Der Regenbogen-Faktor - Jens Schadendorf - E-Book

Der Regenbogen-Faktor E-Book

Jens Schadendorf

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Beschreibung

Schwule und Lesben: Lange waren sie ausgegrenzt, wurden belächelt und verachtet. Sie waren verbunden mit Klischees wie abgespreizter kleiner Finger oder Mannweib, im besten Fall noch zuständig für das Schöne und die Kunst. Vorurteile? Gewiss. Und in weiten Teilen längst überholt. Der Regenbogen-Faktor zeigt erstmals die dynamische Rolle von Homosexuellen und die mit ihnen verknüpften Bereicherungen der Vielfalt in Unternehmen und Gesellschaft – in Firmen wie Allianz, IBM, Commerzbank, Freshfields, Deutsche Post, McKinsey oder White & Case, in Berufsverbänden, Netzwerken oder bei der Bundeswehr, auf Karrieremessen, in der Ausbildung oder in queeren Fußball-Fanclubs. Der Weg zu vollständiger Normalität und echter Chancengleichheit ist noch weit. Schon heute aber sind viele Schwule und Lesben keine verletzlichen Außenseiter mehr. Sie sind dynamische Helden des Alltags, die die Welt verbessern wollen und gegen Widerstände viel bewegen. Sie sind neue Vorbilder.

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Für meine Mutter (†)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
[email protected]
Der Großteil des Honorars geht an das Jugendnetzwerk Lambda e. V. sowie an die Initiative »Fußballfans gegen Homophobie«.
1. Auflage 2014
© 2014 by Redline Verlag,
ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Lektorat: Matthias Michel, Wiesbaden
Umschlaggestaltung: Kristin Hoffmann, München
Umschlagabbildung: Shutterstock
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
ISBN Print 978-3-86881-527-6
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86414-630-5
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86414-631-2
Weitere Informationen zum Verlag finden sie unter
www.redline-verlag.de

Inhalt

Titel
Widmung
Impressum
Inhalt
Einleitung: Der Regenbogen-Faktor
Neue Bürger, neue Macher in der Mitte
Sonntagsreden – Wandel – Rückzugsgefechte? – Neue Helden des Alltags – Vielfältiger, reicher, besser
»Deutschlands Wirtschaft soll rosa werden«
Schwule und Lesben in Unternehmen – Begehrt, versteckt oder normal?
Konservative deutsche Businesswelt – Jung und schweigsam – Doppeltes Minus – Versteckt an der Spitze – Coming-out oder nicht – Vorbilder Politik, Medien und USA – »Auf Toleranz kann ich verzichten!« – »Names will never hurt me« – Die Welt verändern, gutes Geschäft – Rockstar – Einhörner – Massiver Handlungsdruck – Die »Rosa Initiative« der Allianz – Auf dem Sprung – Nächstes Level – Buntes Bild
Alle sind anders
Von wegen behäbig – Radikal Neues für Auszubildende bei der Deutschen Post
Zurückschrecken vor dem Fremden – Geprägt von der Schule – Keine Tabus – »Alles easy für Lesben und Schwule« – Impulse – Alliierte Heteros – »Gleiche Liebe, gleiche Rechte« – Regenbogennetz – ASA und Lambda – Geht das?
»Es ist auch meine Bundeswehr«
Queer und Offizier – Dunkle Geschichten und streitbare Bürger in Uniform
»Nur schwul eben« – Vergangenheit – Erpressbarkeit und Sicherheitsrisiko – Keine echten Konsequenzen – Vier Briten und eine Frau – »Sexualerlass« – Kampf für neue Wirklichkeiten – Selbstorganisation – Reservisten-Chef – Gemischtes Bild – Gespräch mit dem Minister – Klage vor Gericht – »Kein wirkliches Umdenken« – Jäher Wandel?
Footballstars und Entenjäger
Neue Ikonen im Mutterland der Schwulen- und Lesbenrechte, doch nicht nur das
Nicht nur Football – »Auf der richtigen Seite der Geschichte« – Big Business in Pink – Gegenkräfte – Auch Hollywood ist gespalten
Mentoren für eine bessere Welt
Nicht nur Deutschland, auch Arabien, Südkorea und Co. – Innovative Wege bei IBM
Vorreiter – Überlebensstärke – Eine neue Idee – Gleicher Konzern überall? – Wachsender Druck zur sozialen Verantwortung – Globaler Graben – Anruf vom Mentor – Karrieremotor – Motivationen – Schnelle Erfolge – Sprechen über Homosexualität am Arbeitsplatz in homophoben Ländern – Ergebnisse und nächste Stufen – Vorsprung?
Die Roben werden bunter
Nur konservativ war gestern – Top-Anwaltskanzleien am Scheideweg
Veränderungsdruck – Frontrunner – Zahlen auf der Website – Weiblich, lesbisch, erfolgreich – Erste Schritte – »Wie findet man die Zielgruppe?« – Spagat zwischen den Welten – Kostenlos arbeiten – »Noch in den Kinderschuhen« – Der schwule Schützenkönig – Neues Denken – »Unter Ausschöpfung der Rechtslage« – Vernetzung und Tempo
Über Kampf zum Spiel
Küssende Männer als Stadionkunst – Auch queere Fußballfans haben Hitzlspergers Coming-out vorbereitet
»Leidenschaft schadet nie« – Primus – Gründungsboom – Internationalisierung und das Politische im Sportlichen – Vorbild Frauenfußball – Letzte Männlichkeitsbastion – Effiziente Sitzungsarbeit – Nachholbedarf – »Sehr geehrter Herr Hoeneß« – Satzungsänderung – Kämpfer
Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr …
Klosterklause mit Verbindungstür. Und der Christen-Himmel bleibt geteilt
Die »ungeordneten« Triebe – Nur wenige trauen sich aus der Deckung – »Hättest du gedacht, dass wir so viele sind?« – Kein Theater um die sexuelle Orientierung – Taktgefühl im Pfarrhaus
Von Beginn an – Eine persönliche Schlussgeschichte
Literatur
Danksagung
Autor
Gastautoren
Glossar
Anhang: Vom Strafrecht zum Bürgerrecht – Historische Entwicklung des Rechtsrahmens für Schwule und Lesben in Deutschland bis heute

Einleitung: Der Regenbogen-Faktor

Neue Bürger, neue Macher in der Mitte

Wann ist eine Gesellschaft gerecht? Eine große Frage. Also eine Nummer kleiner: Wann könnte eine Gesellschaft wie die deutsche von den Menschen, die in ihr leben, lieben und arbeiten, heute als gerecht erlebt werden?

