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Eine fliehende Mutter, ein schweigender Sohn und eine Enkelin, die ihre Wurzeln sucht Melissa Fu hat einen bezaubernden und eindringlichen Roman über die generationenübergreifende Suche einer Familie nach Heimat und die heilende Kraft von Geschichten geschrieben. Als ihre Stadt in Flammen aufgeht, beginnt für die junge Mutter Meilin und ihren vierjährigen Sohn Renshu eine gefährliche Reise durch das kriegszerstörte China der 1930er Jahre. Kaum wähnen sie sich einmal in Sicherheit, müssen sie schon wieder aufbrechen zu einem anderen Ort und in ein anderes Land. Die findige Meilin muss ihren ganzen Einfallsreichtum aufbieten, um ihren einzigen Sohn aufwachsen sehen zu können. Inmitten von Überlebenskämpfen, tragischen Trennungen und bewegenden Wiedersehen finden sie Trost und Zuflucht bei einer alten, seidenen Schriftrolle. Ihre feinen Zeichnungen und die schillernde Legende vom Pfirsichblütengarten beschützen sie vor der harten Realität der Flucht. Jahre später lebt Renshu in den USA. Er heißt nun Henry Dao, hat studiert, geheiratet und eine Familie gegründet. Über seine Kindheit schweigt er sich aus, und auch seine Versuche, einen Obstgarten anzulegen, misslingen – bis eines Tages die Pfirsichbäume wachsen. Hier, im Pfirsichgarten ihres Vaters, kann seine Tochter Lily vielleicht doch etwas über ihre Wurzeln erfahren. Inspiriert von den Erfahrungen ihres Vaters und angetrieben von der Sehnsucht, ihre Familiengeschichte zu kennen, hat Melissa Fu einen bewegenden Roman geschrieben, der sich über Generationen und Kontinente erstreckt. »Mein Vater erzählte nie von seiner Kindheit – bis zu diesem einen Tag in meinen Zwanzigern, als er aus unerfindlichen Gründen entschieden hatte, uns mehr von seinem Leben zu erzählen. Ich schrieb auf, was ich konnte, jedes Detail, jede verstreute Erinnerung. Ich hoffe, dass Familienzweige Ihnen das gleiche Glücksgefühl verschaffen kann, das mein Vater nach vielen Jahren gefunden hat.« Melissa Fu
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Seitenzahl: 658
Melissa Fu
Roman
Eine fliehende Mutter, ein schweigender Sohn und eine Enkelin, die ihre Wurzeln sucht
Als ihre Stadt in Flammen aufgeht, beginnt für die junge Mutter Meilin und ihren vierjährigen Sohn Renshu eine gefährliche Reise durch das kriegszerstörte China der 1930er Jahre. Kaum sind sie einmal in Sicherheit, müssen sie schon wieder aufbrechen zu einem anderen Ort. Zuflucht verspricht eine alte, seidene Schriftrolle mit ihrer schillernden Legende vom Pfirsichblütengarten.
Jahre später lebt Renshu in den USA. Von seiner Kindheit spricht er nicht, auch wenn seine Tochter Lily sich noch so sehr danach sehnt. Als ihr Vater einen Pfirsichgarten anlegt, scheint endlich ein Ort gefunden, an dem sie Vergangenheit und Gegenwart miteinander versöhnen können.
Inspiriert von den Erfahrungen ihres Vaters und angetrieben von der Sehnsucht, ihre Familiengeschichte zu kennen, hat Melissa Fu einen bezaubernden und eindringlichen Roman über die Suche einer Familie nach Heimat und die heilende Kraft von Geschichten geschrieben.
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Melissa Fu ist in den USA aufgewachsen. Sie wusste kaum etwas über ihre Wurzeln, bis ihr schweigsamer Vater eines nachts begann, ihr von seiner Lebensgeschichte zu erzählen. Noch in der gleichen Nacht hat sie erste Notizen gemacht, aus denen schließlich »Der Pfirsichgarten« entstanden ist. Heute lebt Melissa Fu in England.
Birgit Schmitz hat Theater- und Literaturwissenschaften studiert und arbeitete einige Jahre als Dramaturgin. Heute lebt sie als Literaturübersetzerin, Texterin und Lektorin in Frankfurt am Main.
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Für meine Familie und im Gedenken an 傅惠民 (1932–2019)
Zu Beginn des Romans ist Meilin eine junge Mutter, deren Mann im Krieg ist. Ihr Leben ändert sich schlagartig, als sie gezwungen ist, mit ihrer Familie aus ihrer Stadt zu fliehen. Meilin ist unerschütterlich und schlagfertig, hartnäckig und wehrhaft, und sie würde alles tun, um ihren Sohn zu beschützen –, ob er an ihrer Seite steht oder auf der anderen Seite der Welt.
Renshu begegnet uns zuerst als pummeliger, aufgeweckter Knirps, verspielt und voller Schalk. Er liebt seine Mama, vergöttert seine Cousine Liling und seinen Onkel Longwei. Als einziger Sohn eines Sohns in der Dao-Familie erfüllt er alle mit Stolz. Renshu wächst auf und emigriert in die USA, wo er sich Henry Dao nennt. Zerrissen zwischen seiner Vergangenheit in China und der Gegenwart mit seiner Familie in den USA, sucht er nach einem Weg, beide Seiten zu beschützen und zu vereinen.
Longwei ist Meilins Schwager und Renshus Onkel. Er ist ein mächtiger Mann, gewieft und charmant – aber nicht vollkommen vertrauenswürdig. Ist er eine Hilfe, ist er ein Hindernis? Wie Meilin tappen wir im Dunkeln. Sie vertraut ihm, weil es scheint, als bliebe ihr keine Wahl, bis sie einsieht, dass sie ihn vielleicht gar nicht braucht. Longwei bleibt unergründlich bis zum Schluss.
Lily ist Meilins Enkelin. Sie ist neugierig, eifrig und unerschrocken, das Leben kostet sie aus. Lily sehnt sich danach, mehr über ihre Großmutter Meilin und die Vergangenheit ihres Vaters zu erfahren, aber Henry erzählt kein Wort. Er wünscht sich nichts sehnlicher, als seiner Tochter die Sicherheit und Stabilität geben zu können, die er als Kind nie erfahren hat. Aber Lily will etwas ganz anderes.
Erzähl, sagen sie, erzähl uns, wo du herkommst.
Er kommt vom Gehen und Gehen und Gehen. Er kommt von löchrigen Schuhen, rissigen Fersen und wunden Zehen, die mit unebenen Wegen ebenso vertraut sind wie mit wohltuendem Gras, mit Stroh. Er kommt von Nacht für Nacht wechselnden Lagern, mal in der Stadt, mal auf dem Land. Von Pfaden, die sich um Berge winden und durch Täler ziehen. Von Wasserstraßen in Dunst und Nebel.
Er kommt vom Durchqueren Chinas.
Erzähl uns, woran du dich erinnerst, sagen sie.
Er erinnert sich an schwach brennende Petroleumlampen, an den Geruch von Holzrauch, an kalte Steinböden unter den nackten Füßen. An erregte Stimmen, klimpernde Münzen und knarzende Karren in der Nacht. Er erinnert sich an ein Vexierbild aus Sandelholz. Es zeigte Hundert Affen, doch wenn man es auf den Kopf drehte, waren es neunundneunzig. Wie konnte dieser eine Affe zugleich da sein und nicht da sein? Er kommt von diesem Rätsel.
Erzähl uns mehr, sagen sie und rücken an ihn heran. Wie bist du hierhergekommen?
Er überquerte Flüsse. Er überquerte Meere.
Er trug eine Armbanduhr bei sich, die er einem Seemann abgekauft hatte, einen Brief, der ihm Türen öffnen sollte. Einen Koffer, ein Päckchen hellblaue Luftpostbriefe, ein einzelnes Paar Wollsocken.
Er folgte dem Ruf eines schönen Landes, einem verlockenden Traum, einem in der Luft liegenden Versprechen. Dem Flügelschlag von Vögeln und einem Kaleidoskop von Jahreszeiten, die er sich nie hätte vorstellen können.
Und jetzt, sagen sie mit leuchtenden Augen und schmeichelnder Stimme, jetzt erzähl uns eine Geschichte.
Eine Geschichte zu kennen heißt, über die seidenen Oberflächen des Verlusts zu streichen, das Gewicht der Schönheit in den Händen zu spüren.
Eine Geschichte zu kennen heißt, sie immer in sich zu tragen, wie eine Gravur in den Knochen, auch wenn sie für Jahrzehnte vergessen scheint.
Erzähl sie uns, drängen sie.
Eine Geschichte zu erzählen, so wird ihm klar, heißt, einen Samen auszusäen und ihn keimen zu lassen.
Dao Hongtse hatte drei Frauen. Ihre Namen sind nicht wichtig.
Die erste Frau brachte den ersten Sohn zur Welt, Dao Zhiwen. Der Junge war zu wild; mit der einen Hand riss er die Privilegien des Erstgeborenen an sich, mit der anderen schob er dessen Pflichten von sich weg. Er änderte seinen Namen in Longwei, stolzierte hinaus und zog durch die Straßen. Er spielte und gewann, dann spielte er und verlor. Longwei liebt Tabak, Whiskey und Frauen.
Die erste Frau bekam noch zwei Kinder: erst ein Mädchen, das zu einer blässlichen dünnen Frau heranwuchs, die niemand wollte. Dann einen Sohn, der nach fünf Monaten starb. Jetzt ist die erste Frau nicht viel mehr als ein Geist; das Herz von Trauer eingeschnürt, die Füße nach altem Brauch gebunden, verliert sie sich in Schwaden von Opiumrauch und verlässt ihr Zimmer nur, um die Pfeife nachzufüllen oder den Rest des Haushalts zu verfluchen.
