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Die brisante Geschichte einer ganz und gar unheiligen Allianz Pulitzer-Preisträger David I. Kertzer erzählt in »Der Papst, der schwieg« die dramatische Geschichte des umstrittenen Papstes Pius XII. und seiner Beziehungen zu Italiens Diktator Benito Mussolini und Deutschlands »Führer« Adolf Hitler. Einerseits als »Hitlers Papst« verunglimpft, weil er nicht öffentlich gegen den Massenmord der Nazis an den europäischen Juden protestierte, wird er andererseits von manchen Katholiken, die ihn gerne heiliggesprochen sähen, als heldenhafter Gegner des Faschismus und des Nationalsozialismus verklärt. - Die maßgebliche Biografie des umstrittenen Papstes Pius XII. - Wie ist das Schweigen des Papstes zum Holocaust zu erklären? - Was wussten Papst und Vatikan von den Verbrechen der Achsenmächte? - Wie eng waren die Beziehungen zwischen Kirche und Faschismus in den Jahren 1939 bis 1945? - Tausende bisher unbekannte Dokumente liefern endlich Antworten Das weltweit erste Buch, das die im März 2020 geöffneten Vatikanischen Geheimarchive nutzt Ein halbes Jahrhundert lang haben Wissenschaftler und jüdische Organisationen Druck auf den Vatikan ausgeübt, seine Archive für die Jahre des Zweiten Weltkriegs zu öffnen, um die Kontroverse um die Bewertung Pius XII. beizulegen. »Der Papst, der schwieg« ist weltweit das erste Buch, das Tausende von Dokumenten aus diesen im März 2020 endlich geöffneten Archiven nutzt, um eine bisher unbekannte und in vielen Punkten schockierende Geschichte zu erzählen.
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Seitenzahl: 1154
Die englische Originalausgabe ist 2022 bei Random House unter dem Titel The Pope at War. The Secret History of Pius XII, Mussolini, and Hitler erschienen.
© 2022 by David I. Kertzer
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
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wbg Theiss ist ein Imprint der wbg.
© 2023 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht.
Lektorat: Daphne Schadewaldt, Wiesbaden
Satz und Layout: Arnold & Domnick, Leipzig
Umschlagabbildungen: Papst Pius XII. colaimages/Alamy Stock Photo; Benito Mussolini und Adolf Hitler 1940. MARKA/Alamy Stock Foto Umschlaggestaltung: Andreas Heilmann, Hamburg
Abb. auf S. 2: Pius XII. segnet das Publikum bei seiner Krönung,
Petersplatz, März 1939. Popperfoto/via Getty Images; Hitler und Mussolini, Rom, Mai 1938. Fototeca Gilardi
Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier
Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de
ISBN 978-3-8062-4502-8
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-4586-8
eBook (epub): ISBN 978-3-8062-4587-5
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Innentitel
Inhaltsverzeichnis
Informationen zum Buch
Informationen zum Autor
Impressum
Dem Andenken meines Vaters Morris Kertzerund meines Schwiegervaters Jacob Dana,Seelsorger bzw. Arzt in der US-Army in Überseewährend des Zweiten Weltkriegs,und für ihre Urenkelin, die kleine Sol
Inhalt
Karten
Die Personen dieses Buches
Vorwort
Prolog: Das falsche Kreuz
Teil I: Kriegswolken
1 Tod eines Papstes
2 Das Konklave
3 Gesprächsversuche
4 Der Friedensstifter
5 »Bitte kein Wort über Juden«
6 Der Nazi-Prinz
7 Das Gesicht wahren
8 Der Krieg beginnt
9 Der Prinz kehrt zurück
10 Ein päpstlicher Fluch
11 Mann aus Stahl
12 Ein problematischer Besucher
Teil II: Auf dem Weg zum Achsensieg
13 Ein ungünstiger Zeitpunkt
14 Ein ehrenvoller Tod
15 Ein kurzer Krieg
16 Überwachung
17 Der nichtsnutzige Verbündete
18 Das griechische Fiasko
19 Eine neue Weltordnung
20 Hitler, der Retter
21 Der Kreuzzug
22 Ein neuer Fürst
23 Am besten nichts sagen
Teil III: Schicksalswende
24 Schuldzuweisungen
25 Päpstliche Premiere
26 Eine Katastrophe mit Ansage
27 Ein heikles Problem
28 Eine schwierige Bitte
29 Der gute Nazi
30 Die Absetzung des Duces
31 Reise nach Jerusalem
32 Treuebruch
Teil IV: Ein pechschwarzer Himmel
33 Fake News
34 Die Juden des Papstes
35 Haltlose Gerüchte
36 Verrat
37 Ein höchst erfreulicher Anblick
38 Bösartige Meldungen
39 Ein schreckliches Ende
Epilog
Schlussgedanken: Das Schweigen des Papstes
Anhang
Danksagung
Archivquellen und Abkürzungen
Anmerkungen
Bibliografie
Register
Abbildungsnachweis
Die Personen dieses Buches
Der Papst und die Kirche
PIUS XII. (EUGENIO PACELLI) (1876–1958): Schon sein Vater und Großvater waren als Laien anerkannte Koryphäen in vatikanischen Diensten gewesen. Auch der körperlich wenig robuste, aber hochintelligente Pacelli trat unmittelbar nach seiner Priesterweihe in das vatikanische Staatssekretariat ein, ohne je als Gemeindepfarrer zu amtieren. In seiner Zeit als päpstlicher Nuntius im Deutschen Reich, von 1917 bis 1929, erwarb er eine tiefe Kenntnis seines Gastlandes. 1930 ernannte ihn Pius XI. zum Kardinalstaatssekretär. Nach seiner eigenen Wahl zum Papst im Jahr 1939 bemühte sich der stets vorsichtige und gegenüber Mehrparteienregierungen misstrauische Pius XII. um eine Verbesserung der Beziehungen des Vatikans zu Mussolini und Hitler.
BORGONGINI DUCA, FRANCESCO (1884–1954): Der Priester, der sein gesamtes bisheriges Leben in Rom verbracht hatte, wurde nach Unterzeichnung der Lateranverträge 1929 zum ersten Apostolischen Nuntius in Italien ernannt. Auf diesem Posten sollte er den ganzen Zweiten Weltkrieg hindurch und noch darüber hinaus bleiben. Obgleich es ihm an Weltkenntnis und intellektueller Neugier mangelte, erfüllte er mit seiner unermüdlichen Lobbyarbeit beim faschistischen Regime für Pius XII. eine wichtige Funktion. Zusammen mit Pater Tacchi Venturi drängte er die faschistische Regierung wiederholt, getaufte Juden von den drakonischen Rassengesetzen auszunehmen.
MAGLIONE, LUIGI (1877–1944): Durch Intelligenz und Ehrgeiz gelang Maglione, der einer armen Neapolitaner Familie entstammte, der Aufstieg durch die Kaderschmiede der päpstlichen Diplomatie. Nachdem er zunächst als Nuntius in der Schweiz und dann, von der Mitte der 1920er- bis zur Mitte der 1930er-Jahre, als Nuntius in Frankreich gedient hatte, galt der 1935 zum Kardinal erhobene Maglione als aussichtsreicher Anwärter bei dem Konklave, das Pacelli zum Papst wählte. Obwohl Pius XII. Maglione zu seinem Staatssekretär ernannte, entwickelten die beiden Männer nie ein herzliches Verhältnis. Maglione war umgänglich, aber vorsichtig mit dem, was er sagte; unter den auswärtigen Botschaftern beim Heiligen Stuhl, mit denen er sich jeden Freitag traf, war er beliebt. Wie unwohl sich Pius XII. mit ihm oder überhaupt mit irgendjemandem in der wichtigen Position des Staatssekretärs fühlte, wurde deutlich, als er nach Magliones Tod keinen Nachfolger in dem Amt ernannte.
MONTINI, GIOVANNI BATTISTA (1897–1978): Montini entstammte einer bekannten katholischen oberitalienischen Familie; sein Vater hatte für die katholische Volkspartei im italienischen Parlament gesessen, bis Mussolini dieses auflöste. Unter Kardinalstaatssekretär Pacelli wurde Montini 1937 zum Substituten für die allgemeinen kirchlichen Angelegenheiten ernannt und bekleidete damit eine der beiden stellvertretenden Positionen im Staatssekretariat. Auf diesem Posten blieb Montini auch nach der Wahl Pacellis zum Papst. Ebenso klug wie kultiviert im Umgang, wenngleich wenig welterfahren, gehörte er zu den bevorzugten Mitarbeitern von Pius XII. und sollte eines Tages als Paul VI. selbst Papst werden.
ORSENIGO, CESARE (1873–1946): Ursprünglich ein Mailänder Priester mit wenig Weltkenntnis, in den 1920er-Jahren als Nuntius erst in den Niederlanden und dann in Ungarn tätig, ersetzte Orsenigo im Jahr 1930 Eugenio Pacelli als Nuntius in Berlin. Er war ein mäßig intelligenter Mann, der Hitler verehrte und die Nazigrößen durch seine Sympathie für ihre Sache zu beeindrucken versuchte, obwohl er natürlich wünschte, sie würden die Kirche besser behandeln.
PACELLI, EUGENIO (siehe Pius XII.)
PIUS XI. (ACHILLE RATTI) (1857–1939): Im selben Jahr 1922, als der bisherige Erzbischof von Mailand zum Papst gewählt wurde, ernannte der italienische König nach dem faschistischen Marsch auf Rom Mussolini zum Ministerpräsidenten. Da die Wege des Herrn nun einmal unergründlich waren, wie Pius XI. einmal bemerkte, hatte er ihm ausgerechnet Mussolini geschickt, um viele Privilegien wiederherzustellen, die die Kirche im vorigen Jahrhundert verloren hatte. Doch in seinem letzten Lebensjahr begann Pius XI. zu bedauern, dass er dem Duce geholfen hatte, seine Macht in Italien zu festigen. Besonders fühlte er sich von Mussolinis engem Schulterschluss mit Hitler abgestoßen, den er als einen Feind der Kirche und Vertreter einer heidnischen Ideologie verachtete.
