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Nach einer wahren Begebenheit - unverblümt, spannend und emotional.Österreich, 1995. Basierend auf einer wahren Begebenheit verweigert ein 19-jähriger Zeuge Jehovas den Wehrdienst und geht dafür freiwillig ins Gefängnis. Während seine Freunde draußen den Sommer in vollen Zügen genießen, wird Walter Birnstingl zum Spielball eines scheinbar unlösbaren Konflikts zwischen seiner Religionsgemeinschaft und den Behörden. Die ausweglose Situation stellt seinen Glauben auf eine harte Probe, und der zermürbende Alltag im Knast setzt dem sensiblen jungen Mann zu. Langsam beginnt er an seiner nicht ganz freiwilligen Entscheidung zu zweifeln.Haben sich die unfehlbaren Sektenführer diesmal vielleicht doch geirrt? Und wird er jemals wieder frei sein?Auf Irrwegen zwischen Glauben & Wahrheit.Mit fesselnder Erzählkraft nimmt uns Werner Fiedler mit auf einen beklemmenden Irrweg hinter Gefängnismauern und führt uns in die verborgene Welt einer Religionsgemeinschaft, die lange nicht so harmlos ist, wie sie zu sein scheint.
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Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2024
ISBN: 978-3985108350
© 2022 Kampenwand Verlag
Raiffeisenstr. 4 · D-83377 Vachendorf
www.kampenwand-verlag.de
Text: Werner Fiedler
Coverbild: Shutterstock; kIss, Russland
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
»Errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum.«
Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen, ist teuflisch.
Lateinische Redewendung
KAPITEL 1 13. Juni 1995
Die mechanische Zeitschaltuhr rattert ihrem Ziel entgegen. Pünktlich um sechs schließt sich der Stromkreis und meine große Musikanlage, die wie ein Altar unter dem einzigen Fenster thront, erwacht zum Leben. Das atmosphärische Intro von Shine On You Crazy Diamond erfüllt den kleinen Raum. Gleichzeitig beginnt die Filterkaffeemaschine auf dem selbst gezimmerten Schreibtisch unaufgefordert vor sich hin zu brühen.
Ich wache auf, und der erste Gedanke des Tages durchzuckt mich wie ein Blitz. Heute werden sie wahrscheinlich kommen. Am liebsten würde ich mir die Decke über den Kopf ziehen und mich vor der Welt verstecken. Viel zu kurze Minuten vergehen, bis ich mich endlich aus meinem schmalen Jugendzimmerbett quäle. Wie in Trance gehe ich ins Badezimmer, warte vor der Kloschüssel, bis die Morgenlatte abgeschwollen ist, pinkle im Sitzen, putze meine Zähne. Zahnbürste und Zahnpasta lege ich in meine Reisetasche, die schon fertig gepackt bereitsteht. Ich ziehe frische Boxershorts, Jeans und ein kurzärmeliges Hemd an, nicht zu leger, aber auch nicht zu elegant. Wahrscheinlich die beste Wahl für das, was mir bevorsteht. Ich style meine kurzen Haare mit etwas Gel, trinke den Kaffee aus und werfe einen letzten Blick in das Kellerzimmer, in dem ich wohne, seit ich mit sechzehn zu Hause ausgezogen bin. Kurz überlege ich, das Bett zu machen, verwerfe den Gedanken aber sofort wieder. Stattdessen frage ich mich, wie lange ich wohl wegbleiben werde.
»Ciao Wohnung«, sage ich in den leeren Raum. Ich schalte die Musikanlage aus, greife mir die Reisetasche und mache mich auf den Weg.
Die tiefstehende Morgensonne scheint durch die Windschutzscheibe meines zehn Jahre alten 3er-BMW, den ich immer noch in Raten abbezahle. Ich wohne etwas außerhalb von Klagenfurt und muss mich durch den Frühverkehr einer vielbefahrenen Einfallstraße schlängeln. Wenn das alles vorbei ist, werde ich mir einen anderen Job suchen. Einen, bei dem ich nicht früh aufstehen muss. Einen, bei dem ich mir die Zeit selber einteilen kann und nicht mit den ganzen Idioten im Frühverkehr stecken muss.