Wenn alle exakt gleich sind? So etwas gibt es nicht. Jeder* unterscheidet sich von seinem Nächsten; eine Gesellschaft ist so vielfältig wie sie Mitglieder hat.

Wenn alle gleich viel verdienen? Funktioniert nicht – und benachteiligt auch jene, die sich mehr anstrengen als andere.

Wenn alle vor dem Gesetz gleich sind? Schon eher.

Wenn alle – durch Gesetze, aber nicht nur durch sie – die gleichen Chancen haben, etwas aus sich zu machen? Das wohl am ehesten.

Dieses Buch ist keines über Gerechtigkeit. Und doch: Es erzählt aktuelle Geschichten von Schwulen und Lesben in Unternehmen und Gesellschaft. Damit fragt es en passant auch nach den Chancen, die eine lange scharf ausgegrenzte Gruppe von Menschen erhalten soll. Indem es aber nach den Chancen fragt, rückt es auch den Beitrag in den Vordergrund, den Homosexuelle hierzulande leisten dürfen.

Dass sie ihn in vielen Bereichen der Gesellschaft lange nicht leisten sollten, stellen nur jene infrage, die ungenau hinschauen. Und dass der berüchtigte Paragraph 175 des Strafgesetzbuches erst vor zwanzig Jahren abgeschafft wurde, vergessen zudem nicht wenige. Jenseits des Paragraphen aber bestand in der Gesellschaft eine festgefügte und von vielen unhinterfragte Kultur der Ausgrenzung, die mit seiner Abschaffung nicht einfach endete. Sie war so tief verwurzelt, dass kaum kittbare Risse durch Familien gingen, Karrieren nicht stattfinden konnten, Tuscheleien und Pöbeleien an der Tagesordnung waren, Menschen krank wurden – wenn nicht gar noch Schlimmeres. Homosexuelle haben lange nicht die gleichen Chancen gehabt, etwas aus sich zu machen, wie die Mehrheit. Sie sollten sie nicht haben.

Wie es aussieht, ändert sich das nun. Nicht schnell, denn kulturelle Veränderungen brauchen Zeit. Auch nicht überall gleichermaßen, denn mancherorts gibt es immer noch stärke Widerstände. Und doch bekommen Schwule und Lesben allmählich mehr Handlungsmöglichkeiten, und sie leisten mehr erkennbare und anerkannte Beiträge für Unternehmen und die Gesellschaft.

Gekonnt haben sie das vorher bereits.

Gewollt ohnehin.

Getan auch, nur eben in der Regel unter dem Deckmantel der sexuellen »Norm« der Mehrheit und insofern stark gebremst.

Nun dürfen sie es auch – immer offener und immer kraftvoller.

Sonntagsreden

In politischen Sonntagsreden hört sich es nicht selten so an, als lebten wir in einem Land, das jedem die gleichen Chancen bietet: Männern wie Frauen, Deutschen wie Migranten, Jungen wie Alten, Hetero- wie Homosexuellen.

In Wirklichkeit aber stellt ein Gesellschaftsbild, in der allen die gleichen Handlungsmöglichkeiten eingeräumt werden, ein Ideal dar. Ein sehr schönes, menschliches Ideal, das sich gerecht anfühlt und das es wert ist, danach zu streben.

Chancengleichheit für vielfältig verschiedene Menschen zu gewährleisten mag dabei für manche vor allem eine Frage der Menschlichkeit und Gerechtigkeit darstellen. Sie nur so zu sehen greift indes zu kurz. Denn Chancengleichheit kann und muss immer auch ökonomisch verstanden werden. Kreativität und Innovation – jene Grundkräfte moderner, global vernetzter wettbewerbsorientierter Unternehmen und Volkswirtschaften also – gedeihen heute nur auf dem Humus großer Diversität der sie schaffenden Menschen.

Anzuerkennen und wertzuschätzen, dass die Menschen in einer Gesellschaft so vielfältig verschieden sind wie die Anzahl der Individuen, die in ihr leben, ist also nicht nur human und fair, sondern auch wirtschaftlich vernünftig. Genauso human und vernünftig ist es, dass man es beim Anerkennen und Wertschätzen nicht bewenden lassen kann, sondern dass es auch um die Nutzung dieser Vielfalt geht – durch mehr Chancengleichheit auch für lange ausgegrenzte Gruppen. In deren Interesse und im Interesse aller.

Das hat noch nicht jeder verstanden. Doch nicht zuletzt der demografische Wandel wird den Umdenkprozess beschleunigen. Denn es ist klar: Wir werden immer älter und wir werden immer weniger. Und weil das so ist, brauchen Unternehmen und Gesellschaft über kurz oder lang jedes leistungswillige und leistungsfähige Talent – gleich welchen Geschlechts, Glaubens oder Alters, gleich welcher ethnischen Zugehörigkeit oder sexuellen Identität.

Wirtschaft und Gesellschaft reagieren darauf nach und nach mit der Institutionalisierung eines Managements von Vielfalt, für das sich auch hierzulande der englische Begriff »Diversity Management« durchsetzt. Manche Unternehmen haben dafür bereits eigene Abteilungen geschaffen. Als Experten für die Gestaltung und Nutzung von menschlicher Vielfalt sollen sie auch dafür da sein, die weitenteils noch anzutreffende Praxis von Diskriminierung und Chancenungleichheit gegenüber lange benachteiligten Gruppen wie Frauen, Älteren oder Homosexuellen zu überwinden.

Selbst in staatlichen Gliederungen tut sich etwas, denn sogar die Bundeswehr will nun Diversity Management praktizieren. Das Gleiche gilt für Universitäten und Behörden.

Viele private und öffentliche Unternehmen haben es aber auch nicht oder noch nicht institutionalisiert. Und für manche der Organisationen, die es taten, ist Diversity Management oft nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Gefangen im alten Denken wissen sie oft kaum etwas damit anzufangen.

Oder jene in den Top-Positionen nutzen die Institutionalisierung einer Diversity-Verantwortlichkeit, um einen schönen Blumenstrauß ins Fenster zu stellen, der verbergen soll, dass nicht wirklich etwas verändert wird.

Wandel

Jenseits dessen aber, ob Diversity Management – wie und wo auch immer – funktioniert oder nicht, öffnet sich die Gesellschaft für Schwule und Lesben langsam.

Für alle wird sie damit chancenreicher. Dieses Buch erzählt Geschichten davon, wie sich Schwule und Lesben hierzulande aufgemacht haben, Chancen, die ihnen lange verwehrt waren oder die es vorher gar nicht gab, zu entdecken und zu nutzen – für sich und für andere.

