Der Prometheus-Verrat - Robert Ludlum - E-Book

Der Prometheus-Verrat E-Book

Robert Ludlum

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Beschreibung

Eine weltweite Organisation arbeitet an einer neuen Waffen- und Überwachungstechnologie, die so lückenlos funktionieren soll, dass selbst Geheimdienste überflüssig werden. Ein tödlicher Wettlauf um dieses lukrative Geschäft nimmt seinen Anfang.

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Titel der Originalausgabe THE PROMETHEUS DECEPTION
Copyright © 2000 by MYN PYN LLC Copyright © 2001 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH Neumarkter Str. 28, 81673 München
ISBN 978-3-641-07203-2V002
www.heyne.dewww.penguinrandomhouse.de

Das Buch

Nach einer missglückten Mission in Tunesien muss Nick Bryson seine Agententätigkeit quittieren und eine neue Identität als Dozent an einem College annehmen. Fünt Jahre spärter wird er dort von der CIA aufgespürt und mit einer schrecklichen Wahrheit konfrontiert: Er sei bei seiner letzten Mission einer einzigen großen Schwindel aufgesessen, habe dem Feind in die Hände gespielt und sich dabei sogar seiner rumänischen Frau Elena missbrauchen lassen, einer Securitate-Agentin, die seit dem Einsatz in Tunesien spurlos verschwunden ist. Jetzt soll er dem CIA helfen, die wahren Feinde zu überführen

Der Autor

Robert Ludlym hat einyndzwanzig Romane geschrieben, die in über dreißig Sprachen übersetzt wurden und weltweit eine Auflage von 210 Millionen erreichten. Der berühmte Autor verstarb im März 2001 in seiner HeimatstadtNaples, Florida.

Im Heyne Verlag liegen unter anderem vor: Das Matarese-Mosaik – Die Lennox-Falle – Das Jesus-Papier – Der Hades-Faktor – Die Matlock-Affäre – Der Ikarus-Plan – Die Halidon-Verfolgung – Der Holcroft-Vertrag – Das Sigma-Protokoll – alle vier Bände der Bourne-Saga

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorPrologERSTER TEIL
Erstes KapitelZweites KapitelDrittes KapitelViertes KapitelFünftes KapitelSechstes KapitelSiebtes Kapitel
ZWEITER TEIL
Achtes KapitelNeuntes KapitelZehntes KapitelElftes KapitelZwölftes KapitelDreizehntes KapitelVierzehntes KapitelFünfzehntes KapitelSechzehntes Kapitel
TEIL DREI
Siebzehntes KapitelAchtzehntes KapitelNeunzehntes KapitelZwanzigstes KapitelEinundzwanzigstes KapitelZweiundzwanzigstes KapitelDreiundzwanzigstes KapitelVierundzwanzigstes Kapitel
VIERTER TEIL
Fünfundzwanzigstes KapitelSechsundzwanzigstes KapitelSiebenundzwanzigstes KapitelAchtundzwanzigstes KapitelNeunundzwanzigstes KapitelDreißigstes KapitelEinunddreißigstes KapitelZweiunddreißigstes KapitelDreiunddreißigstes Kapitel
EpilogCopyright

Prometheus stieg vom Himmel herab und brachte den Menschen des Feuer. Falscher Zug.

Prolog

Karthago, Tunesien3:22 Uhr

Unablässig stürzte sintflutartiger Regen herab und angepeitscht von heulenden Sturmböen donnerte die Brandung an den Strand, ein anhaltendes Dröhnen in schwarzer Nacht. Im flacheren Wasser nahe dem Ufer wippten etliche dunkle Gestalten in den Wellen, die sich an ihren wasserdichten Packsäcken festgeklammerten wie Schiffbrüchige an Wrackteilen. Das Unwetter hatte die Männer überrascht, aber es kam ihnen gelegen. Eine bessere Deckung hätten sie sich nicht wünschen können.

Am Strand blinkte zweimal ein roter Lichtpunkt auf, das verabredete Zeichen des Vorauskommandos, mit dem es signalisierte, dass die Männer sicher an Land kommen konnten. Sicher! Was hatte das schon zu bedeuten? Dass die Garde Nationale diesen Küstenabschnitt weniger gründlich kontrollierte? Doch die tunesische Küstenwache war bei weitem nicht so bedrohlich wie diese Naturattacke.

Hin und her geworfen von den sich brechenden Wellen, strebten die Männer auf das Ufer zu und stiegen schließlich vor den Ruinen der antiken punischen Hafenanlage aus dem Wasser. Sie streiften die schwarzen Neoprenanzüge ab, unter denen wiederum schwarze Kleidung und geschwärzte Gesichter zum Vorschein kamen. Aus den Packsäcken holten sie ihre Waffen: Heckler & Koch MP-10 Maschinenpistolen, Kalaschnikows und Präzisionsgewehre. Nach einer Weile hatte schließlich auch der Letzte der Männer den Strand erreicht.

Die Aktion war von einem Mann koordiniert worden, der sie während der vergangenen Monate bis zur Erschöpfung gedrillt hatte. Sie waren Tunesier, Al-Nahda-Kämpfer, die sich zum Ziel gesteckt hatten, ihr Land von den Unterdrückern zu befreien. Ihre Anführer aber waren Ausländer, Mitglieder eines kleinen Elitekaders aus Kämpfern vom radikalsten Flügel der Hisbollah. Diese gut ausgebildeten Freischärler waren selbst gläubige Muslime.

Der Anführer dieses Kaders und der fünfzig oder mehr Tunesier war ein unter dem Namen Abu bekannter Terrorist. Gelegentlich wurde er auch bei seinem vollen Decknamen genannt: Abu Intiquab. Vater der Rache.

In aller Heimlichkeit hatte Abu die Al-Nahda-Kämpfer in einem libyschen Camp bei Zuara ausgebildet. Sie hatten sich an einem Eins-zu-eins-Modell des Präsidentenpalastes in Kampftaktiken geübt, die brutaler und heimtückischer waren als alles bisher Dagewesene.

Vor nicht einmal dreißig Stunden waren die Männer im Hafen von Zuara an Bord eines in Russland gebauten 5000-Tonnen-Frachters gestiegen, mit dem normalerweise tunesische Textilien und Ware aus Libyen zwischen Tripolis und Binzert in Tunesien hin- und hergeschifft wurden. Der robuste, aber mittlerweile stark lädierte alte Frachter war in nordnordwestlicher Richtung an Tunesiens Küste entlanggefahren, vorbei an den Städten Sfax und Soussa, war dann um das Cap Bon gebogen und gleich hinter dem Marinestützpunkt La Goulette in die Bucht von Tunis gelangt. Um den Booten der Küstenwache nicht in die Quere zu kommen, hatten die Männer fünf Seemeilen vor Karthago Anker gesetzt und Schlauchboote mit kräftigen Außenbordmotoren zu Wasser gelassen. In nur wenigen Minuten hatten sie die Brandung vor Karthago erreicht, jener einstmals so mächtigen phönizischen Stadt, die im fünften Jahrhundert v. Chr. die große Rivalin Roms gewesen war. Auf dem Radarschirm der Küstenwache wäre bloß ein Frachter zu sehen gewesen, der unterwegs nach Binzert eine kurze Pause einlegt.

Der Mann, der das rote Lichtsignal gegeben hatte, fluchte und kommandierte die Männer in einem Tonfall, der keinen Zweifel an seiner Autorität aufkommen ließ. Er hatte einen Vollbart und trug einen Anorak aus Armeebeständen, dessen Kapuze über seine Keffise gezogen war. Abu.

»Ruhe! Seid leise! Oder wollt ihr vielleicht die ganze verdammte Garde am Hals haben? Beeilung! Ein bisschen schneller, ihr lahmen Säcke! Während ihr hier herumtrödelt, schmort euer Anführer im Gefängnis. Die Trucks warten.«

Neben ihm stand ein Mann, der angestrengt durch ein Nachtsichtgerät spähte. Ihn, den Munitionsexperten der Hisbollah, kannten die Tunesier nur als den Techniker. Er sah gut aus, hatte einen hellbraunen Teint, buschige Brauen und glänzend braune Augen. Den Männern war er noch weniger bekannt als Abu, dem er als Berater zur Seite stand. Gerüchten nach war er der Sohn wohlhabender syrischer Eltern, in Damaskus aufgewachsen und in London zum Waffen- und Sprengstoffspezialisten ausgebildet worden.

Um sich vor dem peitschenden Regen zu schützen, zog der Techniker die Kopfbedeckung seiner schwarzen, wasserdichten Montur tiefer ins Gesicht. Endlich machte er den Mund auf. Seine Stimme klang ruhig und beherrscht.

»Ich zögere noch, es zu sagen, aber die Operation läuft bislang glatt, mein Bruder. Die mit dem matériel beladenen Trucks sind, wie verabredet, getarnt, und die Soldaten haben die kurze Strecke über die Avenue Habib Borguiga ungehindert zurücklegen können. Die Vorhut hat uns soeben über Funk mitgeteilt, dass sie den Präsidentenpalast erreicht hat. Der Coup d’État hat begonnen.« Noch im Sprechen hatte er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen.

Abu nickte energisch. Er war ein Mann, der Erfolg gewohnt war. Mehrere Explosionen in der Ferne verrieten ihm und seinem Berater, dass der Kampf ausgebrochen war. Der Präsidentenpalast würde eingenommen werden und Tunis schon in wenigen Stunden unter der Kontrolle militanter Islamisten stehen. »Wir sollten uns nicht zu früh gratulieren«, sagte Abu mit angespannter Stimme. Der Regen ließ etwas nach, und der Sturm flaute so unvermittelt ab, wie er ausgebrochen war.

In die plötzlich eingetretene Stille am Strand drangen gellende Rufe. Jemand schrie mit schriller Stimme etwas auf Arabisch. Dunkle Gestalten rannten über den Sand. Abu und sein Techniker langten nach ihren Waffen, sahen aber dann, dass es Hisbollah-Brüder waren, die da auf sie zugelaufen kamen.

