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Der geistig behinderte Ben wächst auf dem Land auf. Mit liebevoller Fürsorge bewahrt ihn seine Mutter vor Anfeindungen und lässt ihm die Freiheit, in den Feldern herumzustreunen. Doch der Zweiundzwanzigjährige mit dem Verstand eines Kleinkindes ist vielen ein Dorn im Auge. Als im Sommer mehrere junge Mädchen verschwinden, sucht das Dorf einen Schuldigen. «Eine deutsche Autorin, die dem Abgründigen ihrer angloamerikanischen Thriller-Kolleginnen ebenbürtig ist.» (Welt am Sonntag)
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Petra Hammesfahr
Der Puppengräber
Roman
Jakob Schlösser, geb. 1932, Landwirt, nach Aufgabe seines Hofs im März 91Lagerarbeiter im Baumarkt Wilmrod.
Trude Schlösser, geb. 1936, Bens Mutter.
Anita Schlösser, geb. 1963, Jurastudium, Doktortitel, lebt seit dem Abitur in Köln.
Bärbel Schlösser, geb. 1967, verheiratet mit Uwe von Burg, lebt auf dem Hof ihrer Schwiegereltern.
Benjamin Schlösser, geb. 1973, genannt Ben.
Tanja Schlösser, geb. 1982, wächst bei der Familie Lässler auf.
Paul Lässler, geb. 1931, Landwirt, Jakobs bester Freund.
Antonia Lässler, geb. Severino, geb. 1951, Italienerin, seit 1969 verheiratet mit Paul.
Andreas Lässler, geb. 1969, verheiratet mit Sabine Wilmrod.
Achim Lässler, geb. 1971, Erbe des väterlichen Hofs.
Annette Lässler, geb. 1975, arbeitet in der Apotheke ihres Onkels Erich Jensen und ist befreundet mit Albert Kreßmann.
Britta Lässler, geb. 1982, ist für Tanja Schlösser wie eine Schwester.
Erich Jensen, geb. 1947, Apotheker, Mitglied der SPD, gehört dem Stadtrat von Lohberg an.
Maria Jensen, geb. Lässler, geb. 1952, Schwester von Paul Lässler, wurde in ihrer Jugend von mehreren Männern heiß begehrt.
Marlene Jensen, geb. 1978, verschwindet im Sommer 95 spurlos.
Heinz Lukka, geb. 1928, Rechtsanwalt mit Kanzlei in Lohberg, Mitglied der CDU, gehört dem Stadtrat von Lohberg an. Sein Bungalow liegt außerhalb des Dorfes. Maria Lässler war seine große Liebe. Er ist ein guter Freund von Ben und vermittelte Jakob den Job im Baumarkt Wilmrod.
Toni von Burg, geb. 1934, Landwirt. Tonis älteste Schwester
Heidemarie ging ins Kloster, nachdem Paul Lässler die Verlobung mit ihr löste. Die jüngste Schwester
Christa war geistig behindert und kam während der Nazizeit um.
Illa von Burg, geb. 1935, ist befreundet mit Trude Schlösser.
Uwe von Burg, geb. 1965, Erbe des Hofes, verheiratet mit Bärbel Schlösser.
Winfried von Burg, geb. 1968.
Eine Tochter – verstorben.
Richard Kreßmann, geb. 1940, Landwirt, besitzt 1500Morgen Land, trinkt übermäßig. Es geht das Gerücht, er hätte die Tochter von Toni und Illa von Burg auf dem Schulweg überfahren.
Thea Kreßmann (Ahlsen), geb. 1949.Theas Vater
Wilhelm Ahlsen war während der Nazizeit Ortsgruppenleiter, schickte die jüdischen Familien Stern und Goldheim sowie die kleine Christa von Burg in den Tod.
Albert Kreßmann ist im gleichen Alter wie Ben, Erbe des Hofes, befreundet mit Annette Lässler, aber lieber wäre ihm Annettes Cousine Marlene Jensen.
Igor, ein russischer Zwangsarbeiter, blieb nach dem Krieg auf dem Kreßmann-Hof.
Bruno Kleu, geb. 1951, Landwirt, geht keiner Prügelei aus dem Weg, hat zwei uneheliche Kinder. Seiner großen Liebe Maria Lässler war er nicht fein genug. Ihr Bruder Paul war strikt gegen Marias Beziehung zu Bruno. 1977 musste Bruno auf Befehl seines Vaters heiraten.
Renate Kleu stammt wie Trude Schlösser und Antonia Lässler aus Lohberg.
Dieter Kleu, geb. 1977, ist stark interessiert an Marlene Jensen.
Heiko Kleu, geb. 1980.
Otto und Hilde Petzhold waren Nachbarn von Jakob und Trude, als der Schlösser-Hof noch an der Bachstraße lag. Hilde liebte Katzen.
Die Schwestern Rüttgers betreiben das väterliche Café, beide sind unverheiratet, ihr Bruder fiel im Krieg.
Sibylle Faßbender, die Cousine der Rüttgers-Schwestern, betreute in jungen Jahren die geistig behinderte Christa von Burg, liebt Ben wie ihren eigenen Sohn.
Gerta Franken, geb. 1891, bis zu ihrem Tod eine Nachbarin von Jakob und Trude Schlösser an der Bachstraße, verwitwet seit dem Ersten Weltkrieg, informiert über alles, was im Dorf vorgeht.
Werner Ruhpold, Besitzer von Ruhpolds Schenke, war vor Ausbruch des Krieges verlobt mit Edith Stern und wartete bis 1981 auf ein Lebenszeichen von ihr. Nach seinem Tod übernimmt sein Vetter Wolfgang die Kneipe.
Althea Belashi, eine junge Artistin, verschwand 1980 spurlos.
Ursula Mohn, das geistig behinderte Mädchen lebte mit seinen Eltern in Toni von Burgs Mietshaus am Lerchenweg, wurde 1987 schwer verletzt.
Svenja Krahl, das siebzehnjährige Mädchen aus Lohberg verschwindet spurlos im Juli 95.
Edith Stern (22) kommt aus den USA, um das Schicksal ihrer Großtante und Namenspatronin zu klären, und verschwindet spurlos.
Nicole Rehbach, eine wichtige Zeugin.
Brigitte Halinger, ermittelnde Hauptkommissarin und Chronistin.
Es ist in den vergangenen Jahren etwas Gras gewachsen über den furchtbaren Sommer, der fünf Menschenleben gekostet hat. Es wurde viel darüber geredet, zu viel diskutiert, gestritten, spekuliert und Schuld zugewiesen. Alte Feindschaften flammten neu auf, alte Freundschaften verbrannten in der Glut. Jeder im Dorf wusste etwas, und jeder, der bis dahin geschwiegen hatte, riss das Maul auf, als nichts mehr zu ändern war.
Ich habe mit allen gesprochen, die noch reden konnten. Ich habe mir ihre Erklärungen, ihre Entschuldigungen und ihre faulen Ausreden angehört. Ich habe ihre Versäumnisse gesehen und ihre Irrtümer erkannt. Nun will ich für den sprechen, der niemandem sagen konnte, was er fühlte. Für Ben.
Es wird nicht leicht, das weiß ich. Es gab nicht für alles Zeugen. Trotzdem bin ich sicher, dass auch die Situationen, die niemand beobachtet hat, sich in etwa so abgespielt haben, wie ich sie schildern werde. Warum sollte ein Mensch mit beschränkten intellektuellen Fähigkeiten ausgerechnet in den entscheidenden Momenten sein Verhalten ändern?
Über mich gibt es dabei nicht viel zu sagen. Ich war das Schlusslicht, nur eine Randfigur mit einer erfolglosen Rolle in einem Zwischenakt und am Ende die ermittelnde Hauptkommissarin Brigitte Halinger. Im Sommer 95 war ich dreiundvierzig Jahre alt, verheiratet und Mutter eines siebzehnjährigen Sohnes. Das ist vermutlich mein Problem bei der Sache.
Ich fühle mit seiner Mutter– Trude Schlösser. Auch wenn ich ihr Verhalten nicht billige, verurteilen kann ich sie nicht. Und am Ende gelang es ihr, ungeachtet der Konsequenzen, die es für sie hatte, über den eigenen Schatten zu springen und sich selbst anzuklagen. Für ihr Geständnis bin ich Trude zu großem Dank verpflichtet. Nur ihre schonungslose Offenheit versetzte mich in die Lage, den Fall zu klären und nun Bens Geschichte publik zu machen. Und an die Öffentlichkeit muss sie gebracht werden. Vielleicht hilft es mir, mein eigenes Entsetzen zu verarbeiten. Vielleicht vergehen dann die Albträume, die mich auch nach all der Zeit noch nachts aus dem Schlaf reißen.
In diesen Träumen begleite ich ihn auf seinen Runden durchs Feld. Ich liege von Gestrüpp verborgen auf dem Bauch, spähe mit ihm durch das Fernglas, fiebere mit ihm den jungen Mädchen entgegen. Ich schaue über seine Schulter, wenn er den Spaten ansetzt. Dann wache ich schweißgebadet auf und frage mich, wie ich ihn eingeschätzt hätte, wäre ich ihm in diesen furchtbaren Sommerwochen begegnet, womöglich noch in der Nacht – auf einem einsamen Feldweg.
Zweiundzwanzig war er in dem Sommer. Ein riesiger Kerl, massig und schwer, mit einem sanften Blick und dem IQ eines zweijährigen Kindes. Er trug immer ein Fernglas vor der Brust, einen Klappspaten am Taillenriemen, meist ein Messer in der Hosentasche. Hätte ich ihn gefürchtet? Oder hätte ich gedacht wie viele andere, zweijährige Kinder sind harmlos, sie nehmen allenfalls ihr Spielzeug auseinander.