Hongtses zweite Frau arbeitet hart. Ihr Rücken ist breit, und ihre Hände sind rau. Sie lebt in Angst vor dem Heulen und Kreischen der ersten Frau. Hongtse liebt sie nicht, verlässt sich aber auf sie. Die zweite Frau gebar nur Töchter. Auch ihre Namen sind nicht wichtig. Sie heirateten jung und brachten für andere Familien Söhne auf die Welt.
Die dritte Frau war Hongtses Favoritin. Sie liebte er sogar. Ihre Schönheit wird nie vergehen, denn sie verstarb bei der Geburt von Hongtses jüngstem Sohn, Dao Xiaowen.
Dao Hongtses Firma, Himmlisches Licht – Petroleum und Antiquitäten, wird seit Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben. Petroleum ist ein gutes Geschäft: Jeder Mensch braucht Wärme, jeder Mensch braucht Licht. Hongtses Kunden sind Nationalisten, Kommunisten, Händler, Klein- und Großbauern. Eines Tages wird Longwei die Firma und die damit verbundene Verantwortung erben.
In einem Raum über dem Laden, den man über eine schmale Treppe erreicht, handelt Dao Hongtse auch mit Goldmünzen, Jade, antiken Holzschnitzereien und Bildrollen. Leicht zu transportieren, schwer zurückzuverfolgen, immer wertvoll. Xiaowen hat er die Kunst gelehrt, zwischen bleibenden Werten und flüchtigen Freuden zu unterscheiden.
Mit seinen beiden Söhnen ist Hongtse für alles gewappnet. Longwei ist gerissen, Xiaowen ist gebildet. Wo Longwei herumpoltert, äußert Xiaowen sich umsichtig. Was Longwei mit Gewalt durchsetzt, das handelt Xiaowen aus. Longwei bekam im Laufe der Jahre nur Töchter, doch Xiaowen hat einen Sohn.
Xiaowens Sohn heißt Dao Renshu – renshu in der Bedeutung von Nächstenliebe und Güte, nicht das renshu, das für Kapitulation steht, für das Eingeständnis einer Niederlage. Dao Hongtse sorgt dafür, dass sein Enkel den Unterschied kennt. Renshu ist unter den Enkelkindern Hongtses der einzige Sohn eines Sohns. Dieser Junge trägt den Familiennamen weiter. Er muss unter allen Umständen beschützt werden.
Ein Nachmittag zu Beginn des Frühlings geht zu Ende. In der Luft liegt eine kribbelnde Frische; sie vertreibt die letzte Winterkälte und kündigt erste Blüten an. An den Bäumen zeigen sich winzige Blätter, und jeden Tag bleibt es ein bisschen länger hell. Die Holzdielen in Dao Hongtses Petroleumgeschäft sind geschrubbt, der Tresen ist aufgeräumt. Man sieht Hongtse im Gespräch mit einer jungen Frau, die eine schlichte, dunkelgrüne Bluse trägt. Ihr Haar hat sie im Nacken zu einem Knoten gebunden. Obwohl er, was Alter und Rang betrifft, klar über ihr steht, spürt man gegenseitigen Respekt. Die entspannten Körperhaltungen der beiden deuten auf Vertrautheit, ja sogar Zuneigung hin. Er überbringt ihr gerade eine Nachricht, die ihr Gesicht aufleuchten lässt. Auch wenn sie ihm nicht um den Hals fällt, ist sie offensichtlich in Jubelstimmung.
Er reicht ihr einen kleinen seidenen Beutel und sagt etwas, während sie hineinschaut. Sie hört aufmerksam zu, dann antwortet sie. Er denkt erst über ihre Äußerung nach, bevor er etwas erwidert. Sie nicken sich zum Zeichen ihrer Übereinstimmung zu, anschließend verneigt sie sich leicht und wendet sich zum Gehen.
In dem Raum über dem Petroleumgeschäft geht das Licht an.
Kurz darauf erscheint oben am Fenster das Profil der Frau.
Shui Meilin nimmt das neue Inventar in die Bücher auf; ihre schlanken, flinken Finger bedienen den Abakus. In letzter Zeit tauschen viele Kunden ihres Schwiegervaters Gold und Jade gegen Petroleum ein. Bargeld ist überall knapp, und die Preise steigen. Dao Hongtse hat sie angewiesen, dass diese speziellen Edelsteine als Pfand verbucht werden sollen. Der Kunde, der sie für eine Wochenration Brennstoff versetzt hat, war den Tränen nahe und hat den alten Dao angefleht, sie an niemanden zu verkaufen, weil er hofft, seine Erbstücke bald wieder auslösen zu können. Sowohl Meilin als auch Hongtse sind von diesem Handel beunruhigt, ist er doch ein weiterer Hinweis auf den drohenden Krieg mit Japan, aber Hongtse hat die Kleinode natürlich als Bezahlung akzeptiert. Schließlich ist er ein Geschäftsmann.
Meilin steht auf, um die Wertsachen zu verstauen; sie bewegt sich mit schlafwandlerischer Sicherheit durch den Raum. Nachdem sie die Glasvitrine wieder abgeschlossen hat, blickt sie aus dem Fenster. Die Sonne geht unter, für heute ist die Arbeit getan, und Meilin steckt voller Hoffnung. Dao Hongtse hat ihr eben vom Triumph der chinesischen Armee in Taierzhuang berichtet. Beide Söhne von Dao Hongtse werden bald wieder zu Hause erwartet; sie bekommen Heimaturlaub nach einem blutigen, aber siegreichen Fronteinsatz.
Meilin hat ihren Mann, Dao Xiaowen, und seinen Bruder Longwei vor neun Monaten zuletzt gesehen. Nach dem Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke hatten die beiden ihr Zuhause verlassen, um sich dem Kampf anzuschließen. Meilin und ihre Schwägerin, Xue Wenling, waren stolz gewesen, dass ihre Ehemänner die Zukunft der Republik verteidigten. Die Familie wartete auf Nachrichten von der weit entfernten Front, doch es vergingen Wochen, dann Monate, und es kamen keine. Das war zwar enttäuschend, aber verständlich; die Post kam nur sporadisch, und die Truppen waren ständig in Bewegung.
Doch nach und nach erreichten Stoßwellen des Krieges die Stadt Changsha. Zuerst war es nur ein Tröpfeln: Hotels und Pensionen füllten sich mit wohlhabenderen Menschen, die sich aus dem umkämpften Ostteil des Landes zurückzogen. Wenling äußerte sich erfreut darüber, dass sie die neuesten Moden aus Schanghai nun schneller zu Gesicht bekam. Dann trafen weitere Geflüchtete ein. Die Geschäfte waren voller denn je, während die unterbrochenen Lieferketten entlang der Flüsse und Eisenbahnstrecken zugleich die Preise in die Höhe trieben. In den Straßen und auf den Märkten kam es zu lautstarken Protesten gegen die japanischen Aggressoren. Doch ungeachtet dieses beherzt vorgetragenen Patriotismus rückten die Japaner immer weiter vor. Es dauerte nicht lange, bis Schanghai fiel, und im Dezember hatte die Kaiserlich Japanische Armee Nanking überrollt. Und seit Chiang Kai-sheks nationalistische Regierung ins nahegelegene Wuhan umgezogen ist, strömen Evakuierte in großer Zahl nach Changsha.
Hongtses Nachricht vom Sieg in Taierzhuang ist mehr als willkommen. Der Widerstand war stark, die Japaner wurden gedemütigt. Alle sind sich einig, dass es sich um einen Wendepunkt handelt. Und das Beste: Meilin kann die Tage, bis sie ihren geliebten Xiaowen wiederhat, an einer Hand abzählen.
Meilins Gedanken werden durch Kreischen und Kichern unterbrochen, gefolgt von Fußgetrappel, das erst im Innenhof, dann auf der Treppe und schließlich im Flur ertönt. Renshu und seine Cousine Liling platzen ins Zimmer. Atemlos lachend und ganz verstrubbelt verlangen sie nach einer Kleinigkeit zu essen. Renshu ist dreieinhalb, Liling fünf. Renshu tut sich mit seinen immer noch etwas speckigen Beinchen schwer, mit der bewunderten Cousine mitzuhalten. Liling hat eine so warme und herzliche Ausstrahlung, dass Meilin unwillkürlich lächeln muss, wenn sie sie sieht. Wenn Renshu lächelt, verformen sich seine ernsten, runden Augen zu Halbmonden, und auf seiner linken Wange erscheint ein Grübchen. Beide Kinder sind vom Herumrennen erhitzt. Sie sind durchs Haus getobt, haben an die Türen der furchterregenden Nainai, der hässlichen Nainai und der toten Nainai geklopft, und sind abgehauen, bevor sie jemand schnappen konnte. Nachdem sie die Katzen in die Ecken, die Wände hoch und auf die Straße hinausgescheucht hatten, haben sie die Goldfische im Teich geärgert, indem sie Schatten aufs Wasser warfen und mit Stöcken auf die Oberfläche schlugen.
Jetzt durchwühlen sie Meilins Nähkorb auf der Suche nach den kandierten Lotossamen, die sie für sie in den Stofffalten versteckt. Nachdem die Naschereien verputzt sind, brüllt Liling Renshu an wie eine Löwin. Sie jagt ihn durchs Zimmer und an der Vitrine vorbei, bis er sich hinter dem Paravent aus geschnitztem Rosenholz verkriecht. Als die Cousine, eine Kitzelattacke startend, mit spitzen Fingern auf ihn zustürzt, flüchtet er ins Schlafzimmer und versteckt sich unter der Bettdecke, wobei er einen Stapel ordentlich gefalteter Wäsche zu Boden wirft.
Plötzlich hört man ein lautes, ungeduldiges Klopfen an der Tür. Liling schlüpft unters Bett, und Renshu stellt sich schlafend.
