Der Plan zur Rettung der Welt - Nick Fuller Googins - E-Book

Der Plan zur Rettung der Welt E-Book

Nick Fuller Googins

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Beschreibung

Nach gewaltigen Katastrophen ist die Menschheit seit 15 Jahren klimaneutral. Der Weg dahin war hart: zahllose Tierarten sind ausgestorben, die menschlichen Opfer gehen in die Millionen. Emi kennt diese Zeit nur aus den Erzählungen ihrer Eltern, die als freiwillige Helfer Übermenschliches geleistet haben. Als bei den großen Paraden zu ihren Ehren auf der ganzen Welt Bombenattentate auf Politiker verübt werden, kommen Emi und ihr Vater Larch nur knapp mit dem Leben davon. Kurz darauf steht die Polizei vor ihrer Tür: Emis Mutter Kristina soll für den Anschlag verantwortlich sein. Emi und Larch machen sich auf die Suche nach ihr – eine Reise, die sie von Grönland nach New York und weiter über eine neue, fremde, grüne Welt führen wird …

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DASBUCH

Nach gewaltigen Katastrophen ist die Menschheit seit fünfzehn Jahren klimaneutral. Der Weg dahin war hart: zahllose Tierarten sind ausgestorben, die menschlichen Opfer gehen in die Millionen. Die junge Emi kennt diese Zeit nur aus den Erzählungen ihrer Eltern, die als freiwillige Helfer Übermenschliches geleistet haben. Zusammen mit Tausenden Freiwilligen schlugen sie Feuerschneisen in Waldbrandgebieten, rissen ganze Stadtviertel in New York ab, um den größten Damm aller Zeiten zu bauen, und suchten in den untergegangenen Städten nach Überlebenden und Toten. Als bei den großen Paraden zu ihren Ehren auf der ganzen Welt Bombenattentate auf Politiker verübt werden, kommen Emi und ihr Vater Larch nur knapp mit dem Leben davon. Kurz darauf steht die Polizei vor ihrer Tür: Emis Mutter Kristina soll für den Anschlag verantwortlich sein. Angeblich gehört sie einer Terrorzelle an, die die Politiker, Ölbarone und Konzernchefs, die den Klimawandel durch ihre Profitgier nicht verhindert haben, zur Rechenschaft ziehen will. Emi und Larch machen sich auf die Suche nach Kristina – und auf eine Reise, die sie von Grönland nach New York durch eine neue, fremde, grüne Welt führen wird …

DERAUTOR

Nick Fuller Googins studierte kreatives Schreiben an der Rutgers University in New Jersey und erhielt ein Stipendium für den International Retreat for Writers in Hawthornden Castle, in dem es ganz bestimmt nicht spukt. Er veröffentlichte Kurzgeschichten in Zeitschriften wie The Paris Review, The Sun, The Los Angeles Times und The Southern Review, ehe er seinen ersten Roman Der Plan zur Rettung der Welt publizierte. Wenn er nicht schreibt, unterrichtet er Viertklässler oder bereitet neue Abenteuer für seine Dungeons-&-Dragons-Gruppe vor.

Mehr über Nick Fuller Googins und seine Werke erfahren Sie auf:

www.diezukunft.de

NICK FULLER GOOGINS

DER PLAN ZUR RETTUNG DER WELT

Roman

Aus dem Amerikanischen von Thomas Salter

Titel der Originalausgabe: THEGREATTRANSITION

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstausgabe 03/2024

Redaktion: Tamara Rapp

Copyright © 2023 by Nicholas Fuller Googins

Copyright © 2024 dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,

unter Verwendung des Originalmotivs

von Danielle Mazella Di Bosco. Fotografie von PLOMP.

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30326-6V001

www.diezukunft.de

Für Ella, Adela, Dario, Henry, Athena, Noah, Willow, Nirona, Hunter, Felix, Leon, Blair, Samaya, Isaiah, Solomon, Eli, Liam, Kleio, Sydney, Sabine und all die anderen strahlenden Zukünfte, die da draußen noch warten.

Musst den Deinen, die das Grab deckt, Du den Deinen hienieden erfüllen Der Liebe grambittern Hass! Führe so drinnen aus dein blutig Amt, Den Mord der Mordesschuldigen!

– AISCHYLOSDIEGRABESSPENDERINNEN (458 V. CHR.)

Wir erwarten hier auf dieser Erde keine Utopie. Aber Gott hatte sich die Dinge viel einfacher vorgestellt, als wir sie uns gemacht haben.

– DOROTHYDAYONPILGRIMAGE (1948)

Um aus der Asche aufzuerstehen Muss der Phönix Zuerst Brennen.

– OCTAVIA E. BUTLERDIEPARABELVOMSÄMANN (1993)

EMI

Damals gab es an meiner Schule diesen irren Hype um Retromusik, angefangen hatte es am Tag der Kooperativen mit einer Band namens U2. An diesem Tag halten die ganzen großen Kooperativen in der Aula Präsentationen, mit denen sie dich überreden wollen, dass du dich bei ihnen bewirbst. PepsiCo war da und Alibaba und CareCorps (für Junioren und Senioren) und Uniqlo und die Öffentliche Sicherheit und MemeFeed und noch tonnenweise andere. An sich gar nicht so schrecklich, außer dass es an einem Sonntag ist. Und verpflichtend. Immerhin blieben mir so die Gartenstunden mit meiner Mom erspart, trotzdem war ich nicht gerade begeistert, am Wochenende in die Schule zu müssen. Aber dann hackte Maddie Choi während der ersten Präsentation das Schul-Netzwerk – die Kooperative zur Kohlendioxid-Sequestrierung war gerade auf der Bühne – und ließ einen Song namens »Bloody Sunday« durchs ganze Schulgebäude dröhnen. Es war zum Totlachen. Maddie Choi wurde an dem Tag unsere Heldin – wegen des Streichs und weil sie uns so auf U2 brachte. Ich weiß noch, wie ich in der Aula saß und lachte, aber plötzlich mit den anderen verstummte, weil wir alle dachten: Wie kann es sein, dass wir noch nie so gute Musik gehört haben?

Von einem Tag auf den nächsten waren alle total besessen von U2. Beim Mittagessen in der Kantine bildete sich eine Front quer durch den Raum, wie auf einem Schlachtfeld: Entweder hast du mit deinem Essen auf dieser Seite der Kantine gesessen, weil The Joshua Tree das beste Album aller Zeiten war. Oder du warst da drüben, wo man Unforgettable Fire dafür hielt. Mein Basketballteam wärmte sich vor Spielen zu »Beautiful Day« auf. Die einzigen Oldies, die ich davor kannte, waren Dolly Parton und Taylor Swift und Valerie June, weil mein Dad mir mal erzählt hatte, meine Großmutter hätte die gehört. Aber ab diesem Sonntag war ich plötzlich wie besessen, wie alle anderen. Bloß dass für alle anderen die Oldies ein Hype waren, der endete, wie alle Hypes es irgendwann tun. Für mich ging’s stattdessen weiter und weiter und weiter.

Heute könnte ich willkürlich irgendein Jahr vor der Großen Krise rauspicken und dir sofort für jede Weltregion die Top Hits aufzählen. Ich hab sie mir alle gemerkt. Ich liebe Oldies. Musik von vor der Krise klingt einfach anders. Besser. Echter. Damals gab es noch riesige Probleme. Die Band U2 war zum Beispiel aus Irland, das damals von England quasi schon seit Hunderten von Jahren als Kolonie unterdrückt wurde. Es gab Armut und Pandemien, und höchstens tausend Leuten gehörte quasi alles auf dem Planeten. Niemand hatte auch nur einen blassen Schimmer, was da auf sie zukam. Jedenfalls nicht so richtig. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie sich das angefühlt haben muss. Manchmal versuch ich es. Ich tu so, als wäre es 1980 oder 2010 oder 1963, und alle denken: Alles ist super und wird für immer super sein. Oder sie denken es nicht mal wirklich – sie gehen ganz selbstverständlich davon aus. Vielleicht liebe ich Oldies deswegen so. Ich kann mir einfach meine Kopfhörer auf die Ohren schieben und Madonna oder Beyoncé oder Prince aufdrehen und so tun, als würde nie wieder was richtig Schlimmes passieren.

ERSTER TEIL

1  EMI

Am Tag bevor meine Mutter zu ihrem Extraktionsdienst abreist, ist sie irgendwie nicht sie selbst. Sie weckt mich nicht wie sonst früh auf. Sie zwingt mich nicht, mit ihr eine Joggingrunde stadtaufwärts zu laufen. Stattdessen macht sie mir Frühstück. Ich kann schon riechen, was es ist, bevor ich es sehe: Eiertacos, Süßkartoffelpuffer, warme Zimtmilch mit Honig. Sie hat ihren Bildschirm auf der Arbeitsfläche stehen und streamt irgend so einen modernen Song, glatt poliert und gut gelaunt und schrecklich. Mit einem Lächeln sagt sie, nein singt sie Guten Morgen! und zieht uns die Stühle raus, damit wir uns hinsetzen.

Mein Dad und ich werfen uns Blicke zu, so nach dem Motto: Wer ist diese Frau?