TACCHI VENTURI, PIETRO, SJ (1861–1956): Als ein prominenter römischer Jesuit, der 1918 bis 1940 als Rektor der jesuitischen Hauptkirche in Rom amtierte, wurde Tacchi Venturi schon kurz nach der Machtübernahme Mussolinis der inoffizielle Verbindungsmann zwischen Pius XI. und dem Duce und trug Letzterem regelmäßig die päpstlichen Anliegen vor. In den Kriegsjahren wurden die Treffen des Jesuiten mit Mussolini zwar seltener, doch Pius XII. nutzte das ausgedehnte Netzwerk von Kontakten, das Tacchi Venturi zu den Mitgliedern der faschistischen Führungsriege geknüpft hatte, weiter für seine Zwecke und unternahm etwa wiederholt Versuche, getaufte Juden von den antisemitischen Maßnahmen der Regierung ausnehmen zu lassen.
TARDINI, DOMENICO (1888–1961): Der Sprössling einer römischen Familie aus bescheidenen Verhältnissen diente den Großteil seines Lebens im vatikanischen Staatssekretariat: seit 1935 als Substitut für die allgemeinen kirchlichen Angelegenheiten und seit 1937 als Sekretär der Kurienkongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten. Somit teilten sich Tardini und Giovanni Montini in den folgenden Jahren die beiden einflussreichsten Posten unter dem Staatssekretär. Der Papst ließ durch den scharfzüngigen und geistreichen Tardini immer wieder Exposés erarbeiten, die seine Handlungsoptionen während des Krieges aufzeigten. Tardini vertraute weder den Deutschen noch den Alliierten.
Mussolini und das faschistische Regime
MUSSOLINI, BENITO (1883–1945): Der ehemalige radikale Sozialist war vor allem eines: ein Opportunist, der rasch begriff, dass er seine Ambitionen am besten mit vatikanischer Unterstützung verfolgen konnte. Aufgrund seiner kirchenfreundlichen Politik, die 1929 in den Lateranverträgen gipfelte, als deren Ergebnis der Vatikanstaat geschaffen und die Trennung von Staat und Kirche in Italien aufgehoben wurde, erschien er dem Vatikan geradezu vom Himmel geschickt. Doch seine Annäherung an Nazideutschland in den späten 1930er-Jahren brachte Pius XI. gegen ihn auf. Hitler gegenüber prahlte Mussolini damit, er wisse, wie er den Papst im Zaum zu halten habe. Pius XII. baute dann auf die Unterstützung des italienischen Diktators, um Hitler zu einer freundlicheren Haltung gegenüber der Kirche zu bewegen. Als seine eigenen Probleme jedoch im Kriegsverlauf immer größer wurden, setzte Mussolini den Papst entsprechend unter Druck, damit er nichts unternahm, was der Sache der Achsenmächte schaden könnte.
ALFIERI, DINO (1886–1966): Nachdem er 1924 für die Faschistische Partei ins italienische Parlament eingezogen war, stieg Alfieri durch die Regierungsränge auf. Im November 1939 bekleidete er gerade den Posten des Propagandaministers, als Mussolini ihn zum Nachfolger Bonifacio Pignattis als italienischer Botschafter beim Heiligen Stuhl ernannte. Schon einige Monate später entschied Mussolini jedoch, dass er in Berlin einen Vertreter brauchte, der den Nazis zugeneigter wäre als der bisherige Amtsinhaber, und berief Alfieri auf die Position. Als der Papst Alfieri vor dessen Abreise nach Deutschland traf, trug er ihm eine Botschaft für Hitler auf, überlegte es sich dann aber noch einmal anders und zog sie zurück.
ATTOLICO, BERNARDO (1880–1942): Der Berufsdiplomat aus Süditalien heiratete in die sogenannte schwarze Aristokratie Roms ein, die den Päpsten traditionell eng verbunden war. Nach Einsätzen als Botschafter in Brasilien und der Sowjetunion wurde er 1935 zum Botschafter Italiens in Berlin ernannt. Attolico war kein Freund der Nazis und versuchte, Mussolini vom Kriegseintritt an der Seite Deutschlands abzubringen. Nachdem er 1940 mit Alfieri den Posten getauscht hatte, fungierte er bis zu seinem Tod im Februar 1942 als Botschafter beim Heiligen Stuhl. Wie viele andere Angehörige des diplomatischen Korps diente er dem faschistischen Regime treu und arbeitete nach dem Kriegseintritt Italiens unermüdlich daran, zu verhindern, dass aus dem Vatikan Kritik an der Sache der Achsenmächte laut wurde.
BUFFARINI GUIDI, GUIDO (1895–1945): Der kleine, rundliche, rotgesichtige Buffarini war vielleicht das intelligenteste Mitglied von Mussolinis Regierung – und gewiss eines ihrer korruptesten. Zu seinen florierenden Nebengeschäften gehörte etwa das Fälschen von Kirchenbuchauszügen, um aus Juden Katholiken zu machen und sie so vor den Rassengesetzen zu verschonen, für deren Durchsetzung er zuständig war. Als Mussolinis De-facto-Innenminister (der Duce bekleidete den Ministerposten formal selbst) begrüßte Buffarini die Wahl Kardinal Pacellis zum Papst mit den Worten: »Das ist genau der Papst, der gebraucht wird.« Nach Mussolinis Fall und seiner Wiedereinsetzung als Regierungschef von Hitlers Gnaden diente Buffarini als Innenminister der Italienischen Sozialrepublik.
CIANO, GALEAZZO (1903–1944): Vom Vater, der in den frühen Jahren der faschistischen Regierung einen Ministerposten innegehabt hatte, erbte Ciano die gerade verliehene Grafenwürde. Nicht zuletzt wegen seiner 1930 geschlossenen Ehe mit Mussolinis Tochter Edda stieg Galeazzo rasch bis an die Spitze des faschistischen Staates auf. Seit er 1936 im Alter von 33 Jahren zum Außenminister ernannt worden war, schien er dazu prädestiniert, seinen Schwiegervater eines Tages zu beerben. Mit dem Papst wollte er es sich nicht verscherzen, beteuerte regelmäßig seinen tiefen katholischen Glauben und unterstützte demonstrativ die päpstlichen Bestrebungen, Mussolini von einem Kriegseintritt abzuhalten. Kurzzeitig diente Ciano 1943 noch als Mussolinis Botschafter im Vatikan, endete jedoch vor einem faschistischen Exekutionskommando.
FARINACCI, ROBERTO (1892–1945): Als Faschist der ersten Stunde, Parteichef im oberitalienischen Cremona und Mitglied des Faschistischen Großrats präsentierte Farinacci sich stets als glühender Faschist und Verehrer Hitlers. Mussolini bediente sich wiederholt Farinaccis und seines antiklerikalen Hetzblatts Il Regime Fascista, um den Papst durch publizistische Prügel gefügig zu machen. Farinacci war die Inkarnation dessen, was der Papst für den »bösen« Flügel der Faschistischen Partei hielt.
GUARIGLIA, RAFFAELE (1889–1970): Als Mussolini nach dem Tod Attolicos Anfang 1942 Guariglia, seinen bisherigen Botschafter in Frankreich, zum neuen italienischen Botschafter beim Heiligen Stuhl ernannte, nahm Kardinal Maglione dies erfreut zur Kenntnis, betrachtete er Guariglia, Neapolitaner wie er selbst, doch als Freund. Nachdem Guariglia im weiteren Verlauf des Jahres 1942 erkannt hatte, dass die Achsenmächte den Krieg verlieren würden, suchte er für sich selbst und für ganz Italien nach einem Ausweg. Anfang 1943 wurde er als Italiens Botschafter nach Ankara entsandt, kehrte aber nach Mussolinis Absetzung im Juli zurück und amtierte kurzzeitig als italienischer Außenminister. In dieser Zeit, in der die italienische Regierung vor einem furchtbaren Dilemma stand, traf er sich abends oft heimlich zu Gesprächen mit Kardinal Maglione.
MUSSOLINI, EDDA (1910–1995): Mussolinis Lieblingskind und dasjenige, das ihm in Sachen Eigensinn und Unabhängigkeit am meisten ähnelte. Ihren anfänglichen Enthusiasmus für Hitler und den italienischen Kriegseintritt hinter sich lassend sollte Edda sich nach der Festnahme und Erschießung ihres Ehemanns Galeazzo Ciano gegen ihren Vater wenden.
MUSSOLINI, RACHELE (1890–1979): Als Kind einer armen Bauernfamilie hatte Mussolinis Ehefrau wenig Bildung genossen und fühlte sich stets unwohl angesichts des Überflusses und der Anmaßungen der italienischen Elite, einschließlich ihres eigenen Schwiegersohns. Dennoch war Rachele Mussolini, nach den Worten ihrer Tochter, »der wahre Diktator in der Familie«. Die junge Geliebte ihres Mannes verachtete sie, verteidigte ihn selbst aber eisern gegen alle Angriffe.
PETACCI, CLARA (1912–1945): Die Tochter eines vatikanischen Arztes ging noch zur Schule, als sie begann, Mussolini in glühenden Briefen ihre Hingabe zu beteuern. Eine ernsthafte Affäre wurde daraus 1936, zwei Jahre nach Claras Heirat. Mit der Zeit entwickelte sie eine regelrechte Obsession für ihren »Ben«, wie sie ihn nannte. Diese Besessenheit wurde von Mussolini erwidert, der Clara nicht selten ein Dutzend Mal am Tag anrief und ihre täglichen Besuche im Palazzo Venezia in einem eigens für sie hergerichteten Zimmer erwartete. Mit der Zeit begann Clara, ihm auch politische Ratschläge zu erteilen, wodurch sie einige seiner schlimmsten Instinkte noch verstärkte.
PIGNATTI, BONIFACIO (1877–1957): Der vorherige italienische Botschafter in Argentinien und Frankreich wurde 1935 zum Botschafter beim Heiligen Stuhl ernannt. Wie vielen anderen Berufsdiplomaten scheint ihm der Übergang von der parlamentarischen Demokratie zur Diktatur keine sonderlichen Schwierigkeiten bereitet zu haben.
