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Im Großraum Hamburg treibt ein bizarrer Mörder sein Unwesen. Des Nachts bricht er in Pflegeheime ein, tötet bettlägerige Senioren und stiehlt etwas, von dem niemand ahnt, was er damit vorhat - eine Gliedmaße des Opfers. Daniel Brechter vom Landeskriminalamt Hamburg und seine Kollegen ermitteln in einer Mordserie, die die Öffentlichkeit zutiefst schockiert. Hierbei gerät der selbst von Gewaltfantasien beeinträchtigte Kriminaloberkommissar, dessen demente Mutter in einem der betroffenen Pflegeheime untergebracht ist, zunehmend in eine beängstigende Situation. Es scheint eine Verbindung zwischen ihm und dem Mörder zu geben, dessen Geheimnis bis weit in die vom Terrorismus geprägten 70er Jahre der Bundesrepublik Deutschland zurückreicht. Wie es sich anfühlt, einen Blick in die Hölle zu werfen? Lesen Sie hierzu den Thriller "Der Modellbauer" von Gerald Gräf ...
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Seitenzahl: 335
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Zum Buch
Im Großraum Hamburg treibt ein bizarrer Mörder sein Unwesen. Des Nachts bricht er in Pflegeheime ein, tötet bettlägerige Senioren und stiehlt etwas, von dem niemand ahnt, was er damit vorhat – eine Gliedmaße des Opfers.
Daniel Brechter vom Landeskriminalamt Hamburg und seine Kollegen ermitteln in einer Mordserie, die die Öffentlichkeit zutiefst schockiert. Hierbei gerät der selbst von Gewaltfantasien beeinträchtigte Kriminaloberkommissar, dessen demente Mutter in einem der betroffenen Pflegeheime untergebracht ist, zunehmend in eine beängstigende Situation. Es scheint eine Verbindung zwischen ihm und dem Mörder zu geben, dessen Geheimnis bis weit in die vom Terrorismus geprägten 70er Jahre der Bundesrepublik Deutschland zurückreicht.
Zum Autor
Gerald Gräf, Jahrgang 1957, lebt in einer kleinen Ortschaft am Rande Hamburgs. Neben zwei autobiografischen Werken, »DIE LIQUOR-STRATEGIE« und »WO BITTE GEHT’S DENN HIER ZUM LEBEN?« (Letzteres zusammen mit Iris Lewe) veröffentlichte der Autor bisher folgende Bücher: »DER SCHATTEN VON APOPHIS« Mystery-Science-Fiction-Roman, »GOTTES UNSICHTBARE ARMEE« Thriller, »DER MODELLBAUER« Thriller, »DER PAKT DES TERRORISTEN« Thriller.
Die Reihe um Daniel Brechter wird fortgesetzt!
Wo »DER MODELLBAUER« endet, fängt »DER PAKT DES TERRORISTEN« an. Dort erfahren Sie mehr über den Hamburger Kriminalbeamten Daniel Brechter und das spektakuläre Schicksal des MODELLBAUERS.
Wie es sich anfühlt, einen Blick in die Hölle zu werfen …?
Prolog
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Epilog
Niemand tötet so wie ich …
Es gibt keine vergleichbaren Fälle. Die erbärmlichen Vollstrecker dieser Welt sorgen sich hingebungsvoll um ihre Opfer, solange sie noch am Leben sind, danach sind sie ihnen gleichgültig. Bei mir ist das anders; die Prozedur ist meine Erfindung. Ich ergötze mich an ihnen und dann zerstückele ich. Kein Mensch ahnt, was ich mit den Trophäen mache, und mittlerweile weiß ich genau, wie ich vorgehen muss, um an das Material heranzukommen, das ich so dringend für meine Arbeit benötige.
Als ich die Knochensäge vor zwei Jahren das erste Mal in die Hand nahm, um mir ein handliches Stück Bein von einer bettlägerigen Alten abzutrennen, sah ich vor meinem geistigen Auge diese schier unüberwindliche Grenze, die zu überschreiten alles verändern würde. Sie manifestierte sich vor meinem geistigen Auge zu einem schimmerndes Etwas, in dem sich eine Botschaft spiegelte, die etwas Endgültiges in sich trug.
»Wenn du die Grenze überschreitest, gibt es kein Zurück mehr«, flüsterte ich mir damals leise zu.
Was für eine abgedroschene, verschissene Phrase, doch genau so war es tatsächlich. Damals schien sich die Prophezeiung meiner Mutter zu erfüllen. Ich hätte sie umbringen sollen, doch ich hatte nie die Gelegenheit dazu.
Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie seltsam unwirklich sich dieser Moment vor der ersten Prozedur angefühlt hatte. Wie ich trotz der umfangreichen Vorbereitungen, für die ich ein volles Jahr benötigte, zögernd innehielt und ungläubig meine zitternde Hand bemerkte. Wie mir der Schweiß auf der Stirn hervortrat und wie ich darüber nachdachte, ob es schicklich sei, die Skrupel, die ich empfand, zuzulassen, und ob es nicht besser wäre, wenn ich mich gleich zu Beginn ihrer entledigen würde? Vielleicht würden sie mich beherrschen, sich unkontrolliert in mir ausbreiten und meine Arbeit erschweren. Hätte ich ihnen einen festen Platz in meiner Welt eingeräumt, wäre ich vermutlich nicht zu dem geworden, der ich heute bin. Skrupel sind wie Hundescheiße, die sich in den Fugen der Schuhsohlen festsetzt und die man trotz aller verzweifelten Bemühungen nie wieder vollständig entfernen kann, sodass die Schuhe letztlich im Mülleimer landen. Ich zwang mich damals, gleich zu Beginn meiner kreativen Phase eine souveräne Professionalität an den Tag zu legen, doch trotz all der Planungen, des sich Hineindenkens, trotz der angespannten Ungeduld und der neugierigen Erwartung war da immer auch ein unerträgliches Gefühl der Ungewissheit gewesen, das sich im Augenblick der Prozedur auf einen Punkt zu konzentrieren schien, in dem sich all das bündelte, für das ich die letzten Jahre gelebt hatte.
Würde ich die Kraft aufbringen, diese Grenze zu überschreiten? Ich hatte es tausendfach im Geiste durchgespielt, hatte an betäubten Schweinen geübt, ein totes Reh zerlegt, das mir im Morgengrauen vor den Wagen gelaufen war, und mich sogar in die Leichenhalle eines Friedhofes geschlichen, um einen kürzlich Verstorbenen zu zerschneiden, doch erst die Arbeit an einem Menschen, der die Schwelle des Todes erst vor wenigen Augenblicken überschritten hat, übertraf meine kühnsten Vorstellungen.
Heute weiß ich, warum das so ist.