Meilin öffnet Lilings Mutter, Wenling, die Tür. Obwohl es schon spät ist und der Tag lang war, ist Wenlings Erscheinungsbild tadellos. Seit Meilin sie kennt, hat sie traditionelle Kleidung immer verschmäht und sich stattdessen an die neuesten Moden aus dem Westen gehalten. Wenling legt großen Wert darauf, dass ihr ovales Gesicht makellos aussieht; höchstens einen Schönheitsfleck erlaubt sie sich hin und wieder, wenn der Trend es vorgibt. Heute trägt sie ihr Haar in glänzenden Fingerlocken und strahlt Glamour aus mit ihren getuschten Wimpern, dem schwarzen Lidstrich und den scharlachrot geschminkten Lippen. Manchmal fühlt sich Meilin von der Aufmachung ihrer Schwägerin eingeschüchtert. Sie selbst hat sich nie um Mode geschert. Ihre Nase ist mit Sommersprossen statt Puder bedeckt, und ihr herzförmiges Gesicht hat einen strahlenden, raueren Charme. Sie ist kleiner als Wenling, trägt aber weder hohe Absätze, um größer zu wirken, noch winzige Schuhe, um femininer zu erscheinen. Xiaowen sagt immer, sie sei schön, genau so, wie sie sei, und Meilin glaubt ihm.
Wenling ist, wie immer, genervt. Ohne Meilin im Geringsten zu beachten, befiehlt sie Liling, hervorzukommen und das Spiel zu beenden; es sei Zeit zum Baden.
Liling und Renshu unterdrücken ein Kichern.
Wenling stürmt ins Schlafzimmer und hockt sich hin, um unters Bett schauen zu können, dann zerrt sie am Fußgelenk des Mädchens. Als Liling endlich vor ihr steht, klopft Wenling an ihrem staubig gewordenen Kleid herum und wirft Meilin wütende Blicke zu. Während sie ihre Tochter schimpfend ins Erdgeschoss schleift, schaut Liling sich Fratzen schneidend nach Renshu um.
Mit einem Fingerzeig fordert Meilin Renshu zum Aufräumen auf. Er gibt sein Bestes, verliert aber bald die Lust am Kampf mit der Bettwäsche und kommt ins Wohnzimmer, um sich neben seine Mutter zu setzen.
»Es wird Zeit, dass du ruhiger wirst. Du und deine Cousine seid zu ungezogen!«, schimpft sie kopfschüttelnd. Aber in ihrer Stimme liegt eine Leichtigkeit, die mehr nach Amüsiertheit klingt denn nach Vorwurf.
Nachdem Renshu zu Abend gegessen und gebadet hat, macht Meilin ihn bettfertig. Seit seiner Geburt sind Meilins Tage und ihr Herz voll. Sie liebt Renshu, und zwar nicht nur, weil seine Geburt ihre Stellung in der Familie als Mutter eines Sohns des Sohns von Hongtse verbessert, und auch nicht nur, weil seine Augen und Nase sie an Xiaowen erinnern. Sie liebt ihn, weil sein Lachen so klingt, wie das Spiel des Windes mit den Tempelglöckchen im Frühling. Sie liebt ihn, weil er sie mit einer Freude erfüllt, die für sie unvorstellbar war, bevor er sie das erste Mal anlächelte. Da sie erst spät geheiratet hat – mit einundzwanzig –, hatte sie sich schon manches Mal gefragt, ob sie überhaupt jemals Mutter werden würde. Jetzt singt sie ihm zum Einschlafen das »Lied der Fischer« vor. Seine Augen fallen zu, und der Schlaf entspannt seine Züge.
Für dieses Kind würde sie alles tun.
Meilin bleibt noch einen Augenblick in der stillen Dunkelheit des Zimmers sitzen und spürt, wie ein lange vermisstes Gefühl des Glücks in ihr aufsteigt. Bald wird Xiaowen heimkommen; sie kann ihn beinahe schon in den Schatten erahnen. Sie schließt die Augen und denkt an den Vorabend seiner Abreise zurück.
Nach der letzten Mahlzeit mit der Familie hatten sie sich in ihre Zimmer zurückgezogen, um den Abschiedsabend allein miteinander zu verbringen. Der zweijährige Renshu saß auf dem Schoß seines Vaters und brüllte wie ein Tiger, so aufgeregt war er, weil er einmal länger aufbleiben durfte. Xiaowen strahlte über das Temperament seines Sohns.
»Schau dir nur diesen Jungen an. Er ist groß und stark geworden, wie seine Ma.«
Renshu wand sich von Xiaowens Schoß herunter und brüllte erneut.
Xiaowen fing ihn wieder ein. »Pass gut auf deine Ma auf, ja?«
Renshu nickte.
»Ich muss weg, aber ich komme bald wieder. Jetzt ist es höchste Zeit für den kleinen Tiger zu schlafen.« Er drückte Renshu fest an sich, und der Junge machte ein trauriges Gesicht. Xiaowen küsste seinen Sohn auf den Kopf.
Nachdem sie Renshu ins Bett gebracht hatte, war Meilin in das Zimmer zurückgekehrt, in dem sie jetzt sitzt. Xiaowen saß am Tisch, vor sich ein längliches Holzkästchen. Meilin schlang die Arme um ihn, küsste seinen Nacken und setzte sich dazu. Er überreichte ihr das Kästchen und bedeutete ihr, sie solle es öffnen.
Darin befand sich eine Bildrolle aus Seidenbrokat: Cremefarbene Päonien rankten sich vor dunklem Hintergrund an einem grünen Gitter hinauf. An den Rändern skizzierten goldene Fäden ein verheißungsvolles Wolkenmuster. Meilin schnappte nach Luft und starrte Xiaowen ungläubig an. Eine Bildrolle. Mit einem Nicken ermunterte Xiaowen sie, die Rolle genauer in Augenschein zu nehmen. Meilin wischte sich die Hände ab, hob die Rolle aus dem Kästchen und knotete die Kordel mit der roten Quaste auf. Ganz langsam wickelte sie die Seidenbahn auf, bis die erste gemalte Szene zum Vorschein kam: uralte, stille Berge, ein rauschender blaugrüner Fluss, eine Gruppe von Reisenden.
Sie beugte sich darüber, um die zarten Striche genauer zu betrachten, völlig gebannt von den feinen Details jedes Vogels, Steins und Baums und den subtilen Unterschieden in den Gesichtern der Reisenden. Es war unglaublich – die Zeichnung war filigraner und schöner als alles, was Meilin je gesehen hatte.
»Wo hast du das her?«
»Ich habe die Rolle vor Jahren gefunden, als ich für meinen Vater nach Antiquitäten suchte.«
»Und du hast sie ihm nicht gegeben?«
»Nein, die hier nicht«, sagte er und fuhr mit den Fingerspitzen über die wirbelnden Wolken. »Ich wollte sie behalten.«
»Sie muss ein Vermögen wert sein«, sagte sie leise.
»Ja, für unsere Zukunft, Meilin. Wenn der Krieg vorbei ist und ich zurück bin, können wir mit dem Geld unser eigenes Geschäft aufmachen.«
»Und was ist mit Himmlisches Licht – Petroleum und Antiquitäten?«
Er schüttelte lächelnd den Kopf. »Der alte Hongtse kommt dank Longweis Hilfe und Wenlings Einmischung schon zurecht. Lass uns von etwas anderem träumen. China verändert sich. Wir müssen uns nicht an jede alte Tradition halten. Stell dir ein Geschäft mit exquisiten Antiquitäten vor, nur für uns beide.«
Meilin schlang die Arme um ihren Gatten und staunte, dass sie einen Mann geheiratet hatte, der sich solch eine Zukunft ausmalen konnte. Etwas, das nur ihnen beiden gehören würde. Sie würden sich etwas Eigenes aufbauen.
»Meilin, du musst mir zwei Dinge versprechen: Gib gut auf dich und Renshu acht und bewahre diese Bildrolle sicher für unsere Zukunft auf.«
»Das verspreche ich.«
Seite an Seite saßen sie noch bis spät in die Nacht da und bewunderten die Poesie jeder einzelnen Szene auf der Bildrolle. Nachdem sie sie weggepackt hatten, lagen sie im Dunkeln, streichelten einander zärtlich und nutzten die Zeit bis zum Morgen, um sich alle Details des geliebten anderen Körpers noch einmal ganz genau einzuprägen.
Meilin sitzt wartend am Fenster im ersten Stock. Xiaowens Regiment wird heute zurückerwartet.
Beinahe fünf Jahre sind vergangen, seit er erstmals in das Antiquitätengeschäft von Meilins Familie in der westlichen Stadt Yichang kam. Er wollte ihnen damals die wunderbare Sancai-Keramik eines Kamels aus der Tang-Zeit verkaufen. Trotz ihres Alters war die grüne, braune, und cremefarbene Glasur noch klar und unbeschädigt. Auf dem Rücken des Kamels saßen drei Musiker, ungewöhnlich fein und detailliert ausgearbeitet. Meilin wusste sofort, dass sie die Figur für ihre private Sammlung haben wollte. Während sie über einen fairen Preis verhandelten, entdeckte Meilin zu ihrer großen Freude, dass sie mit dem jungen Mann nicht nur die Liebe zu antiken Schätzen teilte, sondern auch eine Leidenschaft für die Ideale des neuen Chinas.
Meilins Eltern hatten schon frühzeitig die Bewegung des vierten Mai unterstützt, glaubten an Frauenrechte und andere Reformvorhaben der neuen Republik. Sie hatten alle ihre Kinder dazu erzogen, den Wert von Bildung, harter Arbeit und wirtschaftlicher Unabhängigkeit zu schätzen. Allerdings verzweifelten sie manchmal daran, dass Meilin, ihr jüngstes Kind, ein wenig zu unabhängig war; sie hatte bereits einige potenzielle Ehemänner verschreckt und mehrere andere abgelehnt.
