Der Römerbrief - Gerd Theißen - E-Book

Der Römerbrief E-Book

Gerd Theißen

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Beschreibung

Paulus gilt als Grundlage der Reformation, aber seine reformatorische Auslegung geriet in Misskredit. Die lutherische Tradition betont einseitig die individuelle Funktion des Gesetzes, das in innere Konflikte führt. Dagegen stellt die "New Perspective on Paul" den sozialen Konflikt zwischen Israel und anderen Völkern und die abgrenzende Funktion des Gesetzes ins Zentrum. Beides, der theologisch gedeutete Moralkonflikt und Sozialkonflikt, ergänzen einander jedoch, wenn man den Römerbrief mithilfe einer Kombination von bildsemantischen, sozialgeschichtlichen und psychologischen Methoden liest. Seine vier Heilslehren – Heil durch Werke, Rechtfertigung, Verwandlung und Erwählung –zielen auf das Heil des ganzen Menschen und das aller Menschen. Paulus entwickelt diese Heilslehren entlang seinen eigenen Erfahrungen, Ängsten und Hoffnungen. Der Römerbrief ist sein persönliches Bekenntnis und Aufarbeitung seiner theologischen Entwicklung. Er verarbeitet Spannungen seiner Mission mit dem Imperium Romanum wie mit dem Judentum. Paulus wollte das Judentum seiner Zeit so reformieren und öffnen, dass Heidenchristen in ihm ihre Heimat finden können. Ein scheiternder Reformator wurde paradoxerweise Grundlage für Urchristentum und Reformation.

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Gerd Theißen / Petra von Gemünden

Der Römerbrief

Rechenschaft eines Reformators

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 2 Abbildungen und 20 Tabellen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-647-99784-1

Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A.www.v-r.deAlle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Satz: textformart, Göttingen EPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Ulrich Luz gewidmet

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1.Die Kritik an der reformatorischen Paulusdeutung. Eine forschungsgeschichtliche Einführung

1.1Luthers Verständnis der Rechtfertigungslehre

1.2Erlösung als Verwandlung: Die erste „Entlutheranisierung“ des Paulus in der liberalen Theologie

1.3Erlösung als existenzielle Erneuerung: Die Erneuerung der Rechtfertigungslehre in der Existenzialtheologie

1.4Erlösung als universales Heil: Die zweite Entlutheranisierung in der New Perspective on Paul

1.5Paulus – Reformator des Judentums? Eine neue reformatorische Paulusdeutung

2.Der Gedankengang des Römerbriefs. Eine textimmanente Lektüre

2.1Briefrahmen (1,1–17)

2.2Systematischer Teil (1,18–11,36). Das Heil des Menschen

2.2.1Heil durch Werke: Die Offenbarung des Zorns Gottes über alle Menschen (1,18–3,20)

2.2.2Heil durch Glauben: Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes für alle Glaubenden (3,21–5,21)

2.2.3Heil durch Verwandlung: Die Erneuerung des Menschen (6,1–8,39)

2.2.4Heil durch Erwählung: Die Rettung Israels und aller Völker (9,1–11,36)

2.3Paränetischer Teil (12,1–15,13). Das Handeln des erneuerten Menschen

2.3.1Die allgemeine Paränese: Gemeinde- und Staatsparänese (12,1–13,14)

2.3.2Die konkrete Paränese: Der Streit von Starken und Schwachen (14,1–15,13)

2.4Briefrahmen (15,14–16,23)

2.4.1Reisepläne des Paulus (15,14–33)

2.4.2Das Schlusskapitel (16,1–23)

3.Konflikte im Imperium und im Christentum. Eine historische Lektüre

3.1Die Gemeinde in Rom: Attraktivität und Vertreibung von Juden

3.2Die Situation des Paulus: Überwundene Konflikte in Kleinasien und Korinth

3.2.1Der Konflikt in Galatien

3.2.2Der Konflikt in Korinth

3.2.3Die Krise in Ephesus

3.3Die Reisepläne des Paulus: Ephesus und Jerusalem, Rom und Spanien

3.3.1Ephesus als Zwischenstation

3.3.2Jerusalem als Ziel der Kollektenreise

3.3.3Rom als Zentrum des Imperiums und Zwischenstation

3.3.4Spanien als Missionsgebiet und Reiseziel

3.4Die Intention des Römerbriefs: Pragmatische Absichten und theologische Rechenschaft

3.4.1Die missionarische Absicht des Römerbriefs

3.4.2Die pastorale Absicht des Römerbriefs

3.4.3Die (kirchen-)politische Absicht des Römerbriefs

3.4.4Die literarische Absicht des Römerbriefs

4.Theologische Bilder im Römerbrief. Eine bildsemantische Lektüre

4.1Politische Bilder: König, Richter, Priester

4.1.1Herrschaftsmetaphorik im Römerbrief

4.1.2Richtermetaphorik im Römerbrief

4.1.3Priestermetaphorik im Römerbrief

4.1.4Die Bildfolge: Vom König zum Priester

4.2Familiäre Bilder: Sklave, Frau, Sohn (Röm 6–8)

4.2.1Der Herrenwechsel des Sklaven (6,12–23)

4.2.2Die neue Ehe der Frau (7,1–6)

4.2.3Die Adoption des Sohnes (Röm 8)

4.2.4Die Bildfolge: Vom Sterben mit Christus zu den Geburtswehen der Kinder Gottes

4.3Berufsbilder: Töpfer und Gärtner (Röm 9–11)

4.3.1Der Töpfer und seine Gefäße (Röm 9,19–23)

