Gottes unsichtbare Armee - Gerald Gräf - E-Book

Gottes unsichtbare Armee E-Book

Gerald Gräf

2,0

Beschreibung

Ist es vorstellbar, dass intelligente Viren das menschliche Gehirn bereits seit Jahrtausenden beeinflussen? Während der bekannte Schriftsteller und Biologe Paul Calastana an seinem neuen Roman arbeitet, verdichten sich die Hinweise, dass ein heimtückisches, intelligent handelndes Virus für die weltweit zunehmende Anzahl der absonderlichen Vorfälle verantwortlich sein könnte. Nur wenige Eingeweihte nehmen den Kampf gegen den unsichtbaren Feind auf, der die Infizierten zu Angepassten umfunktionieren will. Als eines Tages zwei Personen aus Calastanas Umfeld als vermisst gemeldet werden, ermittelt ein Beamter der Hamburger Polizei auf eigene Faust. Was er entdeckt, bringt ihn bis an die Grenzen seiner Vorstellungskraft. Und darüber hinaus …

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Zum Buch

Ist es möglich, dass die Schöpfung ein Virus hervorgebracht hat, das die Fähigkeit besitzt, das menschliche Gehirn zu beeinflussen – ja sogar die Gedanken eines Menschen zu steuern? Ein Mann, der sich selbst als Akteur bezeichnet, ein Informant, der mit ihm zusammenarbeitet, und ein Virologe aus Schweden sind davon überzeugt, einem intelligenten Virus auf der Spur zu sein, das bereits seit Jahrtausenden in die Geschicke der Menschheit eingreift. Ihren Vermutungen zufolge verwandelt das Virus diejenigen, denen ein qualvoller Tod erspart bleibt, in die Angepassten, die auf rätselhafte Weise miteinander verbunden sind. Während der bekannte Schriftsteller und Biologe Paul Calastana an seinem neuen Roman arbeitet, scheint die Anzahl der absonderlichen Vorfälle, für die das heimtückische Virus verantwortlich sein könnte, weltweit anzusteigen. Als eines Tages in Hamburg zwei Männer aus Calastanas Umfeld entführt werden, stößt einer der ermittelnden Beamten auf ein grauenvolles Geheimnis.

Zum Autor

Gerald Gräf, Jahrgang 1957, lebt seit frühester Kindheit in einer kleinen Ortschaft am östlichen Rande Hamburgs. Nach dem Tod seiner Frau veröffentlichte er 2009 sein erstes Buch, »Die Liquor-Strategie«, in dem er das Leiden und Sterben seiner Frau verarbeitete. Zwei Jahre später erschien dann der erste Roman. In »Der Schatten von Apophis« befasst sich der Autor mit dem Tod und der Vergänglichkeit allen Tebens auf der Erde. Ein weiteres autobiografisches Werk veröffentlichte Gerald Gräf 2013 zusammen mit seiner Lebensgefährtin Iris Lewe. »Wo bitte geht's denn hier zum Leben?« erzählt die Geschichte einer neuen Liebe, die aus der Trauer der beiden Autoren hervorgegangen ist.

GOTTES UNSICHTBARE ARMEE ist Gerald Gräfs erster Thriller.

Woher sie kommen, ist nicht bekannt. Für sie ist die Welt eine Ansammlung von Zellen. Ist eine von ihnen in eine Zelle eingedrungen, missbraucht sie diese als Kopierautomat, um sich selbst zu vervielfältigen.

In einem Milliliter Meerwasser konnten bis zu 250 Millionen Viruspartikel nachgewiesen werden.

Vor uns liegt ein Tal, in dessen Mitte wirerkennen müssen, dass die Läufe, die seineWeiden stillen, ohne unsere Träume nur staubigeSchatten ihrer selbst wären.

Aus »Das Vergessene erwacht« von Paul Calastana

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel:

DIE MISSION

2. Kapitel:

LEGENDE

3. Kapitel:

ELYSIUM

4. Kapitel:

DER AUTOR

5. Kapitel:

UNSTERBLICHKEIT

6. Kapitel:

DAS MONSTRUM

7. Kapitel:

DIE THESE DES AUTORS

8. Kapitel:

SUIZID

9. Kapitel:

DAS RITUAL

10. Kapitel:

JULIAN

11. Kapitel:

RENDEZVOUS

12. Kapitel:

ESKALATION

13. Kapitel:

BILL DECKERMEN

14. Kapitel:

HURE ODER HEILIGE?

15. Kapitel:

DER AKTEUR UND DER INDEXPATIENT

16. Kapitel:

BILLS SCHWEIN

17. Kapitel:

DAS DIKTAT

18. Kapitel:

DAS LAGER

19. Kapitel:

DER WRESTLER

20. Kapitel:

ZIMMER 218

21. Kapitel:

DER DIALOG

22. Kapitel:

DER GROSSE AUFTRITT

23. Kapitel:

SAFEWORD

24. Kapitel:

DAS PERFEKTE GESICHT

25. Kapitel:

DIE NILSBERG-CHRONIKEN TEIL 1

26. Kapitel:

DIE NARKOSE

27. Kapitel:

DIE NILSBERG-CHRONIKEN TEIL 2

28. Kapitel:

NIAGARA

29. Kapitel:

BUNDESPRESSEKONFERENZ

30. Kapitel:

ANGST

31. Kapitel:

DIE OPERATION

32. Kapitel:

WO DIE ENGEL SINGEN

33. Kapitel:

DER GESETZENTWURF

34. Kapitel:

INSTINKT

35. Kapitel:

DIE BLUME DES LEBENS

36. Kapitel:

WASSER

37. Kapitel:

FLUCHT

38. Kapitel:

DIE ANTHRAZITEN

39. Kapitel:

DER SAVANT

40. Kapitel:

KAMPF

41. Kapitel:

DAS ULTIMATUM

42. Kapitel:

ZAGGY

43. Kapitel:

DIE ANGEPASSTEN

44. Kapitel:

DIE VERNEHMUNG

45. Kapitel:

DER AKTEUR

46. Kapitel:

DER MODELLBAUER

1. Kapitel

DIE MISSION

Römische Provinz Galiläa, 13 nach Christi Geburt

Das Reich Gottes…, der Junge aus Nazareth konnte es sehen. Er streckte den Arm danach aus, atmete die reine, unberührte Luft und sog den Geruch der paradiesischen Gärten in sich ein. Nur ein kleiner Schritt noch, dann…

Das Bild verblasste.

Verwirrung, Panik, und Schmerz. Todesangst…

Kinderaugen, weit geöffnet, die ruhelos suchten. Niemand, der sich tröstend ihrer annahm. So oft es ging, umsorgte einer der Seinen den Erkrankten, doch das Tagewerk nahm alle in Anspruch, von Sonnenaufgang bis zur Dämmerung.

Zäh fließender, gelblicher Speichel tropfte aus seinem Mundwinkel. Er benetzte den staubigen Boden der Höhle mit einem Gebilde aus feucht glänzenden Linien und Punkten. Schweiß und Tränenflüssigkeit gesellten sich hinzu und vermengten die unfreiwillig ausgeschiedenen Absonderungen zu einer wachsenden Lache, auf deren Oberfläche sich das erschöpfte Gesicht des Jungen spiegelte. Stille erfüllte den Raum. Nur der rasselnde Atem des Kindes ließ das spärliche Licht der kleinen Öllampe zuckend hin und her flammen, sodass seltsam anmutende Schattenspiele an die karge Höhlenwand der Behausung projiziert wurden.

Der Junge aus Nazareth war krank.

Bereits seit Wochen wurde sein kleiner, schmächtiger Körper von Fieberattacken und Schmerzen gequält. Überall in der Siedlung waren Männer, Frauen und auch Kinder erkrankt; er hatte es aus den Gesprächen seiner Eltern herausgehört. Manchmal saß auch einer seiner älteren Brüder an der Schlafstelle und erzählte ihm von den Geschehnissen, die in jener Zeit die Menschen von Galiläa beunruhigten. Manche der Erkrankten starben, andere taten absonderliche Dinge, die in den Augen der römischen Besatzer stets als Widerstand gewertet und hart bestraft wurden. Nicht nur Palästina war seit vielen Monden von den Römern besetzt; das Imperium erstreckte sich um das gesamte Mittelmeer herum. Der Statthalter Roms verwaltete das Land mit harter Hand. Das Volk Palästinas litt unter den Besatzern; Abgaben und Steuern wurden ständig erhöht, jedes Fehlverhalten wurde umgehend bestraft.

Die Bevölkerung der Region musste in Armut leben, während die dekadente römische Obrigkeit ein allzeit ausschweifendes Leben in Reichtum und Luxus genoss. Jeglicher Widerstand wurde von den im Lande stationierten Soldaten erbarmungslos im Keim erstickt.