Die Ampel schaltet auf Grün. Langsam setzt sich die Kolonne in Bewegung. »Jetzt fahrts weiter!«, stänkere ich die Autofahrer vor mir aus meiner geschützten Fahrgastzelle heraus an. In Wien wären in der Zeit doppelt so viele Autos über die Kreuzung gekommen. Endlich erreiche ich das Firmengelände des Installationsbetriebes, in dem ich noch arbeite, und stelle mein Auto auf dem Parkplatz vor dem Büro ab. Zwei Minuten vor sieben. Gerade noch rechtzeitig.
In dem schmucklosen Büro stehen die altmodischen Zeichentische in Reih und Glied nebeneinander. Meine Kollegen arbeiten konzentriert und still vor sich hin. Es fehlt nur noch der Vorarbeiter am Kopfende, der sicherstellt, dass auch niemand Spaß hat. Ich sitze an meinem Tisch und zeichne mit einem Tuschestift Rohrleitungen in einen Grundrissplan ein. Seit ich die Lehre zum Technischen Zeichner mit Auszeichnung abgeschlossen habe, will ich hier weg. Ich will diesen Beruf nicht ausüben. Das Planen von Heizungs-, Sanitär- und Lüftungsanlagen ist so ziemlich die unpassendste Tätigkeit, die man einem wie mir aufschwatzen kann. In der Schule war ich in allen Fächern mittelmäßig bis schlecht. Außer in Bildnerischer Erziehung. Da war ich der Klassenbeste. Mit fünfzehn habe ich auf den guten Rat von klugen Erwachsenen gehört und diese Ausbildung begonnen. Schließlich war ich ein guter Zeichner, und der Besuch einer höheren Schule oder gar ein Studium wurde nicht gern gesehen.
Ein Arbeiter ruft mich von der Baustelle an und beschwert sich, dass der Plan für die nächste Baustufe noch nicht da ist. Ich sollte diesen Plan dringend fertig zeichnen, kann mich aber überhaupt nicht konzentrieren. Wie ein neugieriger Nachbar im Rotlichtbezirk mustere ich jedes Auto, das auf den Parkplatz fährt. Ich frage mich, ob manchmal Leute einfach vergessen werden oder ob sie aus anderen Gründen vielleicht nicht kommen werden. Mir fallen keine Gründe ein.
Einige Rohrleitungen später sehe ich durch das Fenster ein verdächtiges Fahrzeug näherkommen. Ein olivgrüner Wagen mit blauen Lichtern auf dem Dach und der Aufschrift Militärstreife hält auf dem Parkplatz. Zwei Männer in Soldatenuniformen und mit weißen Polizeikappen steigen aus dem Auto und gehen auf das Bürogebäude zu.
Scheiße, jetzt kommen die wirklich. Wie immer rebelliert mein Magen, wenn ich aufgeregt bin. Ich schraube meinen Tuschestift zu, räume meinen Schreibtisch auf und warte, bis die Tür aufgeht.
Es dauert eine gefühlte Ewigkeit bis die Militärpolizisten endlich das Büro betreten. Meine Arbeitskollegen drehen sich verwundert um und haben keine Ahnung, was da vor sich geht.
»Wir suchen Walter Birnstingl«, sagt einer der Militärpolizisten in einem erstaunlich zivilen Ton.
Er ist nicht viel älter als ich und mir wird klar, dass ich ihn von irgendwoher kenne. Wahrscheinlich vom Feiern in der Stadt.
»Ich bin das.« Ich stehe auf, ziehe meine Reisetasche unter dem Tisch hervor und gehe auf die Polizisten zu.
»Sie sind gestern nicht zum Wehrdienst angetreten. Wir nehmen sie jetzt mit nach Villach, in die Kaserne.«
Die Körperhaltung des Polizisten und die Waffe an seinem Gürtel lassen keinen Zweifel daran, dass er seinen Auftrag notfalls auch unter Anwendung von Gewalt erledigen würde.