Dass er Puppen zerriss, war allgemein bekannt. Es wussten auch viele, dass er ständig unterwegs war in seinen dunkelblauen Anzügen. Nicht die eleganten mit den weißen Hemden. Er trug nur die bequemen mit Gummizügen um Taille und Fußknöchel. Damit war er unabhängig, konnte seine Notdurft im Freien verrichten.
Es gab schon früh einige im Ort, die ihre Nasen rümpften und sagten: «Es ist eine Schande, dass die den so laufen lassen.» Aber eine Gefahr sahen nur wenige in ihm. Vielleicht wäre er in einer Großstadt gar nicht aufgefallen, da laufen viele merkwürdige Gestalten herum. In einem Dorf jedoch, wo jeder mit argwöhnischen Augen nach nebenan schaut…
Dörfer haben ihre eigenen Gesetze. Es geschieht eine Menge, und man lässt es nicht gerne nach außen dringen. Man weiß, welchen Dreck der Nachbar unter den Teppich kehrt, und oft genug ist man ihm beim Kehren behilflich. Anschließend klopft man sich auf die Schulter und sagt: «Schwamm drüber.» Zu ihm konnte man das nicht sagen. Er hätte es nicht verstanden.
Und niemand verstand ihn. Es war eine lange Kette von Missverständnissen und sinnlosen Bestrafungen, die ihn zu dem machten, was er im Sommer 95 war – der Puppengräber.
Marlene Jensen hatte noch etwa sieben Stunden zu leben, als ihr Vater um neunzehn Uhr die Wohnung verließ. Der Apotheker Erich Jensen war Mitglied der SPD und saß im Stadtrat von Lohberg. Er wollte an diesem Samstagabend einige Parteifreunde überzeugen, bei der nächsten Stadtratssitzung ein bestimmtes Thema erneut zur Debatte zu stellen und in seinem Sinne darüber abzustimmen.
Es ging um ein Abkommen mit den beiden Taxiunternehmen der Stadt. Erich Jensen wollte einen Fahrdienst organisieren und verbilligte Preise aushandeln, um die nicht motorisierte Dorfjugend an den Wochenenden sicher aus der Diskothek in Lohberg zurück in den vier Kilometer entfernten Ort zu bringen.
Der letzte Bus nach Lohberg fuhr kurz nach fünf, zurück fuhr in der Nacht keiner mehr. Im Dorf gab es für die Jugend nicht die kleinste Abwechslung. Die nahe gelegene Kleinstadt bot auch nicht viele Möglichkeiten, es gab eine italienische Eisdiele, ein Kino und die Diskothek «da capo», in der sich die jungen Leute aus dem Dorf jeden Samstagabend beinahe komplett einfanden.
Für Marlene Jensen wäre der Fahrdienst nicht notwendig gewesen. Ihr Taschengeld reichte, um eine Taxifahrt zum normalen Tarif zu bezahlen. Doch Erich Jensen hatte seiner Tochter für das komplette Wochenende Hausarrest erteilt, zusätzlich hatte er ihr Taschengeld konfisziert – wegen einer Sechs in Mathe.
Die harte Maßnahme war bereits Mitte der Woche verhängt worden, und das nicht zum ersten Mal. Marlene hatte sich trotzdem mit ihrer Freundin verabredet. Sie ging davon aus, dass ihre Mutter sie nach Lohberg fahren, das beschlagnahmte Geld erstatten und ihren Mann bei seiner Rückkehr im Schlafzimmer beschäftigen würde, damit die Tochter sich unbemerkt wieder einschleichen konnte. So hatten sie es bisher immer gehalten. Erich Jensen hatte am Wochenende häufig Termine außer Haus, und in Erziehungsfragen stimmte seine Frau Maria nur selten mit ihm überein.
Maria Jensen war eine geborene Lässler und das Nesthäkchen in ihrer Familie gewesen. Zwanzig Jahre nach ihrem Bruder Paul auf die Welt gekommen – als Ersatz für einen im Krieg gefallenen noch älteren Bruder–, waren die Eltern für Maria wie Großvater und Großmutter, die sie hätschelten und verwöhnten. In Paul hatte sie einen jugendlichen Vater gefunden, der nur in Ausnahmefällen einschritt und ihr Grenzen setzte. Gerade als sie das kritische Alter erreichte, hatte Paul geheiratet, und seine Frau Antonia war genauso alt beziehungsweise jung wie seine Schwester. Maria war ohne nennenswerten Zwang und unsinnige Verbote aufgewachsen und gestand ihrer Tochter die gleiche Freiheit zu.
Marlene saß bereits ausgehfertig auf ihrem Bett. Doch ehe Erich Jensen zu seinem Treffen mit Parteifreunden aufbrach, schloss er die Tür ihres Zimmers von außen ab und steckte den Schlüssel ein. Kurz nach ihm verließ auch Maria die Wohnung über der Apotheke am Marktplatz. Den lautstarken Protest ihrer eingeschlossenen Tochter glaubte sie nicht stundenlang ertragen zu können.
Maria fuhr zum außerhalb des Dorfes gelegenen Lässler-Hof, um sich bei Bruder und Schwägerin wieder einmal bitterlich zu beschweren, dass Erich einfach kein Verständnis für die Bedürfnisse junger Menschen hatte. Wie erwartet stimmten Paul und Antonia mit ihr überein, der Sonntagnachmittag müsse auf jeden Fall zurückgenommen werden. Antonia wollte am nächsten Nachmittag vorbeikommen, beiläufig erwähnen, dass sie ihren Vater besuchen wolle. Ihm gehörte die Eisdiele in Lohberg. Dann wollte Antonia fragen, ob ihre Nichte Lust hätte, sie zu begleiten. Falls Erich protestierte, wollte Antonia ihm den Kopf zurechtsetzen. Doch dazu kam sie nicht mehr.
Kaum war der Wagen ihrer Mutter außer Sichtweite, öffnete Marlene Jensen das Fenster ihres Zimmers. Darunter lag das Flachdach der Garage, an der Garage war eine Leiter fest montiert. Etwa zehn Minuten später erreichte Marlene die Landstraße Richtung Lohberg. Sie rechnete nicht damit, die vier Kilometer bis zur Stadt laufen zu müssen.
Tatsächlich hielt schon kurz darauf ein heller Mercedes neben ihr. Im Wagen saßen ihre Cousine Annette Lässler und deren Freund Albert Kreßmann. Beide wollten – wie nicht anders zu erwarten – zum «da capo». Sie nahmen Marlene mit. Gegen halb neun trafen die drei jungen Leute in der Diskothek ein. Annette Lässler half mit zwanzig Mark aus, das reichte für ein paar Getränke, nicht für ein Taxi. Aber Albert Kreßmann war natürlich bereit, Marlene in der Nacht auch wieder zurückzufahren.
Das hätte noch ein weiterer junger Mann aus dem Dorf liebend gerne getan, Dieter Kleu. Doch er wäre der Letzte gewesen, von dem Marlene sich hätte heimbringen lassen. Und das sagte sie ihm auch deutlich, als er ihr gleich zu Beginn des Abends das Angebot machte.
Dieter Kleu wurde erst im Oktober achtzehn, er durfte zwar als Sohn eines Landwirts einen Traktor fahren, besaß aber noch keinen Führerschein der Klasse drei. Trotzdem benutzte er das Auto seiner Mutter, wie es ihm beliebte. Allerdings war das nicht der Grund, aus dem Marlene sein Angebot ablehnte.
Sie hatte sich zu Jahresbeginn einmal mit Dieter verabredet. Unsympathisch war er ihr nicht. Er sah gut aus, war ein erstklassiger und ausdauernder Tänzer und hatte – was einen besonderen Wert darstellte – stets ein Auto zur Verfügung. Aber ihre ansonsten so verständnisvolle Mutter hatte Zustände bekommen und Dieter als Bauerntrampel bezeichnet, als Marlene erklärte, mit wem sie ausgehen wollte. Und bei aller Sympathie, ein Risiko ging Marlene lieber nicht ein.
Aber noch hatte Dieter Kleu die Hoffnung nicht aufgegeben. Er tröstete sich an diesem Abend mit Marlenes Freundin, versuchte, sie als Vermittlerin zu gewinnen, und fuhr sie kurz vor zwölf heim. Zu diesem Zeitpunkt amüsierte sich Marlene Jensen mit zwei jungen Männern aus Lohberg, die niemand kannte.
Etwa eine Viertelstunde nach Dieter Kleu und Marlenes Freundin brachen auch Albert Kreßmann und Annette Lässler auf. Albert verabschiedete sich von Marlene mit dem Hinweis, er käme in einer Stunde zurück, um sie abzuholen. Das war ihr recht. Sie ging nicht davon aus, dass ihr Vater bei seiner Rückkehr ihr Zimmer kontrollierte. Aber er hätte etwas hören können, wenn sie zu früh wieder einstieg. Um halb zwei in der Nacht würde er fest schlafen.
Dass Albert Kreßmann sie nicht sofort mit zurück ins Dorf nehmen wollte, war leicht zu erklären. Er plante mit Annette Lässler noch einen Abstecher zu einem stillen Fleckchen, dabei hätte Marlene nur gestört. Allerdings machte Albert vor seinem Aufbruch eine Bemerkung, die Marlene beunruhigte. Er wollte ihr zeigen, welche Plätze ihre Cousine besonders liebte und welche Stellungen sie bevorzugte.