Der Junge aus Nazareth war noch jungen Alters, doch sein Geist war der eines Erwachsenen. Er war wissbegierig und klug, gleichwohl kannte er nur die Welt um sich herum. So musste es wohl recht sein, dass sein Volk unter der römischen Instanz in Knechtschaft und Abhängigkeit lebte. Hunger und Elend, Krankheit, Tod und Bestrafung waren offenbar nicht zu ändernde Dinge, die das Leben vieler galiläischer Juden in der römischen Provinz prägten. Erst als seine Mutter ihn eines Tages zu dem Tempel ihres Gottes mitnahm, kamen ihm erste Zweifel. Bereits kurz nach Betreten des heiligen Ortes empfand er diese Gewissheit, ein seltsames Gefühl der Richtigkeit. Dieser Tempel hier war sein Ort, hier war er… angekommen. Es war ein Platz der Ruhe, der Besonnenheit, ein Platz für Gebete und Meditation. Er fühlte eine tiefe Kraft, eine spirituelle Energie, die in seinen noch jungen Geist eindrang und seine Gedanken beflügelte. In diesem Moment erkannte er, dass die Welt der Menschen nicht immer so bleiben musste, wie sie war. Es war der Weg der Veränderungen, den sie beschreiten mussten. Der Weg des Glaubens an eine bessere Welt. Und an die Welt der Taten. Ohne die richtigen Taten gäbe es keine Veränderungen.

Der Junge aus Nazareth wäre gern öfter in den Tempel jenes einen Gottes gegangen, doch seine Zeit war noch nicht gekommen. Im Innenhof der Synagoge hatte er zusammen mit den anderen Jungen aus der Siedlung lesen und schreiben gelernt, hatte die alten Texte seiner Vorfahren gelesen und die Tora studiert. Er hatte die Pharisäer und ihre strengen Rituale kennengelernt. Mehrmals am Tage hatten sie die Gebete gesprochen, das hebräische Alphabet gelernt und alles über die religiösen Feste seines Volkes erfahren, dennoch waren sie alle nur der geringe Teil eines großen, göttlichen Planes. Er war ein Kind, eingebunden in die täglichen Verpflichtungen, die er seinem Familienclan gegenüber innehatte. Gehorsam musste seine Hand dem Vater, der als Zimmermann in Nazareth bekannt und geschätzt die Hölzer bearbeitete, zur Hilfe gehen. Der Tag war angehäuft von Arbeit. Das Vieh, die Weinstöcke, die Olivenbäume, der Anbau des Getreides und die Zubereitung der Speisen; jede Hand wurde gebraucht, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Auch das Wasser hatte seine Launen. Das Wadi – ein ausgetrockneter Flusslauf – führte nur nach starken Regenfällen das nasse Gut, und die Regenwasserzisterne im Innenhof des Hauses, das früher lediglich eine Höhle im nackten Felsen gewesen war, speicherte nur wenig Wasser.

Die Gaben der Natur waren schwerlich zu erlangen, doch mit dem rechten Geschick konnte sein Volk der Arbeit Früchte einhertragen. Mit wenig Nutzen, wie sich herausstellte, denn die Römer verlangten von Jahr zu Jahr immer höhere Steuern und Abgaben.

Sie waren lediglich Leibeigene, abhängig von den Launen ihrer Beherrscher. Doch das Reich Gottes dürstete nach Freiheit. Der Junge sah Aufstände und Unruhen, Kampf und Gewalt. Auch die Zeloten erhoben sich, um der Drangsalierung ein Ende zu bereiten, doch die Römer schlugen alle Aufstände blutig nieder, und nicht wenige der sich auflehnenden Landsleute wurden an das Kreuz geschlagen. Selbst die Einigkeit unter seinesgleichen war nur ein berauschender Traum; Zerrissenheit, Streit und Zwietracht durchzogen das Land wie schäumende Flüsse. In Jafa und Sepphoris hatte er seinem Vater oft bei der Arbeit geholfen und all die Widersprüche bemerkt. Juden und Samariter, Pharisäer, Sadduzäer, Essener, Hebräer, Griechen und Römer; viele Kulturen und unterschiedlichste Interessen. Ob es je einen dauerhaften Frieden zwischen den Menschen geben würde? Viele warteten auf den Einen, den, den sie den Messias nannten. Er wäre der Gesalbte, der Heilsbringer, der Erlöser, der Überbringer der Endzeit, und würde alles verändern. Das Reich Gottes würde verkündet werden, für alle Zeiten. Es war eine Hoffnung, doch wann würde er endlich am Horizont erscheinen? Wer würde es sein? Jemand aus seinem Dorf? Ein Mensch aus Fleisch und Blut?

Der Junge dachte viel darüber nach, weitaus mehr als alle anderen Jungen in seinem Alter. Die Erwachsenen wunderten sich über sein Wissen und seine Fähigkeiten, und es schien ihnen, als wäre er ein Außenseiter, ein Sonderling, doch er fügte sich ein in das Leben im Dorfe. Mit Geduld und demütiger Ruhe. Er wusste, dass nur ein Stück des Ganzen das Ganze begreifen und neu gestalten könnte.

Und nun waren so viele seines Volkes der schleichenden Pestilenz verfallen. Ein Teil der Arbeit blieb liegen; viele Gebete waren von Nöten. Auch zwei seiner Sippe waren erkrankt, ein Verwandter bereits im Reiche Gottes. In wenigen Wochen war der Rosch ha-Schana, doch die Vorbereitungen für das besinnende Neujahrsfest lagen brach wie die Weizenfelder in der Mittagssonne. Das Elend war groß und niemand wusste Rat, auch die Ältesten nicht.

Der Junge aus Nazareth war krank. Nicht zum ersten Mal in seinem Leben, doch soweit er sich erinnern konnte, waren die Beschwerden zumeist nur von kurzer Dauer und kaum vergleichbarer Intensität gewesen. Er hatte gesehen, dass auch andere Kinder in der Siedlung manchmal krank waren, sodass sie die Häuser nicht verlassen konnten. Oft hatten sie die gleichen Zeichen der Krankheit und dieselben Leiden am Körper und im Geiste, so wie er selbst.

So war es diesmal nicht.

Er wusste nicht, wie die Anderen die Erscheinungen empfanden, oder ob sie überhaupt welche hatten, doch nie zuvor hatte sein fiebernder Geist so viele wundersame Dinge gesehen. Es konnten wohl nur Träume sein, dachte er verwirrt, doch derartige Träume hatte er bisher noch nie geträumt. Seit Tagen bereits erschienen ihm diese sonderbaren Visionen, auch dann, so meinte er sich zu erinnern, wenn er gar nicht schlief.

Da waren Punkte, Muster und Farben. Sie schienen ein Gebilde zu formen, ein Horizont voller zuckender Sterne, die wie ein Tier springen und wie ein Mensch erzählen konnten. Und immer war da Bewegung. Vergehende und sich neu bildende Kristalle, farbige Strukturen von fremdartiger Schönheit. Sein Geist kannte keine Worte für das Gesehene, dennoch konnte er das Mensch-Tier-Wesen verstehen. Es sprach mit makellosem Wissen, das sich wie ein reich verzierter Teppich in seinem Geist ausbreitete. Es war das Wissen aller funkelnden Gestirne am Himmel, das Wissen vieler Dekaden der gewesenen Zeit. Das Muster bildete Speicher vergangener Erfahrungen, Strategien der Gegenwart und Modelle zukünftiger Erwartungen. Er sah das Bild des Tieres in seiner Gänze: seine Verästelungen, die Gabe des Reisens, der Wunsch nach Befriedung, die Verborgenheit und die geradezu verblüffende Einfachheit seiner kleinsten Teile. Er sah in die Vergangenheit und erkannte den allumfassenden Plan des Tieres, seine wachsenden Fähigkeiten und die unvorstellbare Größe. Das Wissen strömte wie ein unbändiger Fluss in ihn hinein, überflutete seinen Geist und durchschwemmte alle Fasern seines kleinen Körpers. Es schien ihn zu zerbersten, doch er widerstand.

Ein Verdacht kam in ihm auf.

Dies war nicht die Vorhersehung, so wie sie sein sollte. Dies war nicht des Erkranken Lauf der Dinge. Aus irgendeinem Grund widerstand er, vereinte sich mit dem Muster des Tieres, wurde zu dem Tier. Es ließ ihn teilhaben am reichen Schatz seiner Erhabenheit. Wie einen Auserwählten, einen Verbündeten.

Doch warum?