Die Gliedmaße, die Muskeln, die Haut, die Sehnen und die Gelenke: Alles ist noch so … warm und geschmeidig.
Und immer wieder erlebe ich etwas überaus Faszinierendes, das mich in jeglicher Hinsicht für meine Anstrengungen entschädigt. Etwas, das mir kein Mensch geben kann, der bereits tot ist, wenn ich das Zimmer betrete. Etwas außerordentlich Lebendiges. Es sind die … Augen meiner Klienten. Wenn sie erwachen und sie sie öffnen, dann ist da dieser suchende Blick nach etwas Verlässlichem, nach einem Orientierungspunkt, der ihre ursprünglichsten Sehnsüchte nach Sicherheit und Stabilität befriedigt. Doch in diesem frühen Moment des Überganges vom Schlaf zum Erwachen ist da noch nichts. Nur ein Gefühl der Leere, das mir auch schon begegnet ist, als ich aus einem tiefen Traum erwachte. Es fühlt sich an, als wenn sich die Realität noch in einer Warteschleife befindet, die den Schlafenden daran hindert, ein Bestandteil der ihn umgebenden Wirklichkeit zu werden.
Irgendwann bemerken sie dann, dass etwas nicht stimmt. Sie werden unruhig. Das ist der Augenblick, in denen ich ihnen die Säge zeige. Die Pupillen weiten sich. Es scheint etwas aus ihnen herauszukommen, das ich das Elixier der Hölle nenne. Es berauscht mich, macht mich zu einem Dämon, der immer dann die Erde heimsucht, wenn die Prozedur beginnen soll. Ich warte lange, manchmal zu lange, da ich den Moment hinauszögern will, ihn am liebsten einfrieren würde, doch dann erbarme ich mich ihrer und drücke dem Todgeweihten das mit Chloroform getränkte Tuch auf den Mund.
Damals betrat ich das erste Mal eines dieser modrigen Zimmer, in denen der Tod schon unter dem Bett lauerte, um mir das zu nehmen, was ich am dringendsten benötigte. Damals hatte ich Blut geleckt. Der Zugang zu den Einrichtungen, in denen die von Fleisch umhüllten Gerippe ihr Dasein fristen, ist leicht, und dort finde ich alles, was ich brauche: Finger, Zehen, Arme und Beine im Überfluss …
Vor zwei Jahren verwandelte ich mich das erste Mal in den Dämon, der die Hölle verließ, um sie alle teilhaben zu lassen an der Erschaffung meines Werkes. Von da an fiel es mir leicht. Jeder wird sie bewundern und nicht erkennen, woraus sie gemacht sind. Niemand erbaut so etwas wie ich.
Niemand …
Lustlos blickte Daniel Brechter aus dem Fenster seines Büros, das sich in der fünften Etage des Hamburger Polizeipräsidiums befand. Der einem Polizeistern nachempfundene Gebäudekomplex lag etwas abseits der Innenstadt zwischen der U-Bahn-Station Alsterdorf und dem großen Stadtpark. Je nach Lage des Büros konnten dadurch einige Mitarbeiter der Polizei einen ungewöhnlichen Blick ins Grüne genießen, der für eine Großstadt wie Hamburg nicht selbstverständlich war. Im Moment allerdings konnte Brechter so gut wie nichts erkennen. Der sich seit den frühen Morgenstunden aufbauende Nebel wirkte wie eine undurchdringliche Wand aus pulsierender Watte, die durch die Ritzen des Fensters in sein Büro einzudringen schien. Ein bedrohlicher Anblick, der beklemmende Angstfantasien in ihm freizusetzen begann.
Er schüttelte den Kopf, so als wolle er seine Gedanken reinigen, und erinnerte sich an einen Horrorfilm, den er vor Kurzem zusammen mit Clara im Fernsehen gesehen hatte. The Fog – Nebel des Grauens gelang es, durch die Darstellung von langsam aufkommendem, undurchdringlichem Nebel eine angsterfüllende Atmosphäre zu erzeugen, der sich der Zuschauer nur schwer entziehen konnte. Clara teilte Daniel Brechters Vorliebe für Horrorfilme eigentlich kaum – sie fand mehr Gefallen an Psychothrillern – und spielte zu seinem Leidwesen während des Films fast die ganze Zeit an ihrem Smartphone herum. Er nahm sich vor, sie beim nächsten Mal darauf anzusprechen, doch zur zeit gab es dringendere Probleme, die ihn in jeglicher Hinsicht beeinträchtigten. Sogar das Verlangen, einen gut gemachten Horrorfilm anzuschauen, war vorübergehend verschwunden, da er das Gefühl hatte, sich selbst in einem zu befinden.
Vier äußerst bestialische Morde in nur achtzehn Monaten – ausnahmslos im Großraum Hamburg verübt. Zwei davon kurz hinter der Stadtgrenze im wohlhabenden Kreis Stormarn, der zu Schleswig-Holstein gehört. Im Oktober 2014 hatte der überaus pervers handelnde Killer zum ersten Mal zugeschlagen.
Wir konzentrieren uns ausschließlich auf einen Mann als Täter, doch es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass eine Frau hierzu in der Lage wäre, dachte Brechter und starrte in den Nebel hinein, in dem sich plötzlich seltsame, monströse Konturen herauszubilden begannen, die ihn an die Brut eines Dämons erinnerten.
Die Blutspur schien im Sommer des vergangenen Jahres mit einem Mord in dem Pflegeheim, in dem auch seine Mutter lag, vorerst zu enden, doch vor wenigen Tagen, in der Nacht von Sonntag, dem 10. April 2016, zu Montag hatte der Täter erneut zugeschlagen. Und wie bereits in den Fällen davor betäubte er das jeweilige Opfer im Schlaf, erstickte es dann vermutlich mit einem Kissen und amputierte eines der Gliedmaßen. Ein Arm oder ein komplettes Bein, welches er dann mitnahm, um … ja, um was zu tun? Brechter wusste es nicht; niemand wusste es.
Ein Psycho eben, dachte er und schaute auf die weiße Uhr mit den schwarzen Zeigern an der Wand. Noch fünfzehn Minuten bis zur Lagebesprechung. Brechter war der einzige Mitarbeiter der Soko, der nicht am Tatort erschienen war, da er zu diesem Zeitpunkt einen dringenden, dienstlichen Gerichtstermin wahrnehmen musste. Eine Routineangelegenheit, die der phlegmatische Kriminalbeamte – unerlaubterweise – mit einem Besuch bei seiner Hausbank verbunden hatte.