Es war nicht das erste Mal, dass Albert Kreßmann eine derartige Anspielung machte. Bisher hatte Marlene ihn nicht ernst genommen. Nur war sie bisher auch noch nie mit ihm allein gewesen. Alberts Vater, Richard Kreßmann, war der reichste Mann im Dorf. Albert war seit frühester Jugend daran gewöhnt, dass man für Geld so ziemlich alles kaufen konnte. Wenn sich einmal etwas nicht kaufen ließ, konnte er sehr unangenehm werden.
So stieg Marlene Jensen kurz vor eins lieber in das Auto der beiden jungen Männer, mit denen sie an diesem Abend die meiste Zeit verbracht hatte, von denen sie jedoch nur die Vornamen kannte – Klaus und Eddi. Auf dem Parkplatz kam es dann noch zu einer Schlägerei. Dieter Kleu hatte Marlenes Freundin vor der Haustür ihrer Eltern abgesetzt, war längst wieder zurück und versuchte es mit einer kleinen Erpressung: «Wenn du nicht mit mir fährst, erzähle ich deinem Vater…»
Eddi und Klaus verwiesen ihn gemeinsam in seine Schranken. Klaus hielt ihn fest, Eddi verpasste ihm ein blaues Auge und eine blutige Nase. Mit einem letzten Hieb in den Magen setzte er Dieter für einige Sekunden völlig außer Gefecht. Dann stieg Eddi hinters Steuer, Klaus nahm im Wagenfond neben Marlene Platz.
Anfangs schien es, als täte Eddi das, was er versprochen hatte. Er fuhr zur Landstraße, die nach vier Kilometern – ab dem Dorfrand– Bachstraße hieß und sich über zwei Kilometer durch den gesamten Ort zog. Vor dem Ortseingang zweigte nach rechts ein schmaler asphaltierter Weg ab, der hinaus zum Hof von Marlenes Onkel Paul Lässler führte. Eddi bog in diesen Weg ein, gleichzeitig wurde Klaus zudringlich.
Marlene wehrte sich, konnte jedoch im engen Wagenfond nicht viel ausrichten. Eddi fuhr relativ schnell. Nach etwa dreihundert Metern kreuzte der schmale Weg einen breiten, der parallel zur Bachstraße verlief und wie die Landstraße nach Lohberg führte. An dieser Wegkreuzung hatte der Rechtsanwalt Heinz Lukka seinen Bungalow bauen lassen. Eddi bog mit unverminderter Geschwindigkeit in den breiten Weg ein. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Marlene den Bungalow wie einen dunklen Klotz an der Kreuzung liegen.
Heinz Lukka war lange Jahre ihr Nachbar am Marktplatz gewesen. Marlene kannte ihn von klein auf und fand ihn ganz nett. Dies umso mehr, weil ihr Vater den alten Rechtsanwalt nicht ausstehen konnte. Im Stadtrat vertraten sie konträre Positionen. Davon abgesehen hatte Heinz Lukka früher ihre Mutter glühend verehrt. In dieser Situation jedoch erwartete Marlene von ihm keine Hilfe. Am Wochenende war er nur selten zu Hause, und selbst wenn, war kaum anzunehmen, dass er einem vorbeifahrenden Auto eine besondere Bedeutung beimaß.
Etwa fünfhundert Meter hinter der Kreuzung kam der Wagen abrupt zum Stehen. Kaum hatte Eddi die Scheinwerfer gelöscht und den Motor abgestellt, sprang er vom Fahrersitz und quetschte sich ebenfalls auf die Rückbank. Marlene kämpfte mit allen Kräften gegen beide Männer, biss und kratzte, büßte ein Büschel Haare ein und zwei sternförmige Nieten ihrer Jeanshose. Unentwegt sagte einer von beiden: «Hab dich nicht so.» Aber schließlich sahen Klaus und Eddi ein, dass sie ihr Ziel nur mit Gewalt erreichen konnten.
Ehe Marlene sich versah, fand sie sich auf dem Feldweg wieder. Die hellblaue Blousonjacke und ihre Handtasche wurden ihr hinterhergeworfen. Der Wagen brauste davon.
Ihre Erleichterung hielt nicht lange vor. Es war eine finstere Gegend. Die Wege draußen waren in relativ gutem Zustand. Eine Straßenbeleuchtung gab es nicht. Es hätte sich nicht gelohnt für drei noch dazu weit verstreute Anlieger auf dieser Seite des Ortes. Die Höfe von Richard Kreßmann und Dieters Vater Bruno Kleu lagen auf der anderen Seite des Dorfes.
Etwa fünfhundert Meter zurück stand der Bungalow des alten Rechtsanwalts. Zu sehen war davon nichts in der Dunkelheit. Von der Wegkreuzung waren es weitere achthundert Meter bis zum Hof ihres Onkels. In der entgegengesetzten Richtung führte der Weg an offenen Gärten, Zäunen und Mauern vorbei. Es waren große Grundstücke, die darauf erbauten Häuser lagen an der Bachstraße und waren kaum auszumachen. Nur vereinzelt schimmerte noch ein erleuchtetes Fenster in die Nacht. Nach anderthalb Kilometern kam eine zweite Wegkreuzung, von der aus man nach links auf die Bachstraße und nach rechts zum Anwesen von Jakob und Trude Schlösser gelangte. Von der Bachstraße bis zur elterlichen Wohnung am Marktplatz war es noch einmal ein guter Kilometer. Der Weg zum Hof ihres Onkels war kürzer.
Unbehaglich zog Marlene die Schultern zusammen, hob Jacke und Tasche vom Boden auf, zog die Jacke an und setzte sich in Bewegung. Es war unheimlich. Linker Hand die Felder, rechter Hand lag eine von hohem Stacheldraht umzäunte Wiese, auf der drei Dutzend Apfelbäumchen zwischen teilweise hüfthohem Unkraut wuchsen. Daran schloss sich ein völlig verwildertes Stück Land an, ein ehemaliger Garten, um den sich seit Jahren niemand mehr gekümmert hatte. So war aus ein paar Brombeersträuchern ein undurchdringlicher, dorniger, hauptsächlich mit Nesseln durchsetzter Urwald geworden.
Marlene Jensen atmete durch, als sie diese Wildnis endlich hinter sich gelassen hatte und das riesige Maisfeld ihres Onkels erreichte, das Heinz Lukkas Grundstück an der Wegkreuzung von zwei Seiten umschloss. Und dann war er plötzlich hinter ihr, ein riesiger Schatten. Er näherte sich mit raschen, aber fast lautlosen Schritten. Marlene bemerkte ihn erst, als er mit einer Hand in ihr langes Haar griff. «Fein», sagte er.
Nachdem Marlene die Erstarrung abgeschüttelt hatte, schlug sie mit beiden Händen nach hinten und veranlasste ihn damit, ihre Haare loszulassen. Dann fuhr sie wütend zu ihm herum und schrie ihn an: «Bist du bescheuert, mich so zu erschrecken?»
Angst hatte Marlene Jensen in diesem Moment wahrscheinlich nicht. Es war nur Ben, der Sohn von Jakob und Trude Schlösser, furchteinflößend mit seiner massigen Gestalt und seiner äußeren Aufmachung, aber völlig harmlos. Seine Mutter und ihre Tante Antonia betonten das ständig. Er ließ erneut seine Finger durch ihr Haar gleiten. «Fein», sagte er noch einmal.
«Lass das, du Idiot!», schrie Marlene.
Er zog seine Hand zurück. «Finger weg?», fragte er.
«Ja, genau», sagte Marlene in etwas gemäßigterem Ton. «Finger weg. Mach das nicht nochmal.» Dann drehte sie sich um und ging weiter auf die Wegkreuzung zu. Er folgte ihr.
«Finger weg», sagte er wieder. Diesmal klang es nicht nach einer Frage. Er griff nach ihrer Schulter. Marlene schüttelte seine Hand ab und begann zu laufen. Er hielt sich neben ihr, packte ihren Arm und zerrte daran, dass er sie beinahe zu Boden riss. Jetzt schrie er: «Finger weg!»
Ein Fetzen ihrer Jacke blieb in seiner Hand zurück, als Marlene ihren Arm mit einem Ruck aus seinem Griff befreite. Sie rannte schneller. Er überholte sie, baute sich breitbeinig vor ihr auf und spreizte die Arme, um ihr den Weg zu versperren. «Finger weg!», schrie er zum vierten Mal.
«Hau ab!», schrie Marlene. «Hau bloß ab, du Idiot!»
Als er erneut die Hand nach ihr ausstreckte, schlug sie mit der Faust nach ihm. Er begann auf der Stelle zu tänzeln, griff dabei in seine Hosentasche. Als er die Hand wieder zum Vorschein brachte, hielt er ein Springmesser darin. Marlene erkannte es in der Dunkelheit erst, als er die Klinge herausschnappen ließ und ihr damit vor den Augen herumfuchtelte. Seine ohnehin dürftige Sprache verkam zu unverständlichen Gurgellauten, nur zwei Worte waren noch deutlich. «Rabenaas, kalt.»
Als er geboren wurde, an einem frostigen Tag im Februar 73, gab ihm niemand im Ort eine Chance. Wochenlang brannten vor dem Maria-Hilf-Altar in der Kirche die Kerzen. Das Unglück hatte sich schnell herumgesprochen. Trude war erst im sechsten Monat gewesen und so unglücklich auf den Stufen zur Küche gestürzt, dass sie mit Blaulicht und Martinshorn ins Krankenhaus nach Lohberg gefahren werden musste. Noch im Rettungswagen zogen sie ihn ans Tageslicht, dann brachten sie ihn auf dem schnellsten Weg in eine große Klinik nach Köln.