Mein Dad ist normalerweise der, der Frühstück macht. Und Mittagessen und Abendessen. So war es schon immer. Er arbeitet als Ernährungsberater für Nuuks Basketballteam Tundra, und er ist gut in seinem Job, auch wenn ich nicht alles esse, was er kocht. Normalerweise, wenn ich was nicht runterbekomme, sagt meine Mom, dass ich verwöhnt bin oder mäkelig oder undankbar. Oder sie wirft mir vor, ich wäre absichtlich kompliziert. Aber das stimmt nicht. Manchmal möchte ich einfach nicht essen. Und manchmal kann ich nicht. Selbst wenn sie sagt, ich muss nur so und so viele Bissen schaffen, als wäre ich ein kleines Kind. Sie fragt dann, ob ich mir überhaupt bewusst bin, wie viel Glück ich habe, dass ich nicht mal weiß, was echter Hunger ist. Sie wird sauer. Ein kleiner Funken, und sie explodiert. Da ist sie sehr vorhersehbar.

Weitere Funken, die Mom zum Explodieren bringen:

Sag ihr, du willst eine Katze.

Sag ihr, du willst deinen eigenen Bildschirm.

Sag ihr, du hasst es, früh aufzustehen.

Sag ihr, du wünschst dir, du würdest irgendwo leben, wo es nicht so voll ist wie in Nuuk.

Sag ihr, Schule ist stressig.

Sag ihr, Sonntage sind nicht dafür gedacht, Kompost im Plaza-Garten zu sieben.

Sag ihr, du hast Angst, an deinem Essen zu ersticken.

Sag ihr, du hast Angst. Egal vor was.

Aber am Tag bevor sie zu ihrem Extraktionsdienst abreist, prallen alle Funken einfach an ihr ab. Sie explodiert nicht. Als ich einen Schluck Milch nehme und meinen Teller wegschiebe, lächelt sie nur und sagt: Vielleicht später.

Ich schaue meinen Dad an, während sie meine Tacos in den Kompost schabt.

Er zuckt mit den Schultern, so: Mir soll’s recht sein.

Und diese seltsame Stimmung meiner Mom, die geht auch nach dem Frühstück weiter. Normalerweise bringen mein Dad und ich den Kompost in den Garten und dann begleitet er mich zur Schule. Aber heute will sie mich zur Schule bringen. Sie besteht drauf. Bloß statt zur Schule zu gehen, nachdem wir den Kompost weggekippt haben, bleibt sie in der Mitte der Norsaq Plaza stehen und fasst mir an den Arm, damit auch ich stehen bleibe. Die Menschen strömen an uns vorbei. Eine Gruppe Arbeitende packt gerade Kisten mit Werkzeugen aus. Sie bauen auf unserer Plaza schon eine ganze Weile eine Bühne auf, für den Tag Null. Neben der Bühne stellt die McDonald’s-Kooperative so einen riesigen Fresspavillon hin. Am Landkratzer hinter dem Pavillon hängt ein Banner und räkelt sich im Wind, sanfte Wellen wandern den Stoff aufwärts, von GEMEINSAMWIEDERAUFBAUEN! am unteren Ende, hoch zu 16 JAHREUNDDARÜBERHINAUS! am oberen Ende. Ich bin tausendprozentig sicher, meine Mom wird sich gleich über die Slogans lustig machen – das liebt sie – und mir eine Rede darüber halten, dass der Feiertag nur eine Ausrede für Erwachsene ist, sich zu verkleiden und Müll zu fressen und sich zu besaufen. Aber tatsächlich ist das nicht der Grund, warum sie stehen geblieben ist. Sie erwähnt den Tag Null noch nicht mal. Stattdessen nickt sie in Richtung der Rambla, die stadtaufwärts führt, und schlägt vor, dass wir spazieren gehen.

Wohin?, frage ich.

Keine Ahnung. Zum Gipfel-Park?

Ich kann nicht einfach Schule schwänzen, Mom.

Wer redet von Schwänzen? Du kommst höchstens ein bisschen zu spät. Es ist der letzte Tag vor den Ferien. Ich reise morgen ab. Deine Lehrer werden es verstehen. Komm schon. Wir machen ein Picknick. Holen wir uns Mittagessen.

Ich hab gerade gefrühstückt.

Und nichts gegessen.

Ich hab keinen Hunger.

Du kriegst einen Smoothie.

Ich hab gesagt, ich hab keinen Hunger.

Meinetwegen, wir müssen ja nichts essen, Emiliana. Wir können einfach spazieren und quatschen.

Erst als ich später im Geschichtsunterricht sitze und Mrs. Helmandi sagt, dass nach den Ferien die Entwürfe für unser Projekt zum Großen Übergang fällig sind, begreife ich so richtig, warum ich nicht mit meiner Mom picknicken wollte.

Erstens: Worüber hätten wir bitte quatschen sollen?

Zweitens: Ich weiß genau, was hier abgeht. Sie hasst diesen Feiertag, hat aber trotzdem ein schlechtes Gewissen, weil sie uns allein lässt.

Sie und mein Dad haben seit Tagen deswegen gestritten. Das war an sich nicht ungewöhnlich. Die Lautstärke allerdings schon. Mir egal. Sie ist ständig von zu Hause weg, um Extraktionsdienst zu machen. Neun oder zehn Mal im Jahr. Und wir feiern den Tag Null eh nicht. Meine Mom erlaubt es nicht.

Ja, wir haben die Erderwärmung verlangsamt, erklärt sie dann immer. Den Untergang verhindert. Aber bei allem, was wir verloren haben, sollten wir eine Beerdigung schmeißen, keine Party. Wir sollten trauern. Organisieren. Doppelt so hart daran arbeiten, dass so was nie wieder passiert.

Also machen wir in der Feiertagswoche normalerweise genau das. Buchstäblich. Wir arbeiten. In den meisten Jahren leistet meine Mom Freiwilligendienst auf den Geothermiefarmen. Hört sich schlimmer an, als es ist. Man muss nach Osten fliegen, um da hinzukommen, und Grönland sieht von einem Zeppelinfenster aus irre hübsch aus. Die Farmen liegen am Meer, mit tonnenweise heißen Quellen und Saunas. Nach deiner Schicht kannst du einfach im heißen Wasser entspannen und den Wellen zuschauen. Letztes Jahr haben wir eine Orca-Familie gesehen. Aber dieses Jahr ist anders. Dieses Jahr teilen wir uns auf. Sie fährt zu ihrem Extraktionsdienst, mein Dad bleibt zu Hause, ich gehe mit meinem Basketballteam Ski fahren.

Oder genauer gesagt: Ich soll Ski fahren gehen. Das Problem ist: Ich stell mir ständig vor, wie ich auf der Skihütte Hunger krieg und es keine Suppe gibt, keine Smoothies, nichts, was leicht zu schlucken ist. Und statt mir zu helfen wie ein echtes Team, lachen die anderen Mädchen einfach, als sich mir die Kehle zuschnürt und ich ersticke, Hunderte Kilometer von zu Hause entfernt. Also habe ich beschlossen, nicht Ski fahren zu gehen. Ich hab’s meiner Mom noch nicht gesagt. Sie wird explodieren, tausend Prozent sicher. Aber diesen Funken hebe ich mir für später auf. Was mich zum letzten Grund bringt, warum ich nicht Schule schwänzen und mit ihr spazieren gehen konnte, obwohl ein Teil von mir es wirklich wollte: Es fühlt sich gut an, ihr was abzuschlagen.

2  LARCH

Am TAG, BEVORKRISTINANACHNEWYORKAUFBRICHT, ist es, als wären wir als Familie zehn Jahre in die Vergangenheit gereist. Ja, man kann nicht in der Zeit zurück. Nicht über Nacht. Ist mir schon klar. Trotzdem.

Das Erste, was anders ist: Sie rüttelt Emi nicht wach, damit sie mit ihr joggen geht. Sonst ist dieser morgendliche Streit immer mein Wecker. Aber heute geht Kristina einfach alleine laufen, kommt zurück, duscht. Als Nächstes höre ich nicht wie üblich die Vordertür auf- und wieder zugehen. Kristina verlässt das Haus nicht wie sonst in Richtung des Regengartens oder der Windfelder oder der Energiespeicher-Docks. Sie bleibt zu Hause. Sagt zu mir, wehe, ich schwinge auch nur einen verdammten Fuß aus dem Bett, bevor ich Kaffee rieche. Und nach dem Frühstück besteht sie darauf, Emi zur Schule zu begleiten. Sie legt mir sanft die Hand auf die Brust. Küsst mich zum Abschied. Hört sich vielleicht nicht schrecklich aufregend an. Aber. Ihre Hand auf meinem Herz. Ihre Lippen. Als sie wieder zurückkommt, bin ich gerade dabei, den Abwasch zu machen.

Hey du, sagt sie.

Selber hey, sage ich.

Sie stellt den Komposteimer unter die Spüle. Lehnt sich gegen die Arbeitsfläche. Lächelt.

Du siehst glücklich aus, sage ich.

Ich habe Neuigkeiten.

Was du nicht sagst.

Ich halte den Atem an. Bete still, dass sie nicht beschlossen hat, wieder für den Führungsrat zu kandidieren.

Du machst heute mal blau, sagt sie.

Tu ich das?

Ja. Du schwänzt heute die Arbeit und bleibst mit mir zu Hause.

Es ist der Tag vor den Ferien, sage ich und drehe den Wasserhahn zu. Kommt schlecht an, wenn ich da schwänze.

Ich mach’s auch.

Für dich ist es einfach, du verreist ja morgen.

Sie gleitet hinter mich. Wickelt die Arme um meine Hüfte.

Komm schon. Bitte.

Ich mustere den Schwamm in meiner Hand. Den Spülmittelschaum. Ihre Hände.

Überzeug mich, sage ich.

Wir holen Sachen nach. Haben Spaß. Feiern uns.