Hitler und das Dritte Reich
HITLER, ADOLF (1889–1945): Seit Mussolinis Machtantritt 1922 hatte Hitler sich den italienischen Diktator zum Vorbild genommen. Seine Zuneigung zum Duce hielt sogar an, als deutsche Truppen während des Krieges ihre italienischen Waffenbrüder wiederholt vor einer Katastrophe retten mussten, und auch noch, als er den mittlerweile abgesetzten Duce aus seiner Haft im Gebirge befreien ließ und ihn an die Spitze einer faschistischen Marionettenregierung in Oberitalien stellte. Obwohl Hitler, der aus einer katholischen Familie stammte, selbst keine Zuneigung zur katholischen Kirche oder ihren Vertretern empfand, sah er in der Papstwahl Pius’ XII. eine Gelegenheit, die Spannungen abzubauen, die zwischen dem Dritten Reich und Pius XI. aufgekommen waren.
HESSEN, PHILIPP VON (1896–1980): Als Spross einer illustren deutschen Adelsfamilie, der Kaiser Friedrich III. zum Großvater und die britische Queen Victoria zur Urgroßmutter hatte, heiratete Prinz Philipp von Hessen im Jahr 1925 Prinzessin Mafalda, eine Tochter des italienischen Königs Vittorio Emanuele III. Fünf Jahre später trat der Prinz in die NSDAP und bald darauf auch in die SA ein. Kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 wurde er zum Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau ernannt. Philipp von Hessen gehörte dem engsten Kreis um Hitler an und wurde dessen persönlicher Gesandter bei Mussolini. Bald nach der Papstwahl Pius’ XII. schickte Hitler den Prinzen auch zu einer Reihe von geheimen Gesprächen mit dem Papst in den Vatikan; diese Treffen sind erst in jüngster Zeit bekannt geworden.
RIBBENTROP, JOACHIM VON (1893–1946): Der fanatische Nazi und frühere Weinhändler wurde 1938 zum Reichsaußenminister ernannt und bekleidete diesen Posten bis zum Kriegsende. »Selten habe ich einen Mann getroffen, der mir unsympathischer war«, bemerkte 1940 der amerikanische Außenstaatssekretär nach einem Termin mit Ribbentrop. Dieser wurde nicht müde, die Kriegstrommel zu rühren, und glaubte fest an den deutschen »Endsieg«. Für die katholische Kirche hatte er nichts übrig, stattete dem Papst aber dennoch einen dramatischen Besuch ab, nur wenige Monate nachdem deutsche Truppen den Krieg begonnen hatten.
WEIZSÄCKER, ERNST VON (1882–1951): Laut dem amerikanischen Außenstaatssekretär »ein typisches Beispiel eines deutschen Beamten alter Schule des 19. Jahrhunderts« entstammte Weizsäcker einer württembergischen Familie von Beamten und Theologen, die für ihre Dienste schließlich geadelt wurde. Im Jahr 1938 wurde er zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt berufen und somit zum wichtigsten Mann nach Reichsaußenminister Ribbentrop. Auf diesem Posten diente Weizsäcker dem NS-Regime während der ersten Kriegsjahre effizient, bis er im Frühjahr 1943 als neuer deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl nach Rom entsandt wurde. Der Papst mochte ihn und zählte, insbesondere während der neunmonatigen Besetzung Roms durch deutsche Truppen, auf seine Mithilfe zum Schutz des Vatikans. Im Umfeld des Papstes galt der Botschafter als ein Musterbeispiel des »guten Nazis«. Nach Kriegsende wurde er bei den Nürnberger Prozessen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und schuldig gesprochen, obgleich sich der Vatikan für ihn verwendete.
Die italienische Königsfamilie
VITTORIO EMANUELE III. (1869–1947): Der nach seinem Großvater, dem ersten König des vereinigten Italiens, getaufte Abkömmling des Hauses Savoyen litt wegen seiner geringen Körpergröße unter einem lebenslangen Minderwertigkeitskomplex. Vittorio Emanuele war intelligent und gut informiert, aber auch willensschwach und pedantisch. Mit Mussolini teilte er eine tief sitzende Misanthropie. Für den Duce war er lange ein bereitwilliger »Ermöglicher« gewesen und verhielt sich entsprechend zögerlich, als der Krieg sich gegen die Achsenmächte zu wenden begann und man ihn zunehmend bedrängte, er solle den Duce absetzen und Italien aus dem Krieg herausziehen.
MAFALDA VON SAVOYEN (1902–1944): Mafalda, die zweite Tochter des italienischen Königs Vittorio Emanuele III., heiratete 1925 den deutschen Prinzen Philipp von Hessen und lebte in den Folgejahren teils in Italien und teils in Deutschland, wo ihr Gatte ein prominenter Nazi und Vertrauter Hitlers wurde. Die Sache sollte für sie nicht gut enden.
MARIE JOSÉ VON BELGIEN (1906–2001): Die Tochter und Schwester belgischer Könige heiratete 1930 Umberto von Savoyen, den einzigen Sohn des italienischen Königs. Marie José war eine willensstarke Person, die sich mit den Einschränkungen, welche ihr als Frau und Gattin des Thronfolgers auferlegt waren, nicht abfinden mochte. Sie scharte einen eigenen Freundeskreis aus bekannten italienischen Intellektuellen um sich – darunter zunehmend solche, die dem faschistischen Regime kritisch gegenüberstanden. Sie suchte als eine der ersten Persönlichkeiten von Einfluss die vatikanische Hilfe, um Mussolini abzusetzen und Italien aus dem Krieg herauszuführen, wenngleich ihre Bemühungen nur wenig Erfolg zeitigten.
Vorwort
Im März 1939, als die Welt einem katastrophalen Krieg entgegentaumelte, versammelten sich die Kardinäle der katholischen Kirche, um einen neuen Pontifex maximus zu wählen. Der Mann, den sie wählten, sollte zu einem der umstrittensten Päpste der Kirchengeschichte werden. Von den einen fast wie ein Heiliger verehrt, von anderen mit Verachtung bedacht, gab Pius XII. Anlass zu erbitterten Debatten um sein Verhältnis zu den Regimen Hitlers und Mussolinis und sein Handeln im Zweiten Weltkrieg. Seine Kritiker werfen ihm eine Schwäche für Diktaturen und eine Abneigung gegen Juden vor: Wie sonst konnte er sich zu schweigen entschließen, als sechs Millionen Juden im Holocaust ermordet wurden? Allzu leicht habe er sich von Mussolini und Hitler einschüchtern lassen und allzu oft Opportunismus über Prinzipientreue gestellt. Die Verteidiger Pius’ XII. malen dagegen ein anderes Bild, ein Bild voller Tugenden. Demnach war er ein Mann von seltenem Mut, der – obschon selbst bedroht von Entführung, wenn nicht Ermordung – heldenhaft den Nazis und ihren faschistischen Verbündeten in Italien entgegentrat. Keineswegs habe er Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der europäischen Juden gezeigt, sondern unermüdlich und wirksam daran gearbeitet, sie zu retten.
Die bisherigen Forschungen zum Zweiten Weltkrieg haben einige dieser Fragen beleuchtet und eine nuanciertere Sicht als diese Extrempositionen erlaubt, doch ein entscheidendes Puzzleteil hat lange gefehlt. Die vatikanischen Archive, welche die Aktivitäten des Papstes und der Prälaten in seinem Umfeld während des Krieges dokumentierten, wurden beim Tod Pius’ XII. 1958 versiegelt. Die nachfolgenden Päpste standen unter starkem Druck, sie zu öffnen. Schließlich ordnete Papst Franziskus die Öffnung an, woraufhin die Archive für die Amtszeit von Papst Pius XII. im März 2020 den Forschern zugänglich gemacht wurden. Nun lässt sich nicht nur eine vollständigere Geschichte über das Handeln des umstrittenen Papstes während des Krieges erzählen, sondern auch rekonstruieren – und vielleicht ist dies ebenso wichtig –, warum und wie er unter großem Druck seine schicksalhaften Entscheidungen traf.
Dieses Buch bietet seinen Lesern die erste ausführliche Darstellung der Ereignisse auf Grundlage der vor Kurzem geöffneten Archive. Seine Seiten sind voll zuvor unbekannten Materials und neuer Enthüllungen. Bei der Arbeit daran habe ich Tausende von Dokumentseiten gelesen, die für die Entscheidungen Pius’ XII. zwischen 1939 und 1945 relevant waren. Darunter sind viele interne Memoranden, die der Papst als Entscheidungshilfe erstellen ließ: Wie sollte er reagieren auf das fortgesetzte Bemühen des NS-Regimes, die Juden Europas auszulöschen, wie umgehen mit Mussolinis Forderung nach stärkerer katholischer Unterstützung für den Krieg der Achsenmächte? Daneben gibt es Berichte der päpstlichen Nuntien und anderer kirchlicher Würdenträger im deutsch besetzten Europa, die den Papst über Gräueltaten in Kenntnis setzten und ihn zum Handeln drängten.
So wichtig die vatikanischen Archive für das hier gezeichnete Bild sind, würden sie doch eine einseitige und unvollkommene Darstellung liefern. Um die dramatische Geschichte vollständig zu erzählen, muss die gewaltige Masse relevanter Berichte und Briefe in anderen historischen Archiven einbezogen werden: in Italien, Deutschland, Frankreich, den USA und Großbritannien. Viele dieser Dokumente sind ebenfalls erst in den letzten Jahren im Zuge der allmählichen Freigabe von Regierungsdokumenten zugänglich geworden. Dazu gehören die Berichte, die Mussolinis und Hitlers Botschafter im Vatikan regelmäßig an ihre Regierungen schickten, sowie entsprechende Berichte der britischen, französischen und amerikanischen Gesandten. Zusammengenommen liefern diese Berichte aus dem Inneren des Vatikans fast eine Tageschronik des Dramas, das sich dort von Kriegsbeginn bis Kriegsende abspielte. Eine zusätzliche Dimension bieten die regelmäßigen Mitteilungen, welche die vielen Spione Benito Mussolinis im Vatikan über die Intrigen, Verrätereien und Konflikte hinter dessen Mauern machten. Ähnliche Spitzelberichte habe ich in meinem Buch Der erste Stellvertreter über den Vorgänger Pius’ XII., Pius XI., und den Aufstieg des Faschismus in Europa vor dem Krieg benutzt.