Zwar sind Vorurteile, Diskriminierungen und Karrierebeschränkungen immer noch vorhanden. Beschimpfungen wie »Schwuchtel«, »schwule Sau« oder »Kampflesbe« verschwinden nicht so schnell von Schulhöfen, aus Kneipen und Stadien. Dass man über sie etwa in Unternehmen oder in Bundeswehrkasernen raunt, wird wohl auch noch ein wenig dauern.

Dennoch hat sich der Umgang mit Schwulen und Lesben in den letzten zehn, fünfzehn Jahren nach und nach verändert, und er wandelt sich weiter. Und mit dem veränderten Umgang mit ihnen verändert sich auch das Verhalten der Schwulen und Lesben selbst.

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielschichtig. Einer davon: Neue, modernere Generationen haben im Gegensatz zu ihren Eltern und Großeltern heute einfach keine Lust mehr auf Ausgrenzung aufgrund von sexuellen Orientierungen, die nicht ihre eigenen sind. Leben und leben lassen: Jeder soll nach seiner Façon selig werden, so lautet die Devise der Jüngeren. Sie fordern Offenheit und Chancengleichheit ein, und für sie ist das auch gut so. Wer heute fünfzehn, zwanzig oder auch 35 Jahre alt ist und heterosexuell, schüttelt oft nur den Kopf, wenn er oder sie hört, was manche Leitbild-Konservativen in Politik, Unternehmen oder am Familientisch noch so von sich geben.

Ist deren Aufschrei auch ein Aufschrei der Verzweifelten, die um ihre alten Rechte und Privilegien gegenüber den (vormals) Ausgegrenzten fürchten? In jedem Fall sind sie auch rechtlich in die Defensive geraten. Denn die Veränderungen im Umgang mit Schwulen und Lesben und mit Blick auf ihre verbesserten Chancen wurden nicht zuletzt forciert durch Antidiskriminierungsgesetze und Urteile auf europäischer Ebene. Sie wurden ebenfalls beschleunigt durch rechtliche Revolutionen wie das Lebenspartnerschaftsgesetz oder das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Sie wurden schließlich auch vorangetrieben durch mehrere Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Deren Stoßrichtung ist klar: Es muss gleiche Rechte für alle geben, unabhängig auch von der sexuellen Identität.

Doch nicht nur veränderte Einstellungen neuer Generationen gegenüber Homosexuellen oder Gesetze und Urteile, sondern auch viele weitere Indikatoren machen deutlich, dass sich die Gesellschaft nach und nach liberalisiert.

Zum Beispiel in der Politik: Schwule Spitzenprotagonisten wie Klaus Wowereit, Guido Westerwelle oder Volker Beck kennt nun mittlerweile jeder, der sich nur ein bisschen für die Welt interessiert. Seit Kurzem gibt es zudem mit Barbara Hendricks eine lesbische Bundesministerin. Und dass Gesundheitsexperte Jens Spahn als offen homosexuell lebender Christdemokrat unlängst seinen Bundestagswahlkreis mit mehr als 50 Prozent der Stimmen wiedergewann, ist kaum mehr eine Meldung wert. Die inzwischen breit wahrgenommenen schwul-lesbischen Vereinigungen innerhalb der Parteien illustrieren diese Entwicklung ebenfalls, etwa LSU (Lesben und Schwule in der Union), QueerGrün, LiSL (Liberale Schwule und Lesben) oder Schwusos (Arbeitsgemeinschaft der Lesben und Schwulen in der SPD). Die Bundesvorsitzenden von Schwusos und LSU, Ansgar Dittmar und Ale­xander Vogt, geben auch schon mal gemeinsame Erklärungen heraus. So etwa im vergangenen Herbst, als sie die vollständige Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe und die Schaffung eines einheitlichen Instituts Ehe forderten. Internationale Kooperationen sind ebenfalls nicht selten. Regelmäßig treffen sich etwa LSU-Repräsentanten mit Vertretern schwul-lesbischer Plattformen anderer bürgerlicher Mitte-Rechts-Parteien aus Finnland, Schweden, Frankreich oder Israel. Zuletzt plädierten sie vereint für einen europaweiten rechtlichen und gesellschaftlichen Wandel des Familienbildes, in dem Schwule und Lesben die gleichen Chancen haben, ihren Platz zu finden, wie alle anderen auch. Damit nicht genug, denn während in München der Chef der »Rosa Liste«, Thomas Niederbühl, gerade wieder in den Stadtrat gewählt wurde, entwickeln sich selbst auf dem Land die Dinge rasant. Wie sonst ist es zu deuten, wenn in der konservativen bayerischen Provinz offen homosexuell lebende Männer zu Bürgermeistern und Landräten gewählt werden?

Akzeptiert, wertgeschätzt und gebraucht werden Schwule und Lesben längst auch in Medien, Unterhaltung und Mode. Lange war das nicht so. Heute aber haben sie in diesen Bereichen selbstverständlich und überall erkennbar ihren Platz. Hape Kerkeling, Hella von Sinnen oder Tatort-Kommissarin Ulrike Folkerts belegen das ebenso wie etwa Anne Will, Harald Glööckler, Guido Maria Kretschmer und sehr viele andere.

Rückzugsgefechte?

Und dann kam auch noch Thomas Hitzlspergers Coming-out. Das letzte Tabu fällt, schwadronierte mancher, der Profifußball der Männer. Wenn man schon dort sagen könne, dass man schwul ist, dann sei doch alles schön.

Dass es ganz so einfach dann auch nicht ist, zeigten nicht zuletzt die Diskussionen nach dem Coming-out. Artikel, Blogs, Kommentare und Talkshows, vor denen man sich ein, zwei, drei Wochen lang kaum retten konnte, beförderten zum Teil erstaunliche Ansichten von erstaunlichen Protagonisten zutage. Ex-Spiegel-Kulturchef Matthias Mattusek etwa outete sich in einem beängstigend verqueren Beitrag als »homophob. Und das ist auch gut so.« Seine Argumente waren so krude, dass sie vielen kaum als satisfaktionsfähig erschienen. Und doch gab es sie, und Mattusek erhielt durchaus Zuspruch.