»Ich weiß«, sage ich und will nur so schnell wie möglich raus aus diesem Büro.
Meine Chefin drängt sich an den Soldaten vorbei und stellt sich mir in den Weg. Die kleingewachsene Frau wirkt neben den strammen Uniformierten wie eine harmlose Großmutter, die Kekse an Kriegsverwundete verteilen möchte. Was der vornehmen älteren Dame an Körpergröße fehlt, gleicht sie allerdings durch ihre Strenge und Entschlossenheit aus. Ich bin sicher, dass sie die Militärpolizisten mit ihrem bösen Blick in die Flucht schlagen könnte.
»Herr Birnstingl, was ist denn los?«, fragt sie stattdessen.
»Ich muss mit den Herren mitgehen.«
»Wohin denn?«
»In die Kaserne.«
»Wir brauchen ihn aber«, sagt sie zum Polizisten und ich erwarte, dass sie ihn jetzt ordentlich zur Sau macht.
»Herr Birnstingl ist seit gestern Grundwehrdiener«, klärt der Polizist sie auf.
»Warum haben sie denn nichts gesagt? Wir hätten doch was unternehmen können?«, fragt mich die Chefin mit einem vorwurfsvollen Unterton, statt die Soldaten mit ihrem Blick niederzustrecken.
»Tut mir leid.« Ich kann ihrem Blick nicht standhalten und schaue verschämt zu Boden.
»Gemma«, sagt der Polizist und schiebt mich an der Chefin vorbei aus dem Büro.
Die Blicke der Kollegen bohren sich in meinen Rücken, während mich die Polizeisoldaten aus dem Gebäude eskortieren.
Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einem Streifenwagen sitze. Ich hatte noch nie Ärger mit der Exekutive, meine kriminellen Aktivitäten haben sich bisher auf ein paar Strafzettel wegen überhöhter Geschwindigkeit und Falschparken beschränkt. Und jetzt sitze ich hier wie ein Verbrecher auf der Rückbank und starre aus dem Fenster. Wir sind auf der Autobahn, die sonnendurchflutete Landschaft zieht an uns vorbei. Ich hoffe, dass der Polizist kein Gespräch anfangen will. Als hätte mein Gedanke an seinen Hinterkopf geklopft, dreht er sich zu mir um und sieht mich mit seinen stahlblauen Augen an.
»Wir kennen uns«, sagt er.
»Kann schon sein. Vielleicht von der Stadt.«
Mein Bekannter nickt langsam und fixiert mich mit seinen unglaublichen Augen. Ich stelle mir vor, wie er in meinem Stammlokal durch die Menge geht und jedem erzählt, dass er mich verhaftet hat.
»Warum machst du sowas?«, will er jetzt wissen.
Endlich ist die Frage da, auf die ich mich seit Wochen vorbereitet habe.
»Ich bin Zeuge Jehovas. Meine Religion erlaubt es nicht, dass ich den Wehrdienst mache«, antworte ich wie aus der Pistole geschossen.
»Bis jetzt haben wir noch jeden Drückeberger erwischt. Und alle haben den Wehrdienst machen müssen.«
»Bei mir ist das was anderes.«
»Wir haben sogar mal einen aus dem Frauenklo geholt.«
»Aus dem Frauenklo?«
»Eine Tunte, die sich als Frau ausgegeben hat.«
»Aha.«
»Wir haben ihn in Frauenkleidern in die Kaserne gebracht. Was glaubst du, wie die gelacht haben.«
Der Fahrer lacht laut auf. Ich schaue aus dem Fenster und sage nichts mehr. Mein Polizistenfreund starrt mich immer noch an, als würde er Fluchtpläne von meinem Gesicht ablesen können. Obwohl Villach nur vierzig Kilometer entfernt ist, dauert die Fahrt eine Ewigkeit. Tausend Gedanken schwirren mir im Kopf herum. Ich habe keine Ahnung, was in der Kaserne passieren wird. Wie wird der Kommandant reagieren? Wird er mich anschreien? Kurz frage ich mich, ob Leute manchmal gefoltert werden, um sie zum Militärdienst zu zwingen. Ich wische den Gedanken schnell wieder weg und gehe im Kopf noch einmal die Argumente durch, die ich in wenigen Minuten vorbringen muss.