Ich schrubbe weiter den Pfannenwender. Kristina lehnt den Kopf an meinen Rücken. Ich spüre ihren heißen Atem durch den Stoff meines Hemdes. Versuche mich zu entspannen, als wäre das eine ganz alltägliche Szene in unserer Ehe. Aber das ist es nicht. Darauf könnte ich Kristina aufmerksam machen. Könnte ihre verschränkten Hände lösen und sagen, dass es nicht fair ist, einfach eine Seite in unserer Geschichte zurückzublättern. Und das unmittelbar bevor sie aufbricht. Nicht fair mir gegenüber. Nicht fair Emi gegenüber.

Aber andererseits, wenn du gerade einen sanften, warmen Traum träumst: warum riskieren aufzuwachen?

In Ordnung, sage ich, spüle den Pfannenwender mit klarem Wasser ab und lege ihn weg. Feiern wir uns.

3  EMI

Nach der Schule habe ich Basketball. Nach dem Basketball habe ich CareCorps. CareCorps ist der Laden, wo ich meine Pflichtstunden ableiste, indem ich mit Knirpsen spiele und diese Knirpse sanft säuselnd dazu überrede, ihr Mittagsschläfchen zu machen. Heute zeige ich ihnen eine Band namens ABBA und ein Spiel namens Zombiefangen. Wir tanzen, fressen gegenseitig unsere Hirne auf, und nachdem die letzten Eltern ihre Kinder abgeholt haben, spaziert Maru mit mir nach Hause. Maru ist meine Nachbarin. Sie wohnt unter uns. Sie ist eine der leitenden Betreuerinnen bei CareCorps und unglaublich gut mit kleinen Kindern.

Wie war Basketball heute?, fragt sie, als wir die Lichter löschen.

Ganz okay. Wir haben ein Testspiel gemacht.

Testspiel heißt, du spielst gegen deine Freunde?

Freunde würde ich sie eigentlich nicht nennen.

Ihr Pech.

Yeah.

Wir verlassen das Gebäude und gehen die Rambla stadtaufwärts, dann fragt Maru: Vor einem Spiel, wenn du zu jedem Lied der Welt auflaufen könntest – welches Lied würdest du dir aussuchen?

Nirvana, antworte ich. »Smells Like Teen Spirit«.

Kenn ich das?, fragt sie.

Ich synchronisiere meine Kopfhörer. Sie schiebt sie sich auf die Ohren. Runzelt die Stirn. Lächelt. Gibt sie mir zurück und sagt: Das Fantastische an Musik ist, dass es was für jeden Geschmack gibt.

Ich muss lachen.

Maru kümmert sich um Kinder, hat aber keine eigenen. Nur eine Katze, Alice. Man könnte meinen, jemand, der allein mit seiner Katze lebt, ist sicher schüchtern. Aber nicht Maru. Ich hab sie für mein Projekt zum Großen Übergang interviewt. Sie hat sieben Touren mit dem Rückbau Corps hinter sich. Mein Vater sagt, das waren die schlimmsten Einsätze, wegen der ganzen Leichen. Es war leicht, Maru zu interviewen. Leichter als bei meinen Eltern. Sie redet mit mir, als wäre ich erwachsen. Stellt interessante Fragen. Über die Schule. Über Musik. Über das Leben. Wenn Maru mich heute Morgen gefragt hätte, ob ich Schule schwänzen und mit ihr stadtaufwärts spazieren will – ich glaube, ich wäre definitiv mitgegangen.

Wir sind fast an der Norsaq Plaza, als sie mich nach meinem Skitrip fragt: Schon für den Nordpol gepackt?

Ehrlich gesagt, ich fahre nicht mit.

Was ist passiert?

Fühl mich nicht danach.

Sie öffnet den Mund, als wollte sie mir Kontra geben. Dann lächelt sie: Kluges Mädchen. Kannst dir wann anders den Hintern abfrieren. Tag Null gibt’s nur einmal im Jahr. Du wirst es hier lieben.

Wir betreten die Norsaq Plaza. Die Feiertage sind noch ein paar Tage hin, aber die Plaza ist so voll, als könnte Tag Null jede Minute losgehen. Arbeitende bauen Lautsprecheranlagen auf. Schrauben Tanzflächen zusammen. Maru und ich müssen über Verlängerungskabel, Leitungen und Lichterketten steigen, die sich klimpernd über den Boden schlängeln, um dann zwischen die Laternen gespannt zu werden. Zwei Künstler sind damit beschäftigt, ein großes Wandgemälde fertigzustellen: drei Wind-Corps-Arbeiter, die eine Turbine hochstemmen. Ein berühmtes Motiv, aber die Muralisten malen es anders als üblich, mit lauter überraschenden Farben und Linien.

Hab gehört, am Tag Null ist es hier so voll, dass man sich kaum rühren kann, sage ich.

Das ist Nuuk, Schätzchen – nenn mir einen Platz hier, der nicht voll ist.

Und besaufen sich nicht einfach alle?

Falsch. Wir besaufen uns und wir tanzen. Es ist der beste Tag des Jahres, Süße. Letztes Jahr war schon riesig, aber dieses Jahr soll es noch größer werden. Ich freu mich, dass du da bist. War auch höchste Zeit, dass du das mal mitmachst.

Dann sind wir in unserem Gebäude und stehen vor meiner Tür. Kurz denke ich, wir sind aus Versehen auf dem falschen Stockwerk gelandet: Die Tür hat zwar die richtige Nummer, aber von der anderen Seite höre ich laute Musik und Gelächter.

Klingt, als hättet ihr eure eigene Party, sagt Maru und küsst mich zum Abschied auf die Wange.

Meine Mom und mein Dad kriegen nicht mit, wie ich die Tür öffne. Sie tanzen. Meine Mutter trägt ein dunkelblaues Kleid, das ich noch nie gesehen habe. Mein Vater eine schwarze Fliege. Die Luft ist warm, wie im Trainingsraum von Tundra. Als hätten sie den ganzen Tag hier verbracht.

Hi?, sage ich und hänge meine Schlüssel an den Haken.

Emi!, jubeln sie, als wäre ich jahrelang weg gewesen.

Gott sei Dank!, brüllt meine Mutter über die Musik hinweg. Du musst übernehmen. Bitte. Dein Vater führt grauenhaft.

Es ist schwer!, lacht mein Dad.

Es ist Rumba, sagt sie. Du musst dich nur an die Schrittfolge halten. Ist nicht anders als ein Rezept.

Es ist so was vonanders als ein Rezept!

Ich sollte mich wahrscheinlich freuen, dass sie sich ausnahmsweise mal nicht streiten – und ich freu mich ja auch. Aber mir ist auch irgendwie zum Heulen zumute, obwohl gar nichts Trauriges passiert. Ich bemerke den Lippenstift meiner Mom, so purpurn wie Rote Bete. Ich bemerke dieselbe Farbe auf dem Hals meines Dads. Ich bemerke den Wein auf dem Tisch, die Flasche leer, dreckige Teller in der Spüle. Ich bemerke, dass meine Mom ihr Haar nicht wie sonst hochgesteckt hat, sondern offen trägt, sodass es ihr kaputtes Ohr und ihre vernarbte Wange verdeckt. So hübsch hab ich sie noch nie gesehen.

Komm, Emiliana. Tanz mit mir.

Sie gehört ganz dir, sagt mein Dad. Viel Glück.

Ich starre ihn an, warte auf ein Zwinkern oder ein Achselzucken – irgendein Zeichen, wie er es mir beim Frühstück gegeben hat, damit ich weiß, wir spielen einfach mit, was auch immer sie da tut. Aber er gibt mir kein Zeichen. Er lächelt nur dümmlich, was mir das Gefühl gibt, dass die zwei jetzt das Geheimnis haben. Ohne mich.

Ich bin gerade eklig, sage ich und zupfe an meinen Klamotten. Ich stinke nach kleinen Kindern und Basketball. Ich muss duschen.

Warte!, sagt meine Mom. Ich hab dir einen Smoothie gemacht. Steht im Kühlschrank.

Ich hab keinen Hunger.

Aber er ist mit Blaubeeren und Erdnussbutter. Dein Lieblingssmoothie.

Trink du ihn. Ich muss mit meinen Hausaufgaben loslegen.

Hausaufgaben über die Feiertage?, fragt mein Dad. Was haben deine Lehrer für ein Problem?

Mein Projekt zum Großen Übergang, sage ich und gehe zu meinem Zimmer. Hab ich dir doch erzählt. Macht die Hälfte meiner Endnote aus.

Sie versuchen noch ein bisschen, mich zu überreden; ich soll bleiben und tanzen. Aber glaub mir: Ich habe sie schon entschlossener argumentieren hören. Eine Million Mal entschlossener.

4  LARCH

Kristina und ich liegen im Bett und kühlen ab. Die Lichter der Stadt leuchten sanft durch unser Schlafzimmerfenster, ich lasse einen Finger über die Täler und Hügel ihrer Wirbelsäule wandern. Dem Namen nach ist es unser Bett, aber zusammen schlafen wir eher selten drin. Viele Nächte benutzen wir es solo. Abwechselnd mit dem Futon. Ich weiß schon: Wir sind nicht das einzige Pärchen, das sich streitet, verträgt, streitet, verträgt. Aber wir stecken schon so lange im Streiten fest, dass sich das Vertragen jetzt anfühlt wie ein unerwartetes Geschenk, das wir schon bald wieder zurückgeben müssen. Und ich will es nicht zurückgeben. Ich will weiter die Topografie des Körpers meiner Frau erkunden. Mit meinen Händen ihre muskulösen Beine streicheln. Ihre Wärme aufsaugen. Zusammen einschlafen. Aufwachen. Das Ganze wiederholen und wiederholen, bis wir alt und weich sind und unsere Gehirne so bröckelig, dass nur die glücklichen Erinnerungen übrig bleiben.