Doch Dao Xiaowen, dieser neue Händler aus Changsha, kam immer wieder. Mal um zu kaufen, mal um zu verkaufen; aber stets suchte er Meilin auf. Was als Feilschen über wertlose Schmuckstücke begann, verwandelte sich schnell in erregte Diskussionen darüber, wie die alten Traditionen durch präzise Wissenschaft und Demokratie ersetzt werden könnten. Und auch über die Feinheiten der Drei Prinzipien des Volkes von Dr. Sun Yat-sen lieferten sie sich lange Debatten.
Niemand war überrascht, als Xiaowen und Meilin sich nach ein paar Monaten ineinander verliebten. Zur Begeisterung ihrer Eltern willigte Meilin ein, ihn zu heiraten. Er war zwei Jahre älter als sie, doch was Intellekt und Weltanschauung anging, waren sie einander ebenbürtig.
In ihrem neuen Zuhause fand sich Meilin schnell zurecht. Hongtse staunte, wie mühelos sie in seinem Antiquitätengeschäft im ersten Stock den Aufbewahrungsort und die Herkunft eines jeden Gegenstandes verinnerlichte. Und ihm fiel bald auf, dass die Summen in den Büchern, an denen es nichts zu beanstanden gab, immer in ihrer Handschrift eingetragen waren. Seither neckt Hongtse sie gutmütig mit dem Spruch, dass sie der größte Schatz sei, den Xiaowen jemals ausgegraben habe.
Sei es aus Geschäftssinn oder weil er so klug war, die starke Persönlichkeit seiner Schwiegertochter zu erkennen, hatte Hongtse eingewilligt, dass Xiaowen und Meilin in die Zimmer hinter dem Antiquitätengeschäft einzogen. So leben Meilin und Renshu, obwohl sie sich immer noch auf dem Anwesen der Familie Dao befinden, vom Rest der Familie getrennt. Und Meilin hat einen Rückzugsort in einem Haushalt mit lauter Schwiegermüttern, älteren Schwestern, Nichten und Neffen, in dem zusätzlich immer wieder Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten sowie andere weitläufigere Verwandte auftauchen, weil sie hoffen, dass Hongtse seinen Wohlstand mit ihnen teilt.
Jetzt spitzt Meilin die Ohren, denn ein Armeejeep biegt in die Straße ein und wird langsamer, als er sich dem Anwesen nähert. Sie stößt einen aufgeregten Schrei aus und rennt nach unten, um ihn zu begrüßen. Sie ist vor allen anderen an der Straße.
Als sich die Tür des Jeeps öffnet, steigt Longwei aus. Er trägt seine olivgrüne Militäruniform mit glänzenden Messingknöpfen. Seine schwarzen Lederstiefel reichen ihm bis zu den Knien. Um die Hüfte hat er einen breiten Gürtel aus dunkelbraunem Leder geschnallt, und auf seinem Kopf sitzt eine schicke Mütze, auf der vorn das Hoheitszeichen der Republik prangt: der blaue Himmel mit der weißen Sonne. Er schnappt sich seinen Seesack und richtet sich dann mit hoch erhobenem Haupt zu seiner ganzen Größe auf. Nun salutiert er dem Fahrer, und der Jeep fährt weg.
»Aber – wo ist …?«
Longweis sonst gebieterischer Blick wirkt schwermütig.
»Xiaowen?« Meilins Stimme klingt leise und als ob sie nicht zu ihr gehörte. Es tritt eine seltsame Stille ein.
»Er war ein Held«, sagt Longwei schließlich. »Er ist in Taierzhuang zum Helden geworden.«
»Wo ist er?«
Longwei wiederholt es noch mal. »Er war ein Held.«
Es muss sich um ein Missverständnis handeln. Meilin schaut sich nach einem weiteren Jeep um, doch die Straße ist leer. Wo ist Xiaowen? Es wurden beide Brüder zurückerwartet. Hongtse hatte von beiden gesprochen. Er musste bald kommen.
»Er ist in Taierzhuang zum Helden geworden«, sagt Longwei noch einmal in einem Ton, in dem Stolz, Fassungslosigkeit und vor allem Trauer mitschwingen.
»Hör auf, das zu sagen. Held bedeutet gar nichts.« Ihre Stimme wird zu einem Kreischen. »Ist er gestorben? Sag’s mir!«
Doch Longwei senkt nur den Blick und schüttelt den Kopf.
Sie springt auf ihn zu und trommelt mit den Fäusten auf seine Brust ein. »Nein! Nein!«
Er hält ihre Arme fest. Sie schluchzt und schluchzt, dann merkt sie, wie ihr Körper nachgibt und sie gegen ihn sinkt. Das raue Gewebe seines Uniformmantels kratzt an ihrer Wange.
»Ich weiß es nicht«, sagt er leise. »Ich habe ihn nicht mehr gesehen.«
Hinter ihnen hüstelt jemand. Meilin vermag kaum den Kopf zu heben. Es ist Wenling. Sanft löst Longwei sich von Meilin und umarmt seine Frau.
Inzwischen ist auch der Rest des Haushalts erschienen, um Longwei zu begrüßen. Meilin schaut dem Wiedersehen zu, als wären die anderen Schauspieler auf einer Bühne. Sie fühlt sich wie betäubt, während die Frage Wo ist Xiaowen? in ihrem Kopf widerhallt. Die Antwort ist ungeheuerlich: Niemand weiß es. Für den ganzen restlichen Nachmittag und Abend nimmt sie alles nur gedämpft war, wie hinter einer Wand. Wo ist Xiaowen?
Dankbar für Longweis Rückkehr hüllt sich Hongtses Haushalt in eine Stimmung aus trister Freude. Der Sieg ist teuer bezahlt: In viele Familien kehrt kein Sohn zurück. Sie haben wenigstens noch einen.
Irgendwie schafft es Meilin durch den Tag bis zum Abendessen. Sie ist dankbar, dass die Routinen sie beschäftigt halten, und kümmert sich darum, eine Vielzahl von Speisen aufzutischen, während die Frauen und Kinder sich versammeln. Sie hört, wie Wenling ihre Töchter ruft.
Wenlings Stimme ist wie aus Porzellan. Sie streicht sanft über das Ohr und erinnert beim Zuhören an die eigene raue Oberfläche. Während Wenling sich nähert, klimpern ihre Jade-Armreifen bei jedem Schritt und kündigen ihr Kommen an. Als sie das Esszimmer betritt, nickt sie Meilin zu, ohne sie richtig anzuschauen. Mit einem prüfenden Blick auf den Tisch zählt sie die Gedecke und das Geschirr nach und verteilt unter den Anwesenden Lächeln oder Tadel.
Durch seine Arbeit im Petroleumgeschäft seines Vaters war Longwei viele Jahre auf dem Jangtsekiang zwischen Wuhan und Schanghai gereist, hatte Lieferungen abgeholt und den Vertrieb in den kleinen und großen Städten am Ufer des Flusses überwacht. Auf einer dieser Reisen hatte er Wenling kennengelernt, die Tochter eines bekannten, reichen Geschäftsmanns aus Nanking. Ihre Eleganz und ihr familiärer Hintergrund bezauberten Longwei, und er machte ihr mit großem Ehrgeiz und Interesse den Hof. Schon bald heirateten sie in einer großen Zeremonie mit Hunderten Gästen und einem aufwendigen Buffet. Seit ihre alternde Schwiegermutter sich immer mehr zurückzieht, ist Wenling die Taitai, die Chefin des Haushaltes, geworden. Selbst untätig, bestimmt sie über alle anderen, und das liegt ihr.
Mit Ausnahme von Wenlings eigenen Töchtern, Lifen und Liling, sitzen jetzt alle Frauen und Kinder am Tisch. Ungeduldig ruft sie wieder nach den Mädchen. Obwohl Wenling größten Wert auf ihre Außenwirkung legt, zeigen sich Risse in der Fassade, wenn sie mit ihren Töchtern spricht. Lifen schlüpft mit gesenktem Blick, aber nicht schuldbewusst, ins Zimmer. Das Mädchen besitzt zwar sämtliche Eigenheiten ihrer Mutter, doch nicht ihre umwerfende Schönheit. Stattdessen spiegelt das Gesicht der Siebenjährigen die Züge ihres Vaters wider; einem Mann verleihen die kräftige Nase und dicken Brauen Autorität, aber Lifen wird man eines Tages als »auffällige Erscheinung« bezeichnen. Sie hat breite Schultern und einen kurzen Rücken. Ihre Ohrläppchen sind zu lang und ihre Arme und Beine zu kurz, als dass sie sich so anmutig wie Wenling bewegen könnte. Dennoch strahlt sie, wie ihre Mutter, aus, dass sie vom Leben weit mehr erwartet, als es ihr bislang bietet. Zwei Schritte hinter ihr folgt Liling mit unordentlichen Zöpfen und Tintenflecken im Gesicht. Sie hat Wenlings eleganten Körperbau, glatte Haut und klare Augen, aber trotzdem nicht ihren Reiz. Es ist, als wären dem Mädchen sowohl die immerwährende Enttäuschung des Vaters darüber bewusst, dass sie kein Sohn ist, als auch die Ablehnung, die die Mutter ihrem verträumten und gutherzigen Wesen entgegenbringt.
Während der gesamten Mahlzeit scharwenzelt Wenling um ihren Mann herum und berührt immer wieder die roten Abzeichen mit den drei goldenen Dreiecken an seinem Revers. Seine Töchter kleben an ihm. Dao Hongtse schenkt Longwei widerstrebend ein seltenes, anerkennendes Kopfnicken. Meilin bemüht sich, froh zu sein – und sie ist froh für Longwei –, aber was ist mit Xiaowen? Als Renshu nach seinem Ba fragt, drückt Meilin ihn an sich und flüstert ihm zu, dass sein Ba ein Held sei. Und dass sein Ba vielleicht mit den nächsten Soldaten nach Hause komme. Meilin blickt auf und bemerkt, dass Dao Hongtse ihr zuhört. Als sich ihre Blicke treffen, stellt sie fest, dass auch er voller Sorge und Angst um den verschollenen Sohn ist.