»Null-eins!«

»Ein Hinterhalt!«

»Allmächtiger Allah, sie sind umzingelt!«

Vier Araber näherten sich, verschreckt und außer Atem. »Ein Null-eins-Notsignal«, keuchte der eine, der ein PRC-117-Funkgerät auf dem Rücken trug. »Sie konnten nur noch mitteilen, dass sie von Sicherheitskräften umzingelt und gefangen genommen wurden. Dann ist die Verbindung abgebrochen. Sie behaupten, in eine Falle getappt zu sein.«

Alarmiert wandte sich Abu seinem Berater zu. »Wer könnte dahinter stecken?«

Der jüngste der vier jungen Männer, die vor ihnen standen, sagte: »Das matériel, das für sie bereitgestellt worden ist – die Panzerabwehrwaffen, die Munition, das C-4 –, nichts davon hat funktioniert! Und die Regierungstruppen lagen schon auf der Lauer. Das war abgekartet, von Anfang an.«

Abu stand sichtlich unter Schock; mit der für ihn sonst typischen Gelassenheit war es vorbei. Er winkte seinen wichtigsten Berater zu sich: »Ya sahbee, ich brauche deinen weisen Rat.«

Der Techniker fummelte im Näherkommen an seiner Armbanduhr. Abu legte ihm einen Arm um die Schulter und sagte leise: »Es gibt offenbar einen Verräter in unseren Reihen, einen Spitzel. Unsere Pläne sind verraten worden.«

Abu deutete mit Zeigefinger und Daumen ein Zeichen an, das für einen Uneingeweihten kaum wahrzunehmen war. Doch seine Männer verstanden sofort. Sie packten den Techniker bei den Armen, Beinen und Schultern. Der wehrte sich mit aller Kraft, kam aber gegen die durchtrainierten Kämpfer nicht an. Abus rechte Hand schnellte nach vorn. Etwas Metallenes blitzte auf. Abu rammte dem Techniker ohne Vorwarnung ein krummes Messer mit gezackter Schneide in den Unterleib und zog es sofort wieder heraus. Abus Augen blitzten. »Der Verräter bist du!«, spuckte er aus.

Der Techniker schnappte nach Luft. Trotz der Schmerzen, die er litt, blieb sein Gesicht maskenhaft unbewegt. »Nein, Abu!«, protestierte er.

»Schwein!« Abu schickte sich an, ein zweites Mal zuzustechen. »Zeitpunkt und genauen Ablauf kannte sonst niemand. Kein Einziger! Und du warst es, der das matériel abgenommen hat. Es kann keiner außer dir gewesen sein.«

Plötzlich wurde der Strand von gleißend hellem Scheinwerferlicht überflutet. Abu blickte auf und sah sich und seine Männer von zahllosen, schwer bewaffneten Soldaten in khakifarbenen Uniformen eingekesselt. Das Groupement de Commando der tunesischen Garde Nationale war wie aus dem Nichts aufgetaucht, und ein dröhnendes Knattern in der Luft zeugte von der Ankunft mehrerer Kampfhubschrauber.

Feuerstöße aus automatischen Gewehren verwandelten Abus Männer in zuckende Marionetten. Ihre Schreie waren schnell verstummt, als ihre Körper zu Boden sackten, wo sie grotesk verrenkt liegen blieben. Noch einmal krachten die Waffen, dann wurde es gespenstisch still. Von den Terroristen waren nur der Anführer und sein Munitionsexperte am Leben geblieben.

Doch Abu schien nichts anderes im Sinn zu haben als den vermeintlichen Verräter. Er fuhr herum und hob das Krummmesser, um ihm den Todesstoß zu versetzen. Schwer verwundet versuchte der Techniker, den Angriff abzuwehren, brachte aber keine Kraft mehr auf. Er hatte bereits zu viel Blut verloren. Der bärtige Hisbollah-Anführer wollte sich gerade auf ihn stürzen, als er, von kräftigen Händen gepackt, zurückgezerrt und in den Sand geworfen wurde.

Abus Augen funkelten trotzig, als er sich von zwei Regierungssoldaten in Gewahrsam genommen sah. Er fürchtete sich vor keiner Regierung. Regierungen sind feige, hatte er immer gesagt. Regierungsvertreter würden hinter den Kulissen kungeln, irgendeinen Vorwand finden – sei es internationales Recht oder ein Auslieferungsverfahren oder Repatriierung – und ihn wieder auf freien Fuß setzen, in aller Heimlichkeit natürlich. Denn darin waren sich alle gleich: Keine Regierung wollte den Zorn der Hisbollah auf sich lenken und terroristische Vergeltungsschläge riskieren.

Abu wehrte sich nicht, aber er ließ seinen Körper hängen und zwang die Soldaten dadurch, ihn hinter sich her zu schleifen. Als sie an seinem ehemaligen Vertrauten vorbeikamen, spuckte er ihm ins Gesicht und zischte: »Dir bleibt nicht mehr viel Zeit, Verräter. Schwein! Du wirst sterben für deinen Verrat.«

Als Abu weggeschafft war, legte man den Techniker auf eine Trage. Der Kommandeur der Truppe kam, kniete sich neben ihm in den Sand und inspizierte die Wunde. Der Mann winselte leise, ließ aber sonst kein Wort verlauten.

»Mein Gott, dass Sie überhaupt noch bei Bewusstsein sind!«, sagte der Kommandeur. Sein Englisch hatte einen starken Akzent. »Sie sind schwer verwundet und haben viel Blut verloren.«

Der als der Techniker bekannte Mann antwortete: »Wenn Ihre Männer ein bisschen schneller auf mein Signal reagiert hätten, wäre das hier nicht passiert.« Er zeigte auf seine Armbanduhr, die mit einem Minisender ausgestattet war.

Der Hauptmann ignorierte den Vorwurf. »Der SA-341«, er deutete auf den Hubschrauber, der über ihnen schwebte, »wird Sie in ein gut bewachtes Krankenhaus in Marokko bringen. Ich darf Ihre wahre Identität nicht erfahren, auch nicht, wer Ihre eigentlichen Auftraggeber sind. Darum frage ich auch gar nicht erst«, sagte der Tunesier. »Allerdings kann ich mir denken, dass …«

Plötzlich zischte der Techniker: »In Deckung!« Er zog eine halbautomatische Pistole aus dem Halfter unterm Arm und feuerte in schneller Folge fünf Schüsse ab. In einiger Entfernung standen mehrere Palmen. Von dort gellte ein Schrei, und ein Kämpfer der Al-Nahda stürzte, sein Gewehr noch in der Hand, zu Boden. Offenbar hatte er sich während der Schießerei auf der Palme in Sicherheit bringen können.

»Allmächtiger!«, stöhnte der Kommandeur und schaute sich vorsichtig um. »Jetzt sind wir wohl quitt, Sie und ich.«

»Hören Sie zu«, murmelte der Araber matt, der gar kein Araber war. »Sagen Sie Ihrem Präsidenten, dass sein Innenminister ein heimlicher Sympathisant und Kollaborateur der Al-Nahda ist und seinen Platz einnehmen will. Er hat den stellvertretenden Verteidigungsminister auf seiner Seite. Und da sind noch andere …«

Doch er hatte schon zu viel Blut verloren. Noch ehe er seinen Satz beenden konnte, war er in Ohnmacht gefallen.

ERSTER TEIL

Erstes Kapitel

Washington, D.C.Fünf Wochen später

Der Patient wurde mit einem gecharterten Jet zu einem privaten Rollfeld dreißig Kilometer nordwestlich von Washington D.C. ausgeflogen. Obwohl er der einzige Passagier an Bord war, wechselte keiner von der Besatzung mit ihm ein Wort, das über das Allernötigste hinausgegangen wäre. Niemand kannte seinen Namen. Man ahnte lediglich, dass es sich um eine wichtige Persönlichkeit handeln musste. Der Flug war nirgends registriert, weder bei zivilen noch militärischen Kontrollstellen.

Nach der Landung wurde der anonyme Passagier in einer unauffälligen Limousine nach Washington gebracht und auf eigenen Wunsch hin in der Tiefgarage eines tristen Häuserblocks nahe dem Dupont Circle abgesetzt. Er trug einen schlichten grauen Anzug, abgetragene aber sauber polierte Halbschuhe und sah aus wie Dutzende andere Mitarbeiter der Washingtoner Regierungsverwaltung – ein gesichts- und farbloser Beamter aus dem mittleren Dienst.

Unbeachtet tauchte er aus der Tiefgarage auf und ging leichten Schrittes, aber merklich hinkend auf ein graubraunes, viergeschossiges Gebäude in der K Street nahe der 21 st Street zu. Das Haus, ganz aus Beton und grau abgetöntem Glas, unterschied sich durch nichts von all den anderen unansehnlichen Kästen in diesem nordwestlichen Bezirk der Stadt. Hier hatten Interessenvertretungen, Handelsgruppen, Reiseunternehmen und Industrieverbände ihre Hauptstadtbüros. Neben dem Eingang waren zwei Bronzetafeln montiert mit der Aufschrift INNOVATION ENTERPRISES und AMERICAN TRADE INTERNATIONAL.

Nur einem aufmerksamen Beobachter mit entsprechendem Hintergrundwissen wären vielleicht ein paar ungewöhnliche Details aufgefallen – so zum Beispiel die Tatsache, dass jeder Fensterrahmen mit einem piezoelektrischen Oszillator ausgestattet war, der alle Versuche einer Laser-akustischen Überwachung von außen scheitern ließ. Oder die hochfrequentige White-noise-»Quelle«, die zum Schutz vor Lauschangriffen einen Kegel aus Radiowellen über das Gebäude stülpte.