Obwohl Pius XII. im Zentrum des Dramas steht, das ich hier untersuche, bietet dieses Buch nicht nur eine neue Sicht auf den Papst und den Vatikan während des Krieges, sondern auch auf die Erfahrung des Krieges in Italien. Pius XII. war Römer, die Kurienkardinäle waren fast alle Italiener, und als Bischof von Rom besaß der Papst eine besondere Autorität über die italienische Kirche. Wie der Papst seine öffentlich vertretene Neutralität mit der Leitungsfunktion in einer italienischen Kirche in Einklang brachte, die den Krieg der Achsenmächte begeistert unterstützte, wird im Folgenden klar werden. Auch davon, wie der katholische Klerus Italiens, trotz seines Unbehagens am NS-Regime, alle guten Katholiken aufforderte, an Hitlers Seite zu kämpfen, werde ich hier erzählen. Wesentlich für all dies ist das Verständnis der seltsamen Beziehung zwischen den beiden Männern, die aus Sicht der Italiener alle anderen überragten: Mussolini und der Papst. Und so wie der italienische Diktator den Papst brauchte, um sich die Unterstützung der Katholiken für den Krieg zu sichern, hatte Pius XII. eigene Gründe, ein gutes Verhältnis zu Mussolini zu suchen.
Wer an den Zweiten Weltkrieg in all seiner Dramatik und Tragik denkt, wird meist eine Handvoll Staatsführer im Vordergrund sehen: Hitler, Mussolini, Churchill, Roosevelt, Stalin. Man könnte jedoch argumentieren, dass eine weitere Person hinzugezählt werden sollte, denn im vom Krieg zerrissenen Europa genoss der Papst einen Status wie niemand sonst. Viele auf dem Kontinent und darüber hinaus hielten ihn für den einzigen Menschen, dem seine Stellung eine unbestrittene moralische Autorität verlieh. So erschien er erst als letzte Hoffnung, den Krieg abzuwenden, und später, ihn zu beenden. Für die Italiener war er die einzige vom faschistischen Regime unabhängige Autorität und der einzige Mann, dessen Charisma mit dem Mussolinis konkurrieren konnte.
Die folgende, manchmal schockierende, manchmal überraschende Geschichte dreht sich um einen Papst im Angesicht einer vom Krieg zerrissenen Welt, der um die Zukunft der von ihm geführten Kirche fürchtete und unter unablässigem Druck stand, die Verbrecher anzuklagen. Die hier geschilderten Ereignisse sind ein dramatisches Kapitel in der Geschichte der katholischen Kirche, aber sie sind viel mehr. Sie sind ein wichtiges und bis jetzt nur zum Teil verstandenes Kapitel in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Vielleicht sind sie auch eine Geschichte, die Lehren für unsere heutige Welt enthält.
Prolog
Das falsche Kreuz
Am 2. Mai 1938 verließen drei Sonderzüge mit Hunderten von deutschen Diplomaten, Regierungsbeamten, nationalsozialistischen Parteiführern, Sicherheitspersonal und Journalisten Berlin, um Hitler auf seinem ersten Besuch in Rom zu begleiten – der auch sein letzter sein sollte. NS-Größen wie Joachim von Ribbentrop, Joseph Goebbels, Rudolf Hess, Heinrich Himmler und Hans Frank saßen im Zug, während Hermann Göring die Regierungsgeschäfte in der Hauptstadt weiterführte. Auf dem Besuch hatte der italienische Diktator Benito Mussolini, der zwei Jahrzehnte zuvor den Faschismus erfunden hatte, persönlich bestanden, weil er sich unbedingt für die jubelnden Massen revanchieren wollte, die Hitler im letzten Herbst zu seinen Ehren aufgeboten hatte.
Der Besuch begann für Hitler eher unangenehm. Er hatte angenommen, dass der Mann, den er lange als sein Vorbild betrachtet hatte, nun seinerseits ihn durch jubelnde Menschenmengen begleiten würde, aber bei der Ankunft in Rom fand er sich in einer prächtigen Pferdekutsche neben dem kleinwüchsigen, introvertierten König Italiens wieder. Hitler bemerkte später, man habe in Italien wohl noch nichts von der Erfindung des Motorwagens gehört. Sein Abscheu für den willensschwachen Monarchen mit dem weißen Schnurrbart wurde von König Vittorio Emanuele III. vollends erwidert, der den deutschen Führer als drogensüchtigen Geisteskranken ansah. Weil aber der König das Staatsoberhaupt war und nicht Mussolini, forderte das Protokoll, dass der deutsche Reichskanzler sein Gast im Quirinal war, dem riesigen Königspalast, den Papst Gregor XIII. im 16. Jahrhundert auf dem höchsten Hügel Roms errichtet hatte. Hitler fühlte sich in einen übergroßen Antiquitätenladen versetzt und empfand den Ort als melancholisch. Seine Gastgeberin, Königin Elena von Italien, die ihren Ehemann an Körpergröße weit überragte, erinnerte den frauenfeindlichen Diktator an einen Dragoner.
Erst am Ende des sechstägigen Besuchs konnte Hitler die Sehenswürdigkeiten voll und ganz genießen, als er nämlich seine italienische Lieblingsstadt Florenz ohne das Königspaar besuchte. Kurz nach Mussolinis Zug fuhren auch Hitler und sein Gefolge auf Bahnsteig 16 des Bahnhofs ein, der reich geschmückt war mit Blumen, deutschen und italienischen Fahnen und großen goldenen Bannern, die das faschistische Rutenbündel mit Beil, die fasces, zeigten. Während die Kapelle Deutschland über alles und die faschistische Hymne Giovinezza spielte, ertönte der Lärm eines italienischen Flugzeuggeschwaders im Tiefflug. Die beiden Diktatoren saßen lächelnd auf der Rückbank eines offenen Wagens, während sie eskortiert von Polizeimotorrädern ihren triumphalen Weg durch die Straßen zum Palazzo Pitti nahmen. Eine kleine Armee von Architekten, Ingenieuren und Künstlern hatte die Stadt monatelang für das Ereignis hergerichtet. Zehntausende rotschwarzer Hakenkreuzfahnen hingen im Wechsel mit italienischen Fahnen überall auf dem Weg aus den Fenstern. Es war ein schöner Frühlingstag, und da in der Region Toskana ein Feiertag erlassen worden war, kamen 350 000 Menschen, um einen Blick auf die beiden großen Männer zu erhaschen, wenn auch mit klarer Vorliebe für ihren Duce. Tausende faschistische Milizionäre und Soldaten säumten die Straßen, um die Menge zurückzuhalten. Hunderte Polizisten, darunter eine Kompanie aus Rom, und 1500 Carabinieri aus anderen Bezirken waren ebenfalls präsent. Nach einer Besichtigung der unvergleichlichen Kunstsammlung des gewaltigen Renaissancepalasts – Mussolini, der sich nichts aus Museen machte, nahm nicht teil – fuhr die Autokolonne weiter. Die beiden Männer hielten an einem Gedenkschrein für einen toskanischen Märtyrer des Faschismus und fuhren dann auf einen nahe gelegenen Hügel, damit Hitler den Blick über die Stadt genießen konnte.
Ohne dass der Ehrengast davon erfuhr, kam es vor dem Galadiner im Palazzo Medici-Riccardi, einem Palast aus dem 15. Jahrhundert, den Cosimo de’ Medici für seine Familie gebaut hatte, zu einem Misston. Laut einem Bericht des amerikanischen Konsuls in Florenz waren vier Damen in letzter Minute wieder ausgeladen worden. Ihre jüdischen Vorfahren waren erst verspätet entdeckt worden, und die örtlichen faschistischen Würdenträger wollten alles vermeiden, was ihre deutschen Gäste beleidigen konnte. Schließlich wurde nach dem Bericht des Konsuls aber doch eine allerletzte Veränderung vorgenommen: »Eine Dame protestierte vehement und bewies, dass sie nicht jüdisch war, sodass in ihrem Fall die Einladung zum Diner aufrechterhalten wurde.«
Nach dem Essen fuhren die beiden Diktatoren zum Teatro Comunale, wo Verdis Simone Boccanegra gegeben wurde. Danach genossen sie spät am Abend ein militärisches Spektakel zu ihren Ehren, bei dem eine Lichtschau in riesigen Lettern die Worte »Führer« und »Duce« aufleuchten ließ. Schließlich fuhren sie zum Bahnhof zurück, wo Hitlers Zug wartete. Als die beiden Männer auf dem Bahnsteig Abschied nahmen, mussten sie ihre Emotionen zügeln. »Der Duce sagte: ›Nun kann uns keine Macht mehr trennen.‹ Die Augen des Führers füllten sich mit Tränen.«1
Während der Duce und sein Gast vor den italienischen Massen posierten, schäumte der Papst vor Wut. Der achtzigjährige und gebrechliche Pius XI., der kein Jahr mehr zu leben hatte, hatte zu Beginn seiner Amtszeit Mussolini dabei geholfen, seine Diktatur zu festigen. Später hatte ihn die zunehmende Nähe des Duces zum NS-Regime erschreckt. In den letzten Monaten hatte der Papst immer deutlichere Worte gefunden für das Vorgehen der Nazis gegen die katholische Kirche in Deutschland und den Versuch, eine heidnische Blut-und-Boden-Religion mit Hitler als neuem Gott zu schaffen. Bei Staatsbesuchen in Rom erwiesen Staatsoberhäupter normalerweise auch dem Papst ihre Referenz, aber Pius XI. hatte klargemacht, er werde Hitler nur empfangen, wenn dieser seinen Kurs gegenüber der Kirche zu ändern beabsichtige. Das lehnte der deutsche Diktator ab.