Meilin bringt den Abend hinter sich und bewahrt die Fassung. Doch in dieser Nacht holt sie, nachdem Renshu eingeschlafen ist, in der Stille ihres Zimmers Xiaowens Bildrolle hervor und weint bis zum Morgengrauen.
Der Sommer vergeht in einer Mischung aus Trauer und Ungläubigkeit. Auch mit dem nächsten Konvoi kommt Xiaowen nicht zurück, genauso wenig wie mit irgendeinem anderen. Die Frauen und Kinder versuchen aus Mitgefühl, Meilin zum Umzug ins große Haus zu bewegen, doch sie lehnt ab. Sie will da bleiben, wo sie und Xiaowen ihr gemeinsames Leben aufgebaut haben. Vielleicht kommt er ja doch noch nach Hause. Hongtse, den der Verlust seines jüngsten Sohnes zu einem gebrochenen Mann gemacht hat, lässt sie gewähren.
Die Blätter werden golden und rot, und Xiaowen taucht noch immer nicht auf. Ohne ihn fühlt sich Changsha nicht mehr wie zu Hause an. Meilin schreibt an ihre Familie in Yichang und bettelt darum, zusammen mit Renshu wieder dort aufgenommen zu werden. Doch trotz ihrer fortschrittlichen Einstellung zur Neuen Kultur halten sie sich an die Tradition, der zufolge Meilin nun ein Mitglied der Dao-Familie ist. Sie und ihr Sohn müssen dort bleiben. Abgesehen davon haben sie vor, ihr Geschäft zu schließen und auf das Anwesen ihrer Vorfahren in den Bergen über Yichang zu ziehen. Angesichts der Turbulenzen im Osten ist das eine notwendige Vorsichtsmaßnahme.
Meilin zündet ein Streichholz an. Es flammt auf, zischt und geht in der vom Nieselregen feuchten Luft gleich wieder aus. Sie seufzt.
»Vielleicht sollten wir besser kein Höllengeld für Xiaowen verbrennen. Was, wenn er gar nicht tot ist? Was, wenn all das Geld im Jenseits ankommt, aber er ist überhaupt nicht da?«
»Ich glaube sowieso nicht an diesen Brauch.« Longwei mustert die Familien, die ebenfalls den Pfad auf den Yuelu-Berg hochkommen, um die Grabstätten ihrer Vorfahren zu besuchen und der Verstorbenen zu gedenken. Trotz der Unwägbarkeiten des Krieges sind die Menschen zum Doppelneunfest erschienen. Vielleicht ist es in Zeiten wie diesen sogar besonders wichtig, an Ritualen festzuhalten. Longwei scheint irgendjemanden zu suchen, und Meilin fragt sich, wer das sein könnte. Jedenfalls nicht seine Frau und Töchter, denn Wenling hat sich heute Morgen umgehend entschuldigt, als aus schweren Wolken starker Regen prasselte. In einem plötzlichen Anfall von Mütterlichkeit hat sie auf Lifens Empfindlichkeit und Lilings gerade erst abklingenden Husten verwiesen und behauptet, dass die kalte Luft ihnen nicht guttun würde. Sie werde zu Hause bleiben, um die Zubereitung des Chongyang-Kuchens für das Fest zu überwachen. Und abgesehen davon, hatte sie noch spitz hinzugefügt, sei ja nicht ihr Mann wahrscheinlich tot.
Ihre Mäntel flattern im Wind. Meilin versucht es noch einmal. Das Streichholz zerbricht in zwei Teile, ohne dass eine Flamme entsteht. Sie wirft es auf den durchnässten Haufen aus gelbem und braunem Laub zu ihren Füßen.
Wenige Schritte entfernt setzen Hongtse und Renshu Bambusbötchen auf einen kleinen Teich. Hongtse hat Renshu eine Goldmünze für dasjenige versprochen, das ohne zu sinken die meisten Steine tragen kann. Sie haben den Vormittag damit verbracht, Boote zu basteln und herauszufinden, welche am schnellsten und sichersten schwimmen und dabei die meiste Fracht befördern können. Kinder anderer Familien haben sich nun zu ihnen gesellt und stellen improvisierte eigene Boote aus Zweigen und trockenen Blättern her.
»Andererseits«, sinniert Meilin, »ist es ja vielleicht auch so, wie ein Sparkonto für die Zukunft anzulegen. Wenn er dann im Jenseits ankommt, stellt er fest, dass er bereits ein reicher Mann ist.«
Als Longwei nicht antwortet, schaut Meilin zu ihm hin. Er sucht die Ränder des Friedhofs ab und beobachtet, wer rein und rausgeht. Seit er aus Taierzhuang zurückgekehrt ist, hat Longwei keine Soldatenuniform mehr getragen. Er sagt, er sei befördert worden. Aber was auch immer seine neue Position ist, er ist kein Militärangehöriger im engeren Sinne mehr. An den meisten Tagen hält er sich in Hongtses Petroleumgeschäft auf. Männer kommen und gehen. Manche von ihnen tragen die enganliegenden Hosen und Uniformen der Kuomintang. Andere sind westlich gekleidet oder haben traditionelle chinesische Gelehrtenkleidung an. Sie sind nicht wie Hongtses übliche Kunden, sondern haben etwas Ungehobeltes an sich und zischen die Namen von Städten und Kreuzungen. Es scheint mehr gestritten als Kerosin verkauft zu werden. Von einem Sessel in der Ecke aus schaut Hongtse diesem Treiben finster zu und murmelt etwas von Respekt gegenüber Eltern, doch Longwei ignoriert ihn. Irgendwann verstummt er und lauscht den barschen, nachdrücklichen Worten, die Longwei mit diesen Männern wechselt. Longwei nennt sie seine Brüder, aber keiner von ihnen ist tatsächlich sein Bruder.
Jetzt studiert Meilin Longweis Profil. Er könnte ein jüngerer, skrupelloserer Hongtse sein. Beide sind über einen Meter achtzig groß, doch Longweis Schultern deuten eine Dominanz und Forschheit an, die dem alten Mann fehlt. Er ist muskulös, sein Vater dagegen schmal. An seinem linken Unterarm hat er eine lange Narbe. Stammt sie von einem Kampf? Sie bemüht sich, irgendwelche Züge von Xiaowen in ihm zu entdecken – aber nein, nichts lässt vermuten, dass die beiden denselben Vater haben.
Longwei wendet sich ihr zu, so als könnte er ihre Gedanken hören. Seine Augen glitzern. Als er eine Zigarette aus der Schachtel nimmt und sie sich in den Mund steckt, bleckt er seine von Tee und Nikotin gegilbten Zähne. Das Streichholz, das er anreißt, brennt sofort. Er zündet seine Zigarette an und schnippt das Streichholz dann aus.
»Mein Bruder war ein Dummkopf.«
Meilin ist sprachlos. Hat sie ihre Gedanken eben laut ausgesprochen?
»Xiaowen war ein guter Mann«, gibt sie zurück. »Er hat kein Mah-Jongg gespielt und ist nie Sängerinnen in Teehäusern nachgestiegen. Er würde sich nicht mit diesen Ganoven abgeben, die sich im Laden den ganzen Tag über die Klinke in die Hand geben.« Sie hält inne. Longweis Züge haben sich verhärtet. Normalerweise ist Meilin zurückhaltend, aber das Treiben im Petroleumgeschäft während der letzten Wochen sorgt dafür, dass sie sich hervorwagt. »Und er würde niemals seinen eigenen Vater um Lieferungen betrügen oder die Bücher frisieren.«
Meilin erwartet einen Rüffel, ein Abstreiten oder wenigstens irgendeine Form der Rechtfertigung.
Stattdessen wirft Longwei seine Zigarette auf den Boden und tritt sie aus. Er holt tief Luft, atmet durch die Zähne aus und starrt Meilin direkt ins Gesicht, dann kommt er einen Schritt näher. Meilin weicht nicht von der Stelle und hält seinem Blick stand.
»Ein guter Mann«, spottet er. »Gute Männer sterben oder verschwinden. Hast du das immer noch nicht gemerkt?« Er will gerade weiterreden, da rennt Renshu auf die beiden zu, in der einen Hand das Gewinnerboot, in der anderen eine neue Goldmünze. Longweis gehässige Miene hellt sich auf. Er nimmt Renshu und hebt ihn hoch. Der Junge kreischt und strampelt lachend mit den Beinen. Meilin verspürt ein Unbehagen in der Magengegend.
»Das hast du toll gemacht. Da sieht man schon, was in dir steckt«, sagt Longwei zu dem Jungen und setzt ihn wieder auf dem Boden ab. Doch Renshu hört gar nicht hin und rennt zu Hongtse zurück. Longwei wendet sich wieder Meilin zu. »Es kündigen sich Veränderungen an, Meilin. Erst vor zehn Tagen ist Guangzhou gefallen, und jetzt diese Niederlage in Wuhan. Wir hatten Glück, dass wir bisher nicht bombardiert worden sind, aber Changsha ist nicht mehr sicher.« Er packt sie bei den Schultern und sieht ihr in die Augen.
Meilin ist von seinem festen Griff verunsichert. Seine übliche Selbstgefälligkeit ist verschwunden. Warum hat er ihr nicht widersprochen, als sie ihn herausforderte?