Ansonsten gab es an dem Gebäude nichts, was die Neugier der Nachbarn geweckt hätte – jener Anwälte der Landwirtschaftskammer oder der verkniffenen Buchhalter mit ihren Krawatten und kurzärmeligen Oberhemden, die in der langsam dahinsiechenden Consulting-Firma beschäftigt waren. Morgens trudelte die Belegschaft vor dem Gebäude 1324 K Street ein, abends ging sie wieder weg, und an bestimmten Tagen kam die Müllabfuhr, um den Container zu leeren. Worum hätte man sich sonst noch kümmern sollen? Und so gefiel es dem Direktorat: in aller Öffentlichkeit gut versteckt zu bleiben.

Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, musste der Mann unwillkürlich schmunzeln. Wer würde je vermuten, dass der geheimste aller Geheimdienste sein Hauptquartier ausgerechnet in einem gewöhnlichen Bürogebäude an der K Street bezogen hatte?

Die Central Intelligence Agency in Langley, Virginia, und die National Security Agency in Fort Meade, Maryland, waren in protzigen Festungen untergebracht, die förmlich auszurufen schienen: Alle mal hersehen! Hier bin ich, genau hier! Sie forderten alle Welt geradezu auf, ihre Sicherheitsschranken zu durchbrechen, was auch immer wieder versucht wurde. Diese angeblich klandestinen Behörden wirkten so diskret wie die US-Postverwaltung.

Der Mann stand in der Eingangshalle von 1324 K Street und musterte die schmale Messingkonsole, an der ein ganz normaler Telefonhörer befestigt war, eine Sprechanlage, wie man sie überall auf der Welt in den Foyers solcher Bürohäuser vorfindet. Der Mann nahm den Hörer auf und tippte eine bestimmte Ziffernfolge in die Tastatur. Am Schluss hielt er für mehrere Sekunden den Zeigefinger auf der #-Taste gedrückt, bis ein leiser Klingelton bestätigte, dass sein Fingerabdruck elektronisch gescannt, analysiert und mit einem der gespeicherten digitalisierten Abdrücke erfolgreich abgeglichen worden war. Nach exakt drei Rufzeichen wurde er von einer synthetischen Frauenstimme aufgefordert, sein Anliegen zu erklären.

»Ich bin mit Mr. Mackenzie verabredet«, antwortete der Mann. In Bruchteilen von Sekunden wurden seine Worte in Datenbits konvertiert und wiederum mit einer Datenbank voller Stimmproben abgeglichen. Erst als dies geschehen war, summte die automatische Verriegelung der ersten inneren Tür aus kugelsicherem Glas. Er legte den Hörer auf, stieß die Tür auf und betrat einen winzigen Vorraum, wo er ein paar Sekunden lang verharrte, damit sein Gesicht von drei hoch auflösenden Überwachungskameras abgelichtet und mit dem vorhandenen Bildmaterial verglichen werden konnte.

Die zweite Tür öffnete sich in einen kleinen, schmucklosen Empfangsraum mit weißen Wänden und grauem Teppichboden. Auch hier befand sich eine versteckte Apparatur, ein Detektor zum Auffinden verborgener Waffen. Auf einer marmornen Ablage in der Ecke lag ein Stapel Broschüren mit dem eingeprägten Logo von American Trade International, einer Organisation, die nur in einigen Registraturen und auf diversen Rechtsdokumenten existierte. Von dem Logo abgesehen, enthielten die Broschüren nur nichts sagendes Blabla und beliebige Plattheiten über den internationalen Handel. Ein Wachposten mit ernster, verschlossener Miene winkte Bryson vorbei, durch eine Reihe weiterer Türen und in einen mit dunklem Walnussholz getäfelten Raum, wo rund ein Dutzend Schreibkräfte bei der Arbeit saßen. Man hätte meinen können, in einer der schicken Kunstgalerien an der 57th Street in Manhattan oder in einer gut gehenden Anwaltskanzlei zu sein.

»Nick Bryson, unser wichtigster Mann! «, rief Chris Edgecomb und sprang von seinem Sitz hinter einem Computerbildschirm auf. Der schlanke, große Mann war in Guyana geboren, hatte eine dunkelbraune Haut und grüne Augen. Seit vier Jahren gehörte er dem Direktorat an und arbeitete im Team für Kommunikation und Koordination. Seine Aufgabe bestand vor allem darin, Notrufe aufzufangen und, wenn nötig, Agenten vor Ort zum Einsatz zu bringen. Edgecomb schüttelte Bryson die Hand.

Nicholas Bryson wusste, dass er von Leuten wie Edgecomb, die liebend gern selbst im Außendienst tätig gewesen wären, als eine Art Held angesehen wurde. »Treten Sie dem Direktorat bei und verändern Sie die Welt«, witzelte Edgecomb häufig in seinem singenden Englisch, und es war meist Bryson, den er dann im Sinn hatte. Dass das Büropersonal ihn, Bryson, aus nächster Nähe zu Gesicht bekam, war selten genug und für Edgecomb gewiss ein Ereignis.

»Es hat Sie schlimm erwischt, nicht wahr?« Edgecomb war voller Mitgefühl angesichts jenes Mannes, der bis vor kurzem im Krankenhaus gelegen hatte. Aber weil er wusste, dass es ihm nicht zustand, Fragen zu stellen, fügte er schnell hinzu: »Ich habe für Sie zum Heiligen Christopher gebetet. Sie werden in null Komma nichts wieder voll auf dem Damm sein.«

Segmentierung und Arbeitsteilung waren das A und O des Direktorats. Kein Agent oder Büroangestellter durfte so viel an Interna wissen, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Ganzen werden konnte. Die Organisationsstrukturen wurden selbst vor so altgedienten Männern wie Bryson geheim gehalten. Natürlich kannte er einige der Kollegen vom Schreibtisch, aber die Außendienstler arbeiteten allesamt isoliert für sich und innerhalb der Netze, die sie selbst geknüpft hatten. War eine Zusammenarbeit unausweichlich, kannte man den anderen nur unter einem Pseudonym und seiner kurzfristig geltenden Legende. Diese Regel war mehr als bloß eine Verfahrensvorschrift – sie war ehernes Gesetz.

»Danke, Sie sind ein guter Kerl, Chris«, sagte Byrson.

Edgecomb lächelte bescheiden und zeigte mit dem Finger nach oben. Er wusste, dass Bryson mit Ted Waller, dem Chef, verabredet war – oder hatte der ihn etwa vorladen lassen? Bryson schmunzelte, gab Edgecomb einen freundlichen Klaps auf die Schulter und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl.

»Bleib sitzen«, sagte Bryson, als er Ted Wallers Büro in der dritten Etage betrat. Waller stand trotzdem auf – zur vollen Größe von einsneunzig, auf die sich ein Gewicht von 135 Kilo verteilte.

»Herrje, wie du aussiehst!«, sagte Waller sichtlich betroffen. »Wie jemand, der gerade aus einem Kriegsgefangenenlager kommt.«

»Ich war 33 Tage in einem US-Krankenhaus in Marokko; das hat auch schon gereicht«, entgegnete Bryson. »Es war nicht gerade das Ritz.«

»Vielleicht sollte ich mich eines Tages auch mal von einem verrückt gewordenen Terroristen aufschlitzen lassen.« Waller tätschelte seinen stattlichen Bauch, der seit Brysons letztem Besuch noch dicker geworden zu sein schien, obwohl der Anzug aus marineblauem Kaschmir elegant darüber hinwegtäuschte – so wie der Kragen seines Turnbull-&-Asser-Hemdes über den mächtigen Stiernacken. »Nick, ich mache mir wegen dieser Sache schreckliche Vorwürfe. Mir wurde gesagt, es sei ein bulgarisches Sägemesser der Marke Verenski gewesen, das man dir in den Leib gestochen und in der Wunde herumgedreht hat. Ekelhaft und primitiv. Was ist das nur für eine Welt, in der wir leben. Vergiss nie: Worüber wir stolpern, ist, was wir nicht sehen.« Schwerfällig setzte sich Waller zurück in seinen dick gepolsterten Ledersessel. Das getönte Fensterglas in seinem Rücken filterte das Licht der frühen Nachmittagssonne. Bryson nahm in einem Sessel vor dem Eichenschreibtisch Platz. Waller, der für gewöhnlich eine rötlich Gesichtsfarbe hatte und einen robusten Eindruck machte, war bleich und hatte Ränder unter den Augen. »Es heißt, du hast dich erstaunlich schnell erholt.«

»In zwei, drei Wochen werde ich wieder voll auf der Höhe sein. Jedenfalls haben mir das die Ärzte versprochen. Sie meinten auch, dass ich mir nie mehr Sorgen um meinen Blinddarm zu machen brauche. Immerhin eine positive Nebenwirkung«, sagte er und empfand einen dumpfen Schmerz in der rechten Hälfte des Unterleibs.

Waller nickte nervös. »Weißt du, warum du hier bist?«

»Ein Schuljunge, der zum Rektor zitiert wird, hat einen Rüffel zu erwarten.« Bryson gab sich unbekümmert, obwohl ihm ganz anders zumute war.