Ein Menschlein von knapp drei Pfund. Jeder, der seine Eltern kannte, bangte mit ihnen. Jakob und Trude Schlösser waren ehrliche, aufrichtige und tüchtige Menschen, denen man von ganzem Herzen gönnte, dass die Ärzte ihren Sohn durchbrachten, wo sie so lange darum gekämpft hatten, ihn zu bekommen.
Jakob war Jahrgang 32, Trude vier Jahre jünger. Geheiratet hatten sie 1957 und fest damit gerechnet, bald Eltern zu werden. Aber Trude wurde nicht so leicht schwanger. Erst fünf Jahre nach ihrer Hochzeit kam Anita zur Welt, zwei Jahre später die zweite Tochter Bärbel. Dann tat sich nichts mehr.
Jakob war stolz auf Anita. Seine Älteste war ein überaus kluges Kind, das unentwegt Fragen stellte, auf die niemand eine Antwort wusste. Er empfand Zärtlichkeit für Bärbel. Sie war ein wenig phlegmatisch und längst nicht so aufgeweckt wie ihre Schwester. Jakob wollte sich darauf nicht verlassen, dass ihm die Mädchen eines Tages die richtigen Schwiegersöhne brachten – bei dreihundert Morgen Land sollte man einen Sohn haben.
Es gab Ende der sechziger Jahre noch dreizehn landwirtschaftliche Betriebe am Ort. Acht kleine, die kaum ihren Mann ernährten, und die fünf großen Höfe, die den Familien Schlösser, Lässler, Kreßmann, Kleu und von Burg gehörten. Mit Abstand der größte war der Besitz von Richard Kreßmann. Fünfzehnhundert Morgen, das war beinahe die Hälfte der näheren Umgebung.
Richard Kreßmann war 1968 noch ledig, obwohl er die dreißig schon überschritten hatte. Aber Sorgen um die Erbfolge machte er sich nicht. Er war überzeugt, mit seinem Geld könne er sich Zeit lassen. Häufig erschien er mit jungen Frauen in Ruhpolds Schenke, der einzigen Kneipe im Ort. Die Gesichter wechselten oft. Wer einigermaßen bei Verstand war, ließ sich höchstens zweimal auf ein Rendezvous mit Richard ein. Er trank zu viel.
Paul Lässler besaß dreihundertzwanzig Morgen. Er war ein Jahr älter als Jakob und seit Kindesbeinen eng mit ihm befreundet. Auch er war Ende der sechziger Jahre noch nicht verheiratet, hoffte jedoch darauf, das bald zu ändern. Er war seit zehn Jahren verlobt mit Heidemarie von Burg.
Heidemaries Bruder Toni von Burg und seine Frau Illa bewirtschafteten vierhundert Morgen. Ihre Zukunft war schon gesichert: Uwe, ein kleiner Wildfang, der Illa gehörig auf Trab hielt und es ihr kaum erlaubte, gesellschaftliche Kontakte zu pflegen. Aber vielleicht war der lebhafte Junge nur eine Ausrede, Toni und Illa von Burg hatten immer sehr zurückgezogen gelebt.
Der Familie Kleu gehörten knapp dreihundertfünfzig Morgen. Über den alten Kleu und seine Frau gab es nicht viel zu sagen. Ihr Sohn Bruno war noch zu jung, um ans Heiraten zu denken, aber seine Wahl hatte er schon getroffen. Er war hinter Maria Lässler her wie der Teufel hinter der armen Seele, was ihr Bruder Paul gar nicht gerne sah. Bruno Kleu war bekannt für seine Prügeleien und bewies schon mit achtzehn Jahren, dass er imstande war, Söhne zu zeugen, er schwängerte ein Mädchen aus Lohberg. Zum Leidwesen seines Vaters, der für die Alimente aufkommen musste.
Für Jakob und Trude gab es von Monat zu Monat Hoffnung und Enttäuschung – sechs lange Jahre. Überall tat sich etwas. Im Frühjahr 69 löste Paul Lässler seine Verlobung mit Heidemarie von Burg, heiratete noch im gleichen Monat die achtzehnjährige Antonia Severino und hielt drei Monate später den ersten Sohn im Arm, leider nur für ein paar Minuten. Pauls Ältester kam mit einem Herzfehler auf die Welt. Doch der war rasch behoben, und Antonia war ein knappes Jahr später erneut schwanger.
Illa von Burg schenkte Toni nach den beiden Söhnen noch eine Tochter. Bruno Kleu schwängerte das zweite Mädchen aus Lohberg, bekam den zweiten unehelichen Sohn und von seinem Vater eine anständige Tracht Prügel, die ihn vorübergehend zur Vernunft brachte.
Richard Kreßmann überzeugte Thea Ahlsen, die sich Hoffnungen auf den jungen Apotheker Erich Jensen gemacht hatte, dass fünfzehnhundert Morgen Land ein paar Schnäpse zu viel ausglichen und entschieden mehr Wert hatten als eine Apotheke. Sechs Wochen nach der Trauung verkündete Thea im ganzen Dorf, sie sei schwanger, es hätte schon in der Hochzeitsnacht funktioniert, was sich allerdings als Irrtum erwies.
Jakob und Trude Schlösser hatten die Hoffnung schon fast aufgegeben. Jakob überschritt die vierzig, auch Trude wurde allmählich zu alt. Und dann lag er im Brutkasten, der ersehnte Erbe für den Hof. Benjamin ließen sie ihn taufen, weil er so winzig war. Doch wenn sie von ihm sprachen, nannten sie ihn nur Ben. Es hörte sich kräftiger an.
Trude fuhr täglich mit dem Auto zur Klinik, damals fuhr sie noch selbst. Sie lieferte die Muttermilch ab, die er über eine Magensonde eingeflößt bekam. Eine geschlagene Stunde stand sie jedes Mal neben dem Inkubator, betrachtete das erbärmliche Bündel Mensch, dessen Knöchlein sie durch die dünne Haut zu sehen glaubte, weinte ein paar Tränen und betete, der Himmel möge ein Einsehen haben, ihn überleben und wachsen lassen. Und irgendwo wurden die Gebete erhört.
Als sie ihn nach vier Monaten endlich nach Hause holen durften, wog er fünf Pfund. Die Finger und das Gesicht waren noch so durchscheinend, dass niemand es wagte, in seiner Nähe tief Luft zu holen. Aber die Ärzte sagten, er sei über den Berg. Auch Freunde und Bekannte machten Mut.
Thea Kreßmann, selbst gerade erst Mutter geworden, brachte beim ersten Besuch ihren Albert zum Vergleich mit. Mit seinen sechs Wochen war Theas und Richards Sohn doppelt so schwer wie Ben. Thea war mehr als stolz und überzeugt, es sei ein Ammenmärchen, dass ein bisschen Alkohol den Kindern schaden würde.
Antonia Lässler erinnerte Trude an die Herzoperation ihres Ältesten, der sich danach prächtig entwickelt hatte. Bruno Kleu war noch nicht verheiratet, seine Mutter kam, um zu gratulieren. Illa von Burg hielt sich etwas zurück, kam wegen ihrer lebhaften Kinder nicht gleich in den ersten Tagen. Auch die Männer kamen nicht ins Haus, sie ließen sich in Ruhpolds Schenke von Jakob berichten, wie es mit Ben von Tag zu Tag aufwärtsging.
1973 war Jakob noch Mitglied im Schützenverein, spielte manchmal am Sonntagnachmittag in der Alte-Herren-Mannschaft Fußball. Erich Jensen und Heinz Lukka bedrängten ihn gleichermaßen, der SPD oder der CDU, auf jeden Fall aber dem Gemeinderat beizutreten. Die kommunale Neugliederung stand bevor, dem Dorf drohte die Eingemeindung in die Stadt Lohberg. Der Apotheker und der Rechtsanwalt meinten, man könne das vielleicht verhindern. Doch Jakob hatte keinen Sinn für die Politik und das Gemenge hinter den Fassaden.
Er hatte auch keine Zeit. Zwar lebten seine Eltern noch, aber sein Vater war dreiundachtzig. Das sah ihm allerdings niemand an. Groß war er, der alte Schlösser, fast so groß, wie sein Enkel später einmal werden sollte. In jungen Jahren war er auch von ebenso massiger Gestalt gewesen. Das Alter hatte ihn hager gemacht und zäh. Er fuhr noch regelmäßig den Traktor und erledigte die Arbeit in den Ställen fast alleine, bis ihn im März 75 der Schlag traf.
Auch Jakobs Mutter war trotz ihres hohen Alters noch sehr rüstig. Sie führte den Haushalt, versorgte die Hühner, kümmerte sich um die beiden Enkeltöchter Anita und Bärbel. Sie nahm auch den Säugling in ihre Obhut, damit Trude weiterhin bei der Feldarbeit helfen konnte.
Unter der Fürsorge seiner Großmutter gedieh Ben, dass es eine Freude war. Zur Kirmes im Mai 74 saß er schon halbwegs aufrecht im Kinderwagen, den Rücken mit einigen Kissen gestützt, aber mit rosigen Wangen und prallen Fäusten. Trudes Augen leuchteten vor Stolz, als sie ihn über den Festplatz schob und auf jedem Meter angesprochen wurde.