Ex-Nationalkeeper Jens Lehmann, Hitzlspergers ehemaliger Kollege beim VfB Stuttgart und im DFB-Trikot, redete sich mit skurrilen Anti-Coming-out-Bemerkungen im Fußball auf dem Pay-Kanal SKY ebenfalls fast um Kopf und Kragen. Ausgerechnet Lehmann, der durchaus als einer der reflektierten Köpfe des Profifußballs gegolten hatte – und nun noch Bizzareres anfügte: Hitzlsperger habe »von seiner Spielweise« her »überhaupt nicht den Anlass gegeben«, dass man »hätte denken können, da ist irgendetwas.«

Alt-Arbeitsminister Norbert Blüm schließlich blies ebenfalls, vorher und wie öfter bereits, kräftig ins Horn der Ewiggestrigen. Nicht jede Form von Zweisamkeit, sei »schon wertvoll, weil sie zustande kommt«. Und er erhob explizit die Forderung, Schwule, Lesben und Mitglieder anderer sexueller Minderheiten sollten nicht die gleichen Rechte und Chancen wie Heterosexuelle haben. Mit dieser Position und mit immer wieder neuen verqueren Äußerungen zur »Natur« der Dinge, zeigt sich ausgerechnet der Herz-Jesu-Sozialist Blüm als jemand, der Homosexuelle nicht achtet – wie er vorgibt –, sondern verachtet. Ob er das selbst merkt?

Wer also gemeint hatte, Homophobie sei hierzulande an die gesellschaftlichen Ränder verbannt worden, an sogenannte soziale Brennpunkte in Großstädten etwa oder in rechtsradikal angehauchte Ultra-Fankurven in den Fußballstadien, der konnte sich in den Wochen nach dem Coming-out von Thomas Hitzlsperger eines anderen belehren lassen. Wenn er denn wollte.

Mattusek, Lehmann, Blüm: drei männliche, bürgerliche Ex-Funktionsträger – ist das nun Zufall? Oder sind das Rückzugsgefechte in einer Entwicklung, die nicht mehr aufzuhalten ist? Einer Entwicklung hin zu einem regenbogenfreundlichen Land, das gleiche Chancen für alle bereithält – auch für Schwule, Lesben und andere sexuellen Minderheiten wie Bi-, Trans- und Intersexuelle –, die etwas aus ihrem Leben machen und zugleich einen Beitrag für andere leisten wollen?

Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Soziale Entwicklungen laufen nie auf ein festes Ziel zu, auch wenn manche sich das wünschen mögen. Es gibt keinen Endpunkt der Geschichte. Sie kann sich schlechter entwickeln. Vor fünf Jahren etwa fand die »Dr.-Sommer-Studie« der Jugendzeitschrift Bravo heraus, dass fast vierzig Prozent der Jungen zwischen 11 und 17 Jahren Homosexualität nicht »okay« finden, sondern befremdlich; bei den Mädchen sind es noch 23 Prozent. Ist das eine schlechte Nachricht? Vielleicht, vor allem weil bekannt ist, dass sich frühe Prägungen auf dem Schulhof und in anderen Bezugsgruppen später nun sehr langsam verändern lassen. Die Dinge können sich aber auch besser entwickeln. Neueste Studien des Pew Research Center aus dem Jahr 2013 zeigen, dass 87 Prozent der Deutschen der Ansicht sind, Homosexuelle sollten gesellschaftlich akzeptiert sein. Zwar weiß jeder: Es ist das eine, nach einer sozialen Erwünschheit zu fragen, und ein anderes, wie der Alltag aussieht. Dennoch: Sind diese Zahlen auch eine gute Nachricht? In jedem Fall. Nimmt man zudem wachsende Offenheit und wachsende Chancen als Unterscheidungskriterium, dann weist der Pfeil für Schwule und Lesben trotz der Mattuseks und Co. hierzulande in manchem in die bessere Richtung.

Neue Helden des Alltags

Was passiert, wenn man dem Pfeil folgt, erzählen die Geschichten in diesem Buch. Sie spielen an Orten, die so etwas wie die Mitte Deutschlands darstellen. Es sind auf ihre eigene Weise typische und konservative Orte, denn noch immer öffnet sich das Land gesellschaftlichen Neuerungen nicht allzu schnell. Skandinavische Länder wie Schweden oder auch die Niederlande und andere Staaten sind deutlich weiter in Sachen selbstverständlicher Akzeptanz und Offenheit für gleiche Chancen nicht nur gegenüber Frauen und Bürgern mit Migrationshintergrund, sondern auch gegenüber Schwulen und Lesben.

Die Geschichten, die in diesem Buch erzählt werden, spielen vor allem in der privaten Wirtschaft, der Bundeswehr und der Welt der Fußballfans. Es sind traditionell männerdominierte Bastionen, die sich bis heute deutlich schwerer tun mit Öffnung und Chancengleichheit als etwa Mode, Medien, Unterhaltung oder Politik.

Im Gegensatz zu diesen Bereichen gibt es hierzulande etwa in Unternehmen oder der Bundeswehr immer noch keine offen schwul oder lesbisch lebenden Top-Bosse.

Es braucht daher andere Vorbilder. Denn die braucht es immer, um gesellschaftlich und ökonomisch notwendige Veränderung und Modernisierung auf den Weg zu bringen und zu halten. Die Geschichten handeln daher nicht von bekannten Persönlichkeiten, sondern von anderen Helden – von einer breiten Öffentlichkeit meist unbekannten Helden des Alltags.

Es sind Schwule und Lesben wie Henry Pohle, Dirk Brüllau, Peer Uhlmann, Jessica Scholz, Susanne Hillens oder Bernd Schachtsiek, wie Stuart Cameron, Markus Delnef, Alexander Schüttpelz, Torsten von Beyme-Wittenbecher oder Mario Weiße, wie Renate ­Reinartz, Reiner Wolf, Ralph Breuer, Markus Müller, Thomas Lies oder Matthias Stupp.

Ihre persönlichen Hintergründe sind so vielfältig, wie die Welt vielfältig ist. Sie leben seit vielen Jahren in festen Beziehungen, sind Single oder verpartnert, sind wohlhabend oder auch nicht, sie kümmern sind um ihre Nichten, Neffen und Patenkinder, sie stehen für ihre Eltern, Großeltern, Nachbarn und (Wahl)Verwandten ein, nicht zuletzt für ihre Regenbogenfamilien.

Auch beruflich ist ihr Kosmos groß. Sie sind Unternehmer, Buchhalter, Beamte, Journalisten, Mathematiker, Romanisten, SAP-Administratoren oder Reserveoffiziere, sie sind Übersetzer, Betriebswirte, Techniker, Berater, Berufssoldaten oder Kommunikationselektroniker, sie sind Bankkaufleute, Theologen, Anwälte, Rezeptionisten, Businessentwickler, Verlagsleiter oder Theaterschneider.

Fernab oft schriller Klischees sind sie und viele andere neue Vorbilder: Schwule und Lesben, die anpacken und gegen Widerstände etwas bewegen – zum eigenen Vorteil, aber auch zum Vorteil des Unternehmens, für das sie arbeiten, der Bundeswehr, in der sie dienen, der Fußballstars und Vereine, denen sie zujubeln, der Gesellschaft, in der sie leben.