4.3.2Der Gärtner und sein Ölbaum (Röm 11,[16b]17–24)

4.3.3Die Bildfolge: Vom Töpfer zum Gärtner

4.4Die Polyphonie der Bilder im paränetischen Teil (Röm 12–15)

4.5Die Bildfolge: Veränderungen der Bilder von Gott und Mensch innerhalb des Römerbriefs

5.Heilskonzepte im Römerbrief und deren Aporien. Eine theologische Lektüre

5.1Heil durch Tun des Gesetzes: Individuelle Sünde und Gleichheit aller Sünder (Röm 1,18–3,20)

5.1.1Die Gnade der Umkehr: Das Heilsverständnis der Gesetzesfrömmigkeit

5.1.2Die Ursünde als Vertauschung von Schöpfer und Geschöpf

5.1.3Konkrete Übertretungen: Sexuelle und aggressive Sünden

5.1.4Gesetzesstolz als verfehlte Orientierung am Gesetz

5.1.5Die Christologie im Rahmen der Gerichtspredigt (Röm 2,16)

5.2Heil durch Rechtfertigung ohne Gesetz: Die Überwindung der Sünde und universales Heil (Röm 3,21–5,21)

5.2.1Die inkongruente Gnade: Die Rechtfertigung des Gottlosen

5.2.2Sünde als Beziehungsstörung: Gottlosigkeit und Feindschaft

5.2.3Konkrete Sünde als Gesetzesbruch

5.2.4Sünde als Gesetzesangst und Gesetzesstolz

5.2.5Christus als Sühne (Röm 3,25)

5.3Heil durch Verwandlung und Befreiung vom Gesetz: Die Überwindung des inneren Gebotskonflikts (Röm 6,1–8,39)

5.3.1Effektive Gnade: Christus und Christusmystik als Gnadengeschenk

5.3.2Sünde als gestörtes Verhältnis zu Gott

5.3.3Sünde als unmoralische Tat

5.3.4Sünde als Gesetzesmissbrauch

5.3.5Die Christusmystik des Paulus (Röm 6,1–11; 8,31–39)

5.4Heil durch Erwählung vor jedem Gesetz: Die Überwindung sozialer Abgrenzung (Röm 9,1–11,36)

5.4.1Gnade als paradoxes Erwählen und Erbarmen Gottes

5.4.2Sünde als Beziehungsstörung und Leid

5.4.3Sünde als unmoralische Tat

5.4.4Sünde als Gesetzillusion

5.4.5Christus als Skandalon (Röm 9,33)

5.5Die Folgen des Heils: Die Paränese des Römerbriefs (Röm 12,1–15,13)

5.6Die Pluralität der Heilskonzepte und die Einheit der Heilsgewissheit

6.Die Universalisierung des Heils für alle Menschen. Eine sozialgeschichtliche Lektüre des Römerbriefs

6.1Die soziale Dynamik christlicher Gemeinden und die Entstehung einer trans-ethnischen Identität

6.1.1Urbanisierung

6.1.2Universalisierung

6.1.3Aufstiegsdynamik

6.1.4Spiritualisierung

6.2Die Universalisierung ethnischer Traditionen

6.2.1Die Universalisierung der Abstammung

6.2.2Der Traum von der Öffnung des Tempels

6.2.3Die Universalisierung des Gesetzes

6.2.4Die Universalisierung der Geschichte

6.3Die lokale Verwirklichung universaler Gottesverehrung: Toleranz zwischen „Starken und Schwachen“ in Rom (Röm 14,1–15,13)

6.3.1Die Gruppenbezeichnung „Starke und Schwache“

6.3.2Vergleich der Konflikte in Korinth und Rom

6.3.3Die Generalisierung des Fleischverbots unter den Schwachen in Rom

6.3.4Die Argumentation des Paulus

7.Die Transformation des ganzen Menschen. Eine psychologische Lektüre des Römerbriefs

7.1Risikobereitschaft und Furcht des Paulus. Eine prospektive Lektüre des Römerbriefs

7.1.1Die persönliche Situation des Paulus

7.1.2Hinweise zur Furcht des Paulus im Römerbrief

7.2Die Entwicklung des Paulus. Eine retrospektive Lektüre des Römerbriefs

7.2.1Heil aufgrund von Werken

7.2.2Heil aufgrund von Glauben

7.2.3Heil aufgrund von Verwandlung

7.2.4Heil durch Erwählung

7.2.5Zusammenfassung: Die Entwicklung des Paulus

7.3Der Zwiespalt des Menschen. Eine introspektive Lektüre des Römerbriefs

7.3.1Der Zorn über eine sündige Menschheit: Paulus in Röm 1,18–3,20

7.3.2Die Rechtfertigung des Gottlosen: Paulus in Röm 3,21–5,21

7.3.3Die Verwandlung des Menschen: Paulus in Röm 6,1–8,39

7.3.4Erwählung und Verwerfung Israels: Paulus in Röm 9–11

8.Der Römerbrief – Rechenschaft eines scheiternden Reformators

8.1Die Vision des Paulus: Reform und Öffnung des Judentums

8.1.1Die Reform des Gesetzes: Paulus und das Ethos des Judentums

8.1.2Die Reform des Jerusalemer Kultes

8.1.3Die Reform der Grunderzählung des Judentums

8.2Die Anfechtungen des Paulus: Pessimismus und Universalismus

8.2.1Anthropologischer Pessimismus als Begründung des Universalismus

8.2.2Der Universalismus des Paulus als Ursache kognitiver Dissonanzen

8.2.3Die Öffnung für andere als Aufgabe

8.3Die Bewältigung der Anfechtungen: Der Glaube

8.3.1Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Forum Gottes und dem Gewissen