Endlich biegt der Streifenwagen in die Einfahrt der Kaserne ein. Über dem Tor kann ich die Aufschrift Pionierbataillon 1 erkennen. Ein Soldat mit Gewehr öffnet den Schranken und lässt uns passieren. Wir fahren über den Kasernenhof und halten vor einem niedrigen Gebäude. Der Fahrer öffnet meine Tür und ich steige aus. Soldaten in meinem Alter marschieren an uns vorbei und starren mich und meine Reisetasche blöd an.
Meine Begleiter führen mich in ein Büro, das den Charme einer typischen Amtsstube der Siebzigerjahre versprüht. Hinter dem hell furnierten Schreibtisch sitzt ein Offizier in den Fünfzigern mit gedrungenem Körperbau und einer unmilitärischen Halbglatze. Die Polizisten erstatten dem Kommandanten Meldung und verabschieden sich. Ich bleibe vor dem Schreibtisch stehen wie ein Schuljunge, der eine Rüge von seinem Lehrer zu erwarten hat. Der Kommandant mustert mich mit strengem Blick, und ich versuche selbstsicher zu wirken.
»Wehrmann Birnstingl«, sagt er in einem übertrieben militärischen Ton. »Warum sind sie gestern nicht zum Einberufungstermin erschienen?«
»Ich bin Zeuge Jehovas. Meine religiöse Überzeugung erlaubt es mir nicht, den Dienst an der Waffe zu leisten«, antworte ich und hoffe, dass er das Zittern in meiner Stimme nicht bemerkt.
»Sie sind seit gestern Grundwehrdiener hier beim ersten Pionierbataillon. Sie werden jetzt ihre Uniform ausfassen und den Dienst antreten«, versucht er in einem aufgesetzt strengen Ton zu befehlen.
»Nein, das kann ich nicht machen«, antworte ich. »In Jesaja, Kapitel zwei, Vers vier, gebietet uns Gott, die Schwerter zu Pflugscharen zu schmieden und den Krieg nicht mehr zu lernen.«
»Das heißt, sie verweigern den Dienst an der Waffe?«
»Ja.«
»Und sie wissen, dass das eine Straftat ist?«
»Ja.«
»Ist ihnen das egal?«
»Nein. Wir achten die Obrigkeit und die Gesetze. Aber in dem Fall muss ich Gott mehr gehorchen als den Menschen.«
»Sie haben aber auch keine Zivildiensterklärung abgegeben.«
»Nein, den Zivildienst lehnen wir ebenfalls ab, weil er laut Gesetz ein Teil der Umfassenden Landesverteidigung ist.«
»Gut, dann kann ich nichts mehr machen«, sagt der Kommandant und steht auf.
Ich merke, dass der Mann mit der Situation völlig überfordert ist. Dass sich jemand seinem Befehl widersetzt und er nichts dagegen tun kann, hat er anscheinend noch nie erlebt. Der Kommandant befiehlt mir zu warten und verlässt den Raum. Ich schaue durch das vergitterte Fenster auf die Straße. Draußen blühen die Bäume und es riecht nach frisch gemähtem Gras. Ein wunderschöner Sommer kündigt sich an. Ich höre, wie der Kommandant im Nebenzimmer aufgeregt mit jemandem telefoniert, und ich frage mich, ob er mich vielleicht einfach gehen lässt.
Nach einer gefühlten Stunde kommt er endlich zurück. Er sagt, dass er mit der Staatsanwaltschaft telefoniert hat und dass ich jetzt festgenommen bin und unter Arrest stehe. Ich kann nichts sagen, mein Magen spielt verrückt. Es fühlt sich an, als würde ihn jemand mit Elektroschocks bearbeiten. Der Kommandant hebt den Telefonhörer ab, wählt eine kurze Nummer und beordert jemanden in sein Büro. Kurz darauf holen mich zwei Soldaten ab und führen mich über den Hof zu einem Gebäude direkt neben dem Schranken.