An einer der Buden kaufte sie eine bunte Rassel, die ein Alpenläuten erzeugte, wenn man sie kräftig schüttelte. Schütteln mochte Ben sie nicht, der Lärm machte ihm Angst. Aber er behielt sie in der Faust, warf sie nicht in hohem Bogen aus dem Kinderwagen, wie Albert Kreßmann es mit jedem Ding tat, das man ihm in die Finger drückte.
Beim Schützenfest im September trug Jakob ihn schon auf dem Arm über den Platz, stellte ihn dort, wo das Gewimmel von Menschen weniger dicht war, auf seine Füße und ließ ihn eigene Schritte tun. Trude kaufte ihm ein Windrad, mit dem er allerdings nichts anzufangen wusste.
Und im Mai 75 – Jakobs Vater war zwar gerade erst unter der Erde, aber den Kindern wollte man die kleine Freude nicht verderben – fuhr Ben zusammen mit Bärbel auf dem Karussell. Jakob musste während der Fahrt aufspringen und ihn herunternehmen, weil er in Panik geriet und losschrie, als wolle man ihm an die Kehle.
Was schon seit Monaten wie ein drohendes Unheil über ihren Köpfen hing, ballte sich allmählich zu einer Faust, die Trudes Herz schmerzhaft umklammerte. Ben hatte gelernt, zu sitzen, zu stehen, einige Schritte zu tun und ein paar unverständliche Laute von sich zu geben. Aber mehr kam nicht. Es geschah nur noch, worum Trude so inbrünstig gebetet hatte. Er lebte und wuchs.
Jakobs Mutter sagte bis zu ihrem Tod im November 76 häufig, es sei ein Glück, dass ihr Mann es nicht mehr habe erleben müssen. Zusammen mit den alten Frauen aus der Nachbarschaft zerbrach sie sich den Kopf, wessen Schuld es sein könnte.
Man rekonstruierte die Zeit bis zu seiner Geburt, so gut man sie im Gedächtnis hatte. Doch niemand erinnerte sich an einen großen schwarzen Hund, vor dem Trude sich erschreckt haben könnte. Es waren auch keine Zigeuner auf den Hof gekommen, die – als man sie abwies – einen Fluch zurückgelassen hätten. Und in beiden Familien gab es keine gleichgelagerten Fälle. Bei den Schlössers sowieso nicht, aber auch von Trudes Seite war nichts Negatives bekannt.
Dass die Ursache allein in Trudes Sturz auf den vereisten Stufen zur Küche liegen könnte, zog Jakobs Mutter nicht in Betracht. In diesem Fall wäre sie die Verantwortliche gewesen. Sie hatte an dem Unglückstag versäumt, rechtzeitig Asche zu streuen.
Bis zuletzt hoffte Bens Großmutter, dass sich noch etwas ändern würde. Einen Monat vor ihrem Tod pilgerte sie mit der katholischen Landfrauengemeinde nach Lourdes, brachte zwei Flaschen Weihwasser und eine Lungenentzündung mit heim. Mit dem Wasser beträufelte sie Bens Hinterkopf, an der Lungenentzündung starb sie.
Für Trude war der Tod ihrer Schwiegermutter ein herber Schlag. Auf die ersten beiden Jahre voll Stolz, Mutterglück, bangen Nächten und dummen Fragen folgte für sie eine dumpfe Zeit. Sie wollte nicht wahrhaben, was sie sah, wenn sie vom Feld oder aus den Ställen kam, die Küche betrat und Ben in einer Ecke sitzen sah.
Seiner Großmutter gehorchte er aufs Wort, wo sie ihn hinsetzte, blieb er sitzen, oft genug mit wundem Hintern und vom Weinen verquollenem Gesicht. Er schaute nicht auf, wenn Trude hereinkam, war völlig apathisch in seiner trüben Welt versunken.
Für seine Schwestern war er nicht mehr als ein Besen, den man in eine Ecke stellte. Anita strebte nach Höherem, war mit einer Arzttochter befreundet und tat, als existiere ihr Bruder nicht. Bärbel erbarmte sich manchmal, stopfte ihm einen Bonbon in den Mund und strich ihm übers Haar, wenn keiner zuschaute. Jakob nahm ihn abends auf den Schoß, ließ ihn auf seinen Knien reiten und sagte: «Ach, das wird schon.» Aber nicht einmal er konnte Ben ein Lächeln abringen.
Der Winter 76/77 war für Trude besonders hart. Sie schleppte ihn auf Schritt und Tritt mit sich, sagte ihm ein paar Worte vor. Und abends besprach sie mit Jakob, wie es nun weitergehen sollte. Bis zum Frühjahr musste eine Lösung gefunden werden, alleine konnte Jakob die Feldarbeit nicht bewältigen.
Mit dem Problem hatten auch die anderen schon zu kämpfen gehabt und eine Lösung gefunden. Paul Lässler, Toni von Burg und der alte Kleu hatten Anfang der siebziger Jahre eine Arbeitsgemeinschaft gebildet. Richard Kreßmann war darauf nicht angewiesen, er beschäftigte ein halbes Dutzend Leute.
Nun wollte Toni von Burg aus der Arbeitsgemeinschaft aussteigen und sich auf Geflügelzucht spezialisieren. Er war dabei, einen Großteil seines Landes zu verkaufen – als Bauland. Thea Kreßmann berichtete bei jedem Besuch, dass Toni sich eine goldene Nase damit verdiente. Den Gewinn wollte er in große Mietshäuser investieren, erzählte Thea, damit ihm die Steuer nicht alles wegfraß. Nur zu gerne trat Jakob an Tonis Stelle und organisierte nun mit Hilfe seiner Freunde die Arbeit auf seinem Hof.
Trude legte zum Ausgleich für sich einen Gemüsegarten neben der rückwärtigen Ausfahrt an. Im Frühjahr und im Sommer 77 floh sie täglich nach dem Mittagessen hinaus und setzte Ben auf einem Pfad zwischen den Beeten ab, wo er auch anfangs noch sitzen blieb. Aber nicht lange. Er mochte zu blöd sein, das Wort Mama auszusprechen, doch er begriff schnell, dass seine Mutter aus einem anderen Holz geschnitzt war als die Großmutter.
In den ersten Tagen verwirrte ihn die Weite ringsum noch. Er blinzelte unsicher ins Sonnenlicht, staunte mit halboffenem Mund die Wolken an und zuckte erschreckt zusammen, wenn ihm eine Biene oder ein Falter zu nahe kam. Dann kroch er das erste Mal ein Stück vorwärts auf den Feldweg zu, der parallel zur Bachstraße hinter dem Garten vorbei Richtung Lohberg führte. Den Blick hielt er dabei noch misstrauisch und ängstlich auf Trude gerichtet. Schon nach einer Woche wieselte er seinem Ziel so schnell entgegen, dass Trude die Luft ausging, ehe sie ihn wieder zu packen bekam. «Nein, nein», keuchte sie jedes Mal. «Du musst bei mir bleiben.»
Es half nicht viel, mit ihm zu reden. Er verstand es nicht. Für ihn war es ein Spiel, weglaufen und gefangen werden. Trude dachte oft, dass er wirklich nur begriff, was verboten war, wenn man ihn verprügelte, wie ihre Schwiegermutter es getan hatte. Das brachte Trude nicht übers Herz. Anbinden mochte sie ihn auch nicht, er war doch kein Tier. Aber jedes Mal, wenn sie hinter ihm her hetzte, hatte sie das Gefühl, dass ihr alles über dem Kopf zusammenschlug.
Isoliert und ausgeschlossen, das Stigma nicht auf der Stirn, nur an der Hand. Sie konnte nicht mehr mit Illa von Burg am Sonntagmorgen die heilige Messe besuchen. Sie konnte Antonia Lässler nicht mehr am Sonntagnachmittag nach Lohberg begleiten und sich eine Stunde in der Eisdiele gönnen, während die Männer auf dem Fußballplatz waren. Sie konnte niemanden mehr einladen auf einen Kaffee am Nachmittag. Sie konnte auch die Einladungen anderer nicht mehr annehmen, schon gar nicht, wenn es sich um größere Ereignisse handelte.
An der Hochzeit von Erich Jensen und Maria Lässler hatte sie noch teilgenommen. Aber das war 1974 gewesen. Da hatte ihre Schwiegermutter noch gelebt und war mit Ben daheim geblieben. Als Bruno Kleu das dritte Mädchen aus Lohberg schwängerte und Renate auf Befehl seines Vaters im September 77 heiraten musste, schob Trude eine Migräne vor. Jakob ging mit den beiden Töchtern hin.
Als Anfang Oktober Bruno und Renate Kleus Sohn auf den Namen Dieter getauft wurde, hatte Trude so starke Rückenschmerzen, dass sie unmöglich in der Kirche stehen und auch nicht an einem Kaffeetisch sitzen konnte. Und als drei Wochen später Toni und Illa von Burgs kleine Tochter auf dem Schulweg überfahren wurde, bekam Trude zur Beerdigung eine Magenverstimmung.
Nur konnte sie niemanden wegschicken, der unaufgefordert kam. Antonia Lässler ließ sich das nicht nehmen. Durch die enge Freundschaft ihres Mannes zu Jakob hatte sie schon vor Bens Geburt regen Kontakt mit Trude gehabt. Der Lässler-Hof lag ebenfalls an der Bachstraße, die damals nur auf einer Länge von etwa dreihundert Metern bebaut war. Pauls Anwesen lag am Anfang, Jakobs Hof praktisch am Ende, da waren sie fast Nachbarn. Und trotz des Altersunterschieds von fünfzehn Jahren hatten sie sich immer sehr gut verstanden.