8.3.2Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Leben und Leiden Christi und der Christen

8.3.3Der psychomythische Parallelismus zwischen der Funktion Christi im Gericht und der Gewissheit des Menschen

8.3.4Der psychomythische Parallelismus zwischen der Sühne als Überwindung des sozialen und des individuellen Konflikts

8.3.5Der psychomythische Parallelismus zwischen dem Wandel des Gottesbilds und des Menschenbilds im Römerbrief

9.Eine Zusammenfassung

10.Liste der Exkurse

11.Liste der Tabellen

12.Literaturverzeichnis

13.Stellenregister

14.Sach- und Stichwortregister

Vorwort

Beim Gedenken an die Reformation steht Martin Luther im Zentrum. Doch Luther verdankt viele seiner Erkenntnisse Paulus. Paulus wollte den jüdischen Glauben erneuern. Im 16. Jahrhundert schlug ein Funke von ihm in eine ganz andere Zeit und motivierte einen Mönch dazu, das Christentum grundlegend zu erneuern. Paulus hatte so wenig die Absicht, eine neue Religion zu gründen, wie Luther eine neue Kirche gründen wollte. Beide handelten als Reformer, nicht als Religions- oder Kirchengründer. Unser Buch vertritt die These: Paulus war ein Reformator des Judentums, wurde aber gegen seinen Willen zum Architekten des Christentums.

Wir verdanken den Reformatoren die Rechtfertigungslehre in ihrer neuzeitlichen Zuspitzung als Botschaft von der unbedingten Annahme des Menschen aufgrund des Glaubens an Jesus Christus. Die Reformation brachte sie durch drei particula exclusiva auf die Formel: Rechtfertigung geschieht allein durch Glauben, aufgrund von Gnade, ohne Gesetz, sola fide, sola gratia, sine lege. Alle Menschen sind auf Rechtfertigung angewiesen. Diese Botschaft wirkt heute nach in der Überzeugung vom unantastbaren Wert eines jeden Menschen – unabhängig von dessen Fehlverhalten, so dass auch Fehlverhalten seine Ebenbildlichkeit nicht zerstören kann. Das ist die leicht zugängliche Seite der reformatorischen Botschaft. Schwerer zugänglich ist deren Begründung im stellvertretenden Sterben und Auferstehen Jesu. Aber sie lässt sich davon nicht lösen. Deshalb gehört zu den particula exclusiva als vierte Bestimmung das solus Christus. Die Reformatoren hatten mit der Begründung des Heils im Leben und Sterben Christi keine Probleme. Heute protestiert freilich moderne Mentalität gegen den Gedanken des stellvertretenden Todes. Nach unserem Menschenbild kann Schuld nicht übertragen werden, nur Schulden. Nach unserem Gottesbild braucht Gott nicht den Tod eines Menschen, um vergeben zu können.

Dieses Problem ist nur ein Teil einer allgemeineren Verstehensproblematik. Die Reformatoren verstanden bei Paulus vieles wörtlich, was moderne Menschen zunehmend als interpretationsbedürftige Bilder verstehen: Weltende und Gericht, Freispruch und Verdammung, Präexistenz Jesu und Sühnetod, Auferstehung und Himmelfahrt, Heilsvermittlung durch Taufe und Abendmahl – all das war für sie Realität. Wir erkennen heute: Hier drückt sich Glaube vor allem in religiösen Bildern und Symbolen aus. Menschen deuten mit ihrer Hilfe die Wirklichkeit. Daher gehen wir in diesem Buch von einer bildsemantischen Auslegung des Römerbriefs aus, die seine Theologie unter Rekurs auf eine faszinierende Bilderwelt entziffert.

Eine zweite Schwierigkeit bei der Rezeption der reformatorischen Theologie ist nicht bei Paulus, sondern bei Luther zu suchen. Der Funke der paulinischen Theologie hat bei Luther nur halb gezündet. Er brachte die Rechtfertigungslehre zum Leuchten, wie sie im Galater- und Römerbrief entfaltet wird, aber nicht die in Röm 9–11 enthaltene Zuwendung des Paulus zum Judentum. Luther schrieb in seiner Jugend den beeindruckenden Traktat, „Dass Jesus Christus ein geborner Jüde sei“ (1523),1 in dem er das Gespräch mit dem Judentum suchte. Im Alter entwickelte er sich jedoch zum antijüdischen Hassprediger. Bei Paulus verlief die Entwicklung in die entgegengesetzte Richtung. Er verurteilte in seinem ältesten Brief, dem 1. Thessalonicherbrief, Juden mit kaum zu überbietender Schärfe (1Thess 2,16). Im Römerbrief vertrat er dagegen die Überzeugung, dass ganz Israel zum Heil komme (11,26). Bei Luther entwickelte sich eine projüdische zu einer judenfeindlichen Haltung, bei Paulus eine antijüdische Kritik zu einer positiven Haltung. Die unbedingte Zuwendung Gottes zu den Juden ist für Paulus der Testfall dafür, dass Gott sich allen Menschen zuwendet: „Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme“ (11,32).