»Rüffel«, wiederholte Waller wie abwesend. Er blieb für eine Weile stumm und richtete den Blick auf eine Reihe in Leder gebundener Bücher im Regal neben der Tür. Dann wandte er sich wieder seinem Gegenüber zu und sagte mit bedrückter Stimme: »Auch wenn das Direktorat mit seinen Belangen argwöhnisch hinterm Berg hält, wirst du, mein Lieber, doch in etwa wissen, wie es um die Befehlsstrukturen bei uns bestellt ist. Letzte Entscheidungen liegen nicht bei mir, vor allem dann nicht, wenn es um wichtige Personalangelegenheiten geht. Bei aller Loyalität, die ich genauso empfinde wie du – ja , wie sie verflucht noch mal jeder von uns empfindet – ist gerade in heutiger Zeit ein ganz und gar nüchterner Pragmatismus gefordert. Das weißt du.«

Für Bryson kam nur ein Beruf in Frage, und den übte er aus; daran gab es nichts zu rütteln. Nun aber schwante ihm Schlimmes, und er musste sich zurückhalten, um seinem Vorgesetzten nicht sofort ins Wort zu fallen. Das gehörte sich hier einfach nicht. Er erinnerte sich an eines von Wallers Mantras: So etwas wie Pech gibt es nicht. Und dann fiel ihm noch eine andere Weisheit ein: »Ende gut, alles gut«, sagte er. »Und die Sache ist gut ausgegangen.«

»Wir hätten dich fast verloren«, erwiderte Waller. »Ich hätte dich fast verloren«, fügte er in klagendem Tonfall hinzu, wie ein Lehrer, der sich vom besten Schüler enttäuscht fühlte.

»Was soll’s?«, sagte Bryson ruhig. »Wer draußen im Einsatz ist, hat den Packzettel meist nicht zur Hand. Das sind deine eigenen Worte. Man muss improvisieren, auch mal dem Instinkt folgen. Die Vorschriften allein helfen nicht immer weiter.«

»Mit dir hätten wir womöglich auch Tunesien verloren. Es wären fast eine Reihe anderer Geheimoperationen aufgeflogen, im Maghreb und an anderen Stellen unseres Sandkastens. Dominoeffekt nennt man so was. Du hast andere Menschenleben in Gefahr gebracht, Nicky – andere Operationen und Menschenleben. Deine Legende als Techniker war eng verflochten mit anderen von uns fabrizierten Legenden. Das weißt du. Trotzdem hast du deine Deckung auffliegen lassen. Damit ist die Arbeit von vielen Jahren kompromittiert worden.«

»Augenblick mal …«

»Du jubelst denen unbrauchbare Munition unter … Hast du wirklich geglaubt, damit durchzukommen, ohne in Verdacht zu geraten?«

»Verdammt, das mit der unbrauchbaren Munition war nicht beabsichtigt.«

»Aber sie war unbrauchbar. Warum?«

»Keine Ahnung.«

»Hast du sie geprüft?«

»Ja. Nein. Ich weiß nicht. Es ist mir einfach nicht in den Sinn gekommen, dass man uns schlechte Ware andrehen könnte.«

»Ein schwerer Lapsus, Nicky. Damit hast du, wie gesagt, die Ergebnisse jahrelanger Arbeit gefährdet. Ganz zu schweigen vom Leben einiger unserer besten Leute. Verflucht, was hast du dir dabei gedacht?«

Bryson ließ mit der Antwort eine Weile auf sich warten. »Man hat mich auflaufen lassen«, sagte er dann.

»Wie bitte?«

»Ich bin mir nicht ganz sicher.«

»Wenn man dich hat auflaufen lassen, musst du schon unter Verdacht gestanden haben. Hab ich Recht?«

»Ich … ich weiß nicht.«

»Du weißt nicht? Solche Worte sind nicht besonders vertrauensbildend, findest du nicht auch? Das sind keine Worte, die ich gerne höre. Du warst bislang unser bester operativer Agent. Was ist nur los mit dir, Nick?«

»Mag sein, dass mir irgendwann irgendein Fehler unterlaufen ist. Glaub mir, darüber hab ich mir selbst schon den Kopf zerbrochen.«

»Ich will Antworten hören.«

»Vielleicht gibt’s keine Antworten, jedenfalls vorläufig noch nicht.«

»Wir können uns solche Pleiten nicht erlauben. Nachlässigkeiten sind nicht hinzunehmen. Es gibt Grenzen, und was darüber hinausgeht, kann das Direktorat nicht tolerieren. Das war dir von Anfang an bewusst.«

»Glaubst du etwa, ich hätte einen großen Handlungsspielraum gehabt? Oder dass sich ein anderer an meiner Stelle besser geschlagen hätte?«

»Du warst der Beste, den wir je hatten; das dürfte dir bekannt sein. Aber wie gesagt, es gibt Entscheidungen, die nicht ich, sondern nur der Konsortiumsvorstand treffen kann.«

Bei dieser für Verwaltungsmenschen so typischen Ausflucht lief es Bryson kalt den Rücken hinunter. Ihm war klar, dass sich Waller bereits aus der Verantwortung gestohlen hatte, Ted Waller, sein Mentor, Boss, Freund und – vor fünfzehn Jahren – sein Ausbilder. Er hatte ihn zu Anfang seiner Laufbahn immer persönlich auf seine Einsätze vorbereitet, was Bryson nach wie vor als eine große Ehre ansah. Ein intelligenterer Mensch als Waller war ihm noch nie begegnet. Er konnte Differenzialgleichungen im Kopf lösen und verfügte über einen enormen Fundus an geopolitischem Wissen. Gleichzeitig war er körperlich sehr gewandt, was man ihm beim besten Willen nicht ansah. Bryson erinnerte sich, wie Waller einmal am Schießstand ganz nonchalant aus zwanzig Meter Entfernung einen Volltreffer nach dem anderen gelandet und sich dabei zerknirscht über den Niedergang des britischen Schneiderhandwerks ausgelassen hatte. In seiner riesigen, weichen Pranke war die 22er wie ein kleiner Handschmeichler fast verschwunden, doch er verstand sie zu führen, als sei sie ein Teil von ihm.

»Du sprichst in der Vergangenheitsform, Ted«, sagte Bryson. »Soll wohl heißen, dass du mich schon aufgegeben hast.«

»Ich meine nichts anderes, als was ich gesagt habe«, entgegnete Waller ruhig. »Mit einem Besseren als dir habe ich nie zusammengearbeitet und werde es wohl auch nicht.«

Dank seines Temperaments und jahrelangen Trainings fiel es Nick nicht schwer, nach außen ruhig zu bleiben, obwohl er im Inneren Aufruhr verspürte. Du warst der Beste, den wir je hatten. Das klang fast wie der Nachruf auf einen Toten. Bryson erinnerte sich noch lebhaft an Wallers Reaktion auf seinen ersten operativen Coup, als es ihm gelungen war, das versuchte Attentat auf einen südafrikanischen Reformpolitiker zu vereiteln. Nicht schlecht, hatte Waller gesagt und die Lippen fest aufeinander gepresst, um sein Grinsen zu verbergen. Ein schöneres Lob hatte er nie erhalten, und er hatte begriffen: Ist man erst als wertvoll erkannt, wird man auch eingesetzt.

»Nick, was du auf den Komoren geschafft hast, wird dir so leicht keiner nachmachen. Ohne dich wäre da jetzt dieser wahnsinnige Oberst Denard an der Macht. Und auf Sri Lanka verdanken dir Tausende von Menschen ihr Leben, weil du die Routen des Waffenhandels hast auffliegen lassen. Und in Weißrussland? Die GRU hat immer noch keinen Schimmer und wird auch nie erfahren, was du da abgezogen hast. Überlassen wir’s den Politikern, ihre Farben innerhalb der Linien aufzutragen, die wir gezogen haben. Die du gezogen hast. Die Historiker werden davon nichts erfahren, und das ist gut so. Es reicht, wenn wir Bescheid wissen, oder?«

Bryson antwortete nicht. Eine Antwort war nicht gefragt. »Und noch etwas anderes, Nick. Man rümpft hier die Nasen wegen dieser Sache mit der Banque du Nord.« Er bezog sich auf Brysons Einstieg in eine tunesische Bank, durch die er Gelder zur Finanzierung des geplanten Anschlags an Abu und die Hisbollah transferiert hatte. Im Verlauf der Operation waren dann eines Nachts 1,5 Milliarden Dollar spurlos im Cyberspace verschwunden. Monatelange Recherchen waren zu keinem Ergebnis gekommen. Die Geschichte hatte einen losen Faden, und das Direktorat mochte keine losen Fäden.

»Du unterstellst mir doch wohl nicht, dass ich mich selbst bedient hätte?«

»Natürlich nicht. Aber du wirst verstehen, dass immer ein Verdacht zurückbleibt. Die Frage schwebt im Raum, solange keine Antwort darauf gefunden wird.«

»Mir haben sich schon oft Gelegenheiten zur persönlichen Bereicherung geboten, die sehr viel lukrativer und diskreter gewesen wären.«

»Ja, du bist gründlich geprüft worden und hast alle Prüfungen mit Bravour bestanden. Aber was mir nicht passt, ist die Methode. Dass du, um verwertbares Material gegen Abu und Konsorten zu sammeln, ihnen diese Gelder hast zukommen lassen.«

»Improvisation nennt man so was. Dafür werde ich bezahlt – dass ich meine Fähigkeiten möglichst diskret einsetze, wann und wo Bedarf dafür besteht.« Bryson stockte und merkte auf. »Aber woher weißt du das eigentlich? Darüber gibt’s doch noch gar keinen Bericht von mir.«

»Du hast alles schon haarklein erzählt, Nick«, sagte Waller.