Antonia wollte nicht einsehen, warum es damit vorbei sein sollte, nur weil Trude jetzt einen Sohn hatte, der unerwartet am Tischtuch riss, eine Kaffeetasse umstieß oder mit einem Autoschlüssel im Hühnerstall verschwand, wenn man nicht aufpasste. Antonia war sogar der Ansicht, man könnte ihn einmal mit in die Eisdiele nehmen. Ihr Vater würde sich bestimmt nicht aufregen, wenn Ben ein bisschen herumsprang, weil er nicht stillsitzen konnte. Aber das hätte Trude nie gewagt.
Illa von Burg konnte Trude verstehen und sah ein, dass Trude ihn nicht mit in die Kirche nehmen wollte. Aber die halbe Stunde nach der Messe verbrachte Illa jeden zweiten Sonntag in Trudes Küche, weil sie ohnehin in der Nachbarschaft zu tun hatte. Nicht einmal nach dem Tod ihrer Tochter stellte sie diese Besuche ein, wollte wenigstens guten Tag sagen, auch wenn Ben dabei seine schmierigen Finger an ihrem schwarzen Rock abwischte.
Sogar die junge Renate Kleu erschien hin und wieder mit dem Kinderwagen. Bei ihrer Hochzeit hatte sie von Jakob gehört, dass auch Trude in Lohberg aufgewachsen war. Neu im Dorf, nicht vertraut mit den Gepflogenheiten auf dem Lande, schüchtern und überfordert von Brunos Verhalten, sah Renate ausgerechnet in Trude den einzigen Menschen, mit dem sie offen reden konnte.
Von sieben Abenden in der Woche verbrachte Bruno sechs außer Haus. Seine Mutter fand, man könne einem jungen Mann ein Bierchen nach Feierabend nicht verweigern. Sein Vater riet ständig, Renate solle Bruno begleiten und sich vergewissern, dass es bei den Bierchen in Ruhpolds Schenke blieb. Aber Bruno wollte sie nicht mitnehmen. Seit sie verheiratet waren, wollte er sie eigentlich gar nicht mehr. Wenn er mit ihr schlief, höchstens einmal im Monat, war das eine Sache von fünf Minuten. Und dabei schwärmte er ihr von Maria Jensen vor, stieß Verwünschungen aus gegen Paul Lässler und Erich Jensen. Aber an Scheidung wagte Renate nicht zu denken, was sollte dann aus ihrem Sohn werden?
Da wusste Trude beim besten Willen keinen Rat. Sie konnte nicht einmal richtig zuhören, war nur bemüht, Ben von Renates Kinderwagen fernzuhalten.
Am schlimmsten war es immer, wenn Thea Kreßmann erschien, um dumme Ratschläge zu erteilen und ihren Albert vorzuführen wie einen gut dressierten Hund. Thea kam mindestens viermal in der Woche und wies auf die Unterschiede hin, als ob Trude die nicht selbst bemerkt hätte. Albert konnte Eier einsammeln, jedenfalls behauptete Thea, er würde ihr dabei helfen. Wahrscheinlich wusste Thea nicht einmal, wie ein Hühnerstall von innen aussah.
Ben wusste es umso besser, weil Trude ihn zwangsläufig an ihrer Seite halten musste. Und wenn sie nicht hinschaute, schnappte er sich ein Küken, rieb sich die Wangen damit ab und stopfte es sich in die Hosentasche. Wenn es dort ankam, hatte er es meist schon in der Faust zerdrückt.
Als er fünf Jahre alt wurde, konnte er es an Größe, Gewicht und Körperkraft bereits mit einem Achtjährigen aufnehmen. Allmählich begannen die Leute, ihn misstrauisch zu beäugen. Trude schwitzte Blut und Wasser, wenn sie ihn mit ins Dorf nahm – mitnehmen musste, weil Anita sich weigerte, ihn auch nur für eine Viertelstunde zu betreuen, und Bärbel nicht mit ihm fertigwurde.
Also lief oder stand er neben Trude, den Mund halboffen, einen Speichelfaden über das Kinn gezogen, die Stirn in Falten gelegt, als denke er unentwegt über ein schwieriges Problem nach. Vielleicht tat er das. Wer wusste schon, was ihm durch den Kopf ging? Manchmal stieß er unvermittelt einen wilden Schrei aus, und die Leute drehten sich auf der Straße um. Manchmal sprang er urplötzlich in die Luft, und Trude renkte ihm fast den Arm aus im Bemühen, ihn vor einem Sturz zu bewahren. Hielt sie ihn nicht fest genug am Handgelenk, riss er sich häufig los, stürzte auf Passanten zu, umklammerte sie mit blödem Grinsen. Und Trude fühlte sich, als ginge sie mit einem tollwütigen Hund spazieren.
Die meisten Leute wagten es nicht, sich zu beschweren, wenn er sie belästigte. Jakob und Trude waren angesehene Bürger, da rang man sich ein gequältes Lächeln ab, strich ihm mit spitzen Fingern übers Haar und sagte: «Ach, das ist doch nicht so schlimm, Frau Schlösser.»
Für Trude war es schlimm. Sie litt unter Herzrasen, Kreislaufbeschwerden, Schlafstörungen und Schweißausbrüchen. Zweimal die Woche musste sie ihren Blutdruck messen lassen, hielt ihn auch dabei an der Hand oder auf dem Schoß. Hielt seine Hände fest im Griff, weil er sonst nach den blinkenden Instrumenten grapschte, die in einer Schale auf dem Tisch lagen, neben dem sie in der Arztpraxis Platz nehmen musste. Alles, was blinkte, faszinierte ihn. Keine Gabel, kein Löffel, kein Messer auf dem Tisch war sicher vor seinem Zugriff. Hundertmal am Tag rief Trude: «Finger weg!»
Noch schlimmer als das ständige Grapschen war sein Nachahmungstrieb. Wenn Albert Kreßmann Faxen machte, war Ben sein Spiegelbild. Wenn der kleine Dieter Kleu seine Mutter vors Schienbein trat und sich vor Wut auf den Boden warf, weil er seinen Willen nicht bekam, lag Ben Sekunden später neben ihm.
Wenn Bärbel sich am Nachmittag eine Puppe vom Bett holte, wollte er auch eine haben. Und wenn Trude ihm die Puppe aus der Hand nahm, weil er doch ein Junge war, warf er sich auf den Boden, wie er es oft bei Dieter Kleu sah, kreischte und heulte, trat mit den Füßen und schlug mit dem Kopf auf. Oder er rannte auf seinen flinken Beinen in den Hühnerstall, erwürgte zwei oder drei Küken und bockte den Rest des Tages.
Albert Kreßmann wurde trotz seiner Faxen Anfang 79 für reif befunden, ab Herbst die Grundschule zu besuchen. Bei Ben schüttelte man nur den Kopf. Es reichte nicht einmal für die Sonderschule. Der Professor, den Trude im März 79 auf mehrfachen Rat Thea Kreßmanns doch noch konsultierte, sprach aus, was Trude bis dahin nicht zu denken gewagt hatte: hochgradiger Schwachsinn!
Ben saß noch nackt auf dem Untersuchungstisch, einen blinkenden Stab in der Faust, ein Stück Schokolade im Mund, weil man ihn nur mit Süßigkeiten veranlassen konnte, für ein paar Minuten stillzusitzen, als der Professor erklärte: «Sein Nachahmungstrieb bietet natürlich einige Möglichkeiten. Aber rechnen Sie nicht damit, dass er mit Ausdauer bei einer Sache bleibt. Er ist sehr aktiv und leicht abzulenken. Und er ist sehr groß und kräftig für sein Alter. Auf Dauer sind Sie mit seiner Betreuung überfordert. Das Beste wird sein, wenn Sie so schnell wie möglich ein gutes Heim für ihn suchen.»
Trude schaute ihn an, diesen Sohn, den sie sich mehr gewünscht hatte als sonst etwas auf der Welt. Und er schaute sie an, wälzte die Schokolade im Mund. Brauner Speichel rann ihm übers Kinn. Trude wischte ihn ab. Er grinste schief, hob die Faust mit dem Stab, als wolle er sich mit dieser Geste für das saubere Kinn bedanken.
Das war der Augenblick, in dem Trude begann, ihn zu lieben, wirklich, wahrhaftig und inbrünstig zu lieben. Es war der Moment, in dem sie sich schwor, ihn gegen alle Anfeindungen und jede Willkür zu verteidigen und für ihn zu kämpfen, allen gerümpften Nasen, allen pikierten Gesichtern zum Trotz.
Genaugenommen war Trude die Einzige, die den Schrecken dieses Sommers in seinem gesamten Ausmaß erlebte. Für sie hatte es schon im Juli begonnen. Da legte Ben an einem Montagmorgen eine kleine, mit den Abdrücken blutiger Finger beschmierte Handtasche auf den Küchentisch.
Über das Blut machte Trude sich keine Gedanken. Ben hatte ein paar tiefe Kratzer auf dem linken Handrücken und zwei aufgerissene Fingerkuppen. In der Tasche befanden sich eine Geldbörse mit ein paar Münzen, zwei in ein Papiertuch eingewickelte Pillen, Kamm, Spiegel, Lippenstift und ein Personalausweis, ausgestellt auf den Namen Svenja Krahl mit einer Adresse in Lohberg. Alles war sauber. Trude nahm an, er hätte die Tasche irgendwo draußen gefunden und eine Weile mit sich herumgetragen.