Wir plädieren nicht dafür, Luther gegen Paulus auszutauschen und alles um Paulus kreisen zu lassen. Beide waren eingebettet in ihre sozialen Kontexte und artikulierten sich in unterschiedlichen Formen. Paulus vertrat seine Lehre im Gespräch mit anderen Christen in Briefen. Er selbst hat die Form des Gemeindebriefs aus dem Freundschaftsbrief entwickelt. Luther vertrat seine Lehre in Disputationen. Zusammen mit einer neuen Generation von Professoren hat er die scholastische Gelehrtendisputation zu einer neuen Form der argumentativen Auseinandersetzung in Universität und Gesellschaft entwickelt. Mit ihr verbreitete sich die Reformation. Manche Städte führten sie ein, nachdem in einer öffentlichen Disputation die neue Lehre diskutiert worden war. Die Konzentration unserer Sicht der Reformation auf die Person M. Luthers ist irreführend. Eine ganze Gesellschaft führte einen Grundlagendiskurs über Glauben und Leben. Neben Luther standen nicht nur Melanchthon, Zwingli, Bucer und Calvin, sondern viele Theologen, Prediger und Lehrer, manchmal auch Frauen wie die bayerische Publizistin Argula von Grumbach oder die Heidelberger Dichterin Olympia Morata. Ebenso standen neben Paulus viele namentlich bekannte und namenlose Christen, und auch hier sind es Männer und Frauen.

Schließlich sei eine dritte Schwierigkeit genannt. Die wissenschaftliche Paulusauslegung widersprach in den letzten vierzig Jahren deutlich der reformatorischen Paulusauslegung. Letztere sah in der Rechtfertigung des Einzelnen vor Gott das Zentrum der paulinischen Botschaft. R. Bultmann hatte diese Auslegung existenzphilosophisch erneuert. Die nach ihm folgende Generation entdeckte jedoch, dass es Paulus weniger um die Existenz- und Gewissensprobleme des einzelnen Menschen ging als um das soziale Problem, wie man die christliche Gemeinde für alle Völker öffnen könne. Eine Zeit lang herrschte in der Paulusexegese die Stimmung: Je weniger reformatorisch Paulus gedeutet wird, desto näher sei man beim historischen Paulus. Die Botschaft der sogenannten New Perspective on Paul war: „Paul was no Luther before Luther“.2 Luther habe Paulus sogar missverstanden und seine Probleme in ihn hineingelesen. Wir möchten diese neue „soziale“ Paulusauslegung in manchen Punkten noch konsequenter durchführen, aber auch zeigen, dass sie mit der theologischen Deutung in der Tradition Luthers und Bultmanns verbunden werden muss, wenn man Paulus verstehen will. Wir wählen dafür neben dem bildsemantischen Ausgangspunkt zwei weitere methodische Ansätze. Mit einer historisch-psychologischen Auslegung wollen wir die individuelle Dimension der paulinischen Theologie aufdecken, mit einer sozialgeschichtlichen Auslegung ihre soziale Dimension. Beide Ansätze scheinen in Spannung zueinander zu stehen, wie die Wirkungsgeschichte des Paulus zeigt. Sein Universalismus findet heute positive Resonanz. Unter sozialgeschichtlichem Aspekt erscheint Paulus als Vorläufer der Globalisierung und der Entstehung einer gemeinsamen Welt. Er träumte von einer neuen Menschheit – über alle sozialen, kulturellen und ethnischen Grenzen hinweg. Historische Psychologie zeigt dagegen, dass Paulus eine verschärfte Sensibilität für den Konflikt des Menschen mit sich selbst in seinem Inneren hat. Über den natürlichen Menschen urteilt er pessimistisch. Sein Pessimismus wird heute mehrheitlich abgelehnt. Sein Sündenbewusstsein gilt oft sogar als Gift, mit dem er die europäische Kultur infiziert hat, auch wenn solch eine Pauluskritik, wie sie F. Nietzsche im 19. Jahrhundert vertrat, leiser geworden ist. Unsere These ist, dass man das eine ohne das andere nicht haben kann. Der Sündenpessimismus des Paulus ist Grundlage für seinen Universalismus, wie auch sein Universalismus seine kritische Sicht des Menschen verschärft.

Unser Buch hat eine längere Vorgeschichte. Im Jahr 1983 veröffentlichte G. Theißen das Buch „Psychologische Aspekte paulinischer Theologie“, das auch einige Texte des Römerbriefs auslegt. Soll die psychologische Auslegung in der Exegese auf Dauer Platz finden, muss sie an einer Ganzschrift erprobt werden und in eine sozialgeschichtliche Auslegung eingebettet sein. Im Jahr 1996 hielt P. v. Gemünden ihre Antrittsvorlesung in Genf über die Parallelität zwischen Gottesbild und Menschenbild im Römerbrief, einem Grundgedanken dieses Buches: „Image de Dieu – image de l’être humain dans l’Épître aux Romains“. 1999 veröffentlichten wir einen gemeinsamen Aufsatz zur Bildersprache des Römerbriefs: „Metaphorische Logik im Römerbrief. Beobachtungen zu dessen Bildsemantik und Aufbau“. Uns war klar: Eine psychologische und sozialgeschichtliche Auslegung muss die Bildlichkeit der Texte auswerten. Bei der Arbeit an diesem Aufsatz entstand der Plan eines gemeinsamen Buches. Zunächst sollte es vor allem eine psychologische Auslegung des Römerbriefs sein. Ein vorläufiger Entwurf dazu war schon vor einigen Jahren fertig. Dann aber beschlossen wir, die Texte bewusst im Lichte einer hermeneutischen Polyphonie auszulegen, bei dem keine Fragestellung dominiert, sondern alle methodischen Ansätze dem Ziel dienen, die Botschaft des Textes zu erhellen. Im Sommersemester 2014 begannen wir während einer Vertretung von G. Theißen in Augsburg aus Anlass eines Forschungssemesters mit der endgültigen Niederschrift der Kapitel. Alle Teile des Buches werden von uns beiden verantwortet. P. v. Gemünden hat vor allem das Kapitel „Theologische Bilder im Römerbrief“ (Kapitel 4.2–4) und „Die Furcht des Paulus: Eine prospektive Lektüre des Römerbriefs“ (Kapitel 7.1) beigetragen, G. Theißen hat die Vorlagen für die anderen Kapitel geschrieben. Wir durchlaufen immer wieder unter verschiedenen Aspekten den ganzen Römerbrief. Jede dieser Ganzlektüren soll möglichst in sich verständlich sein. Dafür nehmen wir einige Wiederholungen in Kauf.