»Von wegen … ach, ich verstehe, ihr habt mich mit euren Chemikalien voll gepumpt, stimmt’s?«

Waller zögerte einen Augenblick, lange genug, um Brysons Frage zu beantworten. Wenn es darauf ankam, konnte Ted Waller unumwunden und perfekt lügen, doch Bryson wusste, dass es sein alter Freund und Mentor kaum über sich brachte, ihn für dumm zu verkaufen. »Auch in dieser Hinsicht habe ich nicht das letzte Wort, Nick. Für Informationsbeschaffung sind andere zuständig. Das weißt du.«

In diesem Moment wurde Bryson klar, warum er so übermäßig lange in der von Amerikanern geführten Klinik in Laayoune hatte zubringen müssen. Er war, ohne selbst etwas davon zu merken, zum Sprechen gebracht worden, und zwar wahrscheinlich mit einem Zusatzmittel in irgendwelchen Infusionen. »Verdammt, Ted! Was hat das zu bedeuten? Dass man mir nicht traut? Ich hätte doch freiwillig Rede und Antwort gestanden. Warum habt ihr mich so hintergangen? «

»Manchmal sind die zuverlässigsten Befragungen gerade die, bei denen der Befragte keine Möglichkeit hat, persönliche Interessen ins Spiel zu bringen.«

»Mit anderen Worten, ihr seid davon ausgegangen, dass ich lüge, um meinen Arsch zu retten.«

Wallers Antwort war so ruhig wie frostig. »Wenn eine Bewertung ergeben hat, dass ein Mitarbeiter nicht 100-prozentig vertrauenswürdig ist, wird – zumindest bis auf weiteres – das Gegenteil angenommen. Das gefällt mir so wenig wie dir, ist aber bei einem Geheimdienst nun einmal so der Fall, gerade bei uns, die wir besonders diskret sind. Oder wäre paranoid das richtigere Wort?«

Paranoid. Für Waller und seine Direktoratskollegen waren die Central Intelligence Agency, die Defense Intelligence Agency und selbst die National Security Agency geradezu ausgehöhlt von Maulwürfen, geknebelt von Auflagen und Vorschriften und gelähmt durch einen permanenten Desinformationskrieg gegen ihre Pendants im feindlichen Ausland. Diese Agenturen, deren Existenz und Wirken aller Welt hinlänglich bekannt waren, bezeichnete Waller gern als »wollene Mammuts«. Zu Anfang seiner Zeit beim Direktorat hatte Bryson in seiner Naivität einmal gefragt, ob es nicht Sinn machte, zumindest in einigen Bereichen mit anderen Agenturen zusammenzuarbeiten. Waller hatte lauthals darüber gelacht. »Wir sollen den wollenen Mammuts auf die Nüstern binden, dass es uns gibt? Dann können wir ja auch gleich eine Pressemitteilung an die Prawda schicken.« Doch nach Wallers Ansicht ging die Krise des amerikanischen Geheimdienstes über das Problem der Unterwanderung weit hinaus. Die Spionageabwehr war eines seiner Lieblingsthemen. »Du belügst den Feind und bespitzelst ihn dann; was dabei herauskommt, ist natürlich eine Lüge«, hatte Waller einmal gesagt. »Aber diese Lüge ist jetzt gewissermaßen wahr; sie wurde von der ›Aufklärung‹ neu eingestuft. Es ist wie die Suche nach Ostereiern. Wie viele Leute haben – auf beiden Seiten – Karriere gemacht, indem sie fleißig ausbuddelten, was ihre Kollegen vorher ebenso fleißig eingebuddelt hatten? Nämlich schöne, bunt bemalte Ostereier – aber nichtsdestotrotz Windeier.«

Die beiden hatten damals bis tief in die Nacht in der Kellerbibliothek unter der K Street zusammengesessen. Der Raum war mit einem kurdischen Teppich aus dem 17. Jahrhundert und alten britischen Gemälden mit Jagdmotiven ausgestattet, auf denen unter anderem reinrassige Hunde abgebildet waren, die in ihren Schnauzen soeben erlegtes Geflügel apportierten.

»Du verstehst doch, oder?«, hatte Waller damals gesagt. »Jedes CIA-Abenteuer, ob es versiebt wurde oder nicht, muss sich letztlich der öffentlichen Aufmerksamkeit stellen. Aber was wir machen, bleibt unterm Teppich, denn uns hat niemand im Radar.« Bryson erinnerte sich noch an das leise Klingeln der Eiswürfel im Kristallglas, als Waller an seinem im Eichenfass gereiften Lieblingsbourbon genippt hatte.

»Aber im rechtsfreien Raum zu agieren, kann unserer Sache doch auch nicht gerade förderlich sein«, hatte Bryson eingewendet. »Da wäre zum Beispiel die Frage der Ressourcen.«

»Zugegeben, daran fehlt’s, aber uns kommt andererseits auch keine Verwaltung in die Quere, und das ist, gerade was unsere Aufgaben betrifft, ein enorm großer Vorteil. Unsere Erfolge sind ein Beleg dafür. Wenn es darum geht, weltweit mit allen möglichen Gruppierungen auf Ad-hoc-Basis zusammenzuarbeiten und in Einzelfällen auch aggressive Interventionen zu riskieren, dann braucht man dazu einen kleinen Kreis extrem gut ausgebildeter Spezialisten. Man nutzt die Vorteile, die sich vor Ort bieten, und hat dadurch Erfolg, dass man die Ereignisse steuert und auf das gewünschte Ziel hin koordiniert. Auf den Wasserkopf der Spitzelbehörden kann man getrost verzichten. Alles, was man braucht, ist Grips.«

»Und Blut.« Bryson hatte schon ein gehöriges Quantum davon opfern müssen.

Waller zuckte mit den Achseln. »Das große Scheusal Josef Stalin hat es einmal auf den Punkt gebracht: Man kann keine Omelettes machen, ohne Eier aufzuschlagen.« Er sprach über das amerikanische Jahrhundert, über die Probleme einer Weltmacht. Über das imperiale Großbritannien des 19. Jahrhunderts, als dessen Parlament sechs Monate darüber verhandelte, ob ein Expeditionskorps jenem General zu Hilfe geschickt werden sollte, der mit seinen Truppen seit zwei Jahren belagert wurde. Waller und seine Direktoratskollegen waren überzeugte Verfechter einer freiheitlichen Demokratie – aber sie waren auch überzeugt davon, dass, wer ihre Zukunft sichern wollte, sich nicht immer an die, wie Waller sagte, Boxregeln des Marquis of Queensbury halten durfte. Wenn der Feind Tiefschläge verteilte, war man gut beraten, mit den entsprechend wirksamen Mitteln darauf zu antworten. »Wir sind das notwendige Übel«, hatte Waller gesagt. »Aber bilde dir bloß nichts darauf ein, denn das Hauptwort ist und bleibt ›Übel‹. Ja, wir operieren im rechtsfreien Raum, ohne Aufsicht und Kontrolle. Manchmal wird mir selbst vor unserem Verein angst und bange.« Es klimperte wieder im Glas, als er den letzten Schluck Bourbon kippte.

Nick Bryson hatte schon so manchen Fanatiker – nicht nur im gegnerischen Lager, sondern auch in den eigenen Reihen – zu Gesicht bekommen und fand Wallers Ambivalenz so tröstlich wie seinen Verstand bewundernswert: diese Gedankenschärfe und diesen Idealismus, der wie Sonnenlicht durch die Schlitze einer heruntergelassenen Jalousie aus Zynismus strahlte. »Mein Freund«, sagte Waller, »wir sind hier, um eine Welt zu schaffen, in der wir nicht mehr nötig sein werden.«

Jetzt, im aschfahlen Licht des frühen Nachmittags spreizte Waller seine Hände auf der Schreibtischplatte, wie um Halt zu finden bei der unangenehmen Aufgabe, die ihm nun bevorstand. »Wir wissen, dass dich Elenas Abschied sehr mitgenommen hat«, hob er an.

»Komm mir jetzt nicht damit«, blaffte Bryson. Er spürte eine Ader in seiner Stirn pulsieren. Elena war über viele Jahre seine Frau, Freundin und Geliebte gewesen. Vor sechs Monaten hatte Bryson sie aus Tripolis angerufen und erfahren müssen, dass sie ihn verlassen wollte. Darüber zu diskutieren, wäre zwecklos; sie sei fest entschlossen und durch nichts von diesem Entschluss abzubringen. Ihre Worte hatten ihn tiefer verletzt als Abus Messer. Ein paar Tage später war er – unter dem Vorwand, Waffen zu beschaffen – in die Staaten zurückgeflogen, um einen Zwischenbericht abzulegen, und musste erfahren, dass sie tatsächlich aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war.

»Hör zu, Nick, du hast wahrscheinlich mehr Gutes auf der Welt erreicht als irgendein anderer Geheimdienstler.« Waller überlegte kurz und fuhr dann mit sehr bedacht gewählten Worten fort: »Wenn ich dich weiter gewähren lasse, ist zu fürchten, dass du diese Leistung Stück für Stück zunichte machst.«

»Mag sein, dass ich dieses eine Mal Mist gebaut habe«, entgegnete Bryson. »So viel bin ich bereit einzuräumen.« Es hatte auch hier keinen Sinn zu diskutieren, doch er konnte sich einfach nicht zurückhalten.

»Du wirst wieder Mist bauen«, sagte Waller. »Wir pflegen in diesem Zusammenhang von Hab-Acht-Ereignissen zu sprechen. Die sind als Frühwarnsignale zu verstehen. Du warst außergewöhnlich erfolgreich, und das über lange Zeit. Außergewöhnlich. Aber fünfzehn Jahre, Nick. Für Agenten im Außeneinsatz sind das Hundejahre. Man sieht nicht mehr klar, ist ausgebrannt, und das Schlimme ist, man selbst merkt es nicht einmal.«

War das Zerwürfnis in seiner Ehe etwa auch so ein Hab-Acht-Ereignis? Während Waller in ruhigem Tonfall weiter räsonierte, spürte Bryson einen Wust an Gefühlen aufwallen, wovon eines Wut war. »Meine Fähigkeiten …«

»Ich spreche nicht von deinen Fähigkeiten. Was die Arbeit im Außeneinsatz angeht, gibt es nach wie vor keinen Besseren als dich. Ich spreche im Augenblick vielmehr über Zurückhaltung, die Fähigkeit, auf Aktion zu verzichten. Die ist besonders wichtig, aber daran mangelt’s dir.«

»Vielleicht wäre einfach einmal ein kleiner Urlaub fällig.« In Brysons Stimme schwang eine Spur Verzweiflung mit, wofür er sich gern selbst in den Hintern getreten hätte.