Um sein Missfallen über Hitlers Besuch zu zeigen, hatte Pius XI. Rom verlassen und sich in den päpstlichen Sommerpalast Castel Gandolfo in den nahen Albaner Bergen zurückgezogen. Er ließ die vatikanischen Museen schließen und die nächtliche Außenbeleuchtung des Vatikans abschalten. Vor einer Gruppe von Neuvermählten, die gekommen waren, um den päpstlichen Segen zu empfangen, entfernte sich der Papst weit von seinen üblichen Platitüden und beklagte die Glorifizierung des Hakenkreuzes in der Hauptstadt des Katholizismus. Es sei »das Zeichen eines anderen Kreuzes, das nicht das Kreuz Christi ist«.2
Für Mussolini, dessen Regime lange ein produktives Verhältnis zum Vatikan unterhalten hatte, wurde Pius XI. zu einem Problem. Es war schon schwer genug, die Italiener – die das deutsche Gerede von einer überlegenen arischen Rasse nicht mochten – für sein Bündnis mit Hitler zu gewinnen, auch ohne dass der Papst ihm Knüppel zwischen die Beine warf. Aber solange Pius XI. lebte, hatte Mussolini schlechte Karten. Tatsächlich waren viele Subalterne im Vatikan entnervt von der Kritik des Papstes an den Nazis, da sie um die privilegierte Stellung der Kirche im faschistischen Italien fürchteten. Unter diesen Prälaten war keiner mächtiger als der vatikanische Staatssekretär Kardinal Eugenio Pacelli, der nur dem Papst selbst unterstand und weithin als dessen wahrscheinlicher Nachfolger galt.
Pacelli liebte weder Hitler noch die Nazis. Kurz nachdem dieser 1933 an die Macht gekommen war, hatte Pacelli ein Konkordat mit ihm ausgehandelt, das die Interessen der katholischen Kirche in Deutschland schützen sollte. Die Übereinkunft war ein großer Triumph für Hitler, dessen Aufstieg zur Macht von anderen Staatsführern mit Skepsis und Unruhe beobachtet worden war, weshalb sie ihr Bestes gaben, um ihn zu isolieren. Nun konnte sein neues Regime sich brüsten, vom Papst selbst anerkannt zu sein. Für den Vatikan erwies sich das Konkordat bestenfalls als flüchtiger Triumph. Dass Hitler sich nicht daran hielt, wurde bald klar, als er methodisch den Einfluss der Kirche einschränkte. Obwohl dieses Resultat Pacelli in Verlegenheit brachte, glaubte er, eine ablehnende Haltung gegenüber Hitler werde die Dinge nur schlimmer machen. Außerdem sah er Deutschland als stärkstes Bollwerk in Europa gegen den seiner Meinung nach größten Feind der Kirche, den Kommunismus. Statt sich Mussolini zum Feind zu machen, indem man seinen Pakt mit Hitler verurteilte, wollte der Kardinal ihn lieber zufriedenstellen und seine enge Bindung an Hitler nutzen, um diesen von einem Friedensschluss mit der Kirche zu überzeugen.3
Während sich die Prälaten um Pius XI. sorgten, wohin der Eifer des Papstes, mit dem Nationalsozialismus ins Gericht zu gehen, noch führen werde, beunruhigten Mussolini die Berichte seines Botschafters beim Heiligen Stuhl und seiner vielen Spione im Vatikan. Ende 1938 erfuhr der Diktator, dass der Papst heimlich an einer Enzyklika arbeitete, einem Rundschreiben an die Katholiken auf der ganzen Welt, das sich gegen Rassismus und Antisemitismus wenden werde. Noch alarmierender waren Berichte, wonach Pius XI. beabsichtigte, in seiner kommenden Rede vor allen Bischöfen Italiens die Nähe des Duces zu Nazideutschland zu verurteilen.
Für den Duce konnte der Tod Pius’ XI. gar nicht schnell genug kommen.
Teil I
KRIEGSWOLKEN
Kapitel 1
Tod eines Papstes
Eugenio Pacelli saß auf einem Stuhl neben dem einfachen Messingbett und sah, wie der früher so robuste Papst mit eingesunkenem Gesicht unter der Sauerstoffmaske schwer atmete. Es war mitten in der Nacht, und obwohl Kardinal Pacelli, der vatikanische Staatssekretär, an wenig Schlaf gewöhnt war, beschloss er, sich in seine zwei Stockwerke tiefer gelegene Wohnung im gewaltigen Papstpalast zurückzuziehen, um etwas auszuruhen. Um vier Uhr wurde er mit der Nachricht geweckt, der Zustand des Papstes habe sich verschlechtert, und er eilte zurück in dessen bescheidenes Schlafzimmer. Das bleiche Gesicht Pius’ XI. war schweißüberströmt, während er nach Atem rang. Der Kardinal kniete nieder und bat den sterbenden Papst um seinen Segen.1
Es war der frühe Morgen des 10. Februar 1939. Für Pacelli, den der Papst zum Kardinal gemacht und auf den mächtigsten Posten der katholischen Kirche nach dem des Pontifex selbst berufen hatte, war es eine traurige Szene. Doch es gab viel zu tun, denn der Papst hatte Pacelli auch zum camerlengo (Kardinalkämmerer) ernannt, und als solcher hatte er jetzt sicherzustellen, dass alles geregelt vor sich ging, bis die Kardinäle einen Nachfolger wählen konnten.2
Pacellis Verhältnis zum Papst war eng, aber nicht besonders herzlich gewesen. Ihre Charaktere hätten kaum unterschiedlicher sein können, und vielleicht war das ein Grund, warum Pius XI. ihn so schätzte. Der aufbrausende Papst, der gern aussprach, was er dachte, und dabei häufig die Meinungen anderer zu ignorieren schien, brauchte den sehr disziplinierten, diplomatischen Pacelli, um die Wogen wieder zu glätten, die er selbst in Aufruhr versetzt hatte.
Der vatikanische Staatssekretär befand sich in einer Mittlerposition. Nicht nur Hitlers und Mussolinis Botschafter beklagten sich bei ihm über Pius XI. und suchten seine Hilfe, sondern auch viele hohe Geistliche, die sich sorgten, der Papst könne im Alter leichtsinnig werden. Im Einklang mit seiner Stellung und seinen Gelübden führte der Kardinal die Anweisungen des Papstes zwar aus, doch er fand Wege, dessen beißendere Bemerkungen über das italienische und das deutsche Regime zu entschärfen.3
Pacelli war ein geschickter Diplomat, und trotz einer gewissen angeborenen Schüchternheit reiste er um die Welt wie noch kein Staatssekretär vor ihm. Auf seinen Reisen traf er sich nicht nur mit Kirchenführern, sondern auch gern mit mächtigen Politikern. Im Herbst 1936 besuchte er als erster vatikanischer Staatssekretär überhaupt die USA und bereiste das Land zwei Monate lang, wobei er Ehrendoktortitel mehrerer katholischer Universitäten erhielt, viele Tausend Kilometer umherflog und auch mit dem Präsidenten zusammentraf.
Im folgenden Jahr war der Kardinal Ehrengast bei der Weihe einer neuen Basilica minor in Frankreich und machte einen Abstecher, um mit dem französischen Präsidenten und dem Premierminister zu sprechen. Wenige Wochen nach Hitlers Rombesuch im Mai 1938 verließ Pacelli Italien erneut, diesmal um auf dem Eucharistischen Weltkongress in Budapest zu sprechen. Seine Botschaft war überall dieselbe: Die Welt befand sich in einer Krise. Sie hatte sich vom Kreuz Christi abgewandt. Nur durch die Rückkehr in den Schoß der Kirche konnte sie gerettet werden.4
Während Pius XI. dazu neigte, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen und die Stimme zu erheben, um jene Botschafter abzukanzeln, deren Länder sein Missfallen erregt hatten, versuchte Pacelli ausländische Diplomaten zu gewinnen, indem er das Gemeinsame betonte. Wenn er es für nötig hielt, Beschwerden zu äußern, tat er es auf eine Art, die andeutete, dass es ihn selber bedrückte. Die Beziehungen zwischen Pius XI. und Hitler hatten 1933 vielversprechend begonnen. Tatsächlich setzte der Papst zunächst einige Hoffnungen in ihn, beeindruckt von seinen streng antikommunistischen Ansichten. Pacelli, der zwölf Jahre als päpstlicher Nuntius in Deutschland verbracht hatte und das Land gut kannte, bemerkte damals, Hitler sei zwar offensichtlich ein begabter Agitator, aber es bleibe abzuwarten, ob er auch ein »Mann der Regierung« sei.