Das Tier war nicht der Gott, zu dem sie beteten und den sie verehrten. Der eine allwissende Gott, sein angebeteter Schöpfer aller Dinge, hätte sich ihm zu erkennen gegeben, sich offenbart. Doch was war es dann? War es ein Werkzeug Gottes? Vielleicht der Messias in einer anderen Gestalt, in einem fremdartigen Gewand? Doch dieses Wissen, diese Existenz war so fern jeglich menschlichen Daseins, dass nichts davon ihrem Glauben an Gott entsprach. Nicht ihrem Glauben und nicht ihrem Wissen von der Welt und von dem Himmel. Vielleicht würde er wieder gesund werden, vielleicht würde dieser Schatz des fremden Wissens in ihm verbleiben, dann wäre er wahrlich ein Auserwählter. Jemand, der in dem See des Wissens baden darf, der aber trockenen Fußes das Land betreten kann. Jemand, der die Fremdartigkeit in sich trägt, der aber unter Seinesgleichen bleibt. Vielleicht jemand, der eines Tages das unbeschreibliche Tier begreifen kann, es mit den Gedanken dieser Welt verknüpfen und daraus lernen kann. Dann wäre dieses Wissen möglicherweise die ganze Wahrheit und die reine Liebe, so wie es vorhergesagt wurde. Dann wäre das gesamte Universum wie ein Teppich aus Diamanten, gewebt mit dem Webstuhl des Glaubens.

Der Junge aus Nazareth war krank, doch irgendwann hatte er das Tal der Qual durchschritten. Er gehörte zu den Überlebenden, er wurde gesund. Die berauschenden Erfahrungen seiner Visionen verblassten nicht, im Gegenteil. Sie wurden ein Teil in ihm, ein unerschöpflicher Quell sprudelnder Muster, die ihm Türen und Tore öffneten. Inspirationen und Eingebungen, fernes Wissen und erkannte Zusammenhänge, gelassene Weisheit und aggressive Überzeugung, Gefühle, Andeutungen und Erkenntnisse.

Nur eines konnte er nicht erkennen: war sie gewollt, diese Teilhabe am Wissen des Tieres? War es Zufall oder Absicht? Ein Leck im Boote der Fremdartigkeit oder ein gezielter Pfeil der Erkenntnis? Und sollte es ihm, dem kleinen Jungen aus Nazareth, gelten, hatte dies einen Grund? Gab es eine Erwartung, eine Aufgabe, ein Ziel?

Er würde Zeit brauchen. Niemand konnte an seinen Erlebnissen teilhaben, niemand würde ihn verstehen. Er würde es in sich verstecken – vorerst. Wie einen Schatz, der behütet und gepflegt werden wollte. Er musste lernen, damit umzugehen, es für seine Zwecke umzuformen. Vielleicht war der Schlüssel zum Verständnis wie eine neue Sprache, die er erst lernen musste. Konnte er sie dann irgendwann verstehen, würde er nicht nur sehen und wissen, sondern auch fragen und antworten können. Dann wäre das Tor zu den Sternen offen, der Zugang zu neuen Erkenntnissen begehbar. Dann gäbe es keine Grenzen mehr, keine Beschränkungen. Alles wäre formbar, veränderbar. Vielleicht war dies der Grund für die Netze, die das Tier auswarf, dachte der Junge und versuchte, Einklang in die Welt seiner Gedanken zu bringen. Einklang mit dem Glauben an Gott und an Gottes Werk. Dieses Leben war so klein, so unbedeutend im Vergleich zu all den fantastischen Dingen, die er durch die Augen des Tieres gesehen hatte. Vielleicht musste alles viel langfristiger gedacht werden; ein Menschenleben war viel zu kurz für grundlegende, nachhaltige Veränderungen.

Vielleicht war dies der Anfang einer Mission.

Seiner Mission.Und all die Anderen, würde es bei ihnen auch so sein, oder war er der Einzige? Er schob den Gedanken daran beiseite. Wenn es so sein sollte, würde er es herausfinden. Er musste warten, die Zeit würde es an den Tag bringen. Irgendwann hätte er die Zeichen der Offenbarung erkannt und alles gelernt, das es zu lernen gab. Irgendwann könnte er die Muster lesen und wüsste, ob es neben ihm noch andere gäbe, die in das Antlitz des Tieres geschaut hatten. Irgendwann könnte er das Wissen und den Glauben in sich vereinen. Wäre dieser Tag erreicht, würde seine Mission beginnen.

Andere würden sich um ihn scharen, ihn verehren, ihm folgen und seine Gedanken mit sich tragen. Er konnte in die Zukunft sehen, konnte die Möglichkeiten erkennen, die ihm zuteil werden würden. Eine fantastische Welt offenbarte sich seinem kindlichen Geiste. Er sah Männer in bunten Gewändern, die ihn begleiteten. Berauscht vom Glauben gelobten sie, ohne Furcht um ihr Leben stark im Stand gegen alle Widrigkeiten dieser Welt zu kämpfen.

Und er sah… eine Frau.

Schön, wild, liebevoll, im Geiste klug wie keiner der Männer. Niemand erkannte ihre wahre Größe, doch ohne sie würden seine Visionen zerrinnen wie der Sand in der Wüste. Sie wäre die Spitze des Pfeiles, der Schatten des Wanderers. Wie das Wasser, das sein Antlitz spiegelte, so würde ihr Geist dem seinem hinzugefügt werden.

Zusammen könnten sie die Welt verändern.

2. Kapitel

LEGENDE

Los Angeles, USA, 1962

Gedämpftes Licht. Verbrauchte, mit Alkohol und Parfüm geschwängerte Luft, die sich nebelartig in den Zimmern der eingeschossigen Villa ausgebreitet hatte. Die Fenster waren geschlossen, die Jalousien heruntergelassen.

Sie war geflüchtet, hatte sich vergraben in die Welt ihrer Illusionen. Das Refugium der attraktiven Blondine glich einer Kapsel, einer Zeitmaschine, die es ihr ermöglichte, in ein anderes Leben zu reisen. Die Isolation war ihr Rettungsanker, die Einsamkeit ein verlässlicher Freund. Morgen vielleicht war das Alleinsein unerträglich, doch heute gab sie sich hin: diesem Gefühl, das sich irgendwo zwischen Selbstmitleid und Todessehnsucht bewegte.

Sie füllte das Glas bis zum Rand. Wie immer zu diesem Zeitpunkt haderte sie mit ihrem Schicksal.

Sie hatte nie ein Ticket erhalten, war nie wirklich eine Reisende auf den Schiffen des Lebens gewesen. Nur eine Galionsfigur, die von allen begafft wurde, ein Pin-up-Girl, dessen zerknittertes Bild in den Spinden der Arbeiter und Soldaten hing: Mehr war nicht im Angebot gewesen. Sie hatte die Bühne zum falschen Zeitpunkt und am falschen Ort betreten. Die guten Rollen waren alle besetzt. Die Äußerlichkeiten, die erotische Ausstrahlung waren ihr Kapital, doch die Bürde wog schwer. Wie ein Korsett aus Blei zwängte sie ihre Seele ein. Es war ein Fluch, dem sie sich nur schwerlich entziehen konnte.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als mitzuspielen, doch die Früchte ihrer Bemühungen waren wertlos. Es war ein ungleicher Kampf gegen Windmühlen; andere entschieden über ihr Schicksal. Ihre Ambitionen waren unerwünscht. Sie wurde auf das reduziert, was die Welt von ihr sehen wollte: ein Stück Fleisch, eine Erotik-Ikone, eine Sexgöttin, eine Frau, die nur den Bruchteil eines Wimpernschlages benötigte, um sich von einem lasziven Vamp in ein unschuldiges Kind zu verwandeln.

Alles, was sie fühlte, war eine große Leere. Da war nichts, für das es sich zu leben gelohnt hatte.

Reichtum, Ruhm, Glamour und Sex: Nichtigkeiten, die ihre Seele vergifteten. Sie hätte es ertragen können, hätte dem Spiel noch etwas abgewinnen können, wenn da etwas gewesen wäre, an dem sie sich hätte festhalten können.

Doch da war nichts.

Enttäuschungen, unbeantwortete Fragen, Ängste und die immerwährende Suche nach Liebe, sonst nichts.

Sie setzte sich hin, nahm den Block in die Hand und fing an zu schreiben. Es war die beste Möglichkeit, sich auszudrücken. Es fiel ihr leicht, die Wörter zu finden. Das Geschriebene war ein Spiegelbild ihrer Seele. Ein geschützter Raum, in dem sie die Person sein durfte, von der sie immer geträumt hatte. Ein Kind, das geliebt wurde, eine Frau, vor der man Respekt hatte, ein Mensch, der nach seinen Leistungen beurteilt wurde.

Ihr Schatz blieb behütet. Sie achtete penibel darauf, dass sich niemand unerlaubterweise ihren persönlichen Aufzeichnungen näherte, doch ein Teil ihrer Selbst konnte nicht verleugnen, dass die Sehnsucht nach Offenbarung einer ihrer großen Hoffnungen war. Nicht zu Lebzeiten, doch vielleicht würden zukünftige Generationen die Mechanismen dieser Gesellschaft verändern. Vielleicht würde man ihr Leben aus einer anderen Perspektive betrachten und ihr den Respekt zollen, den sie verdient hatte. Als Frau, als Künstlerin und als Mensch, dessen Preis für das Leben als Kunstfigur selten mehr als die Traurigkeit war.