Er brachte oft etwas mit von seinen Streifzügen. Einen verbeulten Aluminiumtopf, den Trinkbecher einer Thermoskanne, den irgendwer draußen verloren hatte. Einmal kam er mit einem ausrangierten Autoreifen heim und wollte Jakob eine Freude damit machen. Aber meist waren es Kleinigkeiten, die er Trude auf den Küchentisch legte, hübsch geformte oder gemaserte Steine, Scherben und die Überreste von Feldmäusen.
Vor zwei Jahren hatte er Trude einen Schrecken eingejagt mit einem alten Knochen, der unmöglich von einer Feldmaus stammen konnte, eher von einem Schwein. Nur verscharrte niemand ein Schwein im freien Feld. Dafür gab es Schlachthöfe. Der Knochen konnte ebenso gut zu einem Menschen gehört haben, der vor Jahr und Tag am falschen Platz unter die Erde geraten war. So genau hatte Trude ihn nicht angeschaut, dass sie ihn mit Bestimmtheit hätte zuordnen können. Darüber hinaus hatte sie bis zu dem Moment, als Ben ihr das verwitterte Ding auf den Küchentisch legte, noch nie einen menschlichen Oberschenkelknochen aus der Nähe gesehen.
Im vergangenen Jahr hatte er mal einen dreckigen Lappen bei sich gehabt, der sich bei näherer Betrachtung als Unterhöschen entpuppte und im Mittelteil außer dem Dreck ein paar Blutspuren aufwies. Aber Derartiges fand sich schnell in einer Gegend, in der sich in lauen Nächten die Liebespaare im Dutzend tummelten. Da mochte auch mal eine Jungfrau mit von der Partie sein, die sich anschließend nicht traute, ihrer Mutter einen Beweis heimzubringen, und ihr Höschen lieber an Ort und Stelle zurückließ.
Und warum sollte nicht ein junges Mädchen, das anderes im Sinn hatte, als seine Sachen beisammenzuhalten, seine Tasche verlieren? Und Ben hatte sie dann eben gefunden. So sah Trude die Sache zu Anfang. Sie lobte ihn, wischte das Blut ab und suchte im Telefonbuch. Aber unter dem Namen Krahl gab es keinen Eintrag. Also legte Trude die Tasche an die Seite, um sie beim nächsten Besuch in der Stadt bei der angegebenen Adresse abzugeben.
Aber am Dienstagabend erzählte ihr Heinz Lukka dann, in der Nacht zum Montag sei er aufgewacht, weil draußen ein Mädchen geschrien hätte. Er sei aufgestanden, habe aus dem Fenster geschaut, jedoch nichts gesehen in der Dunkelheit.
Daraufhin verbrannte Trude die kleine Tasche samt Inhalt im Küchenherd, war glücklich und dankbar, dass sie vergessen hatte, Jakob davon zu erzählen, und immer noch überzeugt, dass Ben sie draußen gefunden und sich die Hände am Stacheldraht der eingezäunten Wiese aufgerissen hatte. Die Wiese gehörte zu ihrem ehemaligen Grundstück an der Bachstraße. Ihn zog es immer noch dorthin.
Aber wer hätte ihr geglaubt, dass er in der Nacht zum Montag nur harmlos auf der Wiese gespielt hatte? Jeder hätte doch angenommen, er habe Svenja Krahl die Handtasche entrissen. Und jeder hätte sich gefragt, warum das Mädchen den Vorfall nicht bei der Polizei gemeldet habe. Und wenn Heinz Lukka dann erklärt hätte, er habe ein Mädchen schreien hören…
Nach diesem Ereignis im Juli hatte Trude jeden Tag die Zeitung kontrolliert, keine Zeile über Svenja Krahl gefunden und sich allmählich wieder beruhigt.
An dem Mittwochmorgen im August fand sie einen Artikel über Marlene Jensen, die seit Sonntag von ihren Eltern vermisst wurde. Gehört davon hatte Trude schon am Dienstag beim Einkaufen. Renate Kleu hatte ihr erzählt, dass Marlene sich am Samstagabend in der Diskothek in Lohberg mit zwei jungen Männern amüsiert, kräftig auf ihren Vater geflucht und es strikt abgelehnt habe, sich von Dieter mit zurück ins Dorf nehmen zu lassen. Von den Schlägen, die ihr ältester Sohn hatte einstecken müssen, hatte Renate Kleu nicht gesprochen.
Von Thea Kreßmann hatte Trude zusätzlich erfahren, dass auch Albert die Heimfahrt angeboten und sich nachts um eins noch einmal vergebens nach Lohberg bemüht hatte. Außerdem wusste Thea Kreßmann, dass Erich Jensen für das gesamte Wochenende einen Hausarrest verhängt hatte. Thea war überzeugt, Marlene sei ausgerissen, um Erich zu zeigen, dass sie sich nicht alles bieten ließ.
Auch in der Zeitung war die Rede von häuslichen Differenzen. Es war ein kleines Foto dabei, eine Beschreibung der Kleidung– Jeans mit auffälligen Nieten, hellblaue Windjacke. Der Artikel endete mit der eindringlichen Bitte von Maria Jensen, Marlene möge doch endlich heimkommen, man sei ihr nicht böse. Darüber hinaus gab es nur noch einen Appell an die beiden jungen Männer, in deren Wagen Marlene gestiegen war, sich in der Apotheke oder bei der Polizei zu melden und Auskunft über den Verbleib des Mädchens zu geben.
Gemeint war die örtliche Polizeistation in Lohberg. Erich Jensen kannte den Dienststellenleiter persönlich, sie waren beide Mitglieder derselben Partei. Der Apotheker wollte kein Aufsehen, er war sogar dagegen gewesen, dass seine Frau die Presse informierte. Maria Jensen hatte sich mit Unterstützung von Bruder und Schwägerin durchgesetzt. Angesichts der Ausgangssituation schien es für die Polizei in Lohberg eine alltägliche Sache. Grund zur Besorgnis sah man nicht. Dass bereits vier Wochen zuvor ein gleichaltriges Mädchen verschwunden war, wusste niemand.
Das wusste auch Trude nicht mit Sicherheit, weil sie nichts unternommen hatte aus Furcht vor dummen Fragen oder anderen Konsequenzen. Trude hatte sich nur den Kopf zerbrochen, ob Svenja Krahl das Mädchen gewesen war, das Heinz Lukka hatte schreien hören. Wenn ja, ob sie vor Schreck geschrien hatte oder vor Angst oder aus anderen Gründen.
Um Marlene Jensen machte sie sich nur halb so viele Gedanken. Sie überflog den Zeitungsartikel rasch, nachdem sie das Frühstücksgeschirr abgewaschen hatte. Dann faltete sie die Zeitung zusammen und trug sie ins Wohnzimmer, damit Jakob abends einen Blick hineinwerfen konnte. Morgens kam er nur selten dazu. Meist wurde die Zeitung erst geliefert, wenn er schon aus dem Haus war. Es hatte viele Vorteile gehabt, im April 1987 den Hof von der Bachstraße ins freie Feld zu verlegen. Die Zeitung war ein kleiner Nachteil.
Kurz vor neun hörte Trude die Kellertür klappen. Ben kam grundsätzlich durch den Keller. Sie hatte ihm verboten, mit seinen erdverschmierten Stiefeln durch die oberen Räume zu laufen. Und einfache Verbote merkte er sich recht gut. Auch seinen Spaten ließ er immer unten.
Er war die ganze Nacht unterwegs gewesen. Seit dem Wochenende im Juli hatte er keine Nacht mehr in seinem Bett verbracht. Wenn er zum Abendessen nach Hause kam – was er meistens nicht tat, weil er befürchtete, festgehalten zu werden–, verschwand er, kaum dass der Teller geleert war. Trude sah ihn erst am nächsten Morgen wieder, wenn sein leerer Magen ihn heimtrieb.
Zu hören war er auf Socken nicht, als er die Treppe heraufkam. Unvermittelt tauchte er im Türrahmen auf und füllte ihn fast aus. Schultern wie ein Ringer, Fäuste wie Schmiedehämmer, eine Kraft in den Armen, die es ihm erlaubt hätte, einem Ochsen mit einem Schlag das Genick zu brechen, wäre er nur auf die Idee gekommen, einen Ochsen zu schlagen. Aber er war friedfertig, sanft wie ein Lamm, davon war Trude trotz unzähliger unliebsamer Vorfälle fest überzeugt.
Er kam in die Küche, schmutzig wie einer, der stundenlang im Dreck gewühlt hat. Das Fernglas baumelte am Riemen vor seiner Brust. Er trug es stets bei sich, wenn er draußen war, obwohl es ihm nachts nicht viel nutzte.
«Nein, nein», sagte Trude, als er sich an den Tisch setzen wollte, «erst Hände waschen. Das weißt du doch.»
Natürlich wusste er es, aber er versuchte immer, sich davor zu drücken. Nicht weil er das Wasser scheute, nur die Schmerzen, wenn Trude ihn verarztete. Seine Hände und Unterarme waren mit alten Narben, frischen Kratzern und Blasen übersät, die er sich regelmäßig an Disteln und Nesseln, am Stacheldraht und anderen Hindernissen holte.
Widerstandslos ließ er sie sich von seiner Mutter unter den Wasserhahn halten, ließ Trude schrubben und kontrollieren, ob frische Wunden dazugekommen waren, die versorgt werden mussten. Trude fand einen Holzsplitter. Er steckte tief in der Kuppe des rechten Mittelfingers und ließ sich allein mit der Pinzette nicht fassen. Sie musste mit einer Nadel nachhelfen. Er zog zischend die Luft ein.