Die kleine Stube scheint so etwas wie das Büro für die Wache zu sein. Ein Mann muss an der Schranke stehen, der zweite sieht ihm durch ein großes, vergittertes Fenster dabei zu. Ich muss meinen Gürtel und meine Schuhbänder abgeben. Der Bürosoldat öffnet eine Metalltür und sperrt mich in die Arrestzelle, die direkt an das Wachzimmer angrenzt.
Der fensterlose Raum wird nur durch eine vergitterte Neonröhre beleuchtet. Nachdem sich meine Augen an das schummrige Halbdunkel gewöhnt haben, sehe ich mich um. Ein Metallbett, ein Tisch, ein Sessel, im hinteren Teil eine Tür zu einer kleinen Toilette. Ich habe keine Ahnung, was ich hier machen soll, also setze ich mich aufs Bett, schließe die Augen, senke mein Haupt und bete.
»Herr Jehova, bitte gib mir die Kraft, damit ich diese Prüfung durchstehen kann. Bitte gib den Zuständigen beim Bundesheer die Einsicht, dass ich für meinen Glauben nicht ins Gefängnis muss. Bitte leg mir auch die richtigen Worte in den Mund, damit ich sie überzeugen kann, deinen Willen zu respektieren. Nur mit deiner Hilfe kann ich jetzt standhaft bleiben. Ich bringe diese Bitte dar, durch deinen Sohn Jesus Christus, amen.«
Als meine Mutter zur Wahrheit gekommen ist, war ich ein Jahr alt. Sie war damals alleinerziehend, hatte finanzielle Probleme und war dankbar für die Hilfe, die ihr von den Zeugen Jehovas angeboten wurde. Die freundlichen Brüder und Schwestern aus der Versammlung haben einen Job für sie organisiert, eine Wohnung für uns gefunden und mich mit Spielsachen und Süßigkeiten versorgt. Ich habe schon als Kind gelernt, auf Gott zu vertrauen, ihn bei Problemen um Hilfe zu bitten und alles zu tun, was er von mir verlangt. Das vertrauensvolle Gebet zu Jehova hat mich durch die Schulzeit gebracht, wenn ich wieder Mal vor der ganzen Klasse erklären musste, warum ich den Heiligen Nikolaus nicht zeichne, warum ich keine Geburtstage feiere oder warum ich nicht zum Skikurs mitkomme. Ich habe gelernt, meinen Standpunkt vor den Weltlichen zu vertreten. Und jetzt ist es wieder einmal so weit. Nur dass es diesmal um mehr geht als die Ablehnung oder den Spott der Mitschüler. Diesmal geht es um eine Straftat, für die ich eine Gefängnisstrafe kassieren könnte. Und das findet mein Magen gar nicht gut.
Schon einige Wochen vor meinem Einberufungstermin haben die Ältesten aus meiner Versammlung einen Glaubensbruder aus Wien kontaktiert, der als Rechtsanwalt die Interessen der Zeugen Jehovas in Österreich vertritt. Gemeinsam haben sie mich so gut es geht auf diese Situation vorbereitet. Da ich seit dem Dritten Reich wahrscheinlich einer der ersten Zeugen in Österreich bin, der den Wehrdienst verweigert, kann niemand sagen, was mich in nächster Zeit erwartet. Ich bin sowas wie ein Vorreiter, ein Wegbereiter. Das macht mich ein wenig stolz, beunruhigt mich aber gleichzeitig viel mehr.
Ich ziehe meine dicke, schwarze Neue-Welt-Übersetzung der Heiligen Schrift aus der Reisetasche und versuche ein paar Bibeltexte über andere Märtyrer zu lesen, bin aber viel zu aufgeregt. Also laufe ich in der Zelle auf und ab, lege mich aufs Bett, starre an die Decke. Da ich keine Armbanduhr trage, habe ich schnell jegliches Zeitgefühl verloren. Ich weiß nur, dass die Zeit unendlich langsam vergeht, und die Unsicherheit trägt ihren grausamen Teil zu dieser Folter bei.