Die Fotos auf seinem Schreibtisch, die der Dienststellenleiter heute Morgen an alle fünf Mitarbeiter der Soko-Altenheim verteilt hatte, schockierten ihn nicht sonderlich, obwohl das Blut aus dem Fotopapier herauszufließen schien. Die alte Frau in dem Pflegebett sah seltsam entstellt aus. Der Stumpf des fehlenden Beines war nach hinten gedrückt. Er musste ihr die Hüfte gebrochen haben, bevor er das Bein abgesägt hatte. Der ausgemergelte Körper der Alten war vermutlich in kürzester Zeit ausgeblutet. Außerdem hatte er dem Opfer beide Arme ausgekugelt, um sie dann auf unnatürliche Weise auf dem Bett abzulegen.
Vermutlich will er damit irgendetwas symbolisieren, dachte Brechter und tastete nach seiner Waffe, die er seitlich im Holster trug. Die Waffe gab ihm ein Gefühl der Sicherheit.
Claras Vater ist ein Arschloch, dachte er unvermittelt und erinnerte sich an eine der seltenen Begegnungen mit ihren Eltern, die glücklicherweise schon lange zurücklag. Das Treffen hatte in einem Fiasko geendet. Wenn ich wollte, könnte ich ihn mit meiner Dienstwaffe erschießen. Vielleicht schon morgen …
Er nahm die fragile, randlose Brille ab und rieb sich die Augen. Diesmal also hatte der Täter seinem Opfer ein komplettes Bein entfernt. Sauber abgesägt, vermutlich mit einer professionellen Knochensäge, wie sie auch in der Gerichtsmedizin Verwendung findet.
Brechter stöhnte leise in sich hinein.
Er hatte beständig daran gearbeitet, sich möglichst unauffällig in dem riesigen Behördenapparat der Hamburger Polizei fortzubewegen, doch offenbar war er nicht vorsichtig genug gewesen. Im April 2015, kurz nach dem zweiten Senioren-Mord, der sich in einem beschaulich gelegenen Pflegeheim am Rande Hamburgs in Hoisendorf ereignete, wurde der 41-jährige Kriminaloberkommissar mit den auffällig roten Haaren zur Soko-Altenheim abgeordnet. Die Soko bestand nicht auf Dauer, doch immer dann, wenn der Täter erneut zuschlug oder wenn sich neue Erkenntnisse ergaben, wechselte die Crew ihren angestammten Arbeitsplatz und nahm die Tätigkeit in den vorgehaltenen Räumlichkeiten im Erdgeschoss des Hamburger Polizeipräsidiums auf.
Daniel Brechter lebte seit einigen Jahren mit Clara Sommer – einer Bezirksamts-Mitarbeiterin – in einer Eppendorfer Altbauwohnung zusammen und galt unter den Kollegen als freundlich und kompetent. Seine zahlreichen Sommersprossen verliehen dem schlanken, mittelgroßen Kriminalbeamten, der im Dienst ständig bunte Sakkos zu tragen pflegte, etwas Lausbubenhaftes, das ihn sympathisch erscheinen ließ, doch hinter der Sunnyboy-Fassade verbarg sich noch ein anderer Charakterzug. Niemand schien zu ahnen, dass er auch etwas Dunkles, Unberechenbares in sich trug.
Er hatte Clara während einer Fortbildung in Hamburg-Ohlstedt kennengelernt, in deren Verlauf ihnen die Vorzüge des Zeitmanagements nähergebracht wurden, und sich spontan in die schüchterne, aber anpassungsfähige 33-jährige Verwaltungsangestellte verliebt. Es war ihm bisher für gewöhnlich gelungen, seine abgründige Seite vor ihr zu verbergen – die Vorliebe für Horrorfilme und die damit verbundenen Albträume einmal ausgenommen –, doch die Mordserie schien irgendetwas Seltsames in ihm auszulösen. Er hatte das ungute Gefühl, seine Objektivität zu verlieren. Außerdem fiel es ihm während des Dienstes zunehmend schwerer, eine seiner Defizite erfolgreich zu vertuschen: die Bequemlichkeit.
In früheren Zeiten war es ihm zumeist problemlos gelungen, gegenüber den Kollegen den Eindruck eines viel beschäftigten Beamten zu vermitteln, der gigantische Aktenberge vor sich herschob, doch die Wirklichkeit sah anders aus. Brechter hatte sich über die Jahre hinweg zu einem Meister der Täuschung entwickelt und verstand es perfekt, andere für sich arbeiten zu lassen, doch in der überschaubar kleinen Gruppe der Sonderkommission gab es keine Nische mehr, in der er sich verstecken konnte. Er würde sich einen Alternativplan überlegen müssen und ging im Geiste die Liste der Personen durch, mit denen er jetzt wieder Tag für Tag zusammenarbeiten müsste.
Leonard Katzmann, den Leiter der Soko, hielt er für akzeptabel, obwohl ihm die Selbstverliebtheit des grauhaarigen Kriminalhauptkommissars gehörig auf die Nerven ging. Er schien nicht zu merken, dass die Kollegen hinter seinem Rücken über seine Eitelkeit tuschelten. Zugegeben: Er sah für sein Alter, das vermutlich irgendwo bei Anfang sechzig lag, ausgesprochen gut aus – drahtig, fast zwei Meter groß, sportlich durchtrainiert und solariumgebräunt –, doch er machte keinen Hehl daraus, selbst sein größter Fan zu sein, und gab sich auf diese Weise der Lächerlichkeit preis. Fachlich allerdings hatte der verheiratete Vater von vier Kindern eine Menge auf dem Kasten, und Brechter kam nicht umhin, Leo Katzmann zu den Guten in seinem Polizeiuniversum zu zählen.
Für Thomas Storak aus Kiel galt das nicht. Der aufstrebende Kriminalkommissar reiste im Bedarfsfall zusammen mit seiner Kollegin Ilka Sewensio als Leihgabe des Kieler Landeskriminalamtes mit dem Dienstwagen an, um die Hamburger Soko personell zu unterstützen. Auf den als schwierig geltenden Storak hätte Brechter nur allzu gern verzichtet. In Kiel hatte der 32-jährige Einzelgänger mit der auffallend großen Knollennase bereits einige spektakuläre Ermittlungserfolge vorzuweisen, doch von alleine fielen sie ihm nicht in den Schoß. Die Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Ziele zu verfolgen pflegte, ekelte Brechter geradezu an. Ein arrogantes Arschloch, das über Leichen ging, um einen potenziellen Täter zu präsentieren, der sich im Nachhinein nicht selten als unschuldig erwies. Seine Arbeit erinnerte Brechter an die Rasenmähermethode. Er nahm pauschal alle möglichen Beteiligten ins Visier und konnte auf diese Weise bisweilen auch den wahren Täter dingfest machen. Dass dabei jede Menge Porzellan zu Bruch ging, schien den als trinkfest geltenden Storak nicht sonderlich zu interessieren.