Wir danken allen, die bei der Herstellung des Manuskripts mitgeholfen haben, vor allem Sabine Fartash, die alle Kapitel kritisch mitgelesen und die Texte formatiert hat, sowie Tobias Eber und Lena Hübner für das Lesen von Korrekturen, Eva-Maria Isber und Lena Hübner für Durchsicht und Transkription des Griechischen, ferner Jörg Persch vom Vandenhoeck&Ruprecht Verlag für die Publikation des Buches sowie Christoph Spill und Moritz Reissing für die sachkundige Betreuung des Manuskripts. Der Verlag hat viel Geduld mit diesem Buchprojekt gezeigt. Es wurde schon in den neunziger Jahren mit Arndt Ruprecht besprochen.

Wir widmen dieses Buch Ulrich Luz in Dankbarkeit. Bei ihm verbinden sich theologisches und soziales Engagement, Gelehrsamkeit, Fairness und Menschlichkeit in vorbildlicher Weise.

Pfingsten 2016

Gerd TheißenHeidelberg

Petra von GemündenAugsburg

___________________

1 LUTHER, WA 11, 314–336.

2 So RÄISÄNEN, Law, 21987, 231.

Einleitung

Die Botschaft des Paulus ist in seinem jüdischen Glauben verwurzelt. Paulus wurde geprägt durch den Glauben an den einen und einzigen Gott, der den Menschen mit seiner ganzen Existenz fordert und der Gott aller Menschen ist. Stellvertretend für alle Menschen hat JHWH Israel erwählt und mit ihm eine Geschichte begonnen, in der sich die Welt verändern wird. Zu ihm bekennen sich Juden zweimal am Tag im Schema Israel: „Höre Israel. Der Herr unser Gott ist ein Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,4). Dieser Glaube an den einen Gott stößt an zwei Grenzen. Einerseits widerspricht ihm der menschliche Wille. Kein Mensch kann sein Leben ganz und gar auf Gott ausrichten. Gott aber fordert das ganze Leben. Andererseits widerspricht ihm die Begrenzung des Glaubens auf ein einziges Volk. Gott aber will der Gott aller Menschen sein. Beide Grenzen werden als so bedrückend erlebt, dass die Sehnsucht nach einer neuen Welt entsteht, in der sie überwunden sind.

Schon das Alte Testament kennt die Sehnsucht, beide Grenzen zu überwinden. Der Mensch möchte ein neuer Mensch werden. Er betet: „Schaffe in mir Gott ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist“ (Ps 51,12). Propheten verheißen ein „neues Herz“ (Ez 36,26), einen neuen Bund, in dem Gott den Menschen seine Gebote ins Herz legt, so dass keiner den anderen belehren muss (Jer 31,31–34). Diese Sehnsucht nach Verwandlung des Menschen ist für Paulus erfüllt, wenn Menschen durch den Glauben an Christus verwandelt werden und Gottes Geist in ihnen wohnt. In Röm 8 sieht er die ganze Schöpfung in Geburtswehen liegen, damit dieser neue Mensch geboren wird. Die Geburt dieses neuen Menschen ist das Ziel der Geschichte Gottes mit dem Menschen.

Ebenso kennt das Alte Testament die Sehnsucht danach, die Beschränkung des Glaubens auf Israel zu überwinden. Abraham wird verheißen: „In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“ (Gen 12,3). Propheten verbreiten die Vision, dass alle Völker zum Zion strömen und in einem Frieden leben, der durch Gottes Rechtsordnung möglich wird (Mi 4,1–5; Jes 2,1–5). Paulus begründet in Röm 15,9–12 mit der Schrift seine universale Hoffnung. Aus dem Pentateuch zitiert er die Aufforderung „Freut euch, ihr Völker, mit seinem Volk!“ (Dtn 32,43LXX), aus den „Schriften“ die Aufforderung: „Lobet den Herrn, alle Heiden“ (Ps 117,1), aus den Propheten die Weissagung eines jüdischen Weltherrschers, „auf den die Völker hoffen werden“ (Jes 11,10LXX).