Vielleicht konnten ihre Texte überdauern, dann würden die Menschen erkennen, wer sie wirklich gewesen war. Sie würden nicht nur auf ihren Körper schauen, in ihr nicht nur das dumme Ding sehen, sondern erkennen, dass sie sich stets bemüht hatte, einen guten Job abzuliefern. Sie würden bemerken, dass diese Frau trotz aller Widrigkeiten eine intelligente, liebevolle, von Angst und Einsamkeit getriebene, komplizierte Person war, die immer auf der Suche nach aufrichtiger Liebe war.

Fehler, rekapitulierte sie, so viele Fehler, mit denen sie sich immer tiefer in den Treibsand des Lebens gewunden hatte. Nuttige Kleidung, vulgäre Auftritte, Partys, falsche Beziehungen, Unzuverlässigkeiten, zu viele Tabletten und dieses elendige Lampenfieber.

Ja, sie war kompliziert.

Es gab nichts zu leugnen. Die Vorwürfe waren berechtigt.

Waren sie das?

Sie stand auf, ging mit dem Glas in der Hand in das Bad und schaute in den Spiegel. Sie musste lachen. Wer war dieses Spiegelbild? Eine schöne Frau? Eine Sexgöttin? Eine Witzfigur, die nie aus sich selbst heraus eine nennenswerte Leistung vollbracht hatte. Eine Person, mit der die Dinge immer nur geschehen waren.

Sie sah ihrem Abglanz in die Augen. Welche Faszination ging von diesem Gesicht aus? Das platinblonde Haar, der Schmollmund, diese sinnlichen Augen, der Schönheitsfleck auf ihrer Wange: Ein hübsches, aber auch durchschnittliches Gesicht, dessen Schönheit sicher nicht einzigartig war.

Oder vielleicht doch?

Schöne Frauen gab es viele, doch die Welt wollte ihren Körper, ihr Gesicht sehen, nicht die ebenmäßige Perfektion der unzähligen Makellosen, die in jeder Hinsicht dem Frauenbild der heutigen Zeit entsprachen. Warum? Worin lag der Unterschied? Ihre Begabung war mittelmäßig, ihre Selbstsicherheit eine Katastrophe und ihre Launen legendär. Sie hatte nie wirklich verstanden, womit sie die Menschen begeistern konnte. Es musste eine Nuance sein, die sie von den Anderen unterschied. Eine minimale Abweichung von der Norm, die dafür sorgte, dass sie anders war als die Anderen. Eine Unstimmigkeit, in der das Geheimnis ihres Erfolges lag. Ausstrahlung, Charisma,diese erotische Aura, von der sie umgeben war: Es waren Erklärungen, die sich nur schwerlich mit Worten beschreiben ließen.

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Vielleicht war es auch diese Verruchtheit, die die Männer so an ihr liebten. Und wenn schon, dachte sie, es spielte ohnehin alles keine Rolle mehr. Irgendwann würde die Glut dieser Anziehungskraft erloschen sein. Die Zeit war knapp. Es wäre ein Fehler, zu lange zu warten. Sie hatte alles, was sie brauchte, um die richtigen Entscheidungen zu treffen.

Jetzt…

Sie leerte das Glas in einem Zuge und warf es schwungvoll in die Badewanne. Zahllose Splitter verteilten sich auf der weißen Emaille. Während sie das Badezimmer verließ, klingelte das Telefon.

3. Kapitel

ELYSIUM

Römische Provinz Galiläa, 31 nach Christi Geburt

Bewegung…, ein Muster voller Punkte, ein sich nähernder Horizont. Tausende von Farben, pulsierender Reflexionen, ein Tor in die Ewigkeit, sich öffnende Kaskaden an Informationen, unendliches Wissen.

Das Ende der Mission? Seiner Mission?

Sollte es hier enden?

Der Mann aus Nazareth litt unsagbare Qualen. Tiefe Wunden durchzogen seinen geschundenen Körper, die Haut an seinem Rücken hing in Fetzen. Nägel in seinen Handgelenken und den Füßen hielten seinen Leib am Holze; eine Dornenkrone zierte sein blutiges Haupt. Ein langer Todeskampf, ein langsames Sterben. Die Römer ergötzten sich an seinen Qualen, so wie sie sich bei ihren Trinkgelagen am Wein berauschten, doch jede Faser seiner selbst sehnte sich nur nach einem: dem raschen Tod.

Sehenden Auges hatte er den Weg Gottes gewählt, sich den Peinigern seines Volkes entgegengestellt. Die Verkündung seiner Worte hatte den Menschen Erlösung versprochen. Sie hatten erkannt, dass er derjenige war, auf den sie seit langer Zeit gewartet hatten. Der Messias, der das Reich Gottes verkünden würde. Alle Hoffnungen der Menschen hatten auf seinen Schultern geruht. Er hatte die Last getragen. Ohne Angst, ohne Kalkül, ohne das Wissen um die Dinge, die geschehen würden.

Er hatte versagt!

Allzu leichtfertig hatte er seine Gabe wie einen Schild vor sich hergetragen, als dass sie ihn immerfort schützen würde. Diese so wunderbare, alles umfassende Gabe des Wissens, die ihm zuteil geworden war von dem Einen, der selbst allwissend ist. Er hatte darauf vertraut, dass sein Gott ihm zur Seite stehen würde. Wunder waren geschehen. Sie würden immer geschehen, ihm Sicherheit geben, seine Stärke demonstrieren. Sie würden dafür bürgen, dass er seine Mission beenden könnte. Dies war sein Glaube gewesen, in dessen Schatten er sich in Sicherheit gewähnt hatte.

Doch es war anders gekommen.

Er hatte einen mächtigen Verbündeten gehabt. Vielleicht den Mächtigsten überhaupt. Das Gebilde, das wie ein Tier springen und wie ein Mensch erzählen konnte, war allezeit in seinem Geiste gewesen. Er hatte zahllose Dinge erfahren, er hatte das Wissen gesehen und Zusammenhänge erkannt, von denen selbst die größten Gelehrten nichts ahnten. Das Gebilde – die Gabe – war wie ein Werkzeug gewesen, das Gott ihm zur Verfügung gestellt hatte. Er konnte sich seiner bedienen, es benutzen, von ihm profitieren.

Er konnte lernen, Zusammenhänge erkennen, sich in Andere hineinversetzten.

Die Dinge waren so eindeutig. Warum hatte er es so weit kommen lassen? War es nicht naiv gewesen zu glauben, dass man ihn verschonen würde? War es nicht nur eine Frage der Zeit gewesen, bis seine Reise enden würde?

Der Schmerz, das Leid beraubte ihn der Möglichkeit, einen Blick in sein Innerstes zu werfen. Er konnte nicht überleben, aber auch das ersehnte Sterben blieb ihm verwehrt.

Wer war ich, dass ich nicht erkennen konnte, dass mein Scheitern unumgänglich war?

Der Mann aus Nazareth flehte um Erlösung. Unvorstellbare Qualen folterten seinen geschundenen Körper. Er hob sein Haupt und schrie. Es war der Schrei eines Mannes, den nur der Tod noch besänftigen konnte.

Dann geschah es…

Eine nebelartige Substanz Überflutete seinen Geist. Die Dunkelheit war zum Greifen nah, doch plötzlich und unerwartet sah er das Gebilde, dieses so sonderbare Tier in seinem gepeinigten Geiste vor sich. Nur ein kleiner Schritt noch, dann…

Die Erde bebte…

Schreie, Panik. Umherlaufende Menschen, die voller Angst das Weite suchten. Ein chaotisches Spektakel voller Furcht, das die Menschen auseinander trieb. Umstürzende Ochsenkarren, Waren, die ziellos über die gepflasterten Wege polterten, Geröll, das von den Hängen herunterstürzte, Staub, der wie der Schleier einer ägyptischen Tänzerin die Sicht in die Ferne versperrte.

Der Zorn Gottes? Die Strafe für einen gottlosen Akt der Barbarei an seinem fleischgewordenen Sohn?

Unbeeindruckt beobachteten die römischen Soldaten das furiose Geschehen. Sie waren die Herren dieser Welt. Ihre Götter thronten über all den bedeutungslosen Götzen, die von den Bewohnern ihrer Provinzen angebetet wurden. Sie kannten keine Angst. Ihr Erfolg gründete auf der bedingungslosen Gefolgschaft, bis hin vor die Tore des Elysiums, durch welches sie nach ihrem Tode in das Reich der Glückseligkeit schritten.

Die Leiden des Mannes aus Nazareth neigten sich seinem Ende. Der Körper wurde zum Ballast, ein stetiger Quell aus Schmerz und ohnmächtiger Verzweiflung.