Ilka tat ihm irgendwie leid. Neben dem brachial agierenden Storak wirkte die junge Frau wie eine zerbrechliche Elfe, die sich im falschen Film befand. Kriminalkommissarin Ilka Sewensio war intelligent und fleißig, aber schüchtern und unterwürfig. Sie hielt sich im Hintergrund und war ständig damit beschäftigt, ihre Unsicherheit zu überwinden. Ihr äußeres Erscheinungsbild war unspektakulär. Schwarzes, mittellanges Haar, ein geradezu langweiliges Allerweltsgesicht und viele überzählige Pfunde, die sich gleichmäßig über ihren kleinen Körper verteilten. Brechter arbeitete trotzdem – oder gerade deswegen – gern mit ihr zusammen. Sie gab ihm ein stetiges Gefühl der Überlegenheit, das er genoss – aber nicht instrumentalisierte. Er achtete peinlich genau darauf, dass die ständig leidende Kollegin aus Kiel aufgrund seiner Überheblichkeit nicht noch mehr unter Druck geriet.
Die toughe Verwaltungsangestellte Corinna Feldt komplettierte die Crew, um die Einsatzzentrale im Präsidium am Laufen zu halten. Das unermüdliche Mädchen-für-Alles war in jeglicher Hinsicht ein unverzichtbares Mitglied der Soko-Altenheim. Brechter war beeindruckt. Recherchen aller Art, Telefonauskünfte, Aktenablage, Kopierdienste, Materialbeschaffungen und die Versorgung der Soko mit durchaus akzeptablem Kaffee: Die quirlige 53-Jährige mit der hohen Stirn und den weichen Gesichtszügen war ein Allround-Talent, ohne das die Truppe so gut wie handlungsunfähig gewesen wäre. Brechter war sich sicher, dass die attraktive Frau mit den brünetten Haaren und der gepflegten Ausdrucksweise das Bindeglied zwischen Katzmann, Storak, Sewensio und ihm darstellte. Dennoch blieb er zeitweise etwas auf Abstand, denn ihre Perfektion ließ ihn misstrauisch werden. Sie gab sich alle Mühe, jede Art der Schwäche zu verbergen, sodass ihm seine eigenen Fehler umso präsenter erschienen. Nur einmal fiel ihm auf, dass die emsige Alleskönnerin eine Schwachstelle zu haben schien. Corinna Feldt litt offensichtlich unter einer ausgeprägten Art der Höhenangst, die sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befand. Selbst bei geringen Höhen trat ihr der pure Angstschweiß auf die Stirn.
Es gibt so viele Ängste, dachte Brechter zerstreut und versuchte, seine eigenen zu klassifizieren: die Angst vor Schmerzen, vor dem Verlust der Würde, vor dem Tod, vor Demütigungen, die Angst zu versagen und die Angst vor dem Erwachen …
Daniel Brechter öffnete die Schublade seines Schreibtischcontainers und entnahm den neuen Tablet-PC, der ihn seit Kurzem zu jeder Lagebesprechung begleitete.
Der Eingabestift? Er durchwühlte alle Schubladen und war kurz davor, entnervt aufzugeben, da entdeckte er ihn auf der Computertastatur. Während sich die Kollegen mit Notizzettel und Kugelschreiber an den Konferenztisch setzten, nutzte er die digitale Technik, um sich einen Arbeitsgang zu ersparen. Teile seiner Notizen konnte er auf diese Weise später einfach in die umfangreichen Berichte kopieren, die er für jede neue Akte schreiben musste. Außerdem war ihm nicht entgangen, dass die Kollegen einen beeindruckten Blick auf seine Arbeitsweise warfen. Natürlich würde das niemand offen zugeben, doch er hatte ein Gespür dafür entwickelt, derartige Schwingungen im Raum zu deuten. Dabei hatte jeder die Möglichkeit, sich in die neue Technik einzuarbeiten, und irgendwann, so war es bisher immer gewesen, wollte niemand mehr auf die Arbeitserleichterung verzichten.
Reine Schwellenangst, dachte er und blickte zur Uhr. Es wurde Zeit.
Die fünf Mitarbeiter der Soko Altenheim wurden immer dann aktiviert, wenn eine entsprechende Einsatzlage bestand. Da zwei der Morde im Hamburger Umland auf Schleswig-Holsteinischem Gebiet ausgeübt worden waren, arbeiteten auch zwei Kollegen vom LKA Kiel in der Sonderkommission mit – selbstverständlich unter Leitung der Hamburger Behörden, die im Bereich der Schwerstkriminalität die größeren Erfahrungen vorzuweisen hatten.
Bislang konnten allerdings keine nennenswerten Ermittlungserfolge verzeichnet werden, sodass die Polizeiarbeit seit einiger Zeit unter massiver Kritik stand. Die Presse titulierte sie als Soko Demenz; eine Anspielung auf die unterstellte Unfähigkeit der ermittelnden Beamten. Katzmann ging das am Arsch vorbei, doch Storak verfiel jedes Mal in eine längere Phase launenhafter Stimmungsschwankungen, wenn er sich mit den Kollegen im Hamburger Polizeipräsidium einfand, um einen neuen Fall zu bearbeiten. Selbstverständlich standen auch die Altfälle der Mordserie im Fokus der Ermittlungen, doch es gab bisher keine heiße Spur und die Indizienlage war nach wie vor dünn. Brechter war gespannt, ob seine Kollegen diesmal brauchbare Hinweise gefunden hatten, und verließ das Büro, um an der ersten Soko-Besprechung des Jahres 2016 teilzunehmen. Er musste eine gefühlte Ewigkeit auf den Fahrstuhl warten, ging danach den kreisförmigen Flur im Erdgeschoss entlang und öffnete die graue Tür zum Konferenzraum.
»Moin«, grüßte Brechter knapp in die Runde seiner Soko-Kollegen, die sich bereits vollzählig um die quadratisch angeordnete Tischformation versammelt hatten. Ein allgemeines Begrüßungsgemurmel erfüllte den Raum; Katzmann nickte bedächtig und räusperte sich lautstark. Brechter setzte sich auf einen der freien Stühle, positionierte den Tablet-PC vor sich auf dem Tisch und startete die entsprechende Bürosoftware.
»Ah, guckt mal«, schwadronierte Storak daraufhin. »Brechter hat wieder sein Hightech-Gerät dabei. Dann ist der Fall ja so gut wie geklärt.«
»Irgendwann habt ihr alle so ein Ding vor der Nase«, konterte Brechter gelangweilt.