Dem neuen Reichskanzler wiederum war sehr daran gelegen, dass die Kirche ihre Unterstützung für die katholische Zentrumspartei aufgab, die größte nichtmarxistische Partei, die seiner Diktatur im Weg stand. Er machte eine Reihe versöhnlicher Gesten und versprach, den Religionsunterricht zu schützen und der katholischen Kirche eine privilegierte Stellung in der deutschen Gesellschaft zu geben. Durch diese Zusicherungen brachte er die deutschen Bischöfe hinter sich, und die Zentrumspartei hatte das Nachsehen. Die Übereinkunft wurde nur wenige Monate nach Hitlers Regierungsantritt durch die Unterzeichnung eines neuen Konkordats zwischen Deutschland und dem Heiligen Stuhl besiegelt. Das verlieh Hitlers Glaubwürdigkeit gewaltigen Auftrieb, nicht nur im Inland, sondern auch international, wie der päpstliche Nuntius in Berlin wenige Jahre später im Gespräch mit dem deutschen Außenamtsstaatssekretär Ernst von Weizsäcker hervorhob: »Es scheint mir kaum möglich, dass Signor Hitler vergessen hat, wie der Heilige Stuhl nur wenige Monate, nachdem er an die Macht kam, im Inland wie im Ausland von Misstrauen und Feindschaft umgeben, ihm die Hand reichte und mit seiner großen geistlichen Autorität dazu beitrug, das Vertrauen in ihn und sein Prestige zu stärken.« Es war typisch für Mussolini, sich selbst mit dem Verdienst zu schmücken: Schließlich habe Hitler von ihm das erfolgreiche »Rezept« erhalten, wie man sich beim Vatikan beliebt mache.5
Hitler hatte den Duce lange als Vorbild angesehen. Bei einer Kundgebung in München im Jahr 1922, als Hitler noch mit vielen anderen Extremisten um Aufmerksamkeit im politischen Leben Deutschlands konkurrierte, wurde er nur wenige Tage, nachdem Mussolini italienischer Ministerpräsident geworden war, als »Deutschlands Mussolini« vorgestellt. »Dies ist der symbolische Moment, als Hitlers Anhänger den Führerkult erfanden«, bemerkt der britische Hitlerbiograf Ian Kershaw. Während Hitler in den nächsten Jahren den eigenen Aufstieg zur Macht plante, stand eine Mussolini-Büste in seinem Büro. »Männer wie Mussolini werden nur alle 1000 Jahre geboren«, sagte er nach der ersten Begegnung mit dem Duce 1934. Auf Drängen des Papstes benutzte Mussolini das Treffen in Venedig dazu, Hitler den Rat zu geben, es sei das Beste, die katholische Kirche zufriedenzustellen.6
Nach dem Treffen berichtete Mussolini Pius XI. von der Unterredung mit Hitler. Dabei hielt er es für ratsam, nichts von »all den idiotischen Sachen« zu erwähnen, »die Hitler über Jesus Christus als Juden usw. sagte«, wie er seinem Botschafter beim Heiligen Stuhl anvertraute. Wichtig war schließlich vor allem, dass Hitler am Ende ihres Gesprächs klargemacht hatte, er wolle keinen Religionskrieg. Es war das erste, aber nicht das letzte Mal, dass der Papst und Kardinal Pacelli den Duce baten, für sie mit Hitler zu sprechen.7
Die Hoffnungen Pius’ XI. auf den deutschen Diktator waren nicht von langer Dauer. Bald begann das NS-Regime, katholische Pfarrschulen durch staatliche Schulen zu ersetzen, katholische Jugendgruppen abzuschaffen und die kirchlichen Aktivitäten auf das rein Sakramentale zu beschränken. »Der Papst hegt eine starke persönliche Abneigung gegen Hitler«, berichtete ein Polizeispitzel im Vatikan Ende 1934. »Ohne Pacelli, der die Lage auszugleichen versucht, wäre das Staatssekretariat ihm gegenüber noch ablehnender.«8
Auch Pacelli verlor 1935 die Geduld mit Hitler, als dieser Schauprozesse gegen zahlreiche katholische Geistliche anstrengte, in denen ihnen verschiedene sexuelle und finanzielle Vergehen vorgeworfen wurden. Die deutschen Bischöfe forderten den Papst zum Handeln auf und schlugen vor, er solle mit einer Enzyklika gegen Hitlers Bruch des Konkordats protestieren. Obwohl Kardinal Pacelli aus Furcht, sich den deutschen Diktator zum Feind zu machen, von so öffentlichem Protest abriet, ließ Pius XI. sich nicht davon abbringen. Am 21. März 1937, dem Palmsonntag, verlasen Bischöfe und Priester im ganzen Reich die Enzyklika Mit brennender Sorge vor ihren Gemeinden. Das war eine schockierende Entwicklung in einem Land, wo jede Kritik am NS-Regime brutale Konsequenzen riskierte. Wie vorauszusehen, war Hitler außer sich vor Wut, nicht nur über die Attacke des Papstes, sondern auch darüber, dass es diesem gelungen war, den Text heimlich in den Kirchen in ganz Deutschland verteilen und dann verlesen zu lassen.
Hitlers Besetzung von Österreich im März 1938 und dessen Anschluss an das Deutsche Reich waren für Mussolini peinlich gewesen, denn er hatte Österreich als eine Art italienisches Protektorat betrachtet, einen Puffer zwischen Italien und dem mächtigen deutschen Staat. Schlimmer noch: Der Führer hatte ihn erst wenige Stunden vor dem Einmarsch informiert. Am nächsten Tag zog Hitler triumphal in Wien ein, während auf Anordnung des Erzbischofs die Kirchenglocken läuteten.
Da nun weitere Millionen Katholiken unter Hitlers Herrschaft lebten, suchten der Papst und sein Staatssekretär umso dringender die Hilfe Mussolinis. Fünf Tage nach Hitlers Einzug in Wien schrieb Kardinal Pacelli an Mussolini und dankte ihm »für Ihr besänftigendes Handeln gegenüber Signor Hitler, dem Kanzler des Deutschen Reichs, und für Ihre Intervention gegen die Fortsetzung der Politik religiöser Verfolgung in Deutschland«.9 Hitlers Respekt für Mussolini war weiter gewachsen, als der Duce kurz nach Hitlers Italienbesuch im Frühjahr 1938 seine neue »Rassenpolitik« verkündete. Mussolini führte bald die ersten antijüdischen Rassengesetze in Italien ein, die sehr denen ähnelten, die Hitler drei Jahre zuvor in Deutschland erlassen hatte. »Durch Italiens neue Politik in Bezug auf das Judenproblem ist der Geist der Achse vollständig«, lobte Hitler.10
Am 30. Januar 1939, dem sechsten Jahrestag seines Machtantritts, hielt Hitler eine große Rede vor dem Reichstag. Er sprach achtzig Minuten lang im dicht besetzten Saal mit lauter, scharfer Stimme und flocht auch einige ironische Randbemerkungen ein. Inhaltlich beschritt er vertraute Pfade, indem er die Triumphe bejubelte, die im letzten Jahr bei der Vergrößerung des Reichs durch den Anschluss des Sudetenlands und ganz Österreichs erzielt worden waren, und mit dem unbedingten Rückhalt prahlte, den das NS-Regime im deutschen Volk genoss. Ausländische Versuche, sich in die Behandlung der Juden im Reich einzumischen, wies er scharf zurück. Es war gerade erst zwei Monate her, dass die Nazis im Pogrom der »Kristallnacht« gegen die deutschen Juden gewütet hatten. Dann wandte Hitler sich der Kirchenfrage zu.
Der italienische Botschafter in Berlin war anwesend und berichtete, dass Hitler an dieser Stelle einen leicht defensiven Ton anschlug: »Obwohl er deutlich den ›politischen‹ Klerus verurteilte, bekräftigte er den Wunsch der nationalsozialistischen Regierung, die Kirchen in Frieden zu lassen«, und betonte die hohe finanzielle Förderung, die sie jedes Jahr vom Reich bekamen. Hitler konnte sich aber eine Spitze gegen die katholische Kirche nicht verkneifen und sprach »über die Päderastie und sexuellen Verfehlungen einiger Mitglieder des Klerus«.
Als Hitler sich im letzten Teil seiner Rede der Außenpolitik zuwandte, betonte er die Freundschaft zwischen dem faschistischen Italien und Nazideutschland und pries die Leistungen des Duces. Nach dem Bericht des Botschafters folgte »eine klare, präzise und unzweideutige Bekräftigung, dass im Falle eines Krieges gegen Italien der Aggressor auch gegen Deutschland kämpfen müsse«. Dies »löste eine starke und enthusiastische Reaktion der Abgeordneten und Zuschauer aus«. Obwohl der italienische Botschafter wenig von Hitler hielt, schickte er eine beruhigende Einschätzung nach Rom:
Die weit ausgreifende Rede wirkte gut aufgebaut. In der Sache war sie recht gemäßigt, vor allem angesichts dieses Mannes und seiner früheren Reden. Abgesehen von der Judenfrage, bei der er die klare Absicht zeigte, sie ein für alle Mal aus dem Weg zu räumen, war Hitler nirgends exzessiv. Was die Kirche betrifft, kann man sagen, dass er antiklerikal, aber nicht antireligiös war. … Außer in Verbindung mit einer Verteidigung Italiens sprach der Führer nie vom Krieg, vielmehr mehrere Male vom Frieden.11
Sechs Wochen später marschierten Hitlers Truppen in der Tschechoslowakei ein und besetzten Prag, was weithin Schockwellen durch die Welt sandte. In den wenigen Wochen, die zwischen Hitlers Rede und dem Einmarsch lagen, wurde ein neuer Papst gekrönt.
Mussolini war 1922 Premierminister geworden, im selben Jahr wie Pius XI. Papst. Damals hatte der Pontifex den ungehobelten 39-jährigen neuen Regierungschef mit Skepsis betrachtet. Mussolini war zuvor ein radikaler Sozialist und Kirchengegner gewesen und hatte erst kurz vor dem Regierungsantritt seine Unterstützung für die Kirche erklärt. Doch das Verhältnis verbesserte sich dramatisch, und im Lauf der folgenden Jahre schloss Pius XI. eine schicksalhafte Übereinkunft mit dem Diktator, die in den Lateranverträgen von 1929 festgeschrieben wurde. Im Gegenzug zur katholischen Unterstützung für sein Regime willigte Mussolini ein, die Trennung von Kirche und Staat in Italien zu beenden, den Vatikan als souveränen, vom Papst regierten Staat anzuerkennen und der Kirche eine politische Macht zu geben, die sie seit Jahrzehnten nicht gehabt hatte.12
Dabei machte der Papst sich keine Illusionen über Mussolinis religiöse Überzeugungen. Der Begründer des italienischen Faschismus hatte soweit bekannt weder je eine Sonntagsmesse besucht noch das Abendmahl genommen oder andere kirchliche Riten befolgt. Während das den Papst nicht besonders zu stören schien, bereitete ihm in den letzten Jahren Mussolinis wachsende Hybris doch Sorgen. Es schien immer mehr, als betrachte der Duce sich selbst als eine Art Gottheit, deren Interessen die Kirche zu dienen hatte. Am meisten beunruhigte den Papst Mussolinis Schulterschluss mit Hitler, den Pius XI. als Propheten eines Blut-und-Boden-Heidentums ansah.