Er trennte sich von ihm.

Das Gebilde nahm ihn auf. Es vereinigte sich mit ihm, doch sein Muster blieb erhalten. Er wurde aufbewahrt, in Sicherheit geleitet. Seine Teile wurden der schier unerschöpflichen Macht des Gebildes hinzugefügt. Es sprach zu ihm, ließ ihm an dem Wissen um das, was geschehen würde, teilhaben. Er würde das Gebilde zu einem späteren Zeitpunkt kurzzeitig verlassen können, um seine Mission zu beenden, doch dann würde er endgültig an den Ort seiner Bestimmung zurückkehren. Es hatte ihn von seinen Qualen erlöst, hatte seinem Geist, dem Muster seiner Persönlichkeit, eine neue Bleibe zuteil werden lassen. Er würde es bereichern, so wie es seit endlosen Zeiten geschah. Es wuchs, nahm in sich auf, entwickelte sich. Es besiedelte neue Arten, hauchte ihnen den Funken der Erkenntnis ein, ließ sie wachsen im Gefüge der evolutionären Entwicklung und gewährte ihnen einen Platz im Kreise der Selbsterkenntnis. Manchmal tötete es seine Wirte oder gewährte ihnen einen außergewöhnlichen Platz in der Geschichte dieses Universums. So wie es bei ihm geschehen war.

Seine Absichten blieben im Verborgenen.

Der Leib des Mannes aus Nazareth hing leblos an dem groben Holze seiner Geißelung. Zum Leidwesen der Römer, denn es war ihr Bestreben gewesen, den Feind zu demütigen, ihn abzuschrecken. All diejenigen, die der Vollstreckung beiwohnten, sollten sehenden Auges gewarnt sein, sich nicht der Willkür ihrer römischen Besatzer entgegenzustellen. Die Kunde würde sich verbreiten. Jeder Mann, jede Frau und jedes Kind sollte die Wahrheit erkennen: Der Tod war kein gnädiger Erlöser, kein schneller Helfer für den Einzug in das Paradies. Sie zahlten einen hohen Preis für ihren verklärten Glauben an einen falschen Gott, der über allem stehen sollte. Ein tagelanger Todeskampf war die Antwort der römischen Besatzer.

Qualen, Schmerzen und Erniedrigung.

Das Leid dieses Mannes, der sich der Messias genannt hatte, war ungewöhnlich schnell gewichen. Der Tod hatte seinen Körper zu einem Zeitpunkt erlöst, der den Römern missfiel, doch nun waren sie machtlos und voller Zorn. Noch erkannten sie nicht, dass dieser so ungewöhnlich erscheinende Mann die Fundamente ihres Weltreiches ins Wanken bringen würde.

Viele Jahre würden vergehen, doch die Steine für das Haus jenes Gottes, für den der Mann aus Nazareth gepredigt hatte, waren bereitgestellt.

Ein neues Zeitalter bahnte sich seinen Weg.

4. Kapitel

DER AUTOR

Hamburg, Deutschland, irgendwann im Jahr 2007

Sie war fort, gegangen vor über zwei Jahren. Was soll's, erkannte ich, diese eigentümliche Angst vor der Einsamkeit, die anfangs einer meiner ständigen Begleiter gewesen war, musste sich mit mir arrangieren.

Ich hatte noch andere Begleiter. Solche, die bereits an meiner Seite standen, als Susanne noch bei mir wohnte, und solche, die an meine Tür klopften, nachdem sie ihre Habseligkeiten aus dem Haus geschafft hatte. Acht Jahre konnte sie mich beobachten, hatte meine Begleiter studiert und sich für uns aufgeopfert.

Dann ging es nicht mehr.

So hatte sie sich ausgedrückt, es mir verständlich gemacht, mich behutsam auf den Tag, an dem es geschehen sollte, vorbereitet.

Ich werde dich verlassen, Paul Calastana.

Na und!

Seit zwei Jahren wohnte sie in Altona, einem Bezirk am anderen Ende der Stadt. In dreißig Minuten wäre ich dort, doch was sollte ich ihr sagen? Dass es mir leid tat, dass ich sie immer noch liebte oder dass ich erst seit ihrer übereilten Flucht Über diese Inspirationen verfügte, die ich so maßlos vermisst hatte?

Wenn ich heute in den Spiegel blicke, sehe ich einen 54-jährigen, ergrauten Roman-Autor, der mit seinen markanten, eckigen Gesichtszügen und diesen leuchtend blauen Augen deutlich jünger aussieht. Na gut, dachte ich selbstkritisch, wie bei den meisten in meinem Alter war die Figur etwas aus dem Leim geraten, doch die Spuren eines nicht gerade asketischen Lebenswandels hielten sich in überschaubaren Grenzen, sodass sich dem Betrachter ein durchaus respektables Gesamterscheinungsbild präsentierte. Es fiel mir schwer zu glauben, dass sich eine so intelligente Frau, wie Susanne sie zweifelsohne war, der Faszination des Erfolges auf derart radikale Weise entziehen konnte.

Sei's drum, überlegte ich, wenn ich wollte, hätte ich schnell eine andere Frau an meiner Seite gehabt. Erfolg weckt Begehrlichkeiten und macht sexy; dies gilt umso mehr, wenn es eine schriftstellerische Leistung ist, die man vorzuweisen hat.

Zugegeben: Die Jahre vor 2005 waren von Mittelmäßigkeit geprägt. Mein Lektor, ein kauziger, älterer Herr mit der – fast unheimlichen – Fähigkeit, den literarischen Zahn der Zeit im Vorwege zu erahnen, nahm fast alle meine Manuskripte mehr oder weniger kommentarlos an, doch den wirklich großen Erfolg konnte ich damals nicht verbuchen. Als ehemaliger Wissenschaftler, der in seinen Romanen auf ein fundiertes Fachwissen zurückgreifen konnte, hatte ich mir schon frühzeitig einen Namen gemacht. Positive Kritiken, gute Verkaufszahlen, Lesungen und ansehnliche Tantiemen: All dies hatte sich bewahrheitet, doch meine Ansprüche lagen höher. Ein Bestseller, zumindest unter die ersten Fünf, das war der Traum, den ich jahrelang vergebens geträumt hatte.

So gesehen war es Susanne, die mir bei der Erfüllung meines Traumes zur Hand ging. Unwissentlich hatte sie mir die Inspirationen der Einsamkeit auferlegt. Wie Montageschaum, der sich in alle Winkel einer aufgebrochenen Ziegelwand hineinzwängte, hatten sich die Eingebungen meines Geistes in den Hohlräumen einer enttäuschten Existenz platziert. Auf einmal stand mir ein Elixier zur Verfügung, von dessen Effektivität ich nie zu träumen gewagt hätte.

Es begann mit Schmerzen.

Ziehende, bohrende Schmerzen, die sich wellenförmig über meinen gesamten Körper auszubreiten begannen. Es fühlte sich an, als wenn ich mich in meiner Gesamtheit rekonfigurieren würde. Den Schmerzen folgte ein Gefühl der Leere. Regungslos saß ich an jenen Tagen gedankenverloren an meinem Computer und starrte in den erloschenen Bildschirm. Oft stand ein Becher mit dampfend heißem Kaffee neben der Tastatur, von dem ich mich provoziert fühlte. Er schien darauf zu bestehen, möglichst schnell entleert zu werden. Ich rühre ihn nicht an, dachte ich mutlos und gab mich den Tagträumen hin. Zwischendurch ging ich schlafen, wusch mich, aß etwas und erledigte lustlos die notwendigen Dinge des Alltags.

Nach einer Woche öffneten sich die Tore.

Mein Bildschirm begann zu leuchten. Buchstaben, Wörter, Sätze erwachten zum Leben. Es schien mir, als hätte jemand einen Hahn aufgedreht, dessen Zufluss sich in meinen Kopf ergoss. Das Vakuum begann sich zu füllen, ein unerschöpflicher Strom von Inspirationen erlaubte es mir, ohne Unterlass zu schreiben.

Stundenlang, nächtelang.

Die Ideen waren gut. Ich war überrascht von der Leichtigkeit, mit der ich plötzlich fast druckfertige Sätze in den Rechner beförderte. Zügig nahm die Story Gestalt an, und bereits nach wenigen Tagen hatte ich das Gerüst für einen spannenden Roman unter Dach und Fach. Meine wissenschaftlichen Kenntnisse erwiesen sich wieder einmal mehr als überaus hilfreich, doch als ich euphorisch am Feinschliff der Geschichte arbeitete, kamen sie zurück.

Die Ängste.

Ein kurzer, einmaliger Höhenflug? Ein Rausch, beendet mit einem üblen Kater am nächsten Morgen? Ich befürchtete, dass diese so verzückenden Eingebungen nicht von Dauer waren. Ich hatte Angst, eines Morgens mit dem Wissen aufzuwachen, dass der Spuk vorüber war. Wer auch immer den Hahn aufgedreht hatte, er konnte ihn auch wieder schließen. Es wäre die schlimmste Erfahrung, die ich je gemacht hätte. Ein kurzer Blick nur in das Paradies, für Jahre wieder in der Hölle.