Zu den Geschichten gehören auch heterosexuelle Mitstreiter in Firmen oder schwul-lesbischen Fußball-Fanclubs, ohne die manches, das die queeren Macher auf den Weg bringen, nicht möglich wäre. Dass es sie gibt, weist ebenfalls auf eine wachsende gesellschaftliche Offenheit hin. Was nicht heißt, dass die Dinge damit leicht wären, oft immer noch im Gegenteil.

Indem die Geschichten von schwulen und lesbischen Machern erzählen, erzählen sie auch von grundlegenden Entwicklungen, historischen und vor allem aktuellen. Hie und da lohnt eine kleine Reise in die jüngere Zeitgeschichte, um zu verstehen, warum sich die Dinge nach wie vor sehr langsam verändern – zum Beispiel bei der Bundeswehr.

Jenseits der Tatsache, dass in Deutschland schwule und lesbische Top-Bosse, die es natürlich gibt, bislang nicht offen homosexuell leben, thematisieren sie auch die Frage, ob man denn nun ein Coming-out wagen sollte oder nicht. Die Gesellschaft wird zwar liberaler und Schwule und Lesben übernehmen immer mehr Verantwortung. Die Frage bleibt trotzdem wichtig. Und es geht dabei eben nicht um die Phantasie, was jemand im Bett treibt, sondern um Wichtigeres.

Die Geschichten berichten in starkem Maß auch von den Institutionen, in denen die homosexuellen Protagonisten wirken, von denen sie geprägt werden und die sie verändern:

Zum einen von Unternehmen wie Deutsche Post, Allianz, McKinsey & Company, Commerzbank, A.T. Kearney, Freshfields, White & Case und anderen. Kein Zweifel: Die deutschen Tochtergesellschaften vor allem US-amerikanischer Großunternehmen überwiegen bei den Bemühungen, zum schwulen- und lesbenfreundlichen Arbeitgeber zu werden. Gerade sie setzen nicht selten Trends. Aktuell etwa wieder IBM, indem der Konzern Wege sucht, wie er mit homosexuellen Mitarbeitern in jenen Ländern umgehen kann, in denen er zwar Tochterfirmen hat, in denen aber Homosexualität kriminalisiert ist. Andererseits rühren sich – meist seit Kurzem erst – vermehrt auch in Deutschland beheimatete Großunternehmen, um lange Versäumtes zum Teil sehr innovativ und konsequent aufzuholen. Sie tun das durch die Förderung schwul-lesbischer Mitarbeiternetzwerke, interne Diskussionsveranstaltungen, Schulungen für Auszubildende, die Gleichstellung von Verheirateten und Verpartnerten bei der Gewährung von Sozialleistungen und vieles mehr. Selbst die besonders konservative Zunft der Wirtschaftsanwälte fängt an, allmählich umzudenken – mit amerikanischen und englischen Vorbildern, aber deutschen Machern hierzulande.

Zum Zweiten erzählen die Geschichten auch von anderen Institutionen. Etwa von den Berufsverbänden für schwule und lesbische Führungskräfte. Oder von Vereinen wie AHsAB, dem Arbeitskreis für homosexuelle Angehörige der Bundeswehr. Oder von internationalen, durch Deutsche gestaltete Organisationen wie QFF (Queer Football Fanclubs), in denen sich schwul-lesbischen Fußball-Fanclubs wie Queerpass Sankt Pauli, Andersrum Rut-Wiess, Meenzelmänner, Queerpass Bayern, Letzi Junxx, Andersrum Auf Schalke oder MonacoQueers zusammengeschlossen haben.

Auch die katholische und evangelische Kirche, zu der Wissenschaftsjournalistin Petra Thorbrietz einen kompakten Gastbeitrag liefert, wird betrachtet.

Marc Pitzke, seit mehr als zehn Jahren US-Korrespondent für Spiegel Online in New York, steuert einen ebenso kompakten Gastbeitrag zum Mutterland der Schwulen- und Lesbenrechte bei. In den Vereinigten Staaten ist man deutlich weiter als in Deutschland. Und doch zeigt sich jenseits des Atlantiks ein komplexes Bild. Erwartet das auch uns?

»Der Regenbogen-Faktor« ist also kein Buch, das jeden Bereich der Gesellschaft ausleuchten will, sondern es setzt Schwerpunkte.

Ein kleiner Hinweis zur Lektüre sei noch gestattet: Die Kapitel können sehr gut nacheinander gelesen werden, andererseits aber auch – wer das lieber mag – je für sich. Am Ende findet sich zudem ein Überblick zur historischen Entwicklung des Rechtsrahmens für Schwule und Lesben in Deutschland, der vor Augen führt, dass die immer noch sehr junge allmähliche gesellschaftliche Akzeptanz eine lange dunkle Vorgeschichte hat. Am Ende findet sich außerdem ein bewusst umfassend gehaltenes Glossar zu Begriffen, Institutionen und Initiativen rund um die Welt der Schwulen und Lesben, das manche gerade bei diesem Buch besonders nützlich finden mögen.

Vielfältiger, reicher, besser

Wir Deutschen sind lange weit vom Ideal der Chancengleichheit für vielfältig verschiedene Menschen entfernt gewesen.

Doch in den letzten Jahren ist eine Menge passiert. Das gilt ebenfalls für die lange stark ausgegrenzten Schwulen und Lesben. Neue individuelle und institutionelle Vorbilder des Alltags gibt es dabei mittlerweile an vielen Stellen – auch wenn sie nicht in diesem Buch vorkommen. Man muss nur genau hinschauen.

Etwa zur Polizei bzw. zum Verband lesbischer und schwuler Polizeibediensteter in Deutschland (VelsPol), dessen Vertretern es in einigen Bundesländern bereits gelungen ist, schwul-lesbische Thematiken fest im Ausbildungsplan der Polizei zu verankern. Braucht es die? Muss man das wollen? Natürlich braucht es die – genauso, wie die Akzeptanz sexueller Vielfalt demnächst ein Bildungsziel in den Schulen Baden-Württembergs sein sollte. Wer eine menschliche Gesellschaft will, die ökonomisch vernünftig alle Potenziale der Menschen, die in ihr leben, erkennen, wertschätzen und nutzen will, muss das wollen.

Oder er kann nach Berlin schauen: zu Constanze Körner, die für den Lesben- und Schwulenverband Berlin-Brandenburg seit 2013 ihr Konzept des bundesweit ersten Regenbogenfamilienzentrums umsetzte – mit hohem persönlichen Einsatz, auch dem der eigenen Regenbogenfamilie. Finanziert wird das Zentrum von der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin und ist nun republikweit Vorbild für ähnliche Institutionen. Wie weit der Wandel gerade beim Familienbild bereits geht, zeigt, dass man das Zentrum nur ein paar Monate nach seiner Einweihung im Rahmen der von der Deutschen Bank geförderten Initiative »Deutschland – Land der Ideen« gleich zum »Ausgezeichneten Ort« kürte. Grußworte lieferten nicht nur, wie erwartbar, Politiker etwa von Grünen oder SPD, sondern auch von der CDU.