Irgendwann bringt mir der Wachsoldat etwas zu essen. Es gibt Frankfurter Würstel mit Semmel und Senf, dazu Mineralwasser in der Plastikflasche. Wahrscheinlich geben sie mir keine Glasflasche, weil ich mir mit den Scherben die Pulsadern aufschneiden könnte.
Ich schätze, es ist später Nachmittag, als mich der Wachsoldat endlich aus der Zelle holt. Ein Offizier, der in der Wachstube scheinbar das Sagen hat, erklärt mir, dass ich jetzt nach Klagenfurt in die Justizanstalt überstellt werde. Sein Untergebener händigt mir Gürtel und Schuhbänder aus. Durch das vergitterte Fenster sehe ich die beiden Militärpolizisten, die sich vor der Tür lachend unterhalten.
Ich sitze wieder im Streifenwagen und schaue aus dem Fenster. Die türkis-blaue Wasseroberfläche des Wörthersees glitzert mir entgegen. Meine Freunde sitzen jetzt wahrscheinlich im Strandbad und haben schon das dritte Bier intus. Ich hätte große Lust, aus dem Auto zu springen und hinunter zum See zu laufen. Schon jetzt möchte ich aus dieser Gefangenschaft fliehen, obwohl sie gerade erst begonnen hat. »Ich hab es mir anders überlegt. Ich mach den Wehrdienst«, könnte ich jetzt noch zu den Militärpolizisten sagen. Noch ist es nicht zu spät. Ich denke an die Konsequenzen und fühle mich in dem Streifenwagen plötzlich furchtbar allein.
Die Militärstreife hält vor dem Eingang der Justizanstalt. Das Bauwerk in der Innenstadt wirkt wie ein Fremdkörper, der an das Gebäude des Landesgerichts angedockt hat. Hunderte Male bin ich schon an dem großen Stahltor vorbeigegangen und jedes Mal hatte es etwas Unheimliches an sich. So, als könnte sich das Tor wie ein großes Maul plötzlich öffnen und mich verschlingen. Jetzt tut es das tatsächlich. Mit einem unsympathischen Schnarren öffnet sich das Tor und ich betrete zum ersten Mal in meinem Leben ein Gefängnis.
»Tatsächlich werden alle, die in Gemeinschaft mit Christus Jesus in Gottergebenheit leben wollen, auch verfolgt werden.«
2. Timotheus 3:12
KAPITEL 2 Glaubensprüfung
Grau, Beige und Kotzgrün. Das ist der Farbeindruck, der mich im Eingangsbereich der Justizanstalt empfängt. Hinter einem Tresen sitzen zwei Justizwachebeamte, die mich ansehen, als würde ich einer seltenen Spezies angehören. So einen wie mich haben die hier wahrscheinlich noch nie gesehen. Ich hoffe, dass sie mich hier gar nicht erst einchecken lassen. Der Militärpolizist unterschreibt ein Dokument. Einer der Justizwachebeamten steht auf und kommt hinter dem Tresen hervor. Er hat ein rundes Gesicht, freundliche Augen und eine Figur, die an eine Bierflasche erinnert.
»Da entlang«, sagt er und zeigt mit der Hand auf einen grauen Gang, der vom Empfangsbereich wegführt.
So wie es aussieht, muss ich wohl doch hierbleiben. Während wir den Gang entlanggehen, fragt mich mein Begleiter, was ich angestellt habe.
»Ich hab den Wehrdienst verweigert«, antworte ich bereitwillig.
»Warum denn?«, will er wissen.
»Ich bin Zeuge Jehovas. Unsere Religion erlaubt das nicht.«
»Und deswegen kommst du zu uns?«
»Anscheinend«, sage ich und das Lachen bleibt mir im Hals stecken.