»Ich vermutlich nicht«, sagte Katzmann im Hinblick auf seine baldige Pensionierung. »Doch jetzt alle zusammen Klappe halten. Ilka, fassen Sie mal für Brechter die Fakten zusammen und bringen ihn auf den neusten Stand.«
Ilka Sewensio zuckte zusammen und sortierte umständlich die Unterlagen, die sie vor sich auf dem Tisch liegen hatte.
»Mach ich, Chef«, antwortete sie sichtlich nervös.
»Einiges weiß ich ja bereits«, sagte Brechter lächelnd, während er umständlich seine Brille putzte.
Die Kommunikationsgepflogenheiten innerhalb der Soko waren in ständiger Bewegung. Die meisten Kollegen waren per du, doch manchmal wurde auch gesiezt – insbesondere von Katzmann –, wobei auch dann oft der Vorname benutzt wurde.
»Also, Tatort ist diesmal das städtische Pflegeheim in Hamburg-Öjendorf«, sagte Ilka Sewensio einleitend. »Der Modus Operandi ist ähnlich wie beim letzen Mal. Zeugen gibt es nicht. Der Täter hat wahrscheinlich so gegen zwei Uhr nachts die Tür an der Rückseite des Gebäudes aufgebrochen und ist auf diese Weise über die Serviceräume zu den Stationen gelangt. Er hat sich vermutlich im Vorfeld einen Überblick über die gesamte Anlage verschafft – getarnt als Besucher. Allerdings gibt es keine Überwachungskamera am Haupteingang. Na ja, über das Treppenhaus ist er in den dritten Stock und betrat dann das Zimmer 031, das er vermutlich von innen verriegelte, falls die Nachtwache gekommen wäre. Die Tote, eine Frau Sieglinde Klatte, wurde aber erst am nächsten Morgen entdeckt. Er konnte die Tat also in aller Ruhe begehen.«
»Was haben wir über diese Frau Klatte?«, fragte Katzmann. »Gibt’s da zwischenzeitlich neue Erkenntnisse?« Er blickte zu Corinna Feldt.
»Überhaupt nichts«, antwortete die adrette Frau, die seit zwei Jahren Witwe war. »Frau Klatte war alleinstehend, mittellos und ihr Leben lang völlig unauffällig gewesen. Sie war einundneunzig Jahre alt, schwer krank und bettlägerig; da ist rein gar nichts. Vermutlich wäre sie demnächst sowieso gestorben.«
»Na dann hat der Täter dem Steuerzahler ja noch einen Gefallen getan«, frotzelte Storak grinsend.
Katzmann ignorierte die Bemerkung. »Berichten Sie weiter, Frau Sewensio.«
»Ja.« Sie verteilte Kopien des Befundes der Rechtsmedizin. Während die Kollegen den Text überflogen, sprach sie weiter. »Also, laut Rechtsmedizin trat der Tod so gegen drei Uhr ein. Wie bereits in den letzten Fällen hat der Täter …«
»Oder die Täterin«, unterbrach Brechter sie.
Alle starrten ihn an.
»… oder die Täterin«, wiederholte Sewensio irritiert, »äh, hat er also das Opfer mit Chloroform betäubt – das konnte durch die Obduktion zweifelsfrei bestätigt werden – und dann vermutlich mit dem Kissen erstickt.«
»Das Chloroform könnte er sich doch sparen«, sagte Storak. »Warum bringt er sie nicht gleich um?«
»Er … oder sie wird schon einen Grund haben«, kommentierte Brechter.
»Den wir aber nicht kennen«, sagte Katzmann und runzelte unzufrieden die Stirn. »Und das ist ärgerlich. Weiter!«
»Na ja«, sagte Sewensio. »Chloroform hält nicht lange an. Vielleicht will er die Amputation in Ruhe ausführen, aber auf der anderen Seite einen möglichst frischen Leichnam zerlegen.«
»Interessant«, sagte Brechter nachdenklich. »Er hat also wieder ein Bein amputiert und mitgenommen, stimmt´s?«
»Genau. Das rechte Bein. Wieder die ganze Sauerei. Sehr hoher Blutverlust, rechte Hüfte und beide Arme gebrochen, wobei die Arme seltsam verdreht abgelegt worden sind. Auf den Fotos ist das ja recht gut zu erkennen.«
»Vielleicht sollen die Arme einen Buchstaben symbolisieren?«, spekulierte Brechter. »Er will uns damit etwas sagen.«
Alle schwiegen.
»Was?«, fragte er verunsichert. »Findet ihr die Überlegung so abwegig?«
Storak grinste über das ganze Gesicht. »Wir haben was viel Besseres, Daniel.«
»Ach ja? Und da kommt ihr jetzt erst mit raus? Endlich eine brauchbare Spur? Raus damit, ich platze gleich vor Neugierde.«
»Er hat einen Zettel auf dem Nachttisch liegen lassen«, verkündete Corinna Feldt stolz und hielt ein Papier hoch, auf dem einige große Buchstaben aufgeklebt waren, die aus einer älteren Zeitung ausgeschnitten waren.
Brechter stieß einen lauten Pfiff aus. »Wow, wer hätte das gedacht. Dem wird offensichtlich langweilig. Er sucht die Auseinandersetzung. Standard-DIN-A4-Papier mit Buchstaben aus einer Zeitung drauf, nehme ich an?«
Katzmann nickte. »Wir sehen das genauso. Er will, dass wir ihm näher kommen, damit er uns dann zeigen kann, wie clever er ist. Der Fetzen war schon in der KTU, ist aber leider nichts bei rausgekommen.«
»Oder er will uns einen Hinweis geben. Er wird die Leichenteile ja irgendwie verwenden und hat das Bedürfnis, ein Publikum zu gewinnen, welches ihn dabei bewundert«, spekulierte Brechter.
»Wir sind schon gespannt, was du von dem Wort hältst, das er auf den Zettel geklebt hat«, sagte Storak und kratzte sich an der Nase. »Ach ja, und bevor du uns blöde Fragen stellst: Ja, wir haben das bereits gegoogelt.«
Feldt legte das Papier, das sich in einer durchsichtigen Folientasche befand, auf den Tisch und schob es zu Brechter hinüber, der laut zu lesen begann.
»ILMIG … Hm, was soll das bedeuten?«
»Was glaubst du?«, entgegnete Katzmann.
»ILMIG«, wiederholte Brechter nachdenklich. »Sagt mir nichts. Komisches Wort! Nie gehört, vielleicht ein Name? Eine Firma oder ein Produkt?«
»Also …« Ilka Sewensio kramte einen Vermerk aus ihren Unterlagen heraus. »Es gibt ein paar Personen, die so heißen, jedoch fast nur im Ausland. Die Recherchen hierzu haben allerdings nichts Verwendbares ergeben. Ansonsten haben wir keine Idee, was das bedeuten könnte.«
»Lag da sonst noch was Brauchbares rum?«, fragte Brechter und murmelte immer wieder leise das Wort »ILMIG« vor sich hin.