Was wirst du die ganze Woche alleine anstellen, Herr Junggeselle?, flüstert sie.

Dich und Em vermissen.

Lügner.

Wir versuchen, Emi zuliebe leise zu sein, aber da Kristina mir aus Versehen mit dem Knie in den Arsch tritt, als sie auf mich draufklettert, können wir uns ein Kichern nicht verkneifen.

Ernsthaft, sagt sie und streicht mir ihr Haar aus dem Gesicht.

Ernsthaft. Und während ich euch vermisse, werde ich vielleicht ausschlafen. Ausschlafen und mir ein riesiges widerliches Frühstück kochen.

Frühstücksnachos?

Da kannst du einen drauf lassen.

Mmm. Was noch?

Die Küche im Clubhaus neu organisieren. Meine Messer schärfen. Die Pfannen pflegen. Inventur für die zweite Saisonhälfte machen. Ein paar Pflichtstunden im Garten abarbeiten. Aufregendes Zeug eben.

Was ist mit Tag Null?, fragt sie nahtlos.

Wahrscheinlich treffe ich Lucas auf ein Bier.

Wahrscheinlich?

Sehr wahrscheinlich.

Nur eins?

Womöglich mehr als eins.

Aber in der Hochstadt, oder?

In der Hochstadt, wiederhole ich.

Du gehst nicht runter auf die Esplanade. Auch wenn Lucas will.

Ich atme tief ein. Wenn Kristina über die Feiertage freiwillig Extraktionsdienst macht, ist das ihre Sache. Aber dass sie mir vorschreiben will, wie ich in ihrer Abwesenheit mit meinen Freunden feiern darf? Trotzdem, in dem Punkt bleibt sie hartnäckig: Ich musste ihr ja schon versprechen, dass ich mich nicht der Hauptparade am Hafen anschließen werde. Ich musste ihr versprechen – ihre genauen Worte –, dass ich kein Schaf unter Schafen sein werde.

Larch?, sagt sie, jetzt flüstert sie nicht mehr. Du gehst nicht zum Hafen, oder?

Ich werde mein Bestes geben zu widerstehen. Aber du kennst Lucas. Er kann sehr überzeugend sein.

Sie zieht ihre Beine und Arme weg. Ihre ganze Wärme verpufft. Sie streift sich ein Hemd über. Sammelt ihr dickes Haar in ihren Händen und zerrt es ruppig zurück. Dreht den Kopf zu mir. Zeigt mir dieses Gesicht, das sie immer macht. Ihr kaputtes Ohr. Sie würde nie zugeben, dass sie ihre Narben wie eine Rüstung einsetzt, wenn sie sauer ist, aber ich weiß, dass es so ist. So lässt sie mich jetzt wissen, dass dieser kleine Tagtraum vorbei ist. Sie hat keine Lust mehr, so zu tun, als wären wir als Familie zehn Jahre in die Vergangenheit gereist. Und ich auch nicht.

Was ist los?, frage ich.

Nichts ist los.

Du wolltest, dass ich heute die Arbeit schwänze. Du hast gesagt, lass uns Sachen nachholen.

Das haben wir ja auch, sagt sie.

Wir haben Mittag gegessen. Wir haben uns besoffen und getanzt. Wir haben gevögelt.

Wie würdest du all das sonst nennen?, sagt sie und steigt in eine Jogginghose.

Sag doch einfach, was du sagen willst, seufze ich. Die Vorstellung einer weiteren Runde in diesem alten Streit erschöpft mich. Aber die Glocke hat bereits geläutet. Der Kampf läuft. Ich sage ihr, dass das Ganze wie ein politischer Stunt rüberkommt: sich zum Freiwilligendienst melden, während alle anderen feiern. Ich frage sie unverblümt: Hast du wieder beschlossen, für ein Amt zu kandidieren?

Sie lacht. Nein. Das Schiff hat schon abgelegt.

Dann fahr morgen nicht weg. Warte bis nächste Woche.

Ich kann nicht.

Sagt wer? Die Welt wird nicht zusammenbrechen, bloß weil du eine Woche nicht Batterien auflädst.

Sie würde zusammenbrechen, wenn alle das sagten.

Aber das sagen ja nicht alle! Bleib. Emi ist Ski fahren. Wir hätten eine Woche nur für uns. Denk an heute. Wie wunderbar war heute? Wir könnten eine ganze Woche voller Tage wie heute haben. Wir machen keine Feiertagssachen. Wir können einfach arbeiten, wenn das die Art ist, wie du feiern möchtest. Im Garten. An den Docks. Egal wo. Aber wir sollten zusammen sein.

Es tut mir leid, Larch. Ich kann nicht.

Und wenn ich mitkomme?, frage ich, setze mich im Bett auf, lehne mich mit dem Rücken an die kühle Wand, die unser Zimmer von Emis trennt. Wir könnten zusammen nach New York.

Sie schüttelt den Kopf: Ich muss alleine hin. Hab ich dir doch schon gesagt.

Dir ist schon klar, dass ich einfach trotzdem nach New York könnte. Ich könnte einfach in Gowanus antanzen und neben dir arbeiten. Ich brauch deine Erlaubnis nicht.

Sie lacht. Du und freiwilliger Extraktionsdienst? Über die Feiertage?

Klar. Warum nicht?

Sie hebt skeptisch die Augenbraue, dann schüttelt sie den Kopf. Nein, sagt sie und zieht sich den Pulli an. Die Antwort ist nein.

Sechzehn verfickte Jahre, sage ich.

Nicht so laut. Emi schläft.

Sechzehn verfickte Jahre, flüstere ich. Es ist nicht alles perfekt. Das weiß ich. Aber es gibt viel, was sich zu feiern lohnt.

Nicht für alle, sagt sie.

Für uns, sage ich. Also feiere es. Mit mir.

Ich kann nicht.

Du könntest.

Ich werde es nicht machen.

Mir rutscht das Offensichtliche raus, und das nicht zum ersten Mal: Hast du jemand anderes?

Sie schaut mich im Zwielicht einen langen Moment an, dann stellt sie ein Knie auf das Bett. Und das andere Knie. Kriecht zu mir rüber, auf diese Weise, der ich nie widerstehen kann. Nimmt mein Gesicht in ihre Hände.

Larch. Hör mir zu. Jemand anderes ist das Letzte, woran ich denke.

Was ist es dann? Woran denkst du?

Sogar im Zwielicht bemerke ich das Glänzen in ihren Augen. Als wollte sie weinen. Oder als wünschte sie sich, dass ich ihr erlaube zu weinen. Ihr erlaube, ihre Rüstung abzulegen.

Stattdessen bin ich es, der weint. Wie immer.

Sie hält mit dem Handrücken meine Tränen auf, bevor sie mein Kinn erreichen. Sie trocknet ihre Hand an meiner Brust. Du hattest recht, was heute betrifft, flüstert sie. Heute war so wunderbar. Lass uns das nicht ruinieren.

5  EMI

Mit Nirvana auf den Kopfhören, so laut es geht, höre ich Mom und Dad nicht mehr durch die Wand. Aber ich bilde mir immer noch ein, sie zu hören, was irgendwie noch schlimmer ist. Jedes Mal wenn ich kurz die Kopfhörer abnehme, um die Sache zu checken, versuchen sie gerade, leise zu sein – und scheitern. Am schlimmsten ist das Gestöhne. Also lasse ich die Musik laut. Liege in der Dunkelheit. Fühle meinen Herzschlag in den Fingernägeln und reite die Welle meines Hungers.

Ich weiß nicht, ob Hunger sich für alle so anfühlt, aber bei mir fängt er immer klein an – eine winzige Welle in meinem Bauch, die ohne Vorwarnung anschwillt zu einem riesigen panischen Bedürfnis, das mich anfleht, befriedigt zu werden. Wenn ich mich konzentriere, kann ich die Welle vorsichtig reiten, langsam zum Kamm der Welle aufsteigen und dann auf der anderen Seite sanft runtergleiten. In dem Fall geht die Welle in eine flache, ruhige, funkelnde Oberfläche über, die mir ein schwindelerregendes Gefühl von Leichtigkeit gibt, das alles andere wegschmelzen lässt. Auch wenn die Welt sich gerade viel zu schnell dreht, auch wenn alles, was schiefgehen kann, schiefgeht: Wenn ich die Welle genau richtig erwische, kann ich es kontrollieren. Wie von Zauberhand hört die Welt auf, sich zu drehen, ich tauche ein in ein Gefühl, das sauber und ruhig und ganz allein meins ist.

Das ist ein möglicher Ausgang, wenn ich diese Welle reite. Der andere: Ich stürze. Von der Welle zu fallen fühlt sich an, als würde sich der Ozean öffnen und mich und alles andere verschlucken. Dann bricht rauschend die Welt über mich herein – Schule, Noten, Mitschüler, meine Eltern streiten, meine Mom brüllt mich wegen der Krise an, dass sie jederzeit wieder passieren könnte – und alles dreht sich noch schneller als zuvor.