Für Paulus werden diese beiden Ziele des monotheistischen Glaubens durch den Glauben an Jesus Christus verwirklicht. Dieser Glaube hat die Kraft, Menschen so zu verwandeln, dass sie Gottes Willen entsprechen. Er ist allen Menschen zugänglich, Juden und Nicht-Juden. Die Botschaft des Paulus zielt daher auf die Verwandlung des ganzen Menschen und auf die Öffnung Israels für alle Menschen durch den Glauben. Sie zielt damit sowohl auf die Überwindung des individuellen Konflikts zwischen Gott und Mensch als auch auf die Überwindung des sozialen Konflikts zwischen Israel und den Völkern. Denn Israel ist Stellvertreter aller Menschen und gerät in einen Identitätskonflikt mit sich selbst, wenn es sich von den Völkern nur abgrenzt. Ebenso verliert jeder einzelne Mensch seine Übereinstimmung mit sich selbst, wenn er Gottes Willen widerspricht. Die Geschichte Gottes mit Israel und allen Menschen findet ihren Höhepunkt in diesen beiden Veränderungen, in der Universalisierung des Glaubens und der Transformation des ganzen Menschen. Beides sind so tiefgehende Veränderungen, dass man sie nur als Erneuerung der Schöpfung verstehen kann, als eine eschatologische Weltenwende.

Die These des Buches ist, dass beide, der individuelle Gebotskonflikt und der soziale Identitätskonflikt, untrennbar miteinander verbunden sind. Der Gebotskonflikt lässt erkennen, dass alle Menschen Sünder sind und durchbricht damit alle sozialen Schranken. Er begründet die Universalität der Gnade. Umgekehrt gilt: Wer sich allen Menschen in allen Kulturen öffnet, vertieft den Konflikt mit sich selbst, weil der Mensch in seinem Inneren neben einer Faszination durch das Fremde gleichzeitig einen Widerwillen gegen alles Fremde hat. Fremdheit wirkt zutiefst ambivalent – bis hin zu einer Zerrissenheit zwischen Attraktion und Aggression. Wer von der Wende zwischen der alten Welt und einer neuen Welt für Menschen aus allen Völkern erfasst wird, spürt umso intensiver die innere Spannung zwischen altem und neuem Menschen.

Die Forschungsgeschichte in Kapitel 1 zeigt, dass die Paulusauslegung zwischen beiden Ansätzen oszilliert: zwischen einer Orientierung an der individuell verstandenen Rechtfertigungslehre und einer an der sozialen Beziehung zwischen Israel und den Völkern orientierten Auslegung, wobei die Hoffnung auf kosmische Erneuerung der ganzen Welt als ein dritter Ansatz beide umgreift.

Der Römerbrief zeigt schon in seinem Aufbau, den wir in Kapitel 2 darstellen werden, dass individuelle Gebots- und soziale Identitätskonflikte zusammenhängen. Röm 1,18–5,21 beschwört zuerst das universale Unheil, das alle Menschen ohne Unterschied bedroht, weil sie Sünder sind (1,18–3,20), danach das universale Heil, das allen Menschen angeboten wird, weil der Glaube allen zugänglich ist (1,16 f; 3,21–5,21). Die beiden Aspekte der Erlösung werden dann jeweils für sich in den beiden folgenden Teilen des Römerbriefs zum Thema.

Paulus wirft in 6,1–8,39 zunächst das Problem auf: Wenn allen Menschen das Heil angeboten wird, warum sollen sie sich dann noch um das Gute bemühen? Er beantwortet diese Frage mit dem Gedanken einer Verwandlung des ganzen Menschen durch ein Sterben mit Christus, so dass der erneuerte Mensch gar nicht anders kann, als Gottes Willen entsprechen zu wollen. Die Notwendigkeit der Verwandlung vertieft das Sündenbewusstsein. Der erneuerte Mensch muss erkennen: Sofern er der alte Mensch war und noch ist, tut er nicht, was er eigentlich will. Er tut das, was er hasst (7,14–25).

In 9,1–11,36 wirft Paulus das zweite Problem auf: Wenn durch Glauben der Mensch gerettet wird, was geschieht mit denen, die nicht glauben? Das wird am Beispiel des ungläubigen Israel als härtestem Fall diskutiert. Zugrunde liegt folgende Logik: Wenn ganz Israel trotz seines Unglaubens zum Heil kommt, um wieviel mehr werden alle anderen Menschen gerettet. Das Sündenbewusstsein wird hier (über Röm 6–8 hinaus) noch einmal vertieft. Der Mensch widersetzt sich der Universalisierung des Heils in einem falschen „Eifer“ für Gott – sogar dann, wenn er selbst Träger dieser universalen Verheißung ist (10,2).

Wenn man diese beiden Probleme aufeinander bezieht, stößt man auf eine Aporie. Je radikaler die Verwandlung des Menschen zum Heil gedacht wird, desto kleiner wird der Kreis der Menschen, die dahin gelangen. Die Intensität des Heils geht auf Kosten seiner Universalität. Je mehr Paulus aber eine Universalität des Heils in Aussicht stellt, desto weicher muss er die Kriterien für diejenigen formulieren, die zum Heil gelangen. Die Extension des Heils geht auf Kosten seiner Intensität. Solche Aporien begegnen immer wieder in der Theologie des Paulus. Paulus löst dieses Dilemma durch eine radikalisierte Erwählungslehre. Gott hat die Freiheit, auch die zu erwählen, die ihn verwerfen. Nur so setzt er sich universal durch, so dass am Ende gilt: „Von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge“ (11,36).