Papst und Duce waren auf Kollisionskurs. Zwar hatte Kardinal Pacelli getan, was er konnte, um Pius XI. zu zügeln, wie der deutsche Botschafter im Juli 1937 nach Berlin berichtete, doch »es ist auch dem jetzigen Kardinalstaatssekretär nicht gelungen, den alternden, eigenwilligen und jähzornigen Papst zu einer grösseren Vorsicht und Zurückhaltung in seinen Ansprachen zu bewegen«. Als Mussolini ein Jahr später seine neue »Rassenpolitik« enthüllte, wich der Papst bei einer Audienz vom Text ab und fragte, warum Mussolini meine, die Nazis nachäffen zu müssen, was den dünnhäutigen Diktator in Rage brachte.13
Im Dezember 1938 berichtete der Botschafter des Duces beim Vatikan, die jüngsten Reibereien mit dem faschistischen Regime hätten den Papst deprimiert und zornig gemacht. Wenn er mit den Prälaten seiner engsten Umgebung über Mussolini spreche, lasse er häufig seinen Ärger erkennen. »Der Papst drohte, etwas zu tun, woran Italien sich noch lange erinnern würde«, erinnerte sich der Botschafter. Vielleicht werde der Papst »eine Enzyklika gegen den Faschismus oder sogar eine Verurteilung des Faschismus« veröffentlichen.14
Anfang Januar 1939 erhielt der Botschafter einen bestätigenden Hinweis, dass der Papst sich tatsächlich in einer Enzyklika gegen den Rassismus äußern wollte. Der Botschafter hatte Kardinal Pacelli wie auch dessen Stellvertreter mit der Sache konfrontiert. Sie leugneten, dass irgendetwas Wahres daran sei, aber der Botschafter war nicht überzeugt. »Ohne weitere Untersuchungen kann ich nicht definitiv ausschließen, dass ein Dokument zur Verurteilung der totalitären Staaten vorbereitet wird.«15
Während Pius XI. krank und deprimiert war, fühlte Mussolini sich glänzend. Als er am 5. Januar von einem zweiwöchigen Urlaub zurückkehrte, trug der Diktator beim nachmittäglichen Treffen mit dem amerikanischen Botschafter William Phillips in seinem riesigen Büro im Palazzo Venezia noch seinen Skianzug. Der Raum – nach der gewaltigen Mosaikkarte, die einst eine Wand bedeckt hatte, Saal der Weltkarte genannt – war 20 Meter lang, 17 Meter breit und die Freskendecke 13 Meter hoch. Der Marmorboden war mit komplizierten geometrischen Formen und Bildern eingelegt.
Während des ganzen Treffens stand Mussolinis 35 Jahre alter Schwiegersohn und Außenminister Galeazzo Ciano stumm an seiner Seite und wirkte auf Phillips »wie ein überaus disziplinierter Kammerdiener«.16 Der Sohn eines frühen faschistischen Ministers hatte 1930 Mussolinis Lieblingskind, seine eigensinnige Tochter Edda, geheiratet.
Zunächst war es schwer, Ciano ernst zu nehmen, Er galt weithin als verwöhnter Sohn der faschistischen Aristokratie und geschützter Ehemann der Tochter des Duces. Als Phillips Ciano zum ersten Mal kurz nach dessen Ernennung zum Außenminister begegnete, war er wenig beeindruckt. Ciano sprach fließend Englisch und war gewiss umgänglich, wie der Botschafter damals an Präsident Roosevelt berichtete, aber auch dicklich, pausbackig und »erstaunlich knabenhaft«, mit pomadisiertem, »auf typisch italienische Art zurückgekämmtem« Haar. Schlimmer noch, er schien mehr daran interessiert, sich in seinem Golfclub an Frauen heranzumachen, als an ernsthafter Politik.17
Als der US-Botschafter Mussolini in den ersten Tagen des neuen Jahres aufsuchte, fand er ihn in guter Stimmung vor, sah aber Ungemach voraus. Phillips brachte einen Brief von Präsident Roosevelt mit, worin der dem Duce vorschlug, angesichts der Judenverfolgung in Deutschland und anderen Ländern Europas einen jüdischen Staat in Ostafrika zu gründen. Roosevelt dachte dabei an die Plateauregion, deren Norden zur italienischen Kolonie Abessinien (heute Äthiopien) und deren Süden zur britischen Kolonie Kenia gehörte. Zu Phillips’ Überraschung unterbrach der Duce ihn mit der Äußerung seines starken Widerwillens gegen Juden. Er behauptete, es mangele ihnen völlig an Loyalität für die Länder, in denen sie lebten, und bezichtigte sie des Finanzschwindels. Außerdem seien sie völlig unfähig, sich mit einer anderen »Rasse« zu assimilieren. Es gebe für Juden keinen Platz in Europa, beschied Mussolini dem Amerikaner, und irgendwann würden sie gehen müssen. Er lehnte aber die Idee einer Ansiedlung in Abessinien ab und schlug stattdessen Russland oder Nordamerika vor, wo es noch große, dünn besiedelte Gebiete gebe, die besser geeignet seien.18
Auf derselben Etage im Saal der Tierkreiszeichen – benannt nach dem astronomischen Bild an der himmelblauen Decke – wartete Clara Petacci, die 26-jährige lockige Geliebte des Diktators, fast jeden Nachmittag auf seine Besuche und ihre gemeinsamen Schäferstündchen. Obwohl er viele Geliebte gehabt hatte und auch einige Kinder von ihnen, war es mit Clara anders. Sie war nicht nur viel jünger, sondern er war von ihr geradezu besessen – eine Besessenheit, die sie mehr als erwiderte.
Obwohl sie die Oberschule nicht abgeschlossen hatte und wenig von der Welt außerhalb ihrer Ecke Italiens kannte, besaß Clara, die Tochter eines vatikanischen Arztes, eindrucksvolle Energie. Unermüdlich hatte sie die Aufmerksamkeit des Duces gesucht und ihn für sich gewonnen. Unbeeindruckt von der Tatsache, dass sie zwei Jahre zuvor von einem berühmten Kardinal verheiratet und vom Papst persönlich gesegnet worden war, begann Clara 1936 ihre Affäre mit Mussolini. Bald schon sah sie ihn fast jeden Tag oder telefonierte mit ihm, und ihr Tagebuch der folgenden Jahre hält praktisch jedes Wort fest, das er zu ihr sagte, dazu das unterstrichene Codewort sì für jede Gelegenheit, bei der sie Sex miteinander hatten. Ihre jugendlichen Aktivitäten – Zeichnen, Kleiderentwerfen, Geigenspiel und Gedichteschreiben – rangierten alle erst nach ihrer Hingabe an ihren Geliebten, der vier Monate älter als ihr Vater war.
In seiner Residenz Villa Torlonia lebte Mussolini unter den wachsamen Augen seiner Frau Rachele, die seinen Haushalt willensstark lenkte und im Hinterhof Hühner und Schweine hielt. Die Tochter einer armen Bauernfamilie in Mussolinis Heimatstadt war ihrem künftigen Ehemann im Alter von sieben Jahren begegnet. Als im folgenden Jahr ihr Vater starb, nahm Racheles Mutter sie aus der Schule und schickte sie zur Arbeit als Dienstmädchen. 1910 gebar Rachele mit zwanzig Jahren ihre erste Tochter Edda und hielt stets an den antiklerikalen Überzeugungen ihrer Jugend fest, sodass sie nur widerwillig zustimmte, ihre Verbindung mit Benito fünfzehn Jahre später durch eine kirchliche Trauung segnen zu lassen. Sie hielt nichts von Schönheitssalons und Makeup, besaß nur zwei bescheidene Mäntel, wusch nach dem Essen das Geschirr selbst ab und weigerte sich, zu Empfängen zu gehen; dennoch war sie nach den Worten ihrer ältesten Tochter »der wahre Diktator in der Familie«. Obwohl Mussolini pflichtbewusst jeden Abend nach Hause kam, führte er draußen ein ganz anderes Liebesleben.19
Im Hochgefühl der Eroberung Abessiniens 1936 und seiner Proklamation, nach zwei Jahrtausenden habe Rom wieder ein Imperium, sah Mussolini sich zunehmend als unfehlbar an und träumte von immer größeren Eroberungen. »Marschiert zum Ozean«, forderte er den Faschistischen Großrat bei dessen Sitzung Anfang Februar 1939 auf: »Italien muss aus dem Gefängnis des Mittelmeers entkommen.« Da er wie Hitler zu eitel war, sich mit Lesebrille zu zeigen, ließ auch er sich seine Reden auf einer besonderen Schreibmaschine schreiben, deren Typen dreimal so groß wie normal waren. Vielleicht spürte er die Beunruhigung, die seine Bemerkung unter einigen faschistischen Bonzen auslöste – also fügte er hinzu, er plane im Moment keine militärische Aktion.20
Mussolini hatte sich in Gesellschaft von Priestern nie wohlgefühlt, und obwohl er den Vorteil erkannt hatte, den die Unterstützung des Vatikans in einem überwiegend katholischen Italien darstellte, beklagte er sich bitterlich über die jüngsten spitzen Bemerkungen des Papstes. Es würde nicht leicht sein, die Italiener vom Schulterschluss mit dem Dritten Reich zu überzeugen. Die Geschichte der italienischen Zurückhaltung gegenüber den Deutschen war lang, und die Gegnerschaft beider Nationen im Ersten Weltkrieg war auch nicht gerade hilfreich. Ebenso wenig behagte den meisten Italienern die nationalsozialistische Ideologie einer arischen Überlegenheit. Mussolini konnte es sich nicht leisten, dass die Kirche gegen seine Pläne opponierte.