Zu so einem Sturz kommt es am leichtesten nach dem Basketballtraining. Oder in der Schulkantine. Auch spät in der Nacht, wie jetzt, wenn im Kühlschrank ein Blaubeer-Erdnussbutter-Smoothie steht. Zeiten wie diese erfordern höchste Disziplin. Deine Hände zittern. Dein Herz hämmert. Aber die Belohnung ist es wert. Denn es ist wichtig, Hunger zu kennen. Meine Mom ist in einem Flüchtlingslager an der Grenze aufgewachsen. Einmal hat sie vier Tage ohne Essen ausgehalten. Sie sagt, es hat sie stärker gemacht. Sie hat nicht in allem recht, aber in einem schon: Du musst Hunger nicht nur kennen, sondern ihn in deinem Innersten fühlen. Wie willst du ihn sonst kontrollieren?

Ich mache was anderes als Nirvana an und dreh die Lautstärke runter. Endlich Stille auf der anderen Seite der Wand. Zumindest ist es leise. Aber dann.

Emiliana?

Meine Tür ist eine blasse Raute aus Licht. Ich schließe die Augen. Atme langsamer. Zucke ein wenig. Tue so, als würde ich schlafen. Ich will, dass sie mich in Ruhe lässt. Gleichzeitig will ich, dass sie mich nicht in Ruhe lässt. Ich will nicht beides gleichzeitig wollen, aber bei meiner Mom geht mir das oft so.

Sie setzt sich auf meine Bettkante. Wenn sie mir meinen Smoothie mitgebracht hat, werde ich ihr sagen, dass ich ihn nicht will. Sie legt mir die Hand auf den Unterarm, rüttelt mich an der Schulter.

Hi Mom, sage ich und schiebe mir den Kopfhörer von einem Ohr, das andere Ohr bleibt geschützt.

Hi Süße, sagt sie. Was hörst du?

Musik.

Was für Musik?

Sagt dir nix. Ist superalt.

Bin ich auch. Probier’s aus.

Britney Spears.

Sie lacht sanft: An Britney erinnere ich mich.

Okay.

Sie sitzt da und hält meinen Arm. Ihr Haar ist nicht mehr offen. Sie duftet warm. Und süß. Meinen Smoothie hat sie nicht dabei. Sie überkreuzt die Beine, löst sie wieder. Als würde sie wollen, dass ich was sage. Aber das ist ihre Aufgabe. Sie ist die Mom. Nicht ich.

Hast du dein Projekt geschafft?, fragt sie.

Es ist nicht das ganze Projekt, erinnere ich sie zum millionsten Mal. Es ist nur ein Entwurf.

Okay. Hast du deinen Entwurf geschafft?

Nein. Das Projekt ist riesig. Wenn ich Glück habe, krieg ich es bis Ende der Feiertage fertig.

Ich rechne schon zu tausend Prozent damit, dass sie gleich explodiert: Wie viel Glück ich habe, dass die Schule meine größte Sorge ist, und nicht ein Flüchtlingslager oder Waldbrände. Aber heute Nacht ist es genau wie heute Morgen: Sie explodiert nicht. Sie drückt bloß sanft meinen Arm und sagt, dass ich eine gute Schülerin bin.

Danke, sage ich.

Du gibst dir so viel Mühe in der Schule, Emiliana. Ich bin froh, dass du mich bei deinem Projekt um Hilfe gebeten hast. Ich wünschte, ich hätte meine Mutter so interviewen können.

Ja, sage ich.

Dann folgt eine lange Pause. Die Pause kommt mir ewig vor. Ich bin dankbar, dass Britney da ist, auch wenn sie mir nur in ein Ohr singt.

Dann fragt sie: Bist du aufgeregt, weil du mit deinen Freundinnen Ski fahren gehst?

Das wäre ein guter Moment, um ihr zu sagen, dass die Mädchen nicht meine Freundinnen sind – sondern Mitspielerinnen, die mich wahrscheinlich nur eingeladen haben, weil unser Trainer sie gezwungen hat. Und dass ich beschlossen habe, nicht hinzugehen. Aber meine Mom ist schon den ganzen Tag so nett. Sie hat mir nicht wie sonst ein schlechtes Gewissen wegen irgendwas gemacht. Sie hat mir einen Smoothie gemixt. Sie gibt sich Mühe.

Ja, Mom. Ich bin superaufgeregt.

Du wirst Spaß haben, sagt sie, dann flüstert sie noch mal meinen Namen: Emiliana?

Ja?

Sie senkt die Stimme und wechselt ins Spanische: Alles, was ich tue, tue ich für dich. Für deine Zukunft. Das weißt du.

Danke, sage ich auf Englisch.

Wirklich? Weißt du das?

Ja, Mom.

Vergiss nie, was passiert ist. Wie kurz davor sie waren, alles zu zerstören. Und wie viel Glück wir haben. Du kannst das noch nicht verstehen. Du bist fünfzehn. Deswegen sage ich es dir. Wir haben so ein Glück. Wir haben so hart für das alles gekämpft. Aber der Kampf ist nicht vorbei. Lass dich durch die ganzen Feierlichkeiten nicht ablenken.

Okay.

Und vergiss nicht, dass du stark bist.

Danke.

Du bist so stark, wenn du es nur willst.

Okay, Mom.

Sie küsst mich auf die Stirn, dann geht sie. Sie schließt die Tür, das Licht verschwindet. Ich starre in der Dunkelheit an die Decke und schwöre mir: Wenn ich irgendwann Mutter bin, werde ich meinem Kind nie Schuldgefühle für etwas machen, das es nicht kontrollieren kann. Zum Beispiel dafür, nach der Krise geboren zu sein. Dafür, zur Highschool zu gehen, statt die Welt zu retten. Dafür, ein eigenes Zimmer zu haben und Essen, wann immer ich es will. Ich schwöre meinem zukünftigen Ich, mich daran zu erinnern: Wenn du deiner Tochter sagst, wie viel Glück sie hat, dann fühlt sie sich nicht, als hätte sie Glück. Sie fühlt sich schrecklich. Als wäre es ihre Schuld, Glück zu haben. Und ihre Schuld, immer wieder daran erinnert werden zu müssen, wie viel Glück sie hat. Und wie alle alles geopfert haben, damit sie so viel Glück haben kann, ohne zu kapieren, wie viel Glück sie hat.

Ich falte mein Kissen und drehe mich mit dem Gesicht zur Wand, mein Magen krampft sich zusammen, die Welt dreht sich. So fällt man von der Welle. Ich konzentriere mich, suche mein Gleichgewicht. Ich bin froh, dass sie mir nicht den Smoothie gebracht hat. Gleichzeitig wünsche ich mir, sie hätte es.

In dem Moment geht meine Tür auf. Meine Mom ist zurück. Sie hat doch an meinen Smoothie gedacht.

Aber nein. Schon wieder daneben. Vier schnelle Schritte durchs Zimmer.

Rutsch mal, Süße. Mach Platz.

Sie schlüpft unter meine Decke. Legt einen Arm um mich. Faltet ihre Beine hinter meinen. Mein ganzer Körper ist angespannt. So was machen wir eigentlich nicht. Jedenfalls nicht mehr, seit ich ganz klein war. Aber nach ein paar Minuten wird ihr Atem tief und ruhig und ich entspanne mich. Muskel für Muskel. Sogar mein Magen entspannt sich. Es ist wie Schmelzen. Die beste Art von Schmelzen. Irgendwas hat sich verändert. Zwischen ihr und meinem Dad. Vielleicht hat sie ja die gleiche Entscheidung getroffen wie ich: diese Woche nicht zu verreisen. Am Morgen wird sie immer noch hier sein, die Taschen wieder ausgepackt, wird mich wachrütteln, damit ich mit ihr joggen gehe. Und ich sage: Okay Mom, und wir laufen Seite an Seite zum Gipfel von Nuuk und sie trägt ihr Haar offen und ich auch und unsere Haare wehen hinter uns wie ein langer Schal, ein Banner, ein Umhang …

Aber natürlich nicht. So plötzlich, wie ich eingenickt bin, bin ich auch wieder wach.

Ich bin wach und sie ist weg. Nicht weg wie: nicht in meinem Bett. Nicht weg wie: beim Joggen. Richtig weg.

Ich ziehe mir einen Pulli an und schleppe mich in die Küche, wo es nach Kaffee und Toast duftet. Mein Dad streamt eine Sportsendung. Der Tisch ist für zwei gedeckt ist, nicht für drei.

Guten Morgen, Em! Was kann ich dir bringen?

Den Smoothie, den Mom gemixt hat.

Wie wär’s mit was Warmem? Haferbrei? Eier? Tapioka?

Nur den Smoothie, danke.

Sicher? Kann dir machen, was du willst.

Ja Dad. Ich bin mir sicher.

Emi Vargas Brinkman

Nordamerikanische Geschichte

Mrs. Helmandi

Projekt: Der Große Übergang (erster Entwurf)

EINLEITUNG

Stell dir vor, dein Zuhause steht in Flammen, aber statt die Feuerwehr zu rufen, schaust du einfach dem Feuer zu und lebst weiter dein Leben, als wäre nichts geschehen. So war die Klimakrise. Es ist schwer, sich das heute vorzustellen, aber während der Krise wussten alle, was passiert, und taten im Prinzip nichts, um die Verbrecher aufzuhalten, die dafür verantwortlich waren. Als meine Eltern in meinem Alter waren, um ein Beispiel zu nennen, förderten die zerstörenden Klassen immer noch Erdöl und produzierten Autos und Flugzeuge mit Verbrennungsmotoren und wurden damit reicher und reicher. Manche Leute, wie Mama Greta, versuchten das aufzuhalten, aber scheiterten. Dann stürzte der Westantarktische Eisschild ein, und der Große Übergang begann.