»Du musst dich bereithalten. Sei auf alles gefasst. Hast du verstanden?« Von ihm geht eine flirrende, tabakgeschwängerte Hitze aus. Dann hebt er den Kopf und blickt an Meilin vorbei. Wonach auch immer er gesucht hat, jetzt sieht er es endlich. Er drückt noch einmal fest ihre Schultern, dann lässt er sie los und geht weg.
Meilin schluckt und massiert ihre Schulter.
Eine dreiköpfige Familie hat sich an einem nahegelegenen Grab versammelt: die Eltern und ein kleines Mädchen. Sie haben Weidenkörbe voller Blumen, Räucherstäbchen und andere Opfergaben dabei. Der Vater schirmt die Familie mit seinem Mantel vor dem Wind ab, während sich die Mutter hinkniet, um den Schrein vorzubereiten. Das Mädchen legt einen Kranz aus Kornelkirschenzweigen auf den Boden; die roten Beeren sind leuchtende Flecken an diesem trüben Tag. Mutter und Tochter arrangieren einen Stapel Orangen und stellen ein Fläschchen Chrysanthemenschnaps daneben – eine perfekte Andachtspyramide. Mit einem feinen Pinsel und einem Topf roter Farbe frischt die Mutter die verblassenden Inschriften auf, während der Vater dem Mädchen zuzwinkert. Schließlich zündet sie die Räucherstäbchen an. Alle drei verbeugen sich. Eine dünne Rauchfahne steigt auf und wird vom Wind davongetragen.
Eine plötzliche Bö weht das nur locker festgehaltene Höllengeld aus Meilins Hand. Hastig sammelt sie die nassen Fetzen wieder ein; sie sind jetzt verknittert und schmutzig.
Heute fühlt sich alles anders an für Renshu. Die Stimmen, die aus dem Ladenbereich im Erdgeschoss heraufdringen, sind lauter als sonst. Die Tür öffnet und schließt sich alle paar Minuten. Eine Parade schwerer Schritte bewegt sich rein und raus.
Er widmet sich einer vertrauten Beschäftigung: Während seine Ma näht, durchwühlt Renshu die drei übereinandergestapelten Fächer ihres Nähkorbs und sucht unter den Garnspulen seine Lieblingsfarben heraus. Pfauenblau, kaiserliches Purpur, Gold wie eine Tasse Oolong-Tee. Konzentriert beißt er sich auf die Lippe und ordnet die Spulen der Länge nach nebeneinander auf dem Holzboden an. Dann gibt er allen dreien mit einem langen Holzbrett gleichzeitig einen Stoß. Die farbigen Garne rollen sich wie ein leicht zittriger Regenbogen ab. An manchen Tagen gewinnt die schnellste Spule, an anderen Tagen ist es die, die am weitesten rollt. Er wickelt die Garne wieder auf und lässt dann andere Farben und Kombinationen gegeneinander antreten, damit sich ein Champion herauskristallisiert.
Als er von dem Spiel genug hat, kramt er in der geschnitzten Zinnoberdose voller Jadeamulette, goldener Glöckchen und silberner Münzen herum, die seine Mutter neben sich stehen hat. Hin und wieder nimmt sie eine Münze und näht weiter. Er hat den Eindruck, dass sie seit Wochen nichts anderes macht. Es gefällt ihm, sich die Jadeanhänger genau anzusehen: eine Pflaume, eine Schlange, ein Buddha. Er hält einen nach dem anderen gegen das Fenster und beobachtet, wie das Sonnenlicht hindurchfällt und die weißen Adern im grünen Stein enthüllt. Sein Lieblingsstück ist die dreibeinige Kröte, die eine Goldmünze im Maul trägt; und das Beste daran ist, dass man die Münze kreisen lassen kann. Renshu stößt sie mit dem Zeigefinger an und sieht ihr bei ihrem ungleichmäßigen Rattern und Schwirren zu, bis sie wieder zum Stillstand kommt. Dann lässt er sie erneut kreisen.
Als sie die Treppenstufen quietschen hören, runzelt Meilin die Stirn. Sie bringt Renshu zum Innehalten, nimmt ihm seine Schätze aus der Hand, legt sie in die Dose zurück, schließt den Deckel und verstaut sie wieder im untersten Fach des Nähkorbs. Anschließend faltet sie ihre Näharbeit darüber. Renshu spürt, dass sie es eilig hat. Er richtet das mittlere Fach des Korbes so aus, dass es genau einrastet. Dann legt Meilin das oberste, mit Spulen, Nadeln, Knöpfen und Scheren gefüllte Fach obenauf. Als sie ihr Strickzeug zur Hand nimmt, atmet sie tief durch, und der besorgte Ausdruck auf ihrem Gesicht verblasst. Renshu greift sich eine Handvoll Knöpfe, die er dem Onkel oder dem Großvater, seinem Yeye, zeigen kann, je nachdem, wer gerade zu ihnen kommt.
Es ist der Onkel mit zwei großen Männern. Normalerweise springt Renshu seinem Onkel in die Arme, sobald er ihn erblickt, doch die Fremden schüchtern ihn ein, und er verhält sich still. Die Männer transportieren eine große Holzkiste und riechen auf eine für Renshu ungewohnte Art nach Leder und Rauch. Einer der beiden trägt dicke Stiefel, der andere hat einen langen Bart und Schnauzer. Der Onkel und seine Ma fangen an zu streiten.
Der Onkel zeigt auf einige der Antiquitäten, worauf die Männer die Kiste öffnen und anfangen, Dinge hineinzuladen: Leuchten, Gemälde, kleine Statuen. Anfangs packen sie achtlos, aber dann richtet Renshus Ma einige strenge Worte an sie und holt hinter einem Tresen einen Stapel weicher Tücher hervor. Der Onkel gibt den Männern einen barschen Befehl, und sie nehmen alle Gegenstände wieder heraus und fangen von vorn an. Diesmal verwenden sie die Tücher, um jedes Teil einzuwickeln. Der Onkel geht zu einem Bottich in der Ecke, in dem zahlreiche Bildrollen stehen. Er nimmt einige davon heraus und stellt Ma eine Frage. Sie ist nicht einverstanden. Mit einem finsteren Blick gibt sie ihm eine Dose mit Amuletten, jedoch nicht die aus dem Nähkorb. Die Männer haben die Kiste inzwischen mit Kostbarkeiten gefüllt und nageln jetzt den Deckel darauf. Nachdem sie die Kiste geschultert haben und wieder verschwunden sind, seufzt Ma tief und lässt sich mit dem Rücken an der Tür zu Boden sinken.
Nach ein paar Minuten steht Meilin auf und geht in ihr Schlafzimmer. Renshu hört, wie sie Möbel verschiebt. Dann kommt sie mit einem länglichen Holzkästchen zurück. Sie bedeutet ihm, dass er sich an einem niedrigen Tisch, auf dem bis eben noch Drachenlaternen und geschnitzte Phönix-Figuren standen, neben sie setzen soll. Dann fordert sie ihn auf, das Kästchen zu öffnen. Renshu entdeckt eine Bildrolle, nimmt sie heraus und entknotet die Kordel mit der Quaste. Meilin beugt sich vor und hilft ihm, die Rolle flach auf den Tisch zu legen und vorsichtig zu entrollen. Als die erste Szene vollständig sichtbar ist, berührt sie kurz seine Hand, um ihn zu stoppen. Ihre andere Hand schwebt über den Schriftzeichen, die sie vorliest. Dies, erklärt sie ihm, ist eine Geschichte über reisende Gelehrte. Hier gehen sie mit ausgeruhten Beinen und leuchtenden Augen los. Sie werden dem Fluss und der Sonne folgen.
Unter ihnen im Petroleumgeschäft sind laute Streitigkeiten und raues, freudloses Gelächter zu hören. Besorgte Worte dringen zu ihnen: Die Japaner greifen von Norden und Süden an. Sie nehmen uns in die Zange.
Renshu stupst Meilin an. Er möchte mehr sehen. Während er die nächste Szene aufrollt, wickelt Meilin den Teil wieder zusammen, den sie gerade betrachtet haben. Erneut tippt sie auf seine Hand, sobald die zweite Szene ganz zu sehen ist, und trägt den poetischen Text vor, der aus ihrem Mund wie Musik klingt. So machen sie den ganzen restlichen Nachmittag über weiter. Szene für Szene reisen sie durch die Bildrolle, entdecken Details und erfinden Geschichten. Meilin weist Renshu auf ihre Lieblingsstellen hin: Hier schläft der Tiger, so dass die Reisenden gefahrlos passieren können. Dort, mitten auf dem belebten Markt, gewinnt der schlaueste Gelehrte bei einem Spiel, das Glück und Scharfsinn erfordert. Auf schmalen Brücken über Gebirgsbächen denken die Gelehrten über die Beständigkeit ewig fließender Bewegung nach.
»Renshu«, flüstert seine Ma, »ist dir aufgefallen, dass sich keiner der Reisenden je umdreht? Sie bewegen sich durch die Landschaften und blicken nicht zurück.«
Aus dem Laden dringen Zigarettenrauch und das Klappern von Petroleumflaschen herauf. Gerede von Brücken, Eisenbahnstrecken und Flüssen kriecht die Wände hoch. Lasst nichts zurück, was Wert hat!
»Merke dir«, sagt sie, »diese reisenden Gelehrten tragen alles, was sie brauchen, auf dem Rücken. Alles, was sie belastet, lassen sie zurück. Denk immer daran«, sagt sie, »dass Reue eine schwere Last ist.« Und als sie den Arm um Renshu legt und auf den Reisenden zeigt, der sich am Ende seiner langen Reise unter Kirschblüten ausruht, flüstert sie: »Und präg dir ein, dass einen Obstgarten zu haben eine Ehrung der Generationen bedeutet, die vorher kamen und die noch kommen werden.«
Er nickt. Er wird es sich merken.