Wir erreichen einen weiteren Tresen, hinter dem ein anderer Beamter wartet. Der nimmt meine Daten auf und trägt sie in ein Formular ein. Dann muss ich meine Hosentaschen leeren und den Inhalt auf den Tresen legen. Der Beamte vermerkt die Brieftasche und die Schlüssel auf dem Formular und lässt die Wertsachen in einem Plastikbeutel verschwinden.
»Sie bekommen die Sachen bei der Entlassung wieder ausgehändigt«, sagt er und ich nicke.
Ich erwarte, dass ich mich jetzt ausziehen muss und dass man mir mit einer Taschenlampe in den Arsch leuchten wird. Wie man es in Filmen eben so sieht. Stattdessen öffnet der Justizwachebeamte meine Reisetasche und kramt in meinen Sachen herum. Er findet meine Bibel, religiöse Bücher, Unterhosen, meinen Kulturbeutel, und scheint mit dem Ergebnis der Durchsuchung zufrieden zu sein.
»Passt. Gemma«, sagt mein bierflaschenförmiger Begleiter und führt mich zu einer Tür, die er gekonnt mit einem von den zahlreichen Schlüsseln an seinem Hosenbund öffnet.
Eine Stiege, wieder ein grauer Gang, noch eine Tür. In diesem Labyrinth von Gängen habe ich bereits jetzt völlig die Orientierung verloren. Selbst wenn ich meinem Bewacher die Schlüssel irgendwie abnehmen könnte, wäre ein Ausbruch sinnlos. Ich würde den Weg nach draußen nicht finden. Irgendwann erreichen wir einen Gang, dessen graue Wand auf einer Seite von zahlreichen Metalltüren unterbrochen ist. Der Beamte steuert auf eine der Türen zu, schließt auf und bleibt vor der geöffneten Zelle stehen.
»Ich hab da einen Neuzugang für dich«, sagt er zu jemandem im Raum und ich stelle mir vor, dass da drinnen ein fetter, schwitzender Knastbruder mit Tätowierungen am ganzen Körper auf mich wartet. Dementsprechend zaghaft betrete ich den Haftraum.
Meine lebhafte Vorstellungskraft spielt mir oft Streiche. Unbekannte Orte male ich mir im Kopf in beängstigender Realität aus, und schwierige Situationen spiele ich vorher im Monolog mit mir selber durch. Auch die Gefängniszelle habe ich immer wieder vor meinem geistigen Auge gesehen, natürlich beeinflusst von Filmen, Medienberichten und Erzählungen. Jetzt stehe ich in der Zelle und alles ist ganz anders.
Der Raum ist klein, er hat keine zwanzig Quadratmeter. Es gibt ein vergittertes Fenster, links und rechts davon steht an der Wand jeweils ein Metallbett. Die kleine Fläche dazwischen teilt sich ein einfacher Holztisch mit zwei Stühlen. Rechts neben der Zellentür führt eine weitere Tür zu einer kleinen Toilette, links davon stehen zwei Metallspinde. Auf einem der Stühle sitzt ein Mann um die sechzig, der aussieht wie ein Bankdirektor, der hier Urlaub macht. Sein graues Haar ist ordentlich gekämmt, er trägt Markenjeans, ein hochwertiges Hemd und eine teuer aussehende Armbanduhr.
Hinter mir landet die Zellentür krachend im Schloss. Der massive Riegel rastet geräuschvoll ein und das metallische Klicken des Schlüssels lässt keinen Zweifel an seiner Wirksamkeit. Ich gehe zum Bankdirektor und reiche ihm die Hand.
»Hallo, ich bin der Walter«, sage ich mit dem größtmöglichen Selbstbewusstsein, das ich derzeit finden kann.
»Heinz«, antwortet der Bankdirektor und wir schütteln uns die Hände.