»Das Direktorat gewährt keine Freijahre«, antwortete Waller trocken. »Das weißt du. Nick, du hast anderthalb Jahrzehnte lang Geschichte geschrieben. Jetzt kannst du sie studieren. Ich entlasse dich zurück ins Leben.«

»Du willst mich also tatsächlich in den Ruhestand versetzen«, entgegnete Bryson tonlos.

Waller lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Kennst du die Geschichte von John Wallis, einem der großen britischen Meisterspione des 17. Jahrhunderts? Er arbeitete für die Parlamentaristen und war ein Genie im Dechiffrieren geheimer Botschaften, die die Royalisten untereinander austauschten. Er half bei der Gründung der English Black Chamber, der damaligen NSA. Nachdem er schließlich seinen Dienst quittiert hatte, nutzte er sein Talent weiter und ging als Professor für Geologie nach Oxford, wo er mit der Entwicklung einer neuen Rechenmethode der modernen Mathematik den Weg bereitete. Wer war nun wichtiger: Wallis, der Spion, oder Wallis, der Gelehrte? Aus dem aktiven Dienst auszuscheiden ist etwas anderes als auf die Weide getrieben zu werden.«

Wie oft hatte Bryson diese verquere Metapher schon gehört! Es fehlte nicht viel, und er hätte laut aufgelacht. »An was hast du denn da für mich gedacht? Soll ich mich vielleicht als Wachmann in einem Supermarkt verdingen und mit Gummiknüppel und Knarre vor der Fleischtheke patrouillieren? «

»Integer vitae, scelerisque purus non eget Mauris jaculis, neque arcu, nec venenatis gravida saggittis pharetra. Der integere, schuldlose Mann braucht keinen Maurenspeer, noch einen Bogen oder einen Köcher voller Pfeile. Horaz, du kennst den Satz bestimmt. Zufällig ist alles schon arrangiert. Das Woodbridge College muss seinen Lehrstuhl für Nahostgeschichte neu besetzen, und ich wüsste da einen passenden Kandidaten. Deine Studien, deine Fremdsprachenkenntnisse und konkreten Erfahrungen prädestinieren dich für dieses Amt.«

Bryson hatte den gespenstischen Eindruck, nicht mehr bei sich selbst zu sein, das Gefühl, abgehoben über den Dingen zu schweben und alles mit kühlem, nüchternem Blick von oben zu beobachten. Er war immer gefasst darauf gewesen, im Einsatz getötet zu werden; diese Möglichkeit hatte er stets ins Kalkül gezogen. Aber dass man ihn eines Tages schassen würde, hätte er sich nie und nimmer träumen lassen, geschweige denn, dass es ausgerechnet sein Freund und Mentor sein würde, der ihn vor die Tür setzte.

»Das gehört alles mit zum Plan deiner Pensionierung«, fuhr Waller fort. »Wie heißt es so richtig? Untätige Hände sind des Teufels Werkstatt. Davon können wir ein Lied singen. Ein Agent mit viel Geld, aber ohne Aufgabe stürzt ab; das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Auch du brauchst ein neues Projekt, und zwar eines, das dich voll in Anspruch nimmt. Du bist der geborene Lehrer – was einer der Gründe dafür ist, dass du ein so guter Agent warst.«

Bryson sagte nichts. Er versuchte, die schmerzliche Erinnerung an einen Einsatz in einer kleinen Provinz in Lateinamerika zu verdrängen, die Erinnerung an ein Gesicht im Fadenkreuz eines Präzisionsgewehrs. Das Gesicht gehörte zu einem seiner »Studenten«, einem 19-jährigen Amerikaner indianischer Abstammung namens Pablo, dem er beigebracht hatte, hoch explosive Sprengstoffe einzusetzen, scharf zu machen oder zu entschärfen. Ein harter, aber anständiger Kerl. Seine Eltern lebten als Bauern in einem Bergdorf, das kurz zuvor von maoistischen Rebellen eingenommen worden war. Wenn sie erfahren hätten, dass Pablo mit dem Erzfeind kollaborierte, wäre es seinen Eltern an den Kragen gegangen. Der junge Mann geriet in einen schweren Loyalitätskonf likt und sah, um seine Eltern zu schonen, keine andere Möglichkeit, als überzulaufen und den Guerilleros zu berichten, was er von der anderen Seite wusste, unter anderem auch die Namen anderer Kollaborateure. Er war zwischen die Fronten geraten, in eine Situation, für die es keine günstige Lösung gab. Bryson nahm Pablos Gesicht ins Visier – das Gesicht eines armen, verzweifelten, verängstigten jungen Mannes – und konnte dann, als der Abzug gedrückt war, nur noch wegsehen.

Waller sah sein Gegenüber unverwandt an. »Dein Name ist Jonas Barrett. Du bist ein freischaffender Gelehrter, Autor von einem halben Dutzend viel beachteter Artikel in einschlägigen Fachzeitschriften, unter anderem im Journal of Byzantine Studies. Unsere Nahostexperten haben an deiner zivilen Legende fleißig mitgestrickt.« Waller reichte ihm einen Aktenordner, dessen kanarienvogelgelbe Farbe deutlich machte, dass in seinem Deckel Magnetstreifen eingelassen waren, die Alarm schlagen würde, wenn man versuchte, den Ordner nach draußen zu schmuggeln. Er enthielt eine Legende, eine fiktive Biografie. Seine Biografie.

Er durchblätterte die eng beschriebenen Seiten. Sie erzählten das Leben eines zurückhaltenden Gelehrten, dessen linguistische Fähigkeiten durchaus den seinen entsprachen und dessen sonstiges Spezialwissen schnell aufzuholen war. Die Grundzüge der Biografie konnte er sich problemlos zu Eigen machen. Jonas Barrett war unverheiratet. Jonas Barrett hatte Elena nie kennen gelernt. Jonas Barrett hatte sich darum auch nie in sie verlieben können. Jonas Barrett sehnte sie nicht an ihre Seite zurück. Jonas Barrett war eine Fiktion. Ihn Wirklichkeit werden zu lassen, würde für Nick bedeuten, dass er den Verlust von Elena akzeptierte.

»Deine Ernennung ist vor wenigen Tagen bestätigt worden. Woodbridge erwartet seinen neuen außerordentlichen Professor Anfang September. Und ich möchte hinzufügen, dass man sich dort über diesen Neuzugang glücklich schätzen darf.«

»Habe ich eine Wahl?«

»Nun, wir hätten dir auch einen Job in irgendeiner multinationalen Consulting-Firma verschaffen können. Oder bei einem Erdölriesen. In der Industrie. Aber das wäre alles nicht das Richtige gewesen. Du konntest immer schon mit Abstraktionen so gut umgehen wie mit Tatsachen. Früher habe ich mir Sorgen gemacht, dass du dadurch gehandikapt sein könntest, aber es hat sich als deine größte Stärke erwiesen. «

»Und wenn ich einfach nicht gehen will? Was, wenn ich mich sträube, wenn ich mich nicht abschieben lasse?« Aus irgendeinem Grund sah er wieder die Klinge aufblitzen, den sehnigen Arm, der mit dem Messer in der Hand auf ihn zuschnellte …

»Sei nicht so stur, Nick.« Waller verzog keine Miene.

»Himmel«, flüsterte Bryson. Er bedauerte, dass er den Schmerz, den er empfand, nicht besser verhehlen konnte. Schließlich wusste er, wie gespielt wurde. Was ihn schmerzte, war nicht, was er da zu hören bekam, sondern wer ihm diese Worte an den Kopf warf. Waller konnte sich relativ kurz fassen, denn Bryson wusste, dass er keine Wahl hatte, und er wusste auch, was ihn erwartete, falls er sich auflehnen würde. Ein Taxi gerät ins Schleudern, reißt einen Fußgänger nieder und verschwindet. Oder da wäre der Einstich einer Injektionsnadel, den der Betroffene im überfüllten Einkaufszentrum nicht einmal merkt, und am Ende heißt die Diagnose schlicht und einfach Herzversagen. Oder ein Raubüberfall mit tödlichem Ausgang – wahrhaftig nichts Ungewöhnliches in einer Stadt mit der landesweit höchsten Rate an Straßenkriminalität.

»Die Sache ist entschieden«, sagte Waller ungerührt. »Die Verantwortung für unseren Dienst geht vor. Ich wünschte, es wäre anders. Du kannst dir kaum vorstellen, wie schwer mir das alles fällt. In meiner Amtszeit musste ich schon drei meiner Männer … mit Sanktionen belegen. Gute Männer, die dann aber aus dem Ruder gelaufen sind – insofern als sie sich unprofessionell verhalten haben. Das belastet mich noch heute, und doch würde ich nicht zögern, es immer wieder so zu tun. Drei Männer. Ich flehe dich an, lass keinen vierten dazukommen.« War das eine Drohung, eine Bitte oder beides? Waller ließ langsam Luft ab. »Ich biete dir ein Leben. Ein gutes Leben, Nick.«

Aber was Bryson erwartete, war kein Leben, noch nicht. Es war irgendein Zustand zwischen Leben und Tod. Die Vorhölle. Fünfzehn Jahre lang hatte er sich ganz – mit Herz und Hirn – einer extrem gefährlichen, anstrengenden Tätigkeit gewidmet. Jetzt war er in diesem Job nicht mehr gefragt. Und Bryson empfand nichts als eine tiefe Leere. Er fuhr nach Falls Church zurück, zu seinem schmucken Haus im Kolonialstil, das ihm aber sonderbar fremd vorkam. Er ging wie ein Gast durch die Räume, musterte die von Elena ausgesuchten schönen Aubusson-Teppiche, das pastellfarben gestrichene Zimmer für das Kind, das sie sich so sehr gewünscht hatten. Das Haus kam ihm leer vor und gleichzeitig von Gespenstern belagert. Er füllte ein Wasserglas mit Wodka – danach würde er wochenlang nie mehr ganz nüchtern sein.