Das Trommelfeuer der Kritik an Deutschland, das die Seiten der vatikanischen Tageszeitung in den ersten Wochen des Jahres 1939 verbreiteten, erzürnte Mussolini. Ein typischer Artikel des Osservatore Romano berichtete etwa über die Schließung von 180 katholischen Schulen in einer bestimmten Region und zählte weitere Teile des Reichs auf, in denen es nun keine katholischen Schulen mehr gab, darunter ganz Österreich. Ein noch schärferer Artikel, der Anfang Februar auf der Titelseite erschien, beklagte das Bestreben des NS-Regimes, den Einfluss der Kirche zu untergraben. »Sie wollen das katholische Leben verhindern und ausbluten lassen, und noch mehr wollen sie die katholische Kirche zerstören … und sogar das Christentum selbst ausrotten, um einen Glauben einzuführen, der absolut nichts mit dem … christlichen Glauben zu tun hat.« Obwohl der Vatikan die Fiktion aufrechtzuerhalten suchte, der Osservatore Romano sei nicht seine offizielle Stimme, nahmen das nur wenige ernst. In Wirklichkeit stand das Blatt unter strenger Aufsicht des Staatssekretariats und des Papstes persönlich.21
Am 22. Januar begab sich Bonifacio Pignatti, Mussolinis Botschafter beim Heiligen Stuhl, in den Papstpalast, um Beschwerde einzulegen. In seinem Bericht über den Vorgang drückte Pignatti die Befürchtung aus, die vatikanischen Attacken auf Deutschland könnten die Begeisterung der Italiener für ihr eigenes faschistisches Regime schwächen. Das Problem liege allein beim Papst, denn »kein Prälat, egal wie hoch er steht, wagt es, dem Pontifex zu widersprechen«. »Wie ich schon mehrfach geschrieben habe«, fuhr Pignatti fort, »wird nur ein neuer Pontifikat fähig sein, eine andere, versöhnlichere Position in der Rassenfrage einzunehmen.« Auch die Geistlichen im Umfeld des Papstes sorgten sich zunehmend, wohin dessen Ausbrüche noch führen könnten. »Der Heilige Vater ist immer sehr gereizt«, notierte damals Monsignore Tardini, Pacellis Vertreter im Staatssekretariat. »Er wiederholte mir gegenüber erneut, dass Mussolini ein farceur (Clown) sei. ›Er ist mir gegenüber grob und doppelzüngig gewesen.‹ Und er fügt hinzu: ›Ich sage das zu vielen Leuten, damit er es auch erfährt.‹« Tardini war mit seiner Weisheit am Ende. »Und leider stimmt das. Der Papst sagt es wirklich zu vielen Leuten. Ciano sagt dem Nuntius, dass der Papst … zu viel redet.«22
Im Gegensatz zu vielen anderen Gerüchten, die im Vatikan umgingen, beruhte das Gerede, Pius XI. bereite heimlich eine Enzyklika gegen den Rassismus und Antisemitismus der Nazis vor, auf Tatsachen. Nach Hitlers Rombesuch im vorigen Frühjahr hatte der Papst beschlossen, eine solche offizielle päpstliche Verlautbarung sei nötig. Er befürchtete aber, Kardinal Pacelli und die anderen hochrangigen Prälaten im Vatikan könnten ihn davon abbringen, weshalb er sich an einen Außenseiter wandte, den amerikanischen Jesuiten John LaFarge, um die Enzyklika zu entwerfen. La-Farge, der für seinen Einsatz gegen den Rassismus in den USA bekannt war, hatte den Text im September an seinen Ordensgeneral geschickt – in dem Glauben, dieser werde ihn binnen weniger Tage an den Papst weitergeben. Stattdessen tat Wladimir Ledóchowski, ein scharfer Antisemit, was er konnte, um die Sache zu sabotieren. Der Entwurf der Enzyklika gelangte erst Mitte Januar auf den Schreibtisch Pius’ XI., zusammen mit einem Anschreiben des Jesuitengenerals, der ihn drängte, das Projekt aufzugeben.23
Der Papst plante noch einen weiteren Schlag gegen Italiens Bündnis mit Nazideutschland. Er hatte die über 300 italienischen Bischöfe zur Zehnjahresfeier der Lateranverträge am 11. Februar 1939 nach Rom eingeladen. Dort wollte er ihnen im Petersdom seine vielleicht letzte Botschaft mitteilen. Das war es, was Pius XI. im Sinn hatte, wenn er drohte, etwas zu sagen, woran man sich lange erinnern werde, und das war es auch, was Mussolini so nervös gemacht hatte.
Der Papst betete, Gott möge ihn lange genug leben lassen, um seine Botschaft vor den Bischöfen und der Welt zu verkünden, aber er war so schwach geworden, dass er ab dem 6. Februar im Bett liegen musste. Außer seinen Ärzten durfte nur Kardinal Pacelli ihn sehen. Unter der Anspannung des sich verschlechternden Gesundheitszustandes und der wachsenden Gereiztheit des Papstes wirkte auch Pacelli mitgenommen. Der Kardinal drängte den kranken Papst, die Feier des Jahrestags zu verschieben, aber Pius lehnte ab. Da er Sorge trug, seine Stimme könne im gewaltigen Petersdom zu schwach sein, um gehört zu werden, wies er die vatikanische Druckerei an, seinen Text für alle Bischöfe zu vervielfältigen.24
»Der Papst ist gestorben«, hielt Galeazzo Ciano, Mussolinis Schwiegersohn und Außenminister, am 10. Februar in seinem Tagebuch fest. »Die Neuigkeit läßt den Duce vollkommen gleichgültig.« Mussolini machte sich bei der Nachricht vom Tod des Papstes nicht einmal die Mühe, ein breites Grinsen zu unterdrücken. »Endlich ist er weg!«, sagte er zu seinem Sohn Bruno. »Der sture alte Mann ist tot.« Der Tod konnte zu keinem günstigeren Zeitpunkt für den Duce kommen, denn es war der Tag vor der geplanten Ansprache des Papstes, die Mussolini so gefürchtet hatte. Tatsächlich hegten manche später den Verdacht, er habe einen Weg gefunden, den Tod Pius’ XI. zu beschleunigen.25
Während der Duce sich insgeheim freute, war die offizielle Reaktion der Regierung überaus respektvoll, denn das Bild des zutiefst katholischen faschistischen Staats musste aufrechterhalten werden. Die für diesen Tag anberaumte Sitzung des Faschistischen Großrats wurde als Zeichen des Respekts vertagt und eine Erklärung veröffentlicht, die auf der Titelseite des Osservatore Romano besondere Erwähnung fand:
Der Faschistische Großrat zollt dem Andenken von Papst Pius XI. ehrerbietigen Tribut, der die Versöhnung zwischen der Kirche und dem italienischen Staat anstrebte, ein großes Ereignis, das nach 60 Jahren fruchtloser Versuche die römische Frage mit den Lateranverträgen löste und durch das Konkordat die Zusammenarbeit zwischen Staat und Kirche schuf, um die faschistische und katholische Einheit des italienischen Volkes zu wahren.26
Die faschistische Presse widmete dem verstorbenen Pontifex unzählige ehrerbietige Artikel. Selbst Il Regime Fascista, die kirchenfeindlichste aller großen faschistischen Zeitungen, füllte viele Seiten mit seinem Lob. Ihr Leitartikel schloss: »Während außerhalb Italiens die verbündeten Kräfte des Bolschewismus, Judaismus und Freimaurertums – die Feinde von Religion, Jesus, italienischer Stärke und Weltfrieden – daran arbeiten, einen Krieg zu provozieren, drückt Italiens katholisches und faschistisches Volk seine Trauer über den Tod des großen Papstes der Versöhnung und des Friedens aus.«27
Außenminister Ciano wies die italienischen Botschafter im Ausland an, die Fahnen auf Halbmast zu setzen. Er selbst begab sich abends in die Sixtinische Kapelle, wo Kardinal Pacelli ihn erwartete. Als sie zu Füßen des mächtigen Katafalks standen, auf dem der Papst aufgebahrt war, ergriff Pacelli die Gelegenheit, mit Mussolinis Schwiegersohn über das Verhältnis von Kirche und Staat zu sprechen, woraus Ciano schloss, dass sich nach dem Tod von Pius XI. das Bündnis von Faschismus und Kirche verstärken werde. Die beiden Männer knieten nebeneinander, fast Schulter an Schulter, vor dem Leichnam nieder, während die Menge aus Prälaten und Adligen zusah. Ein Fotograf der vatikanischen Zeitung hielt fest, wie Mussolinis dicklicher Schwiegersohn in seinem bestickten Ministerrock, das pomadisierte dunkle Haar zurückgekämmt, die Hände vor dem Gesicht zum Gebet faltete. Neben ihm tat der magere, bebrillte und kahl werdende 62-jährige Pacelli in seinem Priesterrock und langen roten Cape dasselbe.28
Galeazzo Ciano und Kardinal Eugenio Pacelli im Gebet vor dem Leichnam Pius’ XI. in der Sixtinischen Kapelle, 10. Februar 1939.
An diesem Wochenende kamen die Kardinäle und Bischöfe Italiens nach Rom, um den Papst zu betrauern, anstatt seine Ansprache gegen den Rassismus und die Allianz Italiens mit Nazideutschland zu hören. Mussolini wollte zunächst nicht an den Begräbnisfeierlichkeiten teilnehmen, aber sein Schwiegersohn argumentierte, seine Abwesenheit könne ihrer Sache beim bevorstehenden Konklave schaden. Der Vatikan erwarte von ihm eine Geste des Respekts. »Der Duce ist gegen die Kirche feindlich eingestellt«, notierte Ciano. Schließlich stimmte Mussolini zu, einer der für die folgende Woche angesetzten Begräbniszeremonien beizuwohnen.29
Zwei Tage nach dem Tod Pius’ XI. wies Mussolini, der sich noch immer Sorgen um die Rede machte, die der Papst vor den Bischöfen hatte halten wollen, seinen Botschafter im Vatikan an, herauszufinden, ob noch Exemplare davon vorhanden seien. Der Botschafter ging am nächsten Morgen zu Kardinal Pacelli, der ihm bestätigte, dass Hunderte Exemplare gedruckt worden waren. Der Botschafter hielt es für keine gute Idee, die letzte Botschaft des toten Papstes zu verteilen. Pacelli stimmte dem zu und befahl der vatikanischen Druckerei, alle Exemplare zu vernichten. Der Vizedirektor der Druckerei versicherte dem Kardinal, er werde persönlich dafür Sorge tragen, dass »kein Komma« von der Rede, an der Pius XI. in den letzten Tagen seines Lebens gearbeitet hatte, erhalten bleibe.30
Kapitel 2
Das Konklave
Eine Woche nach dem Tod des Papstes trafen sich Mussolinis und Hitlers Botschafter beim Heiligen Stuhl, um eine gemeinsame Strategie zu planen. Bonifacio Pignatti, der 61-jährige italienische Botschafter, war ein erfahrener Diplomat und ein Mann, der im Vatikan als guter, praktizierender Katholik galt. Er wollte tun, was er konnte, um sicherzustellen, dass der neue Papst dem faschistischen Regime genehm sein würde.1 Sein deutscher Kollege Diego von Bergen war seit Hitlers Amtsantritt damit betraut, die Beziehungen zwischen dem Vatikan und dem Dritten Reich zu verbessern. Bergen hatte bereits mit Kardinal Pacelli gesprochen, der Hitler mitteilen ließ, er hoffe, dass nun wieder harmonische Beziehungen zwischen Deutschland und dem Heiligen Stuhl einkehrten. Sollte das Konklave Pacelli wählen, sagte Bergen, wolle der alles in seiner Macht Stehende tun, um eine Übereinkunft mit Deutschland zu erreichen – und er werde höchstwahrscheinlich Erfolg haben.2