Methodisch vertiefen wir die traditionelle Exegese durch eine bildsemantische, psychologische und sozialgeschichtliche Lektüre des Römerbriefs. Diese drei Ansätze hängen zusammen: Bildsemantik lässt sich nicht ohne Sozialgeschichte treiben, wenn etwa die Metaphern der Sklaverei oder des Richters untersucht werden. Eine psychologische Exegese lässt sich nur in einem historischen und sozialgeschichtlichen Rahmen methodisch kontrolliert durchführen. Andere Ansätze greifen wir nur gelegentlich auf: Die theologischen Konzepte des Römerbriefs lassen sich diskursanalytisch in ihre Zeit einordnen, das ließe sich an vielen Stellen weiter vertiefen. Bei der historischen Lektüre führen wir Ansätze der so genannten „antiimperialen“ Paulusdeutung weiter, ohne Paulus zum Widerstandskämpfer zu machen. Auf jeden Fall vertreten wir eine Pluralität von Zugangsweisen, immer in Fortschreibung der bewährten traditionellen Methoden.1

Wir beginnen nach einer Darstellung des Gedankengangs des Römerbriefs mit einer historischen Lektüre (Kapitel 3). In ihr behandeln wir die Einleitungsfragen und stellen sie in den Zusammenhang der Konflikte des Paulus. Es sind Konflikte zwischen Juden, Christen und dem Römischen Reich. Paulus musste seine Missionsarbeit angesichts von politischem Gegenwind durchführen. Sie widersprach der Religionspolitik des Kaisers Claudius, die auf die Erhaltung des status quo abzielte. Paulus wollte aber das Judentum in wesentlichen Punkten verändern; er stellte Identitätszeichen wie die Beschneidung in Frage. Der Staat legte um des religiösen und sozialen Friedens willen jedoch Wert darauf, dass alles beim Alten blieb. Auch der Römerbrief zeigt Spuren dieses Konflikts – selbst in seiner Staatsparänese (13,1–7), die auf den ersten Blick wie eine Mahnung zur totalen Anpassung an den römischen Staat wirkt. Wir werden versuchen zu zeigen, dass Paulus den römischen Staat auch in dieser Staatsparänese kritisch beurteilt hat.

Der Römerbrief bringt Theologie durch Bilder zum Ausdruck. Bilder dringen tiefer in die Leserinnen und Leser als Gedanken ein und wirken unbewusst in ihnen weiter. Sie bringen Motive und Faktoren zum Ausdruck, die im Rücken menschlicher Intentionen wirksam sind und manchmal erst von einer psychologischen und sozialgeschichtlichen Auslegung aufgedeckt werden. Daher folgt auf die historische Lektüre des Römerbriefs eine bildsemantische Lektüre (Kapitel 4).2 Wir gehen von der Prämisse aus, dass Bilder Gedanken inspirieren, Gedanken aber auch Bilder umformen, rechnen also mit einer Wechselwirkung zwischen beiden. Dabei zeigt sich: Bildfolgen haben eine eigene Dynamik, Bilder wirken auf nachfolgende Bilder und werfen retrospektiv Licht auf vorangegangene Bilder. Die „Bildsyntagmatik“ ist für das Verstehen von Bildern wichtig. Wenn sich Gott im Römerbrief vom König und Richter zum Priester (1,1–3,26) oder vom Töpfer zum Gärtner verwandelt (9,19–11,24), sagt das mehr über Gott als viele abstrakte Feststellungen. Ebenso wichtig sind sachliche Beziehungen zwischen Bildern, „paradigmatische Bildfelder“, die aus Oppositionen zwischen verwandten und entgegengesetzten Bildern bestehen. Die Bilder von Sklave, Frau und Sohn (6,1–8,39) gehören als Bildfeld familiärer Rollen zusammen. Sie, wie auch die Berufsrollen des Töpfers und des Gärtners in 9,1–11,36, sind dem antiken Haus (Oikos) zuzuordnen. Alle Rollen im Oikos unterscheiden sich von den öffentlichen Bildern des Königs, Richters und Priesters (1,1–3,31), ebenso aber von typologischen Entsprechungen zwischen Abraham und Adam auf der einen, Christen und Christus auf der anderen Seite (4,1–5,21). Bilder sind ein Tor zur Lebenswirklichkeit der Menschen, auch wenn sie diese Wirklichkeit in transformierter Gestalt aufnehmen. Alle Bilder beleuchten eine große Wende. Wenn Gott zuerst in öffentlichen Rollen erscheint, sich am Ende aber vom Töpfer zum Gärtner wandelt, verändert sich das Gottesverständnis. Die Bildsemantik führt so ins Zentrum einer theologischen Lektüre.

Geleitet von Bildfeldern und Bildfolgen lassen sich theologisch vier Heilskonzepte im Römerbrief erkennen (Kapitel 5). Das Heil wird entweder durch Werke, durch Rechtfertigung, durch Verwandlung oder Erwählung erlangt. Wenn Paulus die Gesetzesfrömmigkeit in 1,18–3,20 darstellt und ihr Scheitern beschwört, steht er in einem Diskurs mit dem Judentum, das mit anderen in der Verwirklichung des Guten konkurrierte. In seiner Rechtfertigungslehre (3,21–5,21) steht er im Dialog mit seinem früheren Pharisäertum und dessen Radikalisierung im „Zelos-Ideal“. In seiner Verwandlungslehre (6,1–8,39) ist ein Austausch mit antiker Erlösungs- und Verwandlungssehnsucht spürbar, in seiner Erwählungslehre (9,1–11,36) eine Auseinandersetzung mit einem elitären Prädestinationsglauben, wie ihn die Essener vertraten. Jedes Heilskonzept ist bei Paulus vom Scheitern bedroht und setzt deshalb ein weiteres Konzept frei. Alle Konzepte haben gemeinsam, dass sie Unheil und Heil kontrastieren. Das Unheil wird differenziert beschrieben. Auch das Gesetz ist in dieses Unheil und in Sünde verstrickt. Wir vertreten daher die These, dass sich bei Paulus auch eine grundsätzliche Gesetzeskritik findet und knüpfen damit an die reformatorische und existenzialtheologische Deutung des Paulus an. Wichtig ist uns dabei, dass Sünde neben menschlicher Schuld immer auch Leid umfasst, das aus eigener oder fremder Schuld folgt. Denn Paulus hat nicht nur die Schuld der Täter vor Augen, sondern auch das Leid der Opfer. Sünde und Erlösung haben daher bei ihm immer auch eine soziale Dimension.3