Ein Albtraum!

Nun, es kam unerwartet anders. In Wellen, in Kontraktionen. Die Phase der Inspirationen verblasste. Tagelang Funkstille. Langsam verfiel ich in Resignation, doch dann kam sie urplötzlich zurück. Das Spiel wiederholte sich mehrmals, allerdings unter sich verändernden Sequenzen. Die Phasen der Leere wurden von Mal zu Mal kürzer. Die Inspirationen begannen,die Oberhand zu gewinnen. Meine Ängste zerronnen wie der feine Sand, den der Saharawind von einer der zahllosen Dünen abtrug. Die Sitzungen am Computer wurden länger und intensiver; die Zahl der Möglichkeiten potenzierte sich. Jede neue Idee, jeder spektakuläre Einfall löste eine Lawine aus, die mich zu immer neuen Eingebungen führte.

So also, spekulierte ich, fühlte sich meine wahre Bestimmung an. Palters würde begeistert sein.

5. Kapitel

UNSTERBLICHKEIT

Los Angeles, USA, 1962

Tagträume. Eine Welt, deren Konturen aus Watte zu bestehen schienen. Sie hatte sich ihrer Kleidung entledigt und tanzte. Die Flüssigkeit in ihrem Glas schwappte über; sie lachte laut auf.

In diesem Zustand waren sie erträglich – die Erinnerungen an die Zwangseinweisung in das New Yorker Krankenhaus. Die Ereignisse des Februars 1961 markierten einen Wendepunkt in ihrem Leben. Sie wurden zu einem unauslöschlichen Fragment ihrer Seele. Ihre Empfindungen, ihre Entscheidungen, ja das gesamte Spektrum ihrer Persönlichkeit hatte sich seitdem verändert.

Diese idiotischen Ärzte! Wie war es nur möglich gewesen, dass man sie gegen ihren Willen in die Psychiatrie hatte einweisen lassen? Dieses schreckliche Gefängnis mit all den wirklich verrückten Menschen, die nichts mir ihr gemeinsam hatten. Sie wusste es nicht, konnte sich nicht erinnern. Es spielte sowieso keine Rolle mehr. Es war die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen, doch in dieser Zelle mit den vergitterten Fenstern und dem hässlichen Bettgestell aus Metall war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass es an ihr lag, die Zukunft nach den eigenen Regeln zu gestalten.

Die Tanzenden hatten es ihr gesagt.

Sie hatte sich in jener Nacht in den Schlaf geweint, doch dann, am nächsten Morgen, war etwas Seltsames geschehen. Schweißgebadet wachte sie auf. Einen kurzen Moment war sie sich sicher, dass das Geträumte dieser Nacht nur eine flüchtige Illusion gewesen sein konnte, doch dann kamen ihr Zweifel. Sie kannte diese Momente zwischen Schlaf und Erwachen, in denen die Träume der vergangenen Nacht greifbar real vor den noch halb geschlossenen Augen erschienen, doch sie hatte die Erfahrung gemacht, dass sich diese Bilder alsbald verflüchtigten. Die Welt der Träume löste sich auf, sie verschwand im Nebel der Realität, sie wurde verbannt und nichts konnte sie jetzt noch wiederauferstehen lassen.

Doch diesmal war es anders. Ganz anders.

Die Tanzenden hatten zu ihr gesprochen. Kein Traum, keine undefinierbare Erinnerung; es war eine Vision gewesen, deren Intensität mit nichts vergleichbar war, das sie bisher erlebt hatte. Die Erinnerung war realer als die Realität selbst. Sie war eingetaucht in eine Welt der Absonderlichkeiten. Ihr Geist war glitzernden Wesen begegnet, deren Konturen aus zahllosen Lichtpunkten zu bestehen schienen. Sie funkelten in allen Farben des Regenbogens und vollführten pirouettenartige Schwingungen, die sie an tanzende Leuchtkäfer erinnerte. Immer wieder bildeten sie neue Muster, formierten sich zu abstrakten Gebilden, wuchsen zu einer Gesamtheit zusammen und zerfielen dann wieder in ein diffuses Chaos, aus dem neue Objekte hervorgingen.

Und dann geschah das Unglaubliche.

Die Wesen, diese fremdartigen Leuchtkäfer in der Finsternis sprachen zu ihr. Keine Worte, es waren die Formen, die Bewegungen, die Muster, die sich zu Mitteilungen formten. Nie zuvor hatte sie eine derartige Sprache vernommen, doch in dieser Nacht, Tür an Tür mit all den Verrückten in dieser düsteren Klinik, bedurfte es keiner Worte. Diese Vision war so beispiellos fantastisch, dass sie sich wünschte, niemals wieder aufzuwachen.

Es fühlte sich an, als wenn sie ein Teil dieser leuchtenden Käfer wurde. Jede Bewegung, jede Form, jede Veränderung stand für einen Inhalt, den diese wundersamen Wesen ihr auf so ungewöhnliche Weise vermittelten.

Auf einmal war alles so einfach. Die Vergangenheit, die Gegenwart und ihre Zukunft: Alles verschmolz zu einer allumfassenden Wahrheit, an der es nichts zu bezweifeln gab. Plötzlich wurde ihr bewusst, was sie zu tun hatte. Dieses Leben würde so verlaufen, wie es von Anbeginn vorgesehen war. Es war ihr Schicksal. Es gab keine Alternative, aber auch keinen Grund, etwas zu bereuen, denn die Tanzenden hatten ihr etwas gezeigt, das nur wenige Menschen jemals zu Gesicht bekamen: die Zukunft.

Es war der Lohn für all die Entbehrungen. Die lähmende Angst vor der dunklen Leere hatte sich in Luft aufgelöst. Sie hatte nichts zu befürchten, im Gegenteil. Dort, im glückseligen Tal der Liebe, würde sie endlich die sein, nach der sie sich immer gesehnt hatte.Und es würde noch etwas geschehen, mit dem niemand gerechnet hatte. Ihr wirkliches Wesen, ihre Natürlichkeit, ihr unberührtes Talent würde sich in die stoffliche Realität hinein spiegeln. Nach und nach würden die Menschen erkennen, wer sie tatsächlich gewesen war. Ihr Ruhm würde sich in das Unermessliche steigern.

Schwankend ging sie zu dem kleinen Schminktisch, der im Schlafzimmer an der Wand stand, stellte das halb volle Glas darauf ab und setzte sich auf den weißen Holzstuhl, um dessen Rückenlehne ein hauchdünnes, cremefarbenes Negligé hing. Sie öffnete mehrere Tablettendosen, die ungeordnet auf dem Schminktisch herumstanden, kippte deren Inhalt auf den Tisch und warf, scheinbar wahllos, einige der Tabletten in das Glas. Es würde lange dauern, bis sie sich aufzulösen begannen, doch die blonde Schönheit hatte Zeit. Eigentlich spielte die Zeit überhaupt keine Rolle mehr.

Die Unendlichkeit stand vor der Tür.

Jetzt, da sie erneut in die Psychiatrie eingewiesen werden sollte, erinnerte sie sich an die Vorhersagungen der Tanzenden. Die Würfel waren gefallen; morgen würden die Sanitäter kommen, um sie abzuholen.

Man hatte sie vorgewarnt.

Um 13 Uhr 30 hatte es an der Tür geklingelt. Lässig hatten zwei Männer vor ihrer Tür gestanden, und um Einlass gebeten. Eigentlich gehörten beide zu ihrem Freundeskreis, doch als sie sich zusammen an den gläsernen Wohnzimmertisch gesetzt hatten, war das Gespräch alles andere als erfreulich verlaufen. Die Männer in ihren eleganten Anzügen redeten auf sie ein, sie argumentierten, beschworen sie, drohten ihr, und am Ende lief es darauf hinaus, dass die Entscheidung über ihre Zukunft längst gefallen war. Ihre Möglichkeiten, die Dinge jetzt noch zu beeinflussen, waren begrenzt. Als sie endlich gegangen waren, hatte sie die erste Flasche Champagner geöffnet.

Viele Stunden waren seitdem vergangen. Überall im Haus standen angebrochene Flaschen herum. Ihr Blick fiel auf das Glas mit den Tabletten. Mit zitternden Fingern nahm sie einen ihrer Rougepinsel in die Hand und stocherte mit der Unterseite des Griffs im Glas herum. Weißes Pulver verteilte sich ungleichmäßig in der schimmernden Flüssigkeit. Die Sache mit dem Telefonanruf ging ihr durch den Kopf. Wie so oft hatte er wenig Zeit gehabt – zu wenig. Er hatte nichts von einer Zwangseinweisung gesagt, doch zwischen seinen geschickt gewählten Sätzen hatte sie die Botschaft verstanden: Das Amt hatte Priorität. Sie würde sich damit abfinden müssen, die Bühne seines Lebens zu verlassen.