«Wo hast du dir den wieder geholt?» Sie fragte aus Gewohnheit. Mit einer Antwort rechnete sie nicht. Sein Sprachschatz war äußerst dürftig, umfasste nur wenige deutlich gesprochene Worte. Wenn man so vertraut mit ihm war wie Trude, konnte man mit etwas gutem Willen interpretieren, was er von sich gab. Trude war sicher, dass sie ihn immer verstand. Man musste halt genau hinhören, ob er fragte, Auskunft oder eine Bestätigung gab.
Nachdem der Splitter aus dem Finger gezogen war, lutschte er an der blutenden Kuppe, setzte sich an den Tisch und äugte erwartungsvoll zum Schrank. Trude holte Brot heraus, bestrich ein paar dicke Scheiben mit Butter und Mettwurst, füllte eine große Aluminiumtasse mit Milch und stellte alles vor ihn hin. Während er sich über sein Frühstück hermachte, wusch sie das Messer vom Essbesteck ab und legte es zurück in das Schrankfach, verschloss die Schranktür und steckte den Schlüssel in die Kitteltasche.
In Windeseile hatte er seinen Teller und die Tasse geleert, danach verließ er die Küche. Als Trude wenig später nach ihm schaute, lag er in seiner schmutzigen Kleidung auf dem Bett und schlief. Kurz nach eins kam er herunter, ließ sich ein frisches Hemd und eine saubere Hose anziehen, einen Teller füllen. Er aß und verschwand durch den Keller.
Seit Juli blieb die Kellertür für ihn Tag und Nacht offen. Einmal in den letzten Wochen hatte Jakob sie geschlossen. Da hatte er versucht, sich durch ein Kellerfenster ins Freie zu zwängen. Er war stecken geblieben, hatte gewimmert und gejault wie ein junger Hund, bis Trude und Jakob aufwachten und ihn mit Mühe befreiten. Die Druckstellen, die der eiserne Fensterrahmen in seinem Fleisch hinterlassen hatte, waren immer noch zu sehen.
Als Jakob um sieben von der Arbeit kam, war Ben noch unterwegs. Trude hatte sein Bett frisch bezogen, putzte das Fenster in seinem Zimmer, hielt dabei ein wenig Ausschau und hoffte, dass er für die Nacht heimkam.
Später saß sie mit Jakob im Wohnzimmer. Sie unterhielten sich über Marlene Jensen. Trude war ausnahmsweise einmal einer Meinung mit Thea Kreßmann. Jakob mochte nicht so recht glauben, dass Erichs Tochter ausgerissen war. «Mal für eine Nacht», meinte er. «Aber ein paar Tage, wo soll sie denn sein?»
«Vielleicht bei den Männern, die sie in der Diskothek kennengelernt hat», antwortete Trude. «Erich ist wirklich zu streng. Antonia sagt das auch immer. Ich könnte mir schon vorstellen, dass sie ihm einen Denkzettel verpassen will.»
Am Donnerstag verließ Jakob das Haus wie gewöhnlich um sieben. Er holte den Wagen aus der Scheune und fuhr das erste Stück auf einem Weg, der so schmal war, dass zwei Fahrzeuge nur mit Mühe aneinander vorbei kamen. Nach etwa sechshundert Metern kam die erste Kreuzung, geradeaus verlief der schmale Weg noch zweihundert Meter weiter zwischen Gärten und Feldern, ehe er auf die Bachstraße traf.
Jakob bog nach links ab in den breiten Weg, der parallel zur Bach- und zur Landstraße nach Lohberg führte. Er fuhr die zwei Kilometer bis zur nächsten Kreuzung bei Lukkas Bungalow mit schwerem Herzen. Für ihn war dieses Stück immer die schwierigste Strecke. Sie führte vorbei an seinem ehemaligen Besitz, an unzähligen Erinnerungen.
Niemand gab so leicht einen Platz auf, an dem er geboren war, an dem er die Kindheit und Jugend verbracht hatte und danach noch so viele Jahre, in denen er hier geträumt, geliebt, gehofft, geschwitzt und gelitten hatte. Diesen Ort sah er nun unerreichbar hinter zwei Meter hohem Stacheldraht liegen. Jedes Mal war Jakob erleichtert, wenn er den Stacheldraht weit hinter sich gelassen hatte und Heinz Lukkas Bungalow erreichte.
An diesem Morgen traf er bei Lukkas Grundstück mit seinem Freund Paul Lässler zusammen und hielt kurz an, um guten Tag zu sagen und ein paar Worte zu reden. Paul war als Bruder von Maria und Onkel von Marlene Jensen in großer Sorge und wütend auf seinen Schwager.
«Ich verstehe nicht, was Erich sich dabei denkt», schimpfte Paul. «An seiner Stelle hätte ich längst alle Hebel in Bewegung gesetzt, und er hält die Polizei zurück. Hat Angst vor einem Skandal. Der einzige Skandal bei der Sache sind seine Erziehungsmethoden. Er ist in der falschen Partei, von sozialer Demokratie hat er keine Ahnung. Maria weint sich die Augen aus dem Kopf.»
«Das glaube ich», sagte Jakob.
Paul schimpfte weiter, nun auf seine Nichte: «Das dumme Ding. Warum hat sie nicht auf Albert gewartet? Er ist extra nochmal zurückgefahren, um sie abzuholen, nachdem er Annette heimgebracht hatte.»
«Das hat Trude schon erzählt», sagte Jakob. «Aber warum hat Albert sie denn nicht gleich mitgenommen?»
Paul schaute zu Boden und zuckte mit den Achseln. «Es wäre ihr noch zu früh, hat sie gesagt. Und mit Dieter zu fahren war ihr wohl zu riskant.»
Das bezog Jakob auf den fehlenden Führerschein. «Ich begreife auch nicht, dass Bruno den Jungen jetzt schon immer fahren lässt», sagte er. «Die paar Monate bis Oktober, dann wird er achtzehn. Da müssten sie keine Angst haben, dass er erwischt wird.»
«Bisher ist er nicht erwischt worden», erklärte Paul. «Er fährt ganz manierlich.» Dann wurde er wieder heftig: «Aber er kann seine Finger nicht bei sich behalten. Da hat sie vermutlich gedacht, wenn sie mit zwei Männern fährt, ist es sicherer. Und das war ein Irrtum. Ich halte jede Wette, Jakob, sie ist mit denen nicht über alle Berge. So ein Typ ist sie nicht. Da ist was passiert.»
Auch an diesem Donnerstag war sein Sohn unterwegs, als Jakob abends das Haus betrat. Trude wischte mit einem trockenen Lappen über das Fenster in Bens Zimmer und hielt dabei Ausschau nach ihm. Beim Essen saßen sie allein am Tisch. Jakob berichtete von dem Gespräch mit Paul und endete mit den Worten: «Paul meint, Erichs Tochter sei was passiert.»
Trude stellte das benutzte Geschirr zusammen, füllte die Reste der Mahlzeit in einen Topf und stellte ihn in den Kühlschrank.
«Hoffen wir», fügte Jakob düster hinzu, «dass Paul sich irrt.»
Da fuhr Trude zu ihm herum: «Wieso wir? Ich hoffe es für das Mädchen, für Maria und Erich. Für uns muss ich nichts hoffen. Wir haben nichts damit zu tun!»
Jakob hob begütigend die Hand. «So hab ich es auch nicht gemeint.» Nach ein paar Sekunden fuhr er zögernd fort: «Ich dachte nur, Ben sollte mal ein paar Nächte im Haus bleiben.»
«Warum?», fragte Trude aufgebracht. «Sollen wir ihn einsperren, weil ein dummes Ding den Heimweg nicht findet? Sie ist in Lohberg verschwunden, nicht hier. Und er hat doch nur das da draußen. Was hat er denn sonst von seinem Leben?»
So ganz von ungefähr war Trudes Mutterliebe im März 79 nicht erwacht. Im ersten Augenblick war es auch nicht ausschließlich Liebe, es war mehr Scham und Instinkt. Derselbe Instinkt, der ein Tier veranlasste, sein hilfloses Junges zu verteidigen. Vielleicht hatte es daran gelegen, dass der Vorschlag, diesen Professor aufzusuchen, ausgerechnet von Thea Kreßmann gekommen war. Und wenn es daran lag, kam einiges zusammen.
Schon auf der Hinfahrt spürte Trude ein leichtes Brennen in den Eingeweiden. Es war still im Zugabteil, kaum Mitreisende. Ben saß auf dem Fensterplatz, eingeschüchtert von der Schnelligkeit und all den neuen Eindrücken, betrachtete er misstrauisch die vorbeihuschende Landschaft. Dörfer, ab und zu der Bahnhof einer Kleinstadt, viel freies Land, Wiesen, Äcker, grasende Kühe, eine Pferdekoppel und weidende Schafe am Bahndamm.
«Schäfchen zur Linken, wird Freude dir winken», hatte Trudes Mutter früher oft gesagt. «Schäfchen zur Rechten, wird Freude dir brechen.» Auf der Rückfahrt wären sie auf der rechten Seite.
Trude konnte nicht denken, war wie zugeschnürt. Das Brennen in den Eingeweiden, der hohl dumpfe Herzschlag, es war nackte Furcht. Die Schafe am Bahndamm waren ein böses Omen.
Schafe waren 1943 der kleinen Christa, Toni von Burgs jüngster Schwester, zum Verhängnis geworden. Christa von Burg und Thea Kreßmann. Zwei Namen und ein Rattenschwanz an Zusammenhängen.