Als in dieser Nacht eine Hand ihre Schulter ergreift und sie wachrüttelt, ist Meilin nicht überrascht. Longwei spricht leise, aber mit Nachdruck.
»Wir müssen fort von hier. Jetzt sofort. Nimm die Hintertür.«
Sie schlägt die Augen auf und erkennt gerade noch, wie seine Silhouette durch die Zimmertür verschwindet.
Es ist still und dunkel, aber als sie ganz genau lauscht, hört sie im Haus auf der anderen Seite des Innenhofes Geraschel.
Meilin zieht ihren Nähkorb heran, klappt die Fächer auseinander und überprüft, ob sich die Dose mit den Münzen und Amuletten noch in der untersten Ebene befindet. Unter ihrem Bett holt sie zwei Seidenjacken hervor, eine große und eine kleine, die sie seit Wochen mit Geldscheinen und Münzen gepolstert hat. Die schweren weichen Bündel in ihren Händen wirken sehr beruhigend auf sie. Sie legt sie zur Seite; sie werden die Jacken gleich anziehen. Auf dem Boden steht das Kästchen mit der Bildrolle. Sie wickelt es in Stoff ein und legt es in ihren Korb. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, in ihren Augen stehen Tränen. Aus dem Haus kommen noch mehr gedämpfte, hektische Geräusche. Meilin klappt ihren Nähkorb wieder zu und zieht die Griffe zusammen. Auch der Korb ist schwer, aber er enthält nichts, was sie zurücklassen will.
Draußen wird ein Karren vorbeigezogen. In den anderen Häusern und auf den Straßen funkeln noch ein paar Lichter. Sie steht da und betrachtet Renshu; seine Augen sind geschlossen, sein Atem ist ruhig und warm. Ein weiterer Karren hält vor dem Haus, und sie hört grimmiges Geflüster. Sie verharrt noch dreißig Sekunden in absoluter Reglosigkeit. Dann atmet sie tief durch und legt ihre Hand um seine kleine Schulter.
Auf dem Karren streckt Renshu die Beine aus und drückt sie gegen den Nähkorb. Kaum dass sie ihre Straße hinter sich gelassen haben und sich dem Markt nähern, erschüttert eine Explosion die Luft. Renshu windet und reckt sich, um etwas zu sehen, doch Meilin hält ihn noch fester und schirmt seinen Blick ab. Sie gibt ihm ein Vexierbild aus Holz und trägt ihm auf, die Affen zu zählen. Diese Aufgabe erfordert seine ganze Konzentration und sorgt dafür, dass er nicht um sich blickt.
Die Nacht wird von einer sengenden Helligkeit erleuchtet. Flammen knistern, und der Wind trägt laute Schreie heran. Meilins Augen brennen von dem Rauch; ihr Herz rast. Als sie sich umdreht, schnappt sie laut nach Luft: Hongtses Geschäft brennt.
»Was ist denn, Ma?«, fragt der zappelnde Renshu.
Meilin unterdrückt ihre Angst und reißt sich zusammen. »Schhh, es ist alles gut«, beschwichtigt sie ihn.
Han, der Diener, der den Karren zieht, biegt in eine Gasse ab.
»Wo gehen wir hin? Was ist mit den anderen?«, fragt sie.
»Großes Feuer, Madame, großes Feuer! Zum Treffunkt«, sagt er und läuft weiter.
Alarmglocken erklingen. Sie kommen an immer mehr Gebäuden vorbei, die lichterloh in Flammen stehen.
Es hat nicht nur das Geschäft von Dao Hongtse getroffen.
Die ganze Stadt ist ein Flammenmeer. Die Straßen füllen sich mit Menschen, die vor dem Feuer fliehen, manche in Karren, ganze Familien in Fuhrwerken, die mit Möbeln, Töpfen und Reissäcken beladen sind. Viele Leute sind zu Fuß unterwegs und balancieren Tragstangen mit eilig gepackten, überquellenden Körben. Einige sind nur in Nachtwäsche und mit dem, was auch immer sie in der Eile noch greifen konnten aus ihren Häusern geflohen. Armeefahrzeuge wälzen sich gegen den Strom auf die brennende Stadt zu. Ein paar Wagen, die in dem Chaos feststecken, hupen, und Motoren heulen auf. Die Feueralarmglocken dringen durch den Rauch und die Flammen.
Der Karren holpert über die unebene Straße und lässt Meilins Zähne klappern. Han biegt so schnell um eine Kurve, dass Renshu Meilins Armen entgleitet und an den Rand des Sitzes geschleudert wird. »Ma!«, schreit er voller Angst. Meilin zieht ihn auf ihren Schoß zurück, beugt sich vor, um ihn abzuschirmen, und hält ihm Augen und Ohren zu.
Eine weitere Explosion lässt ihre Lungen erbeben wie bei einem Donner. Kisten fallen hinten vom Karren herab, aber Han hält nicht an. Ein heißer Luftstrom rauscht, Rauch und Funken in die Nacht blasend, über sie hinweg.
Meilin blickt noch einmal über ihre Schulter. Obwohl die Flammen die Luft zum Flirren bringen, läuft es ihr kalt über die Arme. Sie wird nicht noch einmal zurückschauen.
Am Bahnhof sagt Han ihnen, dass sie absteigen und auf die anderen warten sollen. Erst als er ihr auf die Schulter tippt, bemerkt Meilin, dass sie sich völlig verkrampft hat, ihre Kiefer sind aufeinandergepresst, die Fäuste geballt. Trotz der Hitze, die vom Feuer ausging, bibbert sie. Han legt ihr eine Decke um.
Noch ehe Meilin ihn irgendetwas fragen kann, eilt er davon. Meilin schaut sich wie betäubt um. Der Bahnhof ist bereits voller Menschen. Sie erspäht eine freie Nische und lenkt Renshu dorthin.
»Ma, was ist los?«, fragt Renshu.
»Wir warten noch auf jemanden. Hier!«, sagt sie und hebt ihn auf eine Mauer, so dass er die Menge überschauen kann. »Siehst du irgendwo den Onkel oder den Großvater?« Sie bemüht sich um einen ruhigen, optimistischen Ton.
Er reckt den Kopf suchend in alle Richtungen. Wieder und wieder berichtet er, dass er sie noch nicht erblickt hat, und hält weiter Ausschau.
Wenn er ihr Gesicht nicht sehen kann, verschwindet Meilins Lächeln. Ihr schwirren tausend Fragen durch den Kopf. Wusste Longwei, dass es zu dem Brand kommen würde? Meinte er das, als er sie gewarnt hatte? Warum brennt es an so vielen Orten? Um sie herum werden Gerüchte ausgetauscht: Die Japaner haben Changsha angezündet. Nein, das war die Kuomintang, sie tut alles, um den Feind am Vorrücken zu hindern. Nein, das waren Banditen, die das Chaos um seiner selbst willen lieben. Der Generalissimus hat es befohlen. Nein, er würde uns niemals so verraten.
Renshu schaut auf Meilin herab und schüttelt den Kopf, er ist den Tränen nahe. »Ich kann sie nicht sehen, Ma.«
»Schon gut, sie werden bald hier sein.« Sie hilft ihm von der Mauer herunter. Renshu setzt sich auf ihren Schoß und schmiegt sich an sie, sein Kopf ist direkt unter ihrem Kinn.
»Wo ist mein Yeye, Ma?«
»Keine Angst, er kommt bald.«
Ein paar Minuten später: »Ma, warum mussten wir von zu Hause weg?«
»Schhh«, macht sie.
»Ich will nach Hause.« Er klettert von ihrem Schoß herunter. »Warum sind hier so viele Leute? Mir ist kalt. Ich will zu Großvater. Ma!« Er hält sein Gesicht unmittelbar vor ihres. »Ich will nach Hause.«
»Schluss jetzt!«, fährt sie ihn an.
Vor Schreck füllen sich seine Augen mit Tränen, und er beginnt laut zu schluchzen.
Meilin verflucht sich selbst. Sie hatte ihn nicht so anherrschen wollen. Sie zieht ihn wieder auf ihren Schoß und streicht ihm über den Rücken, um ihn zu beruhigen. Renshu schluchzt tonlos weiter.
Wo bleiben die anderen? Was, wenn sie nicht kommen? Soll sie zurückgehen? Aber zurück wohin? Welches Ziel haben all die anderen Leute? Soll sie ihnen folgen? Nein, sie wartet besser. Wenn Longwei Han aufgetragen hat, sie am Bahnhof abzusetzen, dann muss er einen Plan haben. Sie betastet den Saum ihrer Jacke und spürt die eingenähten Münzen. Was sollen sie nur tun, wenn die anderen nicht kommen? Feueralarmglocken übertönen die Rufe und das allgemeine Durcheinander.
»Meilin!«, erklingt Longweis Stimme über den Lärm hinweg. Longwei, Wenling und die Mädchen sind endlich da. Wenling wirkt aufgeregt, als sie von ihrem Karren absteigt, die Mädchen schauen sich mit geweiteten Augen um und sind ungewöhnlich still. Longwei macht sich daran, das Gepäck abzuladen.
»Ihr seid in Sicherheit, ihr seid in Sicherheit!«, ruft Meilin erleichtert, schiebt Renshu von ihrem Schoß und springt auf. Der Junge ergreift ihre Hand und presst sich an sie. Meilin legt einen Arm um ihn. »Und die anderen? Wo sind die?«, fragt sie.
Longwei stockt. »Sind sie nicht hier? Han sollte sie eigentlich herbringen.«
Meilin schüttelt den Kopf. »Er ist nicht zurückgekommen.«
Longwei schaut sich um. Es wirkt, als würde er die ganzen Menschen, den Lärm und die Verzweiflung erst jetzt wahrnehmen.