Der Weg in die vollständige Normalität und zu echter Chancengleichheit ist für Schwule und Lesben zwar noch weit. Wie weit er im Einzelfall sein kann, zeigte sich auch in nicht wenigen Begegnungen zu diesem Buch. Manchen verließ nach mehreren ausführlichen Gesprächen oder auch bereits kurz nach eigentlich erteilter Freigabe längerer Texte oder Zitate der Mut, sich öffentlich zu zeigen – also als streitbarer Schwuler, als engagierte Lesbe oder als regenbogenfreundliches Unternehmen breit erkennbar in Erscheinung zu treten.

Doch wichtige Schritte sind getan. Dunklere Zeiten hinter sich lassend und mit neuem Selbstverständnis haben sich viele Schwule und Lesben aufgemacht vom Rand ins Zentrum. Sie sind engagierte, verantwortungsbewusste Repräsentanten der Zivilgesellschaft und Leistungsträger – ob in Wirtschaft, Bundeswehr, Sport, Anwaltskanzleien, Medien, Politik oder anderswo.

Sie sind Bürger im besten Sinne des Wortes, werteorientierte Trendsetter – und doch ganz normal.

Sie sind der Regenbogen-Faktor. Indem Schwulen und Lesben die gleichen Chancen eingeräumt werden wie der Mehrheit auch und indem sie selbst kraftvoll Beiträge leisten, können sie im Zusammenspiel mit anderen einer jener entscheidenden Faktoren sein, die Gesellschaft, Unternehmen und andere Institutionen nicht zurückfallen lassen, sondern vielfältiger, reicher und besser machen.

Man muss sie nur lassen.

* In diesem Buch wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die männliche Form verwendet, auch wenn die weibliche Form selbstverständlich mit eingeschlossen ist. Sofern möglich werden geschlechtsneutrale Formulierungen gewählt.

»Deutschlands Wirtschaft soll rosa werden«

Schwule und Lesben in Unternehmen – Begehrt, versteckt oder normal?

Vor drei Jahren lud die Allianz andere Dax-Konzerne dazu ein, darüber zu diskutieren, wie die Republik zum regenbogenfreundlichen Arbeitgeberland gemacht werden könnte. Die Reaktion in den Vorstandsetagen reichte von Verwirrung bis Ablehnung. Doch Zeiten wandeln sich und Einsichten auch. Zwar ist die deutsche Wirtschaft immer noch konservativ. Im Vergleich zu den Tochtergesellschaften vor allem US-amerikanischer Firmen wie IBM und Co. liegen ihre Unternehmen meist noch weit zurück, wenn es darum geht, schwulen- und lesbenfreundlich zu werden. Auch offen queer lebende Vorbilder unter den Top-Bossen finden sich nirgends. Dafür aber finden sich ­andere, neue Macher: jung und viel bewegend. Wie Stuart Cameron, Gründer der Sticks & Stones, einer innovativen »Karrieremesse für Schwule, Lesben, ­Heteros«, und eines Unternehmenskongresses zum Thema gleich dazu. Dort rennen die nach den besten Talenten suchenden Firmen Cameron mittlerweile die Tür ein und die karriereorientierten Besucher sowieso. Bei ihm treffen sich die Unternehmensvertreter – mit langsam stärker werdendem Willen zum Wandel. Cameron, schwuler Bayer mit schottischen Wurzeln, prägt diese Veränderung in hohem Maße mit. Er unterstützt damit nicht zuletzt neue homosexuelle Protagonisten und Protagonistinnen in deutschen Unternehmen wie Allianz und Co., die den Wandel vorantreiben wollen – und das auch tun.

Bunt ist es hier, auf der Karrieremesse Sticks & Stones in einem Berliner Design-Hotel, und berstend voll. Erst fünf Jahre ist sie alt, bereits jetzt aber gehört die erste Jobbörse für Homosexuelle zu den beliebtesten Recruiting-Events hierzulande. 2013 konnten die Organisatoren mehr als 2000 Besucher verzeichnen und damit im Vergleich zum Vorjahr einen Zuwachs von 25 Prozent. Und 2014 hält der Trend an. Damit erübrigt sich auch die erwartbare Frage: »Braucht es so etwas wirklich?« Offenbar schon. »Wir haben zwar immer an unsere Idee geglaubt«, meint Messegründer Stuart Cameron, »aber mit solch einem Erfolg konnte niemand ernsthaft rechnen.«

Der macht sich nicht nur an Tausenden von Jobsuchenden fest, sondern auch an den Ständen der teilnehmenden über 60 Firmen. Denn ihre Namen lesen sich wie das Who’s Who der Wirtschaftsriesen. Deutsche Schwergewichte wie Allianz, BMW, Hugo Boss, SAP oder Axel Springer finden sich da, aber auch Top-Firmen mit internationalen Wurzeln wie IBM, Google, IKEA oder Targobank. Auffällig: Global operierende Wirtschaftskanzleien, sonst eher als Stätte des Konservativen bekannt, zeigen ebenfalls Flagge – zuletzt gleich sieben, darunter Adressen der Extraklasse wie Freshfields, White & Case oder Simmons & Simmons. Und das gleiche gilt für Top-Beratungshäuser wie McKinsey & Company, A.T. Kearney oder Boston Consulting Group.

Kurz: Renommierte Unternehmen präsentieren sich auf einer Karrieremesse gezielt als attraktive Arbeitgeber für LGBTler, also für schwule, lesbische, bi- und transsexuelle Bewerber. Wer das vor zehn Jahren oder weniger vorhergesagt hätte, wäre belächelt worden. German Business goes Regenbogen?

Ganz so einfach ist es dann doch nicht. Wer genau hinschaut, erkennt: Die in Deutschland beheimateten Unternehmen stellen eine Minderheit dar, die Regel sind Firmen mit Hauptsitz in den USA, deren deutsche Töchter nun den Großteil der Sticks & Stones-Hallen bevölkern. Und natürlich garantiert eine Messepräsenz allein auch noch nicht, dass Schwule und Lesben in einem Unternehmen nun ein paradiesisch offenes Arbeitsklima vorfinden.

Trotzdem: Auch hierzulande bewegt sich in Firmen etwas. Und das ist nicht nur gut so, es wurde auch Zeit. Denn obwohl sich etwas bewegt, tut sich die hierarchische, männerdominierte deutsche Businesswelt nach wie vor schwer mit Schwulen und Lesben.