Vielleicht einen weniger wertenden Begriff? »Privatkonzerne« oder »Rohstoffindustrie«?

Der Große Übergang hat zu all den guten Dinge geführt, die Leute heute für selbstverständlich halten, etwa die Solarbehörde Südwest, die Halbe-Erde-Abkommen, die Buchtsperre von San Francisco, das Große U, die Große Grüne Mauer, außerdem die Sequestrierung von Kohlendioxid und Methan, oder auch die neuen Städte wie Nuuk und recycelte Städte wie Miami, wo das Leben unmöglich geworden war aufgrund von Hitzewellen und Überschwemmungen und Moskitos, die ansteckende Krankheiten wie das West-Nil-Fieber und Dengue verbreiteten, für die wir zum Glück inzwischen Impfstoffe haben.

Wow, das ist ein langer Satz! Fantastische Details, die deine These stützen, aber versuche bitte, ihn in mehrere Sätze aufzuteilen

Die Kombination all dieser unglaublichen Anstrengungen ermöglichte es uns, Tag Null zu erreichen. Tag Null war der Tag, ab dem wir netto keine Kohlendioxid-Emissionen mehr erzeugten. Dieses Jahr findet der sechzehnte Jahrestag statt. Viele Leute sehen Tag Null als Urlaub, aber nicht alle.

Starke Behauptung! Könnte das deine These sein?

Manche Leute (meine Mom, zum Beispiel) sagen, den Tag Null zu feiern ist, wie wenn mein Basketballteam einen Sieg feiern würde, nachdem wir davor tausend Spiele in Folge verloren haben und dabei unsere Halle zerstört und uns alle verletzt haben. Andere (mein Dad, zum Beispiel) sagen, genau dann braucht man einen Sieg. Zusammenfassend lässt sich sagen, der Große Übergang war unglaublich, aber er hätte viel früher beginnen müssen. Dann könnten Kinder heute noch Tiere wie Koalabären, Giraffen und Elefanten erleben. Außerdem hätten wir noch Sandstrände und Korallenriffe mit neonfarbigen Fischen. Und zu guter Letzt wären Milliarden Menschen nicht gezwungen gewesen, aus ihrer Heimat zu flüchten oder zu sterben. Zum Beispiel meine Großeltern, die den Großen Übergang nicht mehr erleben konnten oder den Tag Null feiern oder mich je kennenlernen.

Emi: Biografische Details über dich und deine Familie waren PERFEKT in unserem Block über Persönliche Erzählungen, aber sie sind nicht wirklich geeignet für informative historische Aufsätze. Bitte lies erneut die Aufgabenstellung und behalte dies im Kopf. Ich bin gespannt, was du als Nächstes machst. Deine Leidenschaft ist auf dem Papier greifbar! Fr. H.

ZWEITER TEIL

6  LARCH

Feuerwerke schon vor Sonnenaufgang. Dröhnende Bässe lassen unsere Wände wackeln. Nachbarn lachen laut, arbeiten schon an ihrem Alkoholpegel. Heute ist der Tag. Ich rolle mich zur Seite und schalte meinen Bildschirm an. Paraden in Wellington. Moskau. Johannesburg. Minsk. Uppsala. Der Feiertag arbeitet sich Zentimeter für Zentimeter mit dem Licht der aufgehenden Sonne an uns heran.

Dad?

Emi steht in der Tür.

Ich klopfe auf die leere Seite des Bettes: Feiertagsglotzparty, machst du mit?

Nein, danke. Willst du laufen gehen?

Ich knipse das Licht an. Emi trägt ihre Basketballshorts und ein Sweatshirt. Ihre Turnschuhe in der einen Hand. Meine Turnschuhe in der anderen.

Ernsthaft?, frage ich und gähne. Okay. Ich bin wach. Okay. Los geht’s.

Unsere Joggingrunde verläuft schnurstracks stadtaufwärts und dann wieder direkt runter – eine Route, die uns über jede der sechs Plazas führt, die über unserer liegen. Kristina würde jetzt Emis Zeit stoppen. Sie antreiben, dass sie ihre Beine mehr anheben soll. Damit sie ihre Bestzeit schlägt. Aber Emi und ich laufen ein entspannteres Tempo, während wir unter Straßenlaternen, hängenden Gärten und den letzten Resten Polarlicht entlangjoggen. Zwei Morgen, seit Kristina abgereist ist. Zwei Morgen, an denen Emi mich früh zum Joggen aufgeweckt hat: Ihre Art, mir zu sagen, dass sie zu allem bereit ist, solange ihre Mutter sie nicht dazu zwingt. Ich hab eigentlich kein Problem damit. Nur heute. Heute hab ich ein bisschen ein Problem. Es ist extrem früh.

Im ersten Morgengrauen sind wir nicht alleine. Arbeitende mit Stirnlampen legen bei den Essensständen letzte Hand an. Stellen Dixi-Klos auf. Drei ältere Damen sind extra früh auf die Sorlaat Plaza gekommen, um einen guten Platz zu ergattern. Als wir vorbeilaufen, schwenken sie Wunderkerzen.

Im Gipfelpark machen Kristina und Emi immer Liegestützen und Kniebeugen und Lunges. Emi und ich geben uns nur ein High five und streuen ein paar halbherzige Dehnübungen ein. Wir verschnaufen, der Horizont verwandelt sich im Sonnenaufgang in ein dünnes rosa Band. Noch ist es zu dunkel, um die Bucht oder die Fjorde zu erkennen. Unter uns platzen lautlos die ersten Feuerwerksraketen, hinterlassen kleine Wattebäusche am Himmel, lassen kurz die Säulen aus geothermalem Dampf aufleuchten, der von den Pflanzen aufsteigt. Musikfetzen dringen aus der unteren Stadt zu uns. Bläser und Glocken. Eine laute Trommel drischt Viertelnoten. Ich drücke Emis Schulter: Alles Gute zum Tag Null, Em.

Alles Gute zum Tag Null, Dad.

Eigentlich sollte Emi heute Morgen gar nicht mehr hier sein. Sondern mit ihrer Mannschaft im Skiurlaub. Bin ich enttäuscht, dass sie einen Rückzieher gemacht hat? Ein wenig. Sie macht sich so viele Sorgen. Ich will, dass sie ein sorgenfreies Kind ist, das mit seinen Freunden Spaß hat. Aber sie wird erwachsen. Das muss ich akzeptieren. Sie trifft ihre eigenen Entscheidungen. Und diese Woche hat sie sich für mich entschieden. Ich drücke sie noch mal.

Ich hab dich sehr lieb, Em.

Ich dich auch, Dad.

Wir beobachten die Raketen. Genießen die Stille. Dann fragt sie: Bist du froh, dass Mom abgereist ist?

Froh? Nein. Ich bin nicht froh.

Aber es ist lustiger ohne sie. Das musst du zugeben.

Das will ich nicht hören. Deine Mutter liebt dich.

Warum muss sie dann immer …

Emiliana. Sie will nur dein Bestes.

Hey, ihr Feierwütigen! Frohen Tag Null am Gipfel der Welt!

Fünf junge Männer taumeln die letzten Meter hoch in den Park. Hängen lachend aneinander, schwer mit Flaschen beladen. Entweder das Ende einer sehr langen Nacht oder der Anfang eines sehr langen Tages.

Emi macht einen Schritt hinter mich.

Alles Gute zum Tag Null, Jungs, sage ich.

Sie schwanken zu uns herüber. Einer umarmt mich. Ein anderer drückt mir ein Schnapsglas in die Hand. Ich kippe den Alkohol über meine Schulter, als sie einander zuprosten und die Köpfe zurückwerfen.

Auf dem Rückweg stadtabwärts müssen Emi und ich uns durch eine wachsende Menschenmenge fädeln. Auf der Norsaq Plaza klingt es, als wären alle Boxenwände inzwischen fertig aufgebaut, mehrere DJs testen gleichzeitig ihre Anlagen. Die Musik lässt Emi stehen bleiben. Sie nickt im Takt. Macht ein paar kleine Tanzschritte. Das Morgengrauen hat den letzten Rest Polarlicht verscheucht. Emi fragt, ob wir bleiben können.

Lass uns erst nach Hause und was essen, sage ich.

Hab keinen Hunger.

Kriegst du aber. Wir haben einen langen, spaßigen Tag vor uns.

Und danach kommen wir direkt wieder her?

Ihre Aufregung ist ansteckend. Ich spüre den Funken, als ich in unserer Küche an der Spüle stehe: Emi trinkt in einem Zug ein Glas Wasser aus, wischt sich über den Mund und platzt dann – fast schreiend – mit der Frage heraus, ob wir stadtabwärts zur Esplanade gehen können? Bitte?

Ich höre Kristinas Stimme in meinem Kopf und sage fast nein. Aber ich sage nicht nein. Ich lasse mir die Idee durch den Kopf gehen. Emi muss das einzige Kind in Nuuk sein, das die große Jubiläumsfeier letztes Jahr verpasst hat. Und dieses Jahr soll es wohl noch spektakulärer werden. Menschenmengen sind nicht ihr Ding, aber an meiner Seite wird sie schon damit klarkommen. Und wie schön wäre es, bei ihrer ersten Parade dabei zu sein? Vor allem in der Tundra-Aussichtsloge mit Lucas und der Mannschaft. Außerdem: Wenn Emi aus eigenem Antrieb darum bittet – ja, bettelt –, ihre Komfortzone zu verlassen, muss ich sie ermutigen. Obwohl sie in diesem Fall nicht nur ihre eigene Komfortzone verlässt. Sie rebelliert damit auch gegen ihre Mutter. Wie mit der frühmorgendlichen Joggingrunde. Aber ein bisschen Rebellion ist was Gutes. Kristina wäre die Erste, die mir da zustimmt. Kristina, die sich nicht ein einziges Mal gemeldet hat, seit sie nach New York abgereist ist. Vielleicht – wenn ich ehrlich bin – ist mir also auch ein bisschen nach rebellieren.