Ich sehe mich etwas hilflos in der Zelle um. Heinz weist mir das linke Bett und einen freien Spind zu. Ich staple die Wäsche aus meiner Reisetasche in den Spind und setze mich auf das Metallbett, das ein quietschendes Seufzen von sich gibt. Heinz will von mir wissen, warum ich hier bin. Ich bete meinen eingeübten Absatz herunter und Heinz meint, dass ich gar nicht hier sein dürfte, weil es in Österreich doch die Religionsfreiheit gibt. Ich erkläre ihm, dass es bis jetzt eine stillschweigende Vereinbarung zwischen dem Verteidigungsministerium und den Zeugen Jehovas gab, die verhinderte, dass junge Männer zum Wehrdienst einberufen wurden. Im Vorjahr behauptete das Ministerium plötzlich, dass es eine solche Vereinbarung nie gegeben hat und verschickte Einberufungsbefehle an die wehrpflichtigen Zeugen. Mich hat es auch erwischt. Heinz schüttelt den Kopf.
»Aber die müssen euch doch dann sowas wie Zivildienst machen lassen«, schlussfolgert Heinz grundsätzlich richtig.
»Das geht auch nicht«, entgegne ich. »Laut Gesetz ist der Zivildienst Teil der Umfassenden Landesverteidigung. Und das machen wir auch nicht.«
»Was hat die Arbeit in einem Altenheim oder bei der Rettung mit der Landesverteidigung zu tun?«
»Es steht im Gesetz, dass es Teil der Landesverteidigung ist. Und das können wir nicht machen.«
»Wie auch immer, du gehörst da nicht herein. So wie ich. Ich sitz auch schon fast ein Jahr da herinnen und hab nichts gemacht.«
»Wegen was bist du da?«, frage ich freimütig und merke im selben Moment, dass diese Frage für einen Neuling wie mich vielleicht nicht angebracht ist.
»Ein Bänker hat mich reingelegt«, antwortet Heinz knapp und widmet sich wieder seinem Sudoku-Rätsel auf dem Tisch. Ich frage nicht weiter nach und hole die letzte Ausgabe des Wachtturm aus dem Spind, setze mich aufs Bett und versuche zu lesen.
»Was liest du da?«, fragt Heinz und versucht, mit zusammengekniffenen Augen den Titel zu erkennen.
»Den Wachtturm.«
»Was ist das?«
»Eine Zeitschrift, die von unserer Organisation jeden Monat herausgegeben wird.«
»Ist das die, mit der ihr immer auf der Straße herumsteht?«
»Ja, genau.«
Heinz nickt wissend und schreibt eine Zahl in ein leeres Rätselfeld. Eigentlich sollte ich ihm jetzt einen Wachtturm anbieten, aber ich denke, dafür ist es noch zu früh.
Irgendwann steht Heinz auf, füllt eine Blechtasse mit Wasser und steckt einen spiralförmigen Tauchsieder in das Gefäß. Nach wenigen Minuten steigt leichter Dampf auf. Er rührt einige Löffel Instant-Kaffeepulver ins heiße Wasser und fragt mich, ob ich auch einen Kaffee will. Ich nehme das Angebot dankend an und sehe mich in der Zelle nach einer Tasse um. Heinz informiert mich, dass mein Geschirr oben im Spind stehen müsste. Ich hole meine persönliche Tasse, fülle sie mit Wasser und nehme den Tauchsieder entgegen. Das desolate Gerät sieht so aus, als würde es jederzeit einen Stromschlag ins Wasser und über die Metalltasse in meinen Körper abgeben wollen. Doch die Sehnsucht nach Kaffee besiegt die Furcht und nach kurzem Zögern tauche ich die Metallspirale in die gefährliche Flüssigkeit.
Als wir am Tisch sitzen und das fürchterliche Gebräu trinken, will Heinz wissen, wo ich herkomme. Ich erzähle, dass ich in der Steiermark geboren wurde und als Neunjähriger mit meiner Mutter nach Kärnten gekommen bin. Ich erzähle auch, dass mein Vater in Deutschland lebt und ich ihn noch nie persönlich kennengelernt habe. Im Gegenzug erfahre ich von Heinz, dass er bis zu seiner Festnahme einen erfolgreichen Autohandel betrieben hat, dass er geschieden ist und seine Kinder den Kontakt zu ihm abgebrochen haben. Außerdem scheint er einen ziemlich kostspieligen Lebensstil gepflegt zu haben.