Konservative deutsche Businesswelt

Der Wettbewerbsdruck für Unternehmen hierzulande ist angesichts weltweiter Konkurrenz stark, und er wächst weiter. In einer solchen Situation sollte Homosexualität am Arbeitsplatz eigentlich schon aus betriebswirtschaftlichen Gründen keine Rolle spielen. Zumindest sollte sie kein Problem darstellen. Leistungsbereite und leistungsfähige homosexuelle Mitarbeiter sollten in den Unternehmen bei Einstellung und Karriere nicht diskriminiert werden, sondern gleiche Chancen haben wie heterosexuelle – zum Nutzen des Unternehmens und auch jenseits von moralischen Überlegungen mit Blick auf den Einzelnen.

So weit die schöne Theorie. Zu ihr passt, dass die psychologische und betriebswirtschaftliche Forschung seit Jahren schon nicht müde wird zu betonen, dass Homosexualität in einem Unternehmen nur dann kein Problem darstellt, wenn dort das Arbeitsklima grundsätzlich offen ist. Ein offenes Arbeitsklima gilt dabei als Ausdruck einer Unternehmenskultur, die nicht auf Gleichmacherei setzt, sondern auf Werte wie Akzeptanz des Fremden oder Respekt vor dem Vielfältigen – auch vor der Vielfalt sexueller Identitäten. In einem solchen Klima wird niemand tabuisiert oder diskriminiert, weder aufgrund seiner Hautfarbe noch aufgrund seines Geschlechts oder seiner Homosexualität. Nur in einem offenen Arbeitsklima also gibt es am ehesten Chancengleichheit für alle – wieder zum Nutzen des Unternehmens und wieder vollkommen jenseits von moralischen Forderungen mit Blick auf den Einzelnen.

Doch welches Unternehmen würde heute nicht gerne von sich behaupten, ein offenes Arbeitsklima aufzuweisen? Und zwar nicht nur der schönen Selbstdarstellung wegen. Denn zum einen hat der Gesetzgeber mit dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) und weiteren rechtlichen Veränderungen einen Rahmen vorgegeben, um offenkundige Diskriminierungen so weit wie möglich zu unterbinden. Zum Zweiten reagiert auch die Öffentlichkeit heute kritisch auf Diskriminierung und mangelnde Chancengleichheit in Unternehmen, wie zuletzt die Diskussion um die Frauenquote belegt. Aber auf Websites, in Broschüren, Firmenpräsentationen und Chefansprachen nett daherkommende Bekenntnisse zu offenem, diskriminierungsfreiem Arbeitsklima und offener Unternehmenskultur sind das eine. Die betriebliche Realität homosexueller Mitarbeiter ist ein anderes. »52 Prozent der lesbischen und schwulen Beschäftigten halten ihre sexuelle Identität am Arbeitsplatz geheim«, fasst der Psychologe Dominic Frohn ein zentrales Ergebnis seiner vor ein paar Jahren erschienenen Studie zum Thema homosexuelle Mitarbeiter und Führungskräfte zusammen, die letzte umfassende ihrer Art. »Gegenüber Führungskräften ist ein offener Umgang noch seltener.« Zehn Prozent der homosexuellen Beschäftigten bringen nicht selten gar vermeintlich heterosexuelle Partner mit zu Betriebsfeiern, Betriebsausflügen u. Ä. Und mehr als jeder Siebte erfindet Freundin oder Freund, wenn er vom Urlaub, dem Wochenende oder gar der Hochzeitsreise erzählt.

Das sind ernüchternde Zahlen. Und dies umso mehr, als sie sich seit Studienerhebung – jenseits von Veränderungen, wie sie sich mit der Sticks & Stones andeuten – wohl nur wenig gewandelt haben. »Der Umgang mit der sexuellen Identität am Arbeitsplatz verändert sich nicht in zwei oder drei Jahren. Verändert er sich jedoch tatsächlich, dann geschieht das langsam und hat die Qualität eines Kulturwandels«, weiß Frohn. Daher ergebe eine neue Befragung auch erst frühestens in fünf Jahren Sinn.

Jung und schweigsam

Jenseits genereller Befunde zeigt die Studie allerdings auch wichtige Unterschiede beim Umgang mit Homosexualität in Unternehmen. Etwa entlang der Altersstruktur. »Die Befragten zwischen 35 und 50 Jahren gehen am offensten mit ihrer sexuellen Identität am Arbeitsplatz um. Beschäftigte über 50 hingegen sind deutlich verschlossener, ebenfalls die unter 35-Jährigen«, so Forscher Frohn. Auf jeden Fall seien diese altersbedingten Unterschiede ein Hinweis darauf, dass vereinfachende Äußerungen wie etwa »Heute ist alles leichter, die jüngere Generation ist da viel offener« etc. in dieser Form nicht zu halten seien.

Eine Erkenntnis, die Torsten von Beyme-Wittenbecher durch eigene Beobachtungen bestätigt sieht. Der technische Manager, selbst Mitte dreißig, arbeitet für IBM – ein Unternehmen, das für ein LGBT-freundliches Arbeitsklima bekannt ist. Von Beyme-Wittenbecher ist zudem Mitglied des Völklinger Kreises (VK), des Berufsverbands für schwule Führungskräfte, und leitet dort zusammen mit zwei Kollegen die Fachgruppe »Young Professionals«. »Eigentlich dachte ich, dass wir jungen Fachgruppenmitglieder mit unserem Schwulsein im Job offen umgehen.« Doch bei der Gründungstagung der Fachgruppe habe er sich eines anderen belehren lassen müssen: Nicht alle Teilnehmer wollten bei Tagungsende auf das gemeinsame Abschiedsfoto – erst recht nicht, als sie hörten, dass es in den sozialen Netzwerken gepostet werden sollte. »Einige befürchteten, heterosexuelle Kollegen aus der eigenen Firma, bei denen sie nicht geoutet waren, könnten sie auf dem Bild entdecken.« In der daraufhin aufgekommenen Diskussion äußerten mehrere Workshopteilnehmer Bedenken, sie könnten Aufträge verlieren, wenn man sie auf einem im Umfeld des Völklinger Kreises entstandenen Foto entdeckte. Diese oder ähnliche Bedenken seien bei jedem weiteren Workshop der VK-Fachgruppe vorgebracht worden. Auch die Entscheidung, am Ende nicht auf das Gruppenfoto zu wollen, würden seither regelmäßig mindestens zwei bis drei Teilnehmer treffen.