Klar, Em. Wir können stadtabwärts.

Wirklich?

Warum nicht?, lache ich. Wir gehen direkt zur Tundra-Loge, schauen die Parade, dann kommen wir sofort zurück. Deal?

Deal, sagt sie und hüpft zu mir, um mich zu umarmen.

Deal, wiederhole ich. Aber erst Frühstück.

Mahlzeiten sind für Emi schwierig geworden. Sie bevorzugt weiches Essen. Ich versuche das zu berücksichtigen. Heute Morgen gibt es zum Frühstück eine Gazpacho aus Cantaloupe-Melone und Pfirsich. Apfelmus. Ein kurz gekochtes Hühnerei. Ich schäle es gerade, als Emi sich setzt. Das Ei ist warm und cremig und perfekt. Ich schiebe ihr den Salzstreuer rüber. Schenke ihr ein Glas Wassermelonensaft ein. Kaffee für mich.

Ich beobachte, wie sie ihr Essen inspiziert. Ich sage nichts. Esse einfach.

Ich hätte mich wirklich für sie gefreut, wenn sie diese Woche Ski fahren gegangen wäre. Ich fände es toll, wenn sie mit anderen Mädchen lange aufbleibt und ungesundes Zeug futtert. Lacht. Sorglos ist. Kristina findet auch, dass sie mehr Zeit mit Kindern in ihrem Alter verbringen sollte. Emi schien sich auch zu freuen, hatte schon ihre Taschen gepackt – aber dann hat sie vor zwei Tagen einen Rückzieher gemacht.

Was, wenn irgendwas passiert?, wollte sie wissen.

Irgendwas passiert sicher, sagte ich ihr. Nämlich dass du mit deinen Freundinnen Spaß hast.

Und wenn ich vom Skilift falle?

Die haben Sicherheitsbügel.

Und wenn eine Lawine kommt?

Die Skigebiete sind sehr sicher, Em.

Und wenn ich ersticke?

Du wirst nicht ersticken.

Ich könnte.

Dann machst du das, sagte ich und zeigte ihr mit meinem Stuhlrücken, wie man an sich selbst ein Heimlich-Manöver ausführt. Eine Technik, die jeder draufhaben sollte – besonders Emi, die nie ein ängstliches Kind war und es mit fünfzehn plötzlich geworden ist. Angst vor Menschenmengen. Angst, dass sie an Essen erstickt. Kristina und ich haben unterschiedliche Theorien, was da los ist. Was wir tun sollten.

In letzter Zeit kriegt Emi beim Essen Würgereflexe. Sie sagt, sie kann es nicht kontrollieren. Ich sage, das ist sicher eine Art Angststörung. Angst wovor, will Kristina wissen. Sie sagt, Emi hätte es zu leicht: Weil nichts sie herausfordert, erfindet ihre Psyche Herausforderungen. Als Emi verkündete, dass sie nur noch Smoothies essen kann, war Kristina kurz davor, unseren Mixer wegzugeben. Heute sind es Smoothies, morgen was anderes, sagt Kristina. Wir können nicht einfach so einknicken.

Aber diese Woche, ohne Kristina, habe ich beschlossen, genau das zu machen. Einknicken. Meiner Tochter alles geben, was sie will.

Ich ziehe mich um, meinen alten Forst-Corps-Blaumann, gehe zurück in die Küche und linse auf Emis Teller. Sie hat keinen Bissen gegessen, nur ihr Essen neu arrangiert. Ein Profi.

Und, wie sehe ich aus?

Fett?, sagt sie. Alt?

Falsch, lache ich. Ich sehe aus wie ein Held.

Das ist die Botschaft, die sie jedes Jahr im Vorfeld der Feierlichkeiten immer wieder abspulen. Mit der sie jede Magnetschwebebahn und jedes Windsegel und jedes Werbebanner auf jeder Farm zukleistern. Und die sie vor den alten Folgen von Corps Power bringen, die sie um die Zeit so gerne in Dauerschleife zeigen.

Okay, ich korrigiere, sagt Emi. Du siehst aus wie ein fetter, alter Held.

Ich ziehe meinen Bauch ein und sage, dass die meisten Veteranen nicht mal mehr in ihre Uniformen passen, Emi merkt an, dass ich auch nicht wirklich in meine passe, und wir lachen und es fühlt sich so gut an – wie ein Vitamin, das in der Ernährung unserer Familie schon zu lange gefehlt hat.

Können wir jetzt los?, fragt sie.

Versuch erst, was zu essen. Iss was von dem Ei.

Hab ich.

Sieht nicht so aus.

Ich meine: Ich hab’s versucht.

Kannst du’s noch mal versuchen?

Emi hat dasselbe lockige Haar wie Kristina. Dieselbe schmale Oberlippe. Dieselbe Haut, die schon braun wird und Sommersprossen kriegt, wenn man das Wort Sonnenlicht lediglich erwähnt. Aber da hört die Ähnlichkeit auch schon auf. Kristina ist nicht groß, aber muskulös. Emi hingegen ist nur lang: schon jetzt größer als ihre Mutter. Und zu dünn. Sie hat Kalziummangel, sagt ihr Arzt. Sie braucht mehr Kalorien. Mehr Protein. Sie hatte einen schweren Start ins Leben. Frühgeburt. Musste immer wieder auf die Intensivstation für Neugeborene. Entzündungen und Infusionen und Katheter. Ich mache mir Sorgen, dass sie nie ganz aufholt.

Wir werden den ganzen Tag auf den Beinen sein, sage ich. Du brauchst Energie. Nur ein paar Happen. Bitte, Em.

Sie weigert sich, von ihrem Teller aufzuschauen. Wir lachen nicht mehr.

In der Schule nehmen sie schon den ganzen Herbst die Große Krise durch. Machen große Rechercheprojekte zu Ehren des Großen Übergangs. Sie hat mich interviewt. Und Kristina. Und unsere Nachbarin Maru. Ich glaube, das war zu viel in ihrem Alter. Kristina sieht das anders. Sie findet die Rechercheprojekte zu klein. Es ist unnatürlich für eine Fünfzehnjährige, jeden Tag im Luxus zu beginnen und zu beenden, sagt sie. Der menschliche Körper ist nicht für endlose Bequemlichkeit geschaffen. Emi braucht Herausforderungen – und nein, das Basketballfeld zählt nicht. Sie braucht etwas, über das sie herauswachsen muss. Etwas Reales.

Ich beobachte Emi, wie sie ihr Ei zermatscht. Sie hatte noch nie echten Hunger. Musste sich nie um Wasser Sorgen machen. Musste nie den Rauch eines Waldbrands einatmen oder durch eine versinkende Stadt waten. Oder Freunde beerdigen. Sie hat den Zusammenbruch der Eisschilde nicht miterlebt. Das Aussterben von Tierarten. Die Massenevakuierungen und Flüchtlingsströme. Ich für meinen Teil sehe das als positive Entwicklung. Ich finde, wir sollten die Vergangenheit nicht überhöhen und eine Religion daraus machen. Sondern neu anfangen. Ein frisches Blatt, unbeschrieben, glücklich.

Trotzdem müssen wir uns erinnern. Wie Kristina immer sagt: Um unsere alten Fehler zu vermeiden und so weiter. Und unsere Kinder müssen wenigstens ein paar Widrigkeiten ausgesetzt sein. Das ist mir schon klar. Als Vater. Als jemand mit gesundem Menschenverstand. Aber das zu wissen – macht es das einfacher? Tut es nicht. Neulich Abend zum Beispiel, als ich Emi beobachtete, wie sie das Heimlich-Manöver an einem Stuhlrücken probte, für einen Moment, wenn mal niemand da ist, um sie zu retten – nicht Kristina, nicht ich –, da habe ich auf einmal einen Tunnelblick bekommen. Ich sagte ihr, sie soll aufhören. Vielleicht hab ich sogar gebrüllt, sie soll aufhören. Vielleicht stieß ich den Stuhl weg und drückte ihren dürren Körper fest an meinen, vielleicht sagte ich ihr, dass sie nicht Ski fahren gehen muss, wenn sie nicht will. Dass sie mich die ganze Woche in der Tundra-Arena begleiten und mir über die Schulter schauen kann. Im Clubhaus abhängen. Bei der Inventur helfen. Zutaten vorbereiten. Das wird spaßig. Versprochen.

Dad?, sagt sie jetzt am Küchentisch.

Em?

Sie blickt auf. Ihre Augen sind feucht.

Ich kann nicht essen, sagt sie.

Das ist okay.

Kann ich mir einen Smoothie machen?

Nein, sag ich ihr. Lass mich.

Die Norsaq Plaza ist eine einzige Masse aus tanzenden und schunkelnden und schwitzenden Menschen. So viele Körper, dass sie die ganze Aussicht blockieren – keine Fjorde, keine Bucht zu sehen. Ein Panorama aus Feiernden. Wir drängeln uns durch. Emis Hand heiß in meiner. Du machst das toll, sage ich ihr. Zerbrochenes Glas knirscht unter unseren Füßen. Ein leichter Geruch von Kotze hängt in der Luft.