»Dann hätte ich dich schon darauf hingewiesen«, antwortete Katzmann genervt. »Wir hatten dreißig Beamte auf dem Gelände, die haben alles abgesucht und nichts gefunden. Die Kollegen hier …« – er vollführte eine lässige Handbewegung – »… haben alle Personen aus dem Umfeld des Opfers befragt, doch auch da ist nichts bei rausgekommen.«
»Schon gut, war ja nur eine Frage«, entgegnete Brechter diplomatisch. »Habt ihr denn mal mit den einzelnen Buchstaben gespielt?«
Ilka Sewensio fasste sich ein Herz. Die 29-jährige Kriminalkommissarin hatte ständig Angst, sich zu blamieren, doch ihr war auch bewusst, dass sie sich immer wieder aufs Neue den Herausforderungen ihrer Defizite stellen musste.
»Na ja, haben wir schon«, sagte sie vorsichtig. »Irgendwie hat da nichts gepasst, doch je länger ich darüber nachdenke …«
»Sag bloß, du hast was entdeckt?« Storak unterbrach sie lautstark und warf ihr einen Blick zu, der irgendwo zwischen Verachtung und Neid lag. »Warum rückst du denn erst jetzt damit raus? Da hätten wir ja in der Zwischenzeit …«
»Ist mir ja auch gerade erst eingefallen«, versuchte sich Sewensio zu verteidigen.
»Also was jetzt?«, unterbrach Katzmann die beiden. »Raus damit, Ilka, und wenn es noch so seltsam ist. Wir brauchen endlich eine Spur.«
»Na ja, wenn man die Buchstaben … äh, einfach von hinten nach vorne vertauscht, kommt äh …, kommt GIMLI raus.«
Alle starrten sie an.
Storak brach in schallendes Gelächter aus. »GIMLI? Was soll das sein? Jetzt sind wir genauso schlau wie vorher.«
»Mensch, Thomas, halt die Klappe.« Katzmann holte kurz Luft. »Ilka, was soll das bedeuten? Wer oder was ist GIMLI«, bohrte er nach.
»Na, GIMLI ist ein …«
»Na klar, … ein Zwerg«, vervollständigte Brechter Sewensios Satz. »GIMLI ist ein Zwerg aus der »Herr der Ringe«-Trilogie.«
Mann, was für ein Quatsch. »Dieser abgedrehte Fantasy-Kram?«, sagte Storak irritiert. »Das ist doch wohl nicht euer Ernst?«
»Warum nicht?«, fragte Brechter Storak. »Vielleicht ist unser Täter ein besonders kleiner Mensch mit Minderwertigkeitskomplex?«
»Vielleicht geht er auch nur einfach gern ins Kino?«, konterte Storak. Du Wichsbirne!
»War eines der Opfer kleinwüchsig?«, fragte Katzmann und blätterte wild in den Unterlagen herum, die vor ihm auf dem Tisch lagen.
»Fehlanzeige!«, antwortete Corinna Feldt wie aus der Pistole geschossen. »Das weiß ich genau.«
»Gut. Wir gehen der Sache trotzdem nach. Lasst euch was einfallen. Alles mit Zwergen oder kleinen Menschen ist von Interesse. Außerdem brauchen wir jetzt, wo wir diesen Zettel haben, den Polizeipsychologen.«
Wie immer war die Feldt umfassend informiert. »Ist derzeit im Urlaub. Mindestens noch für zwei Wochen. Oder soll ich wieder in Kiel anfragen?«
»Nein!«, sagte Katzmann. »Den auf keinen Fall. Der Kieler hatte doch immer nur in seinem Fachjargon gequasselt. Ich hab nie verstanden, was der eigentlich meinte.«
»Was ist mit dem dicken Bayern?«, fragte Brechter beiläufig.
»Dauerkrank«, sagte Katzmann, kniff die Augen zusammen und fügte hinzu: »Ich will ihn aber trotzdem haben, zwei Wochen können wir nicht warten. Außerdem: Auf Bollweidenthaler konnte man sich immer verlassen. Ich hoffe, er ist nicht auch noch an das Bett gefesselt. Kümmern Sie sich darum, Corinna?«
Die schlanke Brünette nickte.
»Also, an die Arbeit.« Katzmann hob die Hand. »Geht alles noch mal durch und sucht nach kleinwüchsigen Personen in den Akten. Telefoniert die Altenheime ab und befragt die Angehörigen.«
»Ich besuch mal diesen Verein kleinwüchsiger Menschen«, sagte Storak bedeutungsschwer. »Vielleicht gibt es da einen Hinweis.«
Katzmann starrte ihn lange nachdenklich an. »Mach das, aber halt dich zurück, sonst kannst du wieder in Kiel Dienst schieben. Wir wollen hier keine Negativ-Schlagzeilen wegen Diskriminierung von Minderheiten.«
»Nein«, sagte Storak trotzig. »Wir wollen Monster in der Stadt, die senilen Windelträgern die Beine absägen.«
In dem maroden Verlies herrschte eine eisige Grabeskälte, die seiner entweichenden Atemluft eine nebulöse Schönheit verlieh, die ihn innehalten ließ. Er hielt die Hand vor den Mund und bewunderte den Tanz des kondensierenden Wasserdampfes, der wie ein Nebelhauch zwischen seinen Fingern hindurchströmte. Er war schon einmal hier gewesen, doch die Erinnerung daran erwachte nur sporadisch, sodass er beschloss, dem dunklen Raum seine heutige Jungfräulichkeit zu entreißen.
Der Besucher ging einige Schritte und vernahm das Wimmern einer Frau. Oder waren es zwei, oder vielleicht drei wehklagende Stimmen, deren auf- und abschwellende Symphonie der Angst wie ein Streichorchester in seinen Ohren klang? Er versuchte, sich im Zwielicht des weiß gekachelten Raumes zu orientieren und bemerkte, dass seine nackten Füße in einer rötlich schimmernden Lache standen, auf deren Oberfläche sich die Silhouette eines Mannes spiegelte. Ein Muskel in seinem Fuß zuckte, sodass sich das Bild in wellenförmigen Ringen aufzulösen begann. Der Besucher trug einen blutbefleckten Lederschurz und hielt ein Reagenzglas in der Hand.
Er ging noch einige Schritte in die Richtung, aus der das Klagelied der Frauen zu vernehmen war, und blieb dann abrupt stehen. Der Fußboden vor ihm war mit Blutlachen übersät, in denen zahlreiche abgetrennte Körperteile lagen. Hände, Füße, einzelne Finger und Fleischstücke, auf deren Haut sich Bruchstücke von Tätowierungen befanden.