Sie nahm das Glas in die Hand und leerte es in einem Zuge. Das Gebräu schmeckte bitter. Die Nase rümpfend verzog sie das Gesicht. Sie fing an zu singen. Sie hatte immer gefunden, dass ihre Stimme schön klang, doch die Verantwortlichen winkten ab. Es ging – wie üblich – um das große Geld. Ihr blieb nichts anders Übrig, als ihre eigenen Ziele hintanzustellen. Oder hätte es eine Alternative gegeben? Vielleicht hatte sie es sich zu leicht gemacht? Vielleicht hatte der schnelle Erfolg auch ihre eigene Seele korrumpiert?

Sie mixte sich einen zweiten Cocktail. Während sie darauf wartete, dass sich die Tabletten auflösten, entnahm sie einen Stapel Fotos aus einer der Schubladen und verteilte die Bilder auf dem Schminktisch.

Kritisch betrachtete sie die erotischen Aufnahmen, auf denen größtenteils sie selbst zu sehen war. Bis auf wenige Ausnahmen war sie mit dem Ergebnis der Darstellungen zufrieden. Sie stand gern vor der Kamera. Sie genoss das Gefühl, von den gierigen Blicken des Objektivs beobachtet zu werden. Es weckte ein Gefühl der Liebe in ihr. Eine verlässliche Liebe, die immer erfüllt wurde. Sie ließ sich fallen, gab sich dem Moment der Aufnahme hin und berauschte sich an der Gewissheit, dass Millionen von Menschen ihre Bilder voller Begeisterung betrachten würden.

Ihr Abbild wurde geliebt.

Es war das Wissen um diese Liebe, die Zurschaustellung ihres Körpers und dieses Gefühl von erhabener Macht, welches sie immer wieder schwach werden ließ, wenn es um einen neuen Termin für ein Fotoshooting ging.

Hastig trank sie auch das zweite Glas aus und widmete sich erneut den Bildern. Akribisch ordnete sie den chaotischen Haufen. Für jedes Jahr legte sie einen eigenen Stapel an, wobei sie das jeweils älteste Bild nach unten legte, um dann die restlichen Fotos dem Datum nach aufzuschichten. Sie stand auf und legte die fertigen Stapel in einen ihrer Pappkartons, in denen sie auch ihre privaten Aufzeichnungen seit Jahren sammelte. Unschlüssig blieb sie einen Moment vor dem Schlafzimmerschrank stehen und schüttelte kichernd den Kopf. Sie nahm sich eine der angebrochenen Flaschen vom Tisch, ging zu ihrem Bett, ließ sich kraftlos hineinfallen, bedeckte ihren nackten Körper mit dem weißen Seidentuch und trank, bis ihr die leere Flasche aus der Hand glitt. Das Geräusch des rollenden Gefäßes erinnerte sie an etwas. Voller Konzentration schloss sie die Augen und versuchte, das Gehörte einzuordnen, doch… da war nichts.

Nichts, außer…

Dann erschienen sie plötzlich. Unzählige Leuchtkäfer, die im Mondlicht tanzten. Ihre Zahl war so unerschöpflich groß, dass das ganze Universum überzuquellen schien.

Lächelnd schlief sie ein.

6. Kapitel

DAS MONSTRUM

Obersalzberg, Deutschland, 1942

Der Blick durch das große Panoramafenster war atemberaubend. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und die große Halle im Berghof in ein fahles Zwielicht getaucht. Regungslos stand der Diktator vor dem riesigen, elektrisch versenkbaren Sprossenfenster und blickte gedankenversunken auf den von zahlreichen Mythen umrankten Untersberg.

»Soll ich das Licht…?«

»Nein«, unterbrach der Diktator den Mann vom Hauspersonal. »Lassen Sie mich allein. Ich muss über einige Dinge nachdenken.«

»Jawohl.« Der Mann entfernte sich hastig.

Erschöpft ließ sich der Diktator in einen der großen, mit rotem Samt überzogenen Sessel fallen. Seine Hand liebkoste kurz die Schnauze des am Boden liegenden Schäferhundes, doch dann verharrte er regungslos in tiefer Nachdenklichkeit.

Ein Resümee, eine Bilanz?

War es an der Zeit, in der Mitte des Weges die eigenen Positionen zu überdenken, zu hinterfragen?

Viel war erreicht worden. Er hatte das Volk auf seiner Seite. Die Menschen glaubten seinen Worten, gar hing ihr Blick an seinen Lippen. Dieses so anpassungsfähige, fleißige Volk, das die Werte einer Rasse in sich trug, die es wert waren, dass man für sie kämpfte. Dieses Volk, das die Fähigkeit besaß, sich von Arbeitern zu Soldaten zu verwandeln, wenn man es nur richtig formte. Wenn man ihnen das gab, wofür sie bereit waren, alles andere unterzuordnen. Sich selbst unterzuordnen, gehorsam zu sein, einer unabänderlichen Weltanschauung zu folgen. Einer Ideologie, einem Programm, einer Persönlichkeit, die zeitlebens auserkoren war, dieses Volk zu führen. Und wenn es das Chaos, der Untergang oder die endgültige Vernichtung sein sollte: dieses Volk hatte das Potenzial.

Der Diktator atmete tief ein.

Die Vernichtung!

Man musste der Vernichtung zuvorkommen. Die Fundamente dieser Lügengebäude, die nur das Ziel hatten, das Deutsche Volk zu vergiften, mussten ausradiert werden. Diese Logik war bestechend, sie war es immer schon gewesen. Vernichte zuerst, nur dann wirst du überleben. Es galt, die Feinde des deutschen Volkes zu vernichten.

Alle seine Feinde!

Die Würfel waren gefallen, es gab kein Zurück mehr. Hatte es jemals so etwas wie einen Stillstand, eine Rückkehr gegeben? Natürlich nicht. Der Hass war immer stärker gewesen. Überhaupt war der Hass die mächtigste Waffe von allen. Der Hass war wie ein Schmied, auf dessen Amboss die Schlüssel geschmiedet wurden, mit denen er die Pforten des Widerstandes geöffnet hatte. Dieser verlässliche, nie nachlassende Hass und… das Fieber der Erkenntnis.

Er hatte es nie vergessen. Die Zeit in Pasewalk war voller Demütigungen gewesen, doch jene Tage des Fiebers sollten sein Leben für immer prägen. Er hatte damals Einblicke in eine Welt der unbegrenzten Möglichkeiten erhalten, die für seine politische und militärische Laufbahn von unschätzbarem Vorteil sein sollten.

Der Diktator genoss den Augenblick der Erinnerung. Krieg, Leid, Tod, Hass, Erniedrigung: Das Jahr 1918 war von berauschender Tragik gewesen, dennoch war die Faszination über die Erkenntnisse, die er damals erlangt hatte, ungebrochen.

Das grausige Senfgas hatte ihm sein Augenlicht genommen – vorübergehend. Gleichwohl war die Dunkelheit ein bizarres Instrument des Teufels gewesen.

Seine Gedanken begannen zu kreisen.

War es nicht so, dass er diese Welt des Schreckens nicht mehr sehen wollte? War das Gas nur der Auslöser für einen Mechanismus, der einzig und allein von seinem Gehirn kontrolliert wurde?

Er verdrängte den Gedanken daran. Es spielte ohnehin keine Rolle mehr. Im Oktober des Jahres 1918 wurde er in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen; ein unwürdiger Akt der Schwäche. Das Lazarett in Pasewalk war voll von traumatisierten Frontsoldaten, die, genau wie er selbst, nur unter einem litten: der Schwäche des Geistes.

Er teilte den Raum mit fünf weiteren Kameraden. Ein Umstand, gegen den er nichts einzuwenden hatte, obgleich er meist als Außenseiter der Häme einiger Kameraden ausgesetzt war. Doch hier, in diesem weiß getünchten Raum mit der endlos hohen Decke schien der Krieg so fern gewesen zu sein, dass man den gewohnten Kanonendonner förmlich herbeisehnte. Und doch gab es wohl keinen Raum im Reiche, an dem die Spuren des Krieges präsenter waren als in diesem Krankenzimmer.

Auch hier blieb er in sich gekehrt. Immer tiefer sank er in die Untiefen des eigenen Bewusstseins und verfiel eines Tages von einer Stunde zur anderen in einen Fieberrausch, der alles verändern sollte.

Der Diktator musste sich konzentrieren. An diesem Punkt war der Übergang zur Erinnerung schwierig, der Ballast der Diesseitigkeit erdrückend. Nur in diesen Momenten der absoluten Zurückgezogenheit konnte er die Bilder der Erkenntnis für einen kurzen Augenblick auferstehen lassen.