Überall im Haus war Elena, ihr Duft, ihr Geschmack, ihre Aura. Er konnte sie nicht vergessen.

Sie saßen auf dem Steg vor ihrem Häuschen am See und sahen das Segelboot vorüberziehen … Sie schenkte ihm gekühlten Weißwein ein, reichte ihm das Glas und gab ihm dabei einen Kuss. »Ich vermisse dich«, sagte sie.

»Aber ich bin doch bei dir, Liebling.«

»Jetzt, ja. Aber morgen bist du wieder weg. In Prag, Sierra Leone, Jakarta, Hongkong … wer weiß wo? Wer weiß wie lange?«

Er nahm ihre Hand und fühlte ihre Einsamkeit, die sie einfach nicht vertreiben konnte. »Aber ich komme doch immer zurück. Und du weißt: Trennung auf Zeit kommt der Liebe zugute.«

»Mai rarut, mai dragut«, sagte sie nachdenklich. »Wo ich herkomme, gilt ein anderer Sinnspruch. Celor ce duc mai mult dorul, le pare mai dulce odorul. Trennung schärft die Liebe, aber Nähe festigt sie.«

»Das gefällt mir.«

Sie hob den Zeigefinger und wackelte damit hin und her. »Da wäre noch so eine Weisheit. Prin departare dragostea se uita. Wie sagt man? Lange weg, schnell vergessen?«

»Aus den Augen, aus dem Sinn.«

»Wie lange dauert’s bei dir?«

»Aber du bist doch immer bei mir.« Er tippte an seine Brust. »Hier drin.«

Er zweifelte keinen Augenblick daran, dass ihn das Direktorat überwachte, doch das kümmerte ihn kaum. Wenn man ihn als Sicherheitsrisiko einstufte, musste er auf Schlimmeres gefasst sein. Vielleicht, dachte er düster, konnte er seiner Dienststelle den Ärger einer Liquidierung abnehmen, indem er einfach eine ausreichende Menge Wodka in sich hineinkippte. Die Tage vergingen, und er sah und hörte niemanden. Vielleicht hatte sich Waller auf Konsortiumsebene für ihn eingesetzt, denn Waller wusste, worin sein eigentliches Problem bestand. In Elenas Weggang. Elena, der Fixpunkt seiner Existenz. Unter Bekannten galt Nick immer als ausgesprochen ruhig und entspannt, doch er wusste, dass diese Ruhe nur geliehen war, und zwar von Elena. Als was hatte Waller sie so treffend bezeichnet? Als personifizierte Gelassenheit.

Nick hatte sich nie vorstellen können, jemand anderes so zu lieben wie sie. Im berufsbedingten Durcheinander aus Lügen verkörperte sie für ihn das buchstäblich einzig Wahre. Gleichzeitig war aber auch sie Agentin. Andernfalls hätten sie beide auf Dauer nicht zusammenleben können. Im Übrigen stand sie in der Hierarchie ziemlich weit oben und arbeitete für die Dechiffrierabteilung des Direktorats. Weiß der Himmel, was den Spezialisten dieser Abteilung so alles auf den Tisch kam. Wer feindliche Spionageberichte entschlüsselte, erhielt manchmal auch brisanteste Informationen über die eigene Regierung , Informationen, die selbst vor den Abteilungsleitern des Direktorats geheim gehalten werden mussten. Analytiker wie sie arbeiteten ausschließlich am Schreibtisch; die Computertastatur war ihre einzige Waffe, und doch streiften sie mit ihren Gedanken so frei wie jeder Außendienstler durch die Weltgeschichte.

Oh Gott, wie sehr er sie liebte!

Dass sie sich kennen gelernt hatten – unter denkbar ungünstigen Umständen –, war Ted Waller zu verdanken, denn sie waren sich während einer Mission begegnet, mit der er ihn, Bryson, beauftragt hatte.

Es war ein ganz normaler Transportauftrag, unter Insidern des Direktorats auch »Coyotenlauf« genannt: Personenschmuggel. Als während der späten 1980er Jahre der Balkan brannte, sollte ein rumänischer Mathematiker mit Frau und Tochter aus Bukarest herausgeholt werden. Andrei Petrescu war ein echter rumänischer Patriot, ein Wissenschaftler an der Universität von Bukarest, spezialisiert auf das obskure Fach der mathematischen Kryptografie. Er war von der Securitate, dem berüchtigten Geheimdienst Rumäniens, dazu zwangsverpflichtet worden, einen Geheimcode für den innersten Kreis der Regierung Ceauşescus zu entwerfen. Er tat, was von ihm verlangt wurde, lehnte aber ein Anstellungsverhältnis strikt ab und wollte Dozent an der Universität bleiben, zumal ihn die Unterdrückung des rumänischen Volkes durch die Securitate anwiderte. Weil er sich weigerte, wurden Andrei und seine Familie sozusagen unter Hausarrest gestellt, das heißt, sie durften nicht verreisen und standen unter ständiger Beobachtung. Seine Tochter Elena, von der es schon damals hieß, dass sie nicht weniger genial als ihr Vater war, promovierte im Fach Mathematik und hoffte, in die Fußstapfen ihre Vaters treten zu können.

Als sich die Krise im Dezember 1989 zuspitzte und die Massen offen gegen den Diktator Nicolaie Ceauşescu rebellierten, schlug dessen Garde, die Securitate, brutal zurück. Auf dem Bulevardul 30 Decembrie in Timisoara versammelte sich eine riesige Menge an Demonstranten, die dann in das Hauptquartier der Kommunistischen Partei eindrangen und die Porträts des Diktators zum Fenster hinauswarfen. Die Aufständischen wurden Tag und Nacht von Armee und Securitate unter Beschuss genommen, die Toten zusammengetragen und in Massengräbern verscharrt.

Entsetzt über diese Gewalttaten, beschloss Andrei Petrescu, einen kleinen Beitrag zum Sturz des Tyrannen zu leisten. Er besaß die Schlüssel für Ceauşescus geheimste Kommunikation und wollte sie den Feinden des Diktators zukommen lassen, damit die ganze Welt erführe, welche Entscheidungen und Befehle dieser an seine Schergen ausgab.

Dem Professor fiel der Entschluss beileibe nicht leicht, und er hatte schwer mit sich zu kämpfen. Würde er Simona, seine geliebte Frau, und seine Tochter Elena in Gefahr bringen? Wenn man ihm auf die Schliche käme – und das war sicher, da nur er die Quellcodes kannte –, würde er mitsamt seiner Familie festgenommen und exekutiert werden.

Es gab nur einen Weg: die Flucht aus Rumänien. Aber dazu brauchte er starke Verbündete im Ausland, am besten einen Geheimdienst wie die CIA oder den KGB, dem es möglich war, ihn und seine Familie außer Landes zu schaffen.

Von Angst getrieben, lancierte er erste vorsichtige Anfragen. Er hatte Kollegen, die ihrerseits gewisse Leute kannten. Denen unterbreitete er sein Angebot und seine Forderung. Aber weder die Briten noch die Amerikaner wollten darauf eingehen. Beide Seiten hatten sich für eine Politik der Nichteinmischung entschieden. Sein Angebot wurde abgelehnt.

Doch dann nahm eines frühen Morgens ein Amerikaner Kontakt zu ihm auf. Er war kein CIA-Mann, sondern Vertreter eines anderen Geheimdienstes und sagte, dass seine Dienststelle an ihm interessiert sei und ihm helfen wolle. Seine Auftraggeber hatten den Mut, der den anderen fehlte.

Die Details für den Einsatz waren von den Logistikexperten des Direktorats entworfen worden; Bryson hatte sie nach Rücksprache mit Ted Waller in einigen Punkten modifiziert. Der Plan sah vor, den Mathematiker mit seiner Familie sowie fünf weitere Personen – zwei Männer und drei Frauen – über die rumänische Grenze zu schleusen. Ins Land hineinzukommen, war der einfachste Teil der Reise. Von Nyírábrány im Osten Ungarns fuhr Bryson mit dem Zug bei Valea Lui Mihai über die Grenze nach Rumänien. Er hatte den gültigen Pass eines ungarischen Fernfahrers bei sich und sah mit seinem Overall und den Schwielen an den Händen auf den ersten Blick auch aus wie einer. Wenige Kilometer hinter Valea Lui Mihai fand er den Lastwagen vor, der von einer Kontaktperson des Direktorats an verabredeter Stelle abgestellt worden war – ein alter rumänischer Lieferwagen, der aus allen Löchern nach Diesel stank, aber clever präpariert war: Wenn man die Heckklappe öffnete, schien die Ladefläche voll gepackt zu sein mit Kisten rumänischen Weins und tzuica, Pflaumenschnaps. Doch die Kisten waren nur zu einer einzigen Reihe aufgestapelt; dahinter verbarg sich ein Hohlraum, in dem sich halb Rumänien hätte verstecken können.

Die Flüchtlinge waren aufgefordert worden, sich im Wald von Baneasa fünf Kilometer nördlich von Bukarest einzufinden. Bryson traf sie beim Picknick an; sie wirkten wie eine große Familie, die einen Tag im Freien verbringt – wenn nicht die Angst in ihren Gesichtern so deutlich zu sehen gewesen wäre.

Der Anführer der achtköpfigen Gruppe war allem Anschein nach der Mathematiker Andrei Petrescu, ein kleinwüchsiger Mann Mitte sechzig, begleitet von einer sanften, rundlichen Frau, der Gattin, wie es schien. Aber es war ihre Tochter, die Brysons Aufmerksamkeit sofort gefangen nahm, denn er hatte noch nie eine so schöne Frau gesehen. Elena Petrescu. 22 Jahre jung, rabenschwarze Haare, klein, zierlich, mit dunklen Augen, die funkelten und blitzten. Sie trug einen schwarzen Rock, einen taubengrauen Sweater und hatte eine bunte Babuschka um den Kopf gewickelt. Sie sagte kein Wort und beäugte ihn mit unverhohlenem Argwohn.