Zwischenzeitlich ist von Beyme-Wittenbecher klar geworden: Solche Erlebnisse sind keine Einzelfälle. Denn als er später in eher informellem Umfeld von ihnen berichtete, erzählten ihm Kollegen oft vergleichbare Geschichten.

Doppeltes Minus

Ähnliche Erfahrungen macht auch Susanne Hillens, seit mehr als drei Jahren Vorstandsmitglied bei den Wirtschaftsweibern, dem Berufsverband für lesbische Führungskräfte. In der Gruppe der 25- bis 35-jährigen Lesben dominieren für sie zwei Karrieremuster. »Die einen sagen stolz: Wer mich als Arbeitgeber nicht so nimmt, wie ich bin, der kriegt mich nicht. In der anderen Gruppe dominiert machtvolles Schweigen, um die Karriere nicht zu gefährden.«

Gerade in größeren Unternehmen und im Mittelstand sei das zweite Muster verbreitet, erzählt Hillens. Lange Verlagsmanagerin arbeitet sie seit mehr als zehn Jahren als freie TV-Journalistin und Autorin, u. a. beim WDR. Als Coach begleitet sie viele junge weibliche Führungskräfte und Nachwuchswissenschaftlerinnen in deutschen Forschungseinrichtungen.

Das Schweigen lesbischer junger Frauen sei einerseits verständlich, denn sie hätten mit einem »doppelten Minus« zu kämpfen. »Zum einen sind sie lesbisch – womit ganz allgemein die Angst vor Ausgrenzung einhergeht. Und zum anderen sind sie Frauen – womit sie schlechtere Karrierechancen haben als Männer.« Wenn man zudem berücksichtige, dass sich die Kantinen- und Flurgespräche von heterosexuellen Frauen dieser Altersgruppe stark um die Balance zwischen Familie und Job oder auch Kinder und Kinderwunsch drehen, wozu lesbische Frauen in der Regel weniger beitragen können oder wollen, dann müsse man eigentlich von einem dreifachen Minus sprechen.

Andererseits gebe es für junge Lesben aber auch keinen Grund zum Jammern, findet Hillens, die sich selbst mit Anfang zwanzig im Job outete. »Verglichen mit vor zehn oder fünfzehn Jahren leben wir doch in paradiesischen Zuständen.« Erstens würden immer mehr deutsche Unternehmen das Thema Diversity Management für sich entdecken, bei dem es auch um die Schaffung größerer Chancengleichheit gehe: für Frauen und für »sexuelle Minderheiten«. So werde das doppelte Minus gleich doppelt angegangen. Zweitens seien junge heterosexuelle Männer wie Frauen grundsätzlich offener für Lesben und Schwuler als früher. »Und drittens schließlich gibt es heute eine Menge Anlaufstellen, die früher schlicht nicht existierten, etwa die Wirtschaftsweiber, aber auch Sportvereine und Beratungsstellen, wo Lesben Verbündete und Vorbilder finden können.«

Insofern sei die Zeit reif für junge lesbische Frauen in der Wirtschaft, sich zu verändern und die Unternehmen gleich mit. »Allerdings muss so etwas wie Selbstermächtigung stattfinden. Will heißen: Ich muss eine bewusste Entscheidung treffen. Wie sollen andere zu mir stehen, mich wertschätzen und mich in meiner Karriere fördern, wenn ich nicht selbst zu mir stehe?«

Dass das keine leichte Entscheidung ist, sei klar. Aber solange die nicht gefällt werde, bleibe es schwierig – für einzelne junge Lesben in Unternehmen, aber auch für die Gesamtheit aller Lesben, gleich ob Führungs- oder Fachkraft.

Versteckt an der Spitze

Noch schwieriger als bei jüngeren Beschäftigten, die am Beginn ihrer Karriere stehen, stellt sich die Situation im gehobenen und Top-Management dar, etwa in Dax-Konzernen. Insgesamt gelte dort, so Forscher Frohn: »Mit steigendem Gehalt und höherer Position in der Unternehmenshierarchie nimmt die Bereitschaft ab, die eigene sexuelle Identität als Selbstverständlichkeit zu kommunizieren.«

Dazu passt: Ulrich Köstlin ist das bisher einzige Vorstandsmitglied eines deutschen Großunternehmens – der damaligen Bayer Schering Pharma AG – , das sich 2010 für die Öffentlichkeit erkennbar »im Amt« outete. Gleich im darauffolgenden Jahr ging er in den vorzeitigen Ruhestand und tritt in der Öffentlichkeit auch nicht als »schwuler Top-Manager« auf. Ansonsten gilt unverkennbar: Homo-Liebe ist in deutschen Top-Businessetagen nicht erwünscht. Jenseits gern gepflegter Leistungsrhetorik gibt es hier offenbar immer noch geschlossene Machtzirkel, deren unausgesprochene Regeln und implizite Codes schwulen oder lesbischen »Außenseitern« den Zugang zum Paradies eines Vorstands- oder anderen Top-Managementpostens versperren sollen.

Bernd Schachtsiek, Vorsitzender des Völklinger Kreises (VK), bestätigt das, aber spezifiziert: »Ich kenne mehrere ehemalige und aktuelle Vorstandsmitglieder, die schwul sind. Allerdings wollen die mit ihren beruflichen Themen in der Presse erscheinen und nicht mit ihrem Privatleben.« Deshalb gingen sie auch nicht offen mit ihrer Homosexualität um. Einige seien auch überzeugt, dass sie ihren Top-Job geoutet nicht bekommen hätten. In jedem Fall aber wählten sie Verhaltensstrategien des Verbergens, die durchaus sehr unterschiedlich ausfallen könnten. »Die einen reden gar nicht über ihr Privatleben – was dann natürlich bedeutet, dass nun andere das Reden über dieses Privatleben übernehmen.« Eine zweite Gruppe führe eine arrangierte Vorzeigeehe oder ein Doppelleben, von dem die Partnerin nichts weiß. Eine dritte Gruppe habe sich bei engeren Mitarbeitern geoutet – und um Diskretion gebeten.

»Ähnliche Strategien des Umgangs mit dem eigenen Schwulsein im Job verfolgen auch viele Mittelständler an der Spitze ihrer Firma«, ergänzt der VK-Vorsitzende. Hier kennt er sich besonders gut aus, denn Schachtsiek wuchs selbst in einem Unternehmerhaushalt auf und wurde später – nach einem Coming-out mit Anfang dreißig – ebenfalls als Unternehmer erfolgreich. »Wenn gilt, dass die deutsche Wirtschaft – jenseits erkennbarer Fortschritte in manchen Unternehmen – nach wie vor konservativ ist im Umgang mit Homosexualität, dann gilt das umso mehr für ihre Führungsetagen, gleich ob Mittelstand oder Konzerne.«