergangenen Zeit.

Mittlerweile war er müde. Manchmal war sie noch präsent, diese kribbelnde Energie, doch es war kein Verlass mehr darauf. Dabei nahm der neue Plan in seinem Kopf allmählich Gestalt an. Er würde die Gelegenheit an einem der guten Tage nutzen müssen. Alles andere war egal. Es machte keinen Sinn, besondere Vorsicht walten zu lassen. Im Falle eines Misserfolges gäbe es ohnehin keine ernsthaften Konsequenzen zu befürchten. Im Gegenteil.

Also, lass es darauf ankommen …

Außerdem, irgendetwas schien ihn zu beschützen. Das war schon immer so gewesen. Es schien fast wie ein Fluch zu sein, doch vielleicht war jetzt die Zeit gekommen, diesen Fluch endgültig zu Grabe zu tragen.

Ein leichter Luftzug brachte das fragile Gebilde über seinem Kopf zum Schwingen.

Das Mobile der toten Frauen … zehn in Kunstharz konservierte Augen, die so lebendig wirkten, als würden sie ihm Blicke der Verachtung zuwerfen. Die Körper der Frauen waren längst verwest, doch ihre Augen blickten strafend auf ihn herab, so als wollten sie seine boshafte Seele in die Hölle verdammen.

Er hatte die Frauen erwürgt und ihnen die Augen herausgeschnitten. Das war vierzig Jahre her. Jetzt war es ruhig geworden um den betagten Killer, den das Alter und zahlreiche Krankheiten plagten. Unruhig wälzte er sich im Bett hin und her. Es waren wieder diese seltsamen Geräusche, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen.

»Calastana …, hör mir zu.« Die Stimme schien aus dem Zimmer nebenan zu kommen.

Er wollte aufstehen, doch seine Beine versagten.

»Calastana …«, flüsterte die Stimme mit schmeichelnder Sanftheit. »Die Vergangenheit ist eine Wüste des Grauens. Vergiss sie. Denk an die kurze Zeit, die dir noch bleibt. Du kannst es immer noch, … das Töten. Diese ganzen Huren, der Abschaum, diese elendigen Namenlosen. Du nicht, du bist etwas Besonderes. Du kannst es noch. Das weißt du …!«

»Ja, vielleicht, doch es wird …«, sagte er mit brüchiger Stimme, »… zunehmend schwieriger. Es ist schon so lange …«

Die Stimme schien jetzt durch den Raum zu schweben. »Calastana, du … wirst sie alle überraschen. Das ganze verdammte Pack … du bist wieder ein Microdoser, damit geht es dir besser. Und du kannst es hinauszögern. So ist es doch, oder etwa nicht?«

»Ich nehme es an …«, mutmaßte der alte Mann, den die Stimme Calastana nannte.

»Wie ich dich kenne, hast du bereits einen Plan«, sagte die Stimme verführerisch. »Ist er perfide genug? Kannst du sie noch einmal aufleben lassen, die alten Zeiten des Schreckens?«

»Ich glaube … schon«, sagte Calastana matt und fügte hinzu: »Doch der Tod ist mir zu wenig. Diesmal muss es bedeutsamer sein. So wie bei ihm. Der mit den zwei Gesichtern.« Seine Stimme gewann wieder an Stärke. »Einige sollen sterben, ja, doch viele sollen es mitansehen müssen. Und leiden … ein Leben lang. Diejenigen, die das Leben noch vor sich haben, sollen leiden. Ein Leben voller Albträume. Etwas, das sie niemals vergessen werden. Und sie werden sie weitergeben – die Albträume. An kommende Generationen.« Seine Stimme schien sich zu überschlagen. Hustend spuckte er die Worte heraus. Der Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln. »Ein Ereignis, das noch nie zuvor passiert ist. Etwas Spektakuläres, Schockierendes. Etwas, das niemand ignorieren kann. Meine Rache für all die Demütigungen.«