Larch, Alter! Emi! Alles Gute zum Tag Null! Trink nen Schluck!

Maru umarmt mich. Küsst Emi. Legt uns feierlich eine der vielen Perlenketten um, die sie um den Hals trägt. Was auch immer sie da für eine Flüssigkeit in ihrem Einmachglas hat, ihre Augen sind davon so rot und ihre Stimmung ist so gut, dass Emi gar nicht anders kann, als zurückzustrahlen – mit diesem sorglosen Lächeln, das sie dann immer kriegt und bei dem ihr Zahnfleisch zu sehen ist.

Hi Maru.

Hey Süße.

Wir haben Glück, dass Maru unsere Nachbarin ist. Sie ist Emis Mentorin bei CareCorps. Begleitet Emi auf dem Heimweg. Lässt Emi ihre Katze füttern, wenn sie selbst auf Extraktionsdienst ist. Heute trägt sie ihre Rückbau-Corps-Uniform. Auf ihrem Ärmel ein Aufnäher: Abteilung Miami. Was heißt, dass Maru sich das Recht verdient hat, so hart zu feiern, wie sie will.

Mach ne Party draus, Larch, Baby! Runter damit!

Ich nehme ihr Einmachglas. Trinke. Es brennt kurz hinter meinen Augen, wie kaltes Feuer, dann fühlt es sich an, als würde sich ein schwerer Vorhang vor mir schließen. Mein Puls sackt ab. Die Musik leiert in meinen Ohren.

Und du, Kleine?

Emi schaut zu mir.

Besonderer Anlass, sage ich und zucke mit den Schultern. Verrat’s nicht deiner Mutter.

Wo ist Wonder Woman überhaupt?, fragt Maru.

Emi nippt und hustet.

Brooklyn, antworte ich. Extraktionsdienst.

Maru hebt eine Augenbraue: Sturmsaison. Hartes Los.

Sie hat sich freiwillig gemeldet.

Natürlich hat sie das.

Wir gehen stadtabwärts!, ruft Emi aufgeregt dazwischen. Zur Esplanade.

Nur für die Parade, füge ich hinzu.

Kannst du mich in diese VIP-Loge mit deinen Tundra-Mädels bringen?, fragt Maru.

Ich sage ihr, wo sie uns später treffen soll. Vorausgesetzt, sie kann nachmittags überhaupt noch laufen.

Sie wirft einen kurzen Blick auf ihr Glas und schätzt ihre Chancen auf zwanzig-achtzig.

Wir lachen. Sie gibt Emi einen Kuss. Tanzt davon.

Emi und ich laufen noch ein paar anderen Nachbarn in die Arme, als wir uns einen Weg zur Magnetschwebebahn bahnen. Auf dem Bahnsteig wartet eine Tanztruppe mit bemalten Gesichtern und Kopfschmuck auf den nächsten Zug stadtabwärts. Eine Jugendgruppe in roten Uniformen. Immer mehr Leute drängen auf den Bahnsteig. Emi klammert sich an meinen Arm.

Eine von Marus Aufgaben während des Übergangs war, Ertrunkene zu suchen, sagt sie.

Der Rückbau war kein Spaß, sage ich.

Du hast das auch ein bisschen gemacht, oder?

Nicht wie Maru. Südflorida war als Einsatzgebiet eine andere Nummer.

Ich weiß, sagt Emi. Menschen sind auf ihrem Dachboden ertrunken. Maru musste sich mit der Axt durch die Dächer hacken. Deswegen sollte man bei Hochwasser nie in den Speicher. Immer aufs Dach, sagt Maru.

Sie hat Recht. Aber darüber musst du dir hier in Nuuk keine Sorgen machen, Em.

Manche Menschen waren monatelang auf ihrem Dachboden. Ihre Leichen waren verrottet.

Es war keine schöne Zeit, sage ich und frage mich, was Maru meiner Tochter sonst noch so anvertraut hat.

Marus Eltern sind auch gestorben, sagt Emi.

Em, sage ich und schiebe ein paar Leute beiseite, um ihr direkt gegenüberstehen zu können. Wir müssen uns über so was keine Sorgen mehr machen. Nuuk ist eine sichere Stadt. Die sicherste. Der Ozean liegt Hunderte Meter unter uns. Schau. Wir haben Meeresmauern. Regengärten. Barriere-Inseln. Wir haben so viel Glück. Deswegen feiern wir ja auch. Willst du nicht feiern? Willst du nicht ein bisschen Spaß haben?

Sie scheint kurz darüber nachzudenken. Dann entgegnet sie, dass es wieder passieren könnte. Eine zweite Große Krise.

Ich sage ihr, dass sie sich irrt. Das kann nicht passieren. Wird nicht passieren.

Sie sagt, wir hätten nicht so lange mit dem Beginn des Großen Übergangs warten sollen. Ihr hättet früher handeln müssen, sagt sie.

Ich antworte, dass ich das genauso sehe. Was stimmt.

Sie will wissen, warum wir so lang gewartet haben.

Ich antworte: Es war kompliziert. Was stimmt.

Sie will wissen, wie genau es denn bitte kompliziert war – und obwohl es ganz klar meine Tochter ist, die da spricht, höre ich ihre Mutter. Und vielleicht etwas von dem kalten Feuer aus Marus Glas.

Ich nehme meine Perlenkette ab und hänge sie ihr um.

Schau dir Maru an, sage ich. Ihr Leben war hart. Sie hat schreckliche Dinge erlebt. Aber du hast sie eben gesehen: Sie hat keine Angst. Sie macht sich keine Sorgen. Sie ist glücklich!

Sie ist besoffen, sagt Emi und drückt sich an mich, als die Magnetbahn in die Station huscht.

Wenn sich die Magnetbahn stadtabwärts neigt, bekommt man diesen berühmten Ausblick auf Nuuk: ein funkelnder Strom aus sechseckigen Metallkonstruktionen und Sperrholz und photovoltaischem Glas, der in Kaskaden von Plaza zu Rambla zu Plaza zu Rambla fließt. Die ganze Stadt schmiegt sich an die Klippen über dem Ozean, der laut Wissenschaftlern inzwischen fast aufgehört hat zu steigen. Als kleines Mädchen lernte Emi zu zählen, indem sie von der Norsaq Plaza aus die Clipper zählte, die mit Batterien beladen von New York aus zu uns in den Norden gesegelt kommen. Und die Schwärme aus Lastenzeppelinen, die wie Zugvögel zum Brüten heimkehren. Und die Geothermieanlagen, deren Dampf in dicken Säulen in den Himmel strömt. Und die bepflanzten Dächer und hängenden Gärten, die in der Brise wogen und wanken, sodass es aussieht, als würde die Stadt atmen – was Emi als Kind in der Tat glaubte. Leute von außerhalb nennen uns Nuuker gerne elitär. Das kriege ich bei jedem Spiel zu hören. Wir würden so tun, als wäre Nuuk das Zentrum der Welt, sagen sie. Da kann ich nur sagen: Kommt und erlebt es selbst. Wir sind das neue New York. Bloß sicherer. Jünger. Grüner. Einundzwanzig herrliche Stunden Tageslicht im Hochsommer. Polarlichter. Internationaler Knotenpunkt der öffentlichen Finanzwirtschaft. Grundpfeiler der Edelmetallindustrie. Und Heimat der Tundra: amtierende Weltmeister.

Vermisse ich den Wald? Den tropfenden Morgentau? Das Zischen von Wellen auf Sand? Klar, wir alle vermissen was. Aber im Gegensatz zu Kristina stecke ich nicht in der Vergangenheit fest. Ich bin dankbar für das Hier und Jetzt. Für die Sicherheit, die wir geschaffen haben. Für den Planeten, den wir gerettet haben. Für unsere neue Wirtschaft. Die Aussicht aus der Magnetbahn. Emi. Alles davon.

Drei Stationen vor dem Hafen schlendert ein Mann mit verquollenen Augen und roter Nase in die Magnetbahn. Als er meinen Overall bemerkt, nickt er und dankt mir für meinen Einsatz.

Es war eine gemeinschaftliche Anstrengung, sage ich.

Ich war nicht alt genug, um mich zu verpflichten, sagt er. Hab stattdessen Staatsanleihen verkauft.

Sein Atem riecht säuerlich nach Alkohol. Er gibt sich Mühe, nicht zu lallen. Klappt nur halb. Er mustert den Aufnäher auf meinem Ärmel und fragt, ob ich Feuer gelöscht oder Wälder aufgeforstet habe.

Beides, antwortet Emi für mich. Er war Rauchspringer. Hat mit den indigenen Stämmen kontrollierte Rodungen durchgeführt. Und Rückbau in New York. Er war bei Corps Power zu sehen. Dritte Staffel.

Der Mann schielt mich an, als versuchte er, mich einzuordnen.

Nur ein paar Folgen, sage ich.

Haben sie dich je nach Jersey geschickt?, fragt er.

Ich schüttle den Kopf.

Wohin dann?

Kansas, die Dakotas, Montana, Idaho, Washington, Kalifornien, Mexicali, Nevada – rattert Emi meine Einsätze runter. Ihr Stolz macht mich stolz.

Verdammt viele Einsätze, sagt der Mann.

Meine Mom hat noch mehr gemacht, sagt Emi.

Nicht so viel mehr, sage ich, vor allem als Witz.