Es gelang ihm.

Die Flut an Informationen war gewaltig gewesen. Der Schlüssel zur Macht. Eine Gebrauchsanweisung, um Menschen zu manipulieren. Zahllose Botschaften, Strategien und Verhaltensregeln. Sie wurden Bestandteil seiner Persönlichkeit, er vergaß nichts davon. Dennoch, in Momenten wie diesem betete er einige von ihnen in Gedanken herunter. Immer wieder.

Verfolge deine Ziele, sei beharrlich und skrupellos. Du musst dein Wesen der jeweiligen Situation anpassen. Sei nie authentisch, begegne den Menschen so, wie es ihnen gefällt. Zeige erst hinterher deine wahren Absichten. Verwirre und verängstige sie, sei unberechenbar. Spiele stets eine Rolle, ein Spiel, aber sei konsequent. Traue niemandem, verbreite Angst und Schrecken, aber inszeniere deinen Hass, vergifte dich nicht an ihm. Unterschätze niemals die Macht des Wortes. Perfektioniere dein Talent, die Massen mitzureißen, lass dich von ihrer Begeisterung tragen. Wenn du bemerkst, dass dein Publikum dir zu Füßen liegt, dann erst zeige dein wahres Gesicht. Offenbare Größe, Autorität, Selbstbewusstsein und vernichte deine Feinde, bevor sie dich vernichten.

Schon oft hatte er sich gefragt, wie es zu diesem einschneidenden Ereignis gekommen war. Zweifelsohne war er ein Auserwählter, doch wer waren seine Gönner? Es gab keine Bedingungen, die mit den Erkenntnissen verbunden waren, er hatte freie Hand. Er konnte die neu gewonnen Fähigkeiten nach seinen Vorstellungen einsetzen. Es gab keine Grenzen. Und wenn doch, so würde er sie einreißen.

Der Diktator lächelte zufrieden. Die Erinnerungen an die Geschehnisse in Pasewalk waren immer von einer besonderen Aura umgeben. Er schöpfte jedes Mal Kraft daraus, um unbeirrbar für die Sache zu kämpfen, an die sie alle bedingungslos glaubten.

Wenn der Weg seiner Macht sich der Vollendung näherte, würde er nicht mehr das sein, was er einmal war. Dieser so seltsam anmutende blaue Planet…

7. Kapitel

DIE THESE DES AUTORS

Hamburg, Deutschland, irgendwann im Jahr 2007

Eine Seite pro Tag. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Seit einiger Zeit gönnte ich mir diesen Luxus; der Erfolg machte es möglich. Nur selten herrschte eine totale Funkstille, die mich zur Untätigkeit verdammte. Ich hatte gelernt, dass es Tage gab, an denen ich einfach nichts Substanzielles zu Papier bringen konnte.

Was soll's, dachte ich, es gibt keinen Zeitdruck. Der neue Roman war bereits zu drei Viertel fertig und den Abgabetermin konnte ich noch bis zum Ende des Jahres hinauszögern. Es gab Wichtigeres zu tun. Mein Fachwissen als Biologe war gefragt.

In Gedanken versunken saß ich auf dem schwarzen Drehstuhl vor meinem Computer und sah mir die gestrige Sendung in der Mediathek an. Es war immer seltsam, sich selbst im Fernsehen zu betrachten, doch ich war zufrieden. Blaue Jeans, weißes Hemd und ein hellgraues Tweed-Jackett, das gut zu meinen grauen Haaren passte. Voller Neugier schaute ich mir meine ergraute Haarpracht näher an. Im Laufe der Zeit hatte sich die Anzahl der grauen Haare von Jahr zu Jahr erhöht, doch nun schien sich der Wandel zu beschleunigen. Die Zahl der Grauen nahm besorgniserregend zu. Das war mir bisher noch gar nicht aufgefallen. Ärgerlich klickte ich auf die Pause-Taste und ging in das Badezimmer. Prüfend blickte ich in den Spiegel und schüttelte den Kopf. Alles sah wie immer aus. Wie konnte das sein? Vielleicht wurden die Farben im Fernsehen verfälscht. Ich zog in Erwägung, den Sender zu verklagen. Gab es eine Entschädigung für die bildlich unkorrekte Darstellung einer prominenten Person?

Ich öffnete den Spiegelschrank, nahm den Vergrößerungsspiegel heraus und hielt ihn mir vor das Gesicht. Das Altern war lästig. In der Nase wuchsen Haare, die keinen erkennbaren Sinn zu haben schienen. Ich musste sie mühsam mit einer Nagelschere entfernen. Ich wusste, dass es mit einem Nasenhaartrimmer deutlich einfacher gewesen wäre, doch die Beschaffung eines derartigen Gerätes erwies sich als schwierig. Ich vergaß es ständig.

Nachdem ich die notwendigen Korrekturen in meinem Gesicht abgeschlossen hatte, bemerkte ich die weiße Tablettendose im Spiegelschrank. Susanne musste sie vergessen haben. Prüfend schaute ich mir das Etikett an.

Ein unaussprechlicher Name; stockend las ich ihn mir im Selbstgespräch vor: »Zyprexa Olanzapine 10mg. Was für ein Zungenbrecher!«

Ich kannte das Zeugs nicht. Vermutlich hatte sie es wegen ihrer unbegründeten Szenen einnehmen müssen, die sie mir damals ständig gemacht hatte. Sie war über die Jahre zunehmend misstrauisch und eifersüchtig geworden, außerdem bezeichnete sie mich ständig als notorischen Lügner.

Eine nervtötende Entwicklung, die an meinen Kräften zehrte. Vielleicht war es wirklich das Beste gewesen, dass sie damals die Notbremse gezogen hatte? Vielleicht hatte es nicht an unserer Beziehung, sondern vielmehr an ihrer labilen Konstitution gelegen? Je mehr ich darüber nachdachte, desto sicherer war ich mir, dass es so gewesen sein musste. Diese Frau war von Anfang an nicht die ideale Partnerin für mich gewesen. Ihr fehlte das Verständnis für meine Visionen, sie lebte langsamer, bodenständiger und hatte vermutlich Angst, in meinem Schatten bestehen zu müssen. Sie mied das unkalkulierbare Risiko und liebte die sichere, monotone Langeweile, die ihr Halt zu geben schien.

Ich ließ die Tabletten im Spiegelschrank liegen und ging wieder in das Arbeitszimmer, um die TV-Aufzeichnung erneut zu starten. Draußen regnete es. Es war so ein typischer norddeutscher Schmuddelwetter-Tag. Genau das Richtige, um mit einem Becher dampfenden Kaffee am Computer zu sitzen. Mit einem Klick startete ich die Fortsetzung des Interviews.

»… freuen wir uns, Ihnen heute den bekannten Roman-Autor Paul Calastana vorstellen zu dürfen, der zu den aktuellen…«

Bla, bla, bla… die üblichen Floskeln wurden heruntergeleiert. Der farblose Moderator war offenkundig schwul und zeigte wenig Interesse an den brisanten Fakten, die in meinen Büchern beleuchtet wurden. Ich achtete kaum auf das Gespräch, in dem es um die Gefahr einer weltweiten Pandemie ging – als Biologe hatte ich derartige Szenarien des Öfteren in meinen Romanen thematisiert –, sondern verfolgte gebannt, welche Wirkung mein Äußeres, meine Bewegungen und vor allem meine Ausstrahlung auf die Fernsehzuschauer haben könnte. Welchen Eindruck hatte ich bei den Zuschauern hinterlassen? Eine Analyse meiner Person schien mir wichtig zu sein, da dies sicher nicht mein letzter Fernsehauftritt sein würde.

Das Publikum war seit jeher saublöde, die Zahlen bewiesen es. Es kam nicht darauf an, einen anspruchsvollen Text zu schreiben, einzig die Verkaufsstrategie war der entscheidende Faktor. Je selbstbewusster der Autor sein Werk den Kunden aufdrängte und sich dabei auf die Werbemaschinerie eines großen Verlages stützen konnte, desto stärker schnellten die Verkaufszahlen in die Höhe. Kam dann hinzu, dass es sich bei dem Verfasser um eine prominente Person des öffentlichen Lebens handelte, rissen einem die Leser den größten Mist aus der Hand.

Ich spulte das Video ein Stück vor. Die ganze Veranstaltung wirkte irgendwie verkrampft. Der schwule Moderator fiel mir immer wieder ins Wort.

»… die Bevölkerung scheint den Ernst der Lage noch nicht erkannt zu haben. Was denken Sie über die Pläne der Regierung, Herr Calastana?«

»Welche Pläne?«

»In Das Vergessene erwacht schildern Sie eine ähnliche Situation, in der die Bevölkerung von der Regierung…«

»… und es interessiert Sie brennend, woher ich davon im Vorwege gewusst haben könnte, nicht wahr?«