Bryson begrüßte sie auf Rumänisch. »Buna ziua«, sagte er. »Unde este cea mai apropiata statie Peco?« Wo ist die nächste Tankstelle?

»Sintetipe un drum gresit«, antwortete der Professor. Sie sind auf der falschen Straße.

Er führte sie zu dem Lieferwagen, den er, zwischen Bäumen versteckt, abgestellt hatte. Die wunderschöne junge Frau setzte sich, wie im Plan vorgesehen, zu ihm ins Fahrerhaus. Die anderen stiegen in das Versteck im Laderaum, wo Bryson Butterbrote und Wasser für die lange Fahrt zur ungarischen Grenze deponiert hatte.

Während der ersten Stunden sagte Elena kein einziges Wort, obwohl Bryson immer wieder versuchte, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Sie schwieg vor sich hin, ob aus Schüchternheit oder Nervosität, war für ihn nicht zu erkennen. Sie fuhren durch die Landschaft von Bihor und näherten sich der Grenzstation bei Bors, von wo sie ins ungarische Biharkeresztes überwechseln sollten. Sie waren die ganze Nacht hindurch gefahren und zügig vorangekommen. Alles schien glatt zu gehen – fast zu glatt, wie Bryson fand, denn auf dem Balkan gab es meist Hunderte kleiner Hindernisse.

Es überraschte ihn darum auch nicht, als er das Blaulicht eines Streifenwagens sah. Ungefähr acht Kilometer vor der Grenze kontrollierte ein Polizist den Durchgangsverkehr. Auch dass ihn der Polizist zur Seite winkte, konnte ihn nicht überraschen.

»Was zum Teufel soll das?«, fragte er Elena Petrescu und schlug einen blasierten Tonfall an, als sich der Polizist in seinen Schaftstiefeln näherte.

»Nur eine Routinekontrolle«, antwortete sie.

»Ich hoffe, du hast Recht«, sagte Bryson und drehte die Scheibe runter. Sein Rumänisch war fließend, hatte aber einen fremden Akzent, wofür der ungarische Pass eine hinreichende Erklärung bot. Um seiner Rolle als Fernfahrer gerecht zu werden, bereitete er sich im Stillen auf einen Streit mit dem Polizisten vor.

Der Mann verlangte nach den Papieren und prüfte sie. Es war alles in Ordnung.

Ob es einen besonderen Grund für die Kontrolle gebe, fragte er auf Rumänisch.

Mit einer strengen Bewegung deutete der Polizist auf die Scheinwerfer. Einer war kaputt. Und so einfach sollten sie bei ihm nicht durchkommen. Er wollte wissen, was der Lieferwagen geladen hatte.

»Exportware«, antwortete Bryson.

»Aufmachen«, sagte der Polizist.

Ärgerlich stöhnend stieg Bryson aus und ging nach hinten, um die Heckklappe zu öffnen. Im Rückenhalfter, versteckt unter seiner grauen Musselinjacke, steckte eine halbautomatische Pistole. Von ihr würde er nur im äußersten Notfall Gebrauch machen, denn einen Polizisten zu töten, war enorm riskant. Zum einen würde es womöglich Zeugen geben, zum anderen stand zu befürchten, dass der Polizist, als er sie zur Seite winkte, die Registriernummer des Lieferwagens durchgegeben hatte und der Kollege in der Funkzentrale auf eine weitere Meldung wartete. Falls die ausblieb, würde die Grenzkontrolle auf den Lieferwagen hingewiesen werden.

Als er die Klappe öffnete, sah er, dass der Polizist angesichts der vielen Wein- und Schnapskisten gierige Augen machte, was Bryson durchaus beruhigend fand: Vielleicht würde sich der Mann mit der einen oder anderen Kiste schmieren lassen. Aber der rückte jetzt bereits neugierig an der Fracht herum und hatte schnell die falsche Wand entdeckt. Mit argwöhnisch zusammengezogenen Brauen klopfte er an die Wand. Dass sich dahinter ein Hohlraum befand, war unüberhörbar.

»Nanu, was haben wir da?«, fragte er.

Bryson langte mit der rechten Hand unter die Jacke, sah aber plötzlich Elena Petrescu aus dem Fahrerhaus klettern und mit kokettem Hüftschwung näher kommen. Sie kaute ein Kaugummi, und ihr Gesicht war übertrieben geschminkt mit Lippenstift, Mascara und Rouge. Die Verwandlung in eine Prostituierte war perfekt und innerhalb weniger Augenblicke gelungen. Ihr Unterkiefer mahlte unablässig hin und her, als sie sich dem Polizisten bis auf Nasenlänge näherte und hauchte: »Ce curu’ meu vrei?« Was zum Henker willst du?

»Futiti gura!« Verpiss dich! Er tastete mit beiden Händen über die falsche Wand und schien nach einem Knauf oder Riegel zu suchen. Bryson spürte, wie sich sein Magen zusammenzog, als der Polizist die Griffmulde fand, über die sich das Versteck öffnen ließ. Für sechs blinde Passagiere gab es keine andere Erklärung als die Wahrheit. Der Polizist musste unschädlich gemacht werden. Aber was zum Teufel hatte diese Elena hier draußen verloren?

»Ich will dich was fragen, Genosse«, sagte sie in anzüglicher Tonfall. »Wie viel ist dir dein Leben wert?«

Der Beamte fuhr herum und blaffte sie an: »Was soll der Scheiß?«

»Ich frage dich, wie viel dir dein Leben wert ist. Denn wenn du so weiter machst, ist es nicht bloß um deinen schönen Beruf geschehen. Du bist gerade auf dem besten Weg in die geschlossene Psychatrie. Vielleicht sogar in irgendein Armengrab.«

Bryson war fassungslos. Sie drohte die Aktion platzen zu lassen. Er musste ihr unbedingt Einhalt gebieten.

Der Polizist öffnete den Leinenbeutel, den er am Hals hängen hatte, holte ein klobiges, altmodischen Feldtelefon heraus und begann zu wählen.

»Ich schlage vor, du rufst gleich im Hauptquartier der Securitate an und lässt dich mit Dragan verbinden.« Bryson glaubte nicht richtig zu hören. Generalmajor Radu Dragan war der stellvertretende Oberkommandierende der Sicherheitspolizei, verschrien als durch und durch korrupter und sexuell »zügelloser« Machtmensch.

Der Polizist zog den Finger aus der Wählscheibe und musterte Elena mit kritischem Blick. »Du willst mir drohen, Schlampe?«

Sie schnalzte mit dem Kaugummi. »He, mir ist scheißegal, was du tust. Wenn du dich unbedingt in die geheimen Geschäfte der Securitate einmischen willst … von mir aus herzlich gern. Ich erledige nur meinen Job. Dragan ist scharf auf junge Pustamädchen, und wenn er mit ihnen fertig ist, schaffe ich sie über die Grenze zurück. Wenn du mich daran hindern willst, schön und gut. Spiel meinetwegen den Helden, der Dragans kleine Schwäche öffentlich macht. Aber glaub mir, ich möchte zum Verrecken nicht in deiner Haut stecken oder in der deiner Verwandtschaft.« Sie verdrehte die Augen. »Mach schon, ruf Dragans Büro an.« Sie nannte eine Nummer mit Bukarester Vorwahl.

Langsam und wie benommen wählte der Beamte die angegebene Rufnummer und drückte den Hörer ans Ohr. Plötzlich riss er die Augen weit auf und beeilte sich, die Verbindung zu unterbrechen. Offenbar hatte er tatsächlich die Securitate am Apparat gehabt.

Er drehte sich schnell um, murmelte ein paar wirre Worte der Entschuldigung und hastete zu seinem Streifenwagen zurück.

Später, als sie von den ungarischen Grenzbeamten durchgewinkt wurden, fragte Bryson seine Beifahrerin: »War das wirklich die Nummer der Securitate?«

»Natürlich«, antwortete sie.

»Woher wussten Sie …«

»Ich kann mir Zahlen gut merken«, fiel sie ihm ins Wort. »Hatte ich das noch nicht gesagt?«

Ted Waller war Nicks Trauzeuge. Elenas Eltern waren, mit neuen Identitäten ausgestattet, unter dem Schutz des Direktorats nach Rovinj an die istrische Adriaküste umgesiedelt worden. Elena durfte sie aus Sicherheitsgründen nicht besuchen, was sie schweren Herzens akzeptierte.

Ihr war ein Arbeitsplatz im Hauptquartier des Direktorats angeboten worden, und zwar in der Dechiffrierabteilung, die sich mit der Entschlüsselung und Analyse abgefangener Signale befasste. Sie war außerordentlich talentiert, vielleicht die beste Kryptografin, die es in dieser Abteilung je gegeben hatte, und sie liebte ihren Job. »Ich hab dich und meine Arbeit, und wenn ich auch noch meine Eltern in der Nähe wüsste, wäre ich restlos glücklich«, hatte sie einmal gesagt. Als Nick seinem Mentor Waller zum ersten Mal gestand, dass es Elena und ihm ernst sei, war es fast, als würde er ihn um Erlaubnis zur Heirat bitten. Ob als väterlichen Freund oder Arbeitgeber, war ihm dabei selbst nicht ganz klar. Für das Direktorat zu arbeiten bedeutete, dass es zwischen Privatleben und Beruf keine klare Abgrenzung gab. Wie auch immer, weil er sie im Rahmen seiner Agententätigkeit kennen gelernt hatte, erschien es ihm als angemessen, Waller über sein Verhältnis zu ihr zu informieren. Waller hatte sich aufrichtig gefreut. »Endlich hast du eine gefunden, die zu dir passt und dir gewachsen ist«, hatte er gesagt und mit breitem Grinsen eine eisgekühlte Flasche Dom Perignon zum Vorschein geholt wie ein Zauberer eine Münze hinterm Ohr.