Ein halbes Arschgeweih, dachte er amüsiert, als sein Blick auf ein Stück Rücken fiel. Er sah, wie einige Ratten zwischen den Körperteilen geschäftig umherliefen. Eine von ihnen inspizierte einen Mittelfinger, nahm ihn in das Maul und verschwand damit in der Dunkelheit des Raumes.
Der Besucher setzte sich wieder in Bewegung, manövrierte zwischen den Leichenteilen hindurch und bemerkte zu seiner Rechten ein metallisches Rasseln, das ihn an Eisenketten erinnerte. Nur noch wenige Schritte, dann konnte er die Umrisse der Frauen erkennen, die mit hoch erhobenen Armen an der Decke angekettet waren. Als sie ihn bemerkten, wanden sich ihre Körper, und ihr Jammern und Klagen schwoll lautstark an, sodass seine Ohren zu schmerzen begannen.
Sie sollen einfach nur das Maul halten!
Er ging zu einer von ihnen, griff ihr in das volle, blonde Haar und zog ihren Kopf nach hinten. Angstvoll sah die unbekleidete Frau ihn an und flehte schluchzend, dass er ihr nichts antun möge, doch der Besucher verstärkte seinen Griff und blickte ihr dabei direkt in die Augen.
»Weine«, sagte er drohend. »Weine …, sofort. Ich brauche das Elixier.«
Die Augen der Frau weiteten sich. »Bitte …, ich …«
»Du jammerst doch schon. Also kannst du auch weinen, oder soll ich …?«
»Nein, bitte nicht … nein … Bitte!«
Tränen liefen ihr über die Wangen. Der Besucher nahm das Reagenzglas, entfernte den Verschluss und drückte es an ihr Gesicht, um die Tränen einzufangen.
»Du musst das verstehen«, sagte er hämisch und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die sie erschaudern ließ, »aber ich benötige das Elixier jetzt. Nachher wirst du es mir nicht mehr geben können.«
Sie schluchzte laut auf und wollte sich von ihm abwenden, doch er zerrte an ihren Haaren und sammelte die Körperflüssigkeit auf, die aus ihren Augen herausquoll und sich mit dem Angstschweiß vermengte, der ihre glänzende Stirn hinunterlief. Plötzlich hielt er inne, hielt das Reagenzglas prüfend nach oben und nickte zufrieden, als er den Inhalt kontrolliert und für ausreichend befunden hatte. Er ließ von ihr ab und fingerte ein kleines Etui aus der Innentasche des Lederschurzes, öffnete es behutsam und entnahm einen kleinen, hellbraunen Korken, den er unter größter Vorsicht in die Öffnung des Glases schob. Nachdem er das Etui mit dem Reagenzglas im Lederschurz verstaut hatte, blickte er sich gedankenverloren um.
Wo nur hatte er sie bei seinem letzten Besuch abgestellt? In der Dunkelheit konnte er keinen entsprechenden Anhaltspunkt erkennen, aber auf einmal lächelte er, so als wenn die Erinnerung urplötzlich einen Weg an die Oberfläche seines Bewusstseins gefunden hätte, doch das hatte sie nicht. Es gab etwas anderes, das ihm die Orientierung erleichtern würde.
Der Besucher hob den Kopf leicht an und sog den Geruch des Raumes tief in seine Nase ein. Es roch nach Moder, nach Blut und Verwesung, nach Erbrochenem, Urin, Fäkalien, ja es roch sogar nach Angst und Entsetzen, doch da war noch etwas Besonderes in dieser Komposition der Abscheulichkeiten. Etwas, das sich vom Rest der Gerüche gänzlich abhob und dessen Konsistenz einer völlig andersartigen Natur entsprach: das Benzin für einen Verbrennungsmotor.
Zielstrebig setzte er sich in Bewegung.
An der gefliesten Wand auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes stieß er auf ein Regal. Der Besucher erinnerte sich. Genau hier auf diesem Regal hatte er die Kettenmotorsäge deponiert, nachdem er sie bei seinem letzten Besuch gründlich gereinigt hatte. Er nahm das handliche Gerät, legte es auf den Fußboden, fixierte den Griff mit seinem Fuß und zog mehrmals heftig am Starterseil, bis die Maschine kraftvoll aufschrie. Das Kreischen der rotierenden Kette brachte die abgestandene Luft in dem Verlies zum vibrieren. Noch überlagerte es die immer lauter werdenden Hilferufe, die von der anderen Seite des Raumes zu ihm herüberdrangen. Er wusste, dass die Frauen in ihrer Todesangst schreien würden, bis ihm die Trommelfelle platzten, nahm den Kopfhörer aus dem Regal und setzte sich zielstrebig in Bewegung. Ihre sich windenden Körper schälten sich aus der Dunkelheit heraus und der Angstschweiß auf ihren Gesichtern glänzte ihm fiebrig entgegen.
Er hob die rotierende Kettensäge an, betätigte den Gashebel und …
Es war nicht das erste Mal, dass Daniel Brechter von einem Wachtraum gepeinigt wurde, in dem sich furchterregende Halluzinationen mit Angst und Gewaltfantasien paarten. Er versuchte verzweifelt, den Übergang zum Wachzustand durch eine Bewegung zu beschleunigen, doch ihm war bewusst, dass im Zustand der Schlafparalyse sein gesamter Körper einer vorübergehenden Bewegungsunfähigkeit ausgesetzt war. Eigentlich ein normales Phänomen, doch bei einem Wachanfall waren die leidgeprüften Betroffenen dem Zustand der Lähmung bei völlig klarem Bewusstsein ausgeliefert. In Daniel Brechters speziellem Fall kamen dann noch die Albträume dazu, in denen sich Elemente der Horrorfilme widerspiegelten, die er mit Vorliebe zu konsumieren pflegte. Er war gefangen in dem unerforschten Reich zwischen Schlafen und Wachen und träumte einen Traum voller Gewaltexzesse. In solch einer Situation war Brechter von alleine nicht in der Lage, dem Spuk im Verlies ein Ende zu bereiten. Obgleich er genau wusste, dass es sich nicht um reale Erlebnisse handelte, konnte er sich den Empfindungen, die ihm sein Gehirn vorgaukelte, nicht entziehen. Es könnte unter Umständen noch Minuten dauern, bis er endgültig erwachte und die Lähmung der Muskulatur hiermit beendet wäre. Ein sich endlos dahinziehender Zeitraum, in dem er mehrere Frauen mit einer Motorsäge zerstückeln würde.