»Han … er …« Er spricht seinen Satz nicht zu Ende und durchsucht die Menge weiter mit seinen Blicken. »Sie werden bald kommen.«
Longwei winkt jemandem und verschwindet in der Menge. Das muss Han sein. Doch nein, Longwei strebt auf einen Offizier zu, der neben einem Militärfahrzeug wartet. Der Offizier sagt etwas und übergibt ihm Papiere. Longwei blättert die Dokumente durch, spricht mit dem Offizier und gestikuliert dann in Richtung der Stadt. Sie diskutieren, schauen auf die Gleise und überblicken dann die Menge. Mehr als einmal nimmt Longwei Haltung an und nickt.
Schließlich kommt er, mit den Papieren wedelnd, zurück. Das Gespräch mit dem Offizier scheint seine Stimmung verändert zu haben. »Bahnfahrkarten.« Sein Tonfall ist streng. »Bald kommt ein Zug. Den müssen wir nehmen.«
»Aber was ist mit den anderen? Sollten wir nicht auf sie warten?«, fragt Meilin.
Longwei ignoriert sie. Er zeigt auf das Gepäck und befiehlt seiner Familie umzupacken. »Jeder nur ein Koffer. Den Rest lasst ihr bei Xu«, sagt er, auf seinen Fahrer zeigend. Von der befremdlichen Situation und Longweis strengem Ton eingeschüchtert, durchwühlen Wenling und die Mädchen ihre Koffer und überlegen verzweifelt, was sie behalten sollen. Renshu steht neben Liling und Lifen und hebt alles, was sie zurücklassen müssen – Bücher, kleine Puppen, Holzkämme, Seidenkleider – auf, nur um es gleich wieder hinzulegen.
»Hast du von dem Feuer gewusst?«, fragt Meilin Longwei in einem herausfordernden Ton.
»Ich hab dir ja gesagt, dass du auf alles gefasst sein sollst.«
»Und was ist mit dem Rest der Familie?«, bohrt Meilin.
»Xu geht sie suchen, und mein Kollege setzt sie dann in einen anderen Zug. Wir können nicht länger warten, wir müssen hier weg.«
»Wohin?«
»Die Japaner rücken von Wuhan aus vor. Manche behaupten, dass sie schon am Dongting-See sind. Und von Süden, aus Guangzhou, kommen noch mehr feindliche Truppen. Wir werden in die Zange genommen.« Er hebt die Hand und macht mit Daumen und Zeigefinger eine entsprechende Geste. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen los«, erklärt er knapp.
Sie sieht ihn ungläubig an. »Aber dein Vater, du kannst ihn doch nicht …«
»Ich lasse ihn nicht zurück. Ich habe es doch gerade gesagt, Xu sucht nach ihnen.«
Man hört das Pfeifen und Quietschen eines einfahrenden Zuges. Wenling und die Mädchen stehen stumm da, jede mit einem Koffer in der Hand. Renshu kehrt an Meilins Seite zurück.
»Du lässt sie wohl zurück«, beharrt Meilin.
»Was soll die Diskussion?«, brüllt Longwei. Sein Blick wandert über das Menschengedränge, dann zu dem Zug. »Mein Vater«, sagt er betont langsam und sieht dabei erst Meilin, dann Renshu und dann wieder Meilin an, »mein Vater würde sicher sein wollen, dass der Name unserer Familie geschützt wird.«
Die Menschen sammeln ihre Besitztümer ein und bewegen sich in Richtung Bahnsteig.
»Wo fahren wir hin?«, fragt Meilin noch einmal.
»Nach Chongqing, in die neue Hauptstadt. Der Zug bringt uns zum Jangtsekiang, und dort nehmen wir ein Schiff nach Westen, ins Landesinnere. Die Regierung zieht um, und wir folgen ihr.«
Meilin blickt noch einmal suchend in die Menge und hofft, Hongtse oder den Rest der Familie zu entdecken.
»Worauf wartest du noch?«, fragt Longwei. »Die Stadt steht in Flammen, das Geschäft ist niedergebrannt. Das hier ist unsere Chance. Seine Chance.« Damit greift er Renshu mit einer Hand und seinen Koffer mit der anderen und geht voran.
Meilin ist übel vor Fassungslosigkeit und Bestürzung; sie schnappt ihren Korb und eilt ihm nach.
In dem überfüllten Zug sitzt Renshu auf Meilins Schoß. Trotz ihrer anfänglichen Bedenken versteht Meilin jetzt, dass sie Glück hatten, überhaupt Fahrkarten bekommen zu haben. Longwei hat die richtigen Freunde, die richtige Art Einfluss.
Der Zug bewegt sich schleppend in Richtung Norden. An den Bahnhöfen steigt niemand aus; es drängen immer nur noch mehr Menschen herein, die mit ramponierten Koffern und sperrigen Bündeln bepackt sind. Zu denen, die vor dem Feuer flüchten, gesellen sich andere, die ihre Häuser und Städte den Japanern überlassen. Die Luft in dem Waggon ist dünn und abgestanden – die Ausdünstungen zu vieler Körper vermischen sich mit dem Geruch von Kampfer und Speiseöl. Renshus Gesicht ist rot und fleckig. Seine Haut muss unter den vielen Kleidungsstücken jucken und verschwitzt sein. Schließlich nickt er ein und döst unruhig vor sich hin. Als der Zug endgültig überfüllt ist, klettern Menschen aufs Dach und wappnen sich für die beißend kalten Novemberwinde.
Mitten in der Nacht, in der Stunde der tiefsten Dunkelheit, kommt der Zug abrupt zum Stehen. Es ist kein Bahnhof in der Nähe. Was ist los? Wo sind wir? Meilin versucht, ihre Benommenheit abzuschütteln, und weckt Renshu.
»Wach auf!«, flüstert sie.
Er dreht den Kopf weg und lehnt sich an Wenling, die erstarrt und sich erhebt. Renshus im Schlaf erschlaffter Körper kippt in die warme Lücke, die sie hinterlässt.
»Renshu!« Meilin rüttelt an seinem Arm und versucht, ihn hochzuheben. »Renshu, wir müssen gehen!«
»Ma?« Er macht die Augen auf und wieder zu.
Als Meilin es endlich geschafft hat, Renshu zum Aufstehen zu bewegen, schnappt sie sich ihren Korb. Immer noch im Halbschlaf stolpert Renshu widerwillig durch den Gang, und Meilin hilft ihm beim Aussteigen.
Die Menschen strömen aus den Waggons, gehen in Richtung Norden weiter und lassen die riesige, verstummte Lokomotive hinter sich zurück. Renshu verliert den Anschluss, und Meilin hat Mühe, die Silhouetten von Longwei, Wenling und den Mädchen nicht aus den Augen zu verlieren.
Sie schaut sich nach dem Zug um. Die Gleise erstrecken sich bis zum fernen Horizont, parallele Linien, die im Mondlicht glänzen. Dann richtet sie den Blick nach vorn. Dort glänzt nichts. Die Gleise fehlen. In dieser verwirrenden Nacht scheint jedes Mal, wenn sie sich umdreht, wieder etwas anderes weggerissen oder verschwunden zu sein.
»Was ist mit den Gleisen passiert?«, fragt jemand, und Meilin beugt sich vor, um die Antwort nicht zu verpassen.
»Die verdammten Japsen haben sie gestohlen!«, antwortet ein Mann.
»Nein, das war unsere Armee«, widerspricht jemand anderes. »Sie haben sie demontiert, um den Vormarsch des Feindes zu verlangsamen.«
»Aber was ist mit uns?«, fragt der Mann zurück.
Die Antwort ist nicht zu verstehen.
Die ganze Nacht hindurch gehen und gehen sie. Als die Kinder zu müde sind, um weiterzulaufen, suchen sie für ein paar Stunden in einem kleinen Wäldchen Schutz. Doch Meilin kann nicht schlafen; dazu ist sie viel zu besorgt um Hongtse und den Rest der Familie und zu nervös, weil sie keine Ahnung hat, was ihnen bevorsteht. Renshu windet sich auf der Suche nach Trost unruhig in ihren Armen. Irgendwann nickt er endlich ein, und auch Meilin döst ein wenig, horcht aber weiter auf die Geräusche der übrigen Familien in der Nähe.
Bei Tagesanbruch erwacht Meilin und stellt fest, das Longwei nicht da ist. Wo ist er hin? Auf der anderen Seite eines Ackers erblickt sie ein kleines Dorf. In der Dunkelheit der letzten Nacht hat sie nicht bemerkt, wie nah es ist. Wenling und die Mädchen schlafen eng aneinander gekuschelt. Doch Renshu wacht auf, als seine Ma sich regt. Meilin reibt seine kalten Hände zwischen ihren, um sie aufzuwärmen.
»Wo ist der Onkel?«, fragt er und beobachtet die Menschengruppen, die sich die Straße entlangschieben. Manche sind zu Fuß unterwegs, andere sitzen auf Karren oder in Rikschas.
»Ich bin mir nicht sicher. Er kommt bestimmt gleich zurück«, antwortet Meilin.
Aber dann fängt Renshu wieder mit seinen Fragen an. Wo ist Großvater? Warum haben wir ihn nicht mitgenommen? Was ist mit dem Zug passiert? Warum haben wir draußen geschlafen? Können wir wieder nach Hause gehen?
Meilin hat keine Ahnung, wie sie Renshu das alles erklären soll. Sie weiß ja nicht einmal, wie sie es sich selbst erklären soll. Einen Moment lang ist er still. Dann kommt: »Wo ist das Bild mit den Affen?«
Endlich eine Frage, die Meilin beantworten kann. Sie holt das Vexierbild aus dem Korb und reicht es ihm.
Als Renshu bis zum siebenundsechzigsten Affen gezählt hat, sieht sie Longwei über das Feld zurückkommen. Er sitzt neben einem Bauern auf einem blauen Eselskarren. Renshu lässt das Bild fallen und rennt Longwei entgegen. »Onkel!«