Er müsste das Gemetzel bei vollem Bewusstsein erleben und versuchte verzweifelt, Clara auf sich aufmerksam zu machen, doch die Lähmung ließ auch seine Stimme versagen. Clara hatte sich eingehend mit dem Phänomen beschäftigt und ihm immer wieder nahegelegt, den Konsum an gewalttätigen Filmen einzustellen oder zumindest zu reduzieren. Vergebliche Liebesmüh, denn Brechter war uneinsichtig. Obwohl ihr das Prozedere jedes Mal eine Heidenangst einjagte, war die junge Frau mittlerweile in der Lage, ihn auf sanfte Art aus der misslichen Lage zu befreien, aber heute war Sonntag und Clara joggte, wie immer am Sonntagmorgen, mit ihrer Kollegin Birte um die Außenalster.
Clara …!!
Auf einmal hörte er ein lautes Knacken; das Türschloss wurde geöffnet.
Endlich, dachte Brechter erleichtert, Clara ist zurückgekommen. Durch den Türspalt drang helles Licht in das Schlafzimmer und es dauerte nicht lange, dann stand Claras zierliche Gestalt vor ihrem gemeinsamen Bett, auf dem ihr Freund mit geschlossenen Augen in einer regungslosen Starre lag.
»Du schläfst noch?«, fragte sie ihn herausfordernd und öffnete die Jalousetten, sodass der Raum augenblicklich in helles Licht getaucht wurde. »Und ich dachte, das Frühstück steht bereits auf dem Tisch.«
Der plötzliche Überfall war seine Rettung. Brechter bemerkte erleichtert, dass sich der Traum wie eine vorbeiziehende Sonnenfinsternis verflüchtigte und er die Kontrolle über seinen Körper wiedererlangte. Er streckte die Glieder, räusperte sich lautstark und lächelte sie verlegen an.
»Ich muss wohl verschlafen haben.«
»Hattest du wieder einen dieser Wachträume?«, fragte sie ihn mit kritischem Blick und befreite ihr langes, schwarzes Haar von dem Stirnband, das sie immer beim Joggen trug.
Er schüttelte nachdenklich den Kopf und antwortete gähnend: »Ich habe sie nur gemolken.«
»Du hast bitte was getan?« Clara schaute ihn fragend an und setzte sich auf die Bettkante, um seine Hand zu ergreifen.
»Das Elixier …, ich benötigte noch etwas von dem Elixier«, hörte sich Daniel Brechter sagen.
Das Pflegeheim in Hamburg-Wandsbek lag idyllisch in einem parkähnlichen Gelände, das von zahlreichen Laubbäumen, schlanken Koniferen und hochgewachsenen Büschen begrünt wurde. Daniel Brechter hatte seinen Wagen in einer abseits gelegenen Wohnstraße geparkt, da auf dem Gelände des Pflegeheims nur wenige Stellplätze für Besucher vorhanden waren. Gemächlich schlenderte er durch die Grünanlage auf den länglichen Gebäudekomplex zu, der aus einer asymmetrischen Formierung von Alt- und Neubauten bestand, die scheinbar planlos aneinandergereiht waren.
Sein Blick fiel auf einige Wohncontainer, in denen die Stadtverwaltung Asylbewerber untergebracht hatte. Aus Platznot-Gründen waren die grauen, unansehnlichen Unterkünfte aus Stahl und Blech auf ein freies Stück Wiese gestellt worden, das zum Gelände des Pflegeheims gehörte. An einer provisorisch aussehenden Holzkonstruktion, die vor den Containern stand, hing kopfüber ein totes Tier mit weißem Fell. Jemand hatte ihm den Kopf abgeschnitten, wodurch auf den ersten Blick nicht zu erkennen war, um was es sich hierbei eigentlich handelte. Aus der Abtrennungswunde tropfte ununterbrochen Blut auf den Rasen, und unzählige Fliegen umschwirrten den Kadaver, der sein Schicksal aller Voraussicht nach den ortsansässigen Asylbewerbern zu verdanken hatte.
Vermutlich eine Ziege, dachte Brechter angewidert und schüttelte den Kopf. Mit den Neuankömmlingen ändern sich auch die Sitten.
Er ging durch den Haupteingang und betrat das rote Backsteingebäude mit gemischten Gefühlen. In diesen Häusern, in denen die Menschen am Ende ihres Lebens auf die Erlösung warten, hatte der Tod – so kam es ihm vor – bereits seine Signatur in die abgestandene Luft hineingehaucht.
Außerdem: Genau in dieser Anlage geschah im Sommer 2015 der dritte Mord aus der Altenheim-Serie. Auch hier wieder die gleiche perfide Vorgehensweise: Erst erstickte der Täter sein Opfer, dann amputierte er eine der Gliedmaßen und nahm diese als Beute mit. Ausgerechnet in dem Pflegeheim, in dem auch seine Mutter – Ingelore Brechter – seit drei Jahren ihren Lebensabend verbrachte. Am anderen Ende des Flures, Zimmer zweiunddreißig, keine fünfzig Meter entfernt.
Nach einem Schlaganfall ging es mit der von zahlreichen Krankheiten geplagten Frau kontinuierlich bergab, und Daniel Brechter sah sich gezwungen, seine 76-jährige Mutter in einem der städtischen Pflegeheime unterzubringen. Eine Einrichtung, in der man auch auf die professionelle Betreuung von Patienten mit fortschreitender Demenz eingestellt war, denn auch diese Diagnose hatte seine Mutter vor einiger Zeit erhalten – ohne sie wirklich zu verstehen. Ein Befund, der gleichbedeutend mit einem Todesurteil war, das hier in diesem Heim Stück für Stück seiner Vollstreckung entgegensehen würde.
Als einziger Angehöriger hatte Brechter sich seinerzeit um die notwendigen Formalitäten gekümmert, allerdings musste er sich eingestehen, ansonsten nicht sonderlich viel zum Wohlbefinden seiner Mutter beizutragen. Die wöchentlichen Besuche würde er als notwendiges Übel empfinden – wenn da nicht diese überaus angenehme Begleiterscheinung wäre, die das wortarme Absitzen am Bett der dementen Frau erträglich machte. Es gab auch Momente, an denen so etwas wie eine Unterhaltung zustande kam, doch er konnte nie genau erkennen, wo bei der alten Dame die Realität aufhörte und wann sie zu fantasieren begann.
So wie vor zwei Wochen. Sie hatte ihm etwas von einer dritten Generation und einem Herrn von Krüger erzählt; Wortfetzen und seltsame Zusammenhänge, mit denen er nichts anfangen konnte. Allerdings gab sich Brechter auch keine besondere Mühe, das Gehörte zu hinterfragen. Für ihn war das nichts weiter als das unlogische Gefasel einer Dementen. Fast jedes Mal jedoch erwähnte sie die Grablow