Nach der theologischen Analyse der Heilskonzepte soll die sozialgeschichtliche Exegese erhellen, wie Paulus im Römerbrief den Konflikt zwischen Juden und Heiden lösen will (Kapitel 6).4 Paulus ist ein Pionier der Universalisierung. Er steht für den Aufbruch der Menschen aus partikularen Traditionen, aber auch dafür, dass man sich in Treue zu diesen Traditionen für alle Völker öffnen kann. Er sieht in seinen Gemeinden die Erfüllung der universalen Verheißungen des Judentums. Er strebte einen gemeinsamen Gottesdienst von Juden und Heiden an. Vorhut dafür sollen die christlichen Gemeinden sein, in denen Juden und Heiden Gott preisen (15,8–13). Die Sozialgeschichte kann konkretisieren, auf welche Hindernisse dieser Universalismus zur Zeit des Kaisers Claudius stieß.5 Wir vertreten in diesem Zusammenhang die These, dass Paulus von einer Reform des Tempels träumte. Dieser „Traum“ zeigt, dass Paulus bis zuletzt an das damalige Judentum gebunden blieb. Paulus wollte es reformieren. Wie alle Reformen wird sein Reformwille vor allem an der sichtbaren Seite der Religion greifbar und angreifbar, an den Riten und dem rituellen Zentrum des Judentums. Bei Änderungen in der sichtbaren Religion ging es Paulus um deren Öffnung für alle Menschen, bei der unsichtbaren Innenseite der Religion dagegen um die Verwandlung des ganzen Menschen.

Durch historisch-psychologische Exegese wollen wir dann in Kapitel 7 diese Innenseite der Religion erhellen, die den ganzen Menschen, sein Denken, Fühlen und Handeln umfasst.6 Paulus zeigt sich im Römerbrief auch als ein Pionier der Selbsterkenntnis des Menschen – neben manchen Philosophen und Dichtern in der Antike. Sein transformatives Menschenbild7 ist von der Sehnsucht des Menschen bestimmt, ein anderer zu werden, seine introspektive Klarheit konfrontiert ihn damit, dass der Mensch nicht der ist, der er sein will. Höhepunkt seiner introspektiven Selbstanalyse ist 7,7–25. Wir wollen in diesem Zusammenhang zeigen, dass die vier Heilskonzepte, Heil durch Werke, Glauben, Verwandlung und Erwählung, der theologischen Entwicklung des Paulus entsprechen. Sie sind ihm in seinem Leben wahrscheinlich nacheinander wichtig geworden. Wir verfolgen seine Entwicklung in einer retrospektiven Lektüre des Römerbriefs. Dabei kontextualisieren wir diese Heilskonzepte, indem wir immer wieder fragen, inwiefern Paulus dabei an allgemeinen Diskursen teilnahm.8 Die Diskursanalyse gibt Themen, Topoi und Ideen einen gesellschaftlichen „Sitz im Leben“. Dabei geht es nicht nur um intertextuelle Beziehungen zu anderen Texten mit gleicher Thematik, sondern um die soziale Dynamik in diesen Diskursen, um Definitionsmacht und Diskursteilnahme, sowie um die Frage, welche Gruppen ihre Konzepte und Kriterien durchsetzen. Der Römerbrief ist aber nicht nur ein Spiegel von Gedanken, die damals viele Menschen bewegten, sondern vor allem ein ganz persönliches Bekenntnis des Paulus, in dem er Rechenschaft darüber ablegt, wie er das Judentum reformieren will. Im Nachhinein sehen wir, dass er ein scheiternder Reformator war. Schon im Römerbrief gibt es Anzeichen für dieses Scheitern. Denn Paulus ist sich nicht nur der Bedrohung seines Lebens bewußt, er fürchtet auch um sein Lebenswerk. Eine prospektive Lektüre des Römerbriefs zeigt, wie im Laufe des Römerbriefes diese Furcht des Paulus immer deutlicher zum Ausdruck kommt.

Die soziale Dynamik der Universalisierung und die psychologische Dynamik innerer Konflikte führen im Römerbrief zu Spannungen, die man in theologischer Sprache „Anfechtungen“ nennt. Sie beleuchten ein Problem, das bei Universalisierungsbewegungen immer wiederkehrt. Wenn wir uns für andere Menschen öffnen, geraten wir in Konflikte mit uns selbst – auch mit jenem inneren Widerstand, der in jedem Menschen gegen das Fremde vorhanden ist und der im Widerspruch zu jener Faszination steht, die gerade von Fremdem ausgeht. Diese Spannungen besprechen wir im zusammenfassenden und auswertenden Kapitel 8.

Unsere Auslegung basiert auf einer Kombination von bildsemantischen, sozialgeschichtlichen und psychologischen Ansätzen, die wir für eine theologische Exegese fruchtbar machen wollen. Uns ist dabei bewusst: Psychologische Exegese und Sozialgeschichte stießen am Anfang oft auf Misstrauen in der Theologie. Dass sie sich mit einer theologischen Auslegung vereinbaren lassen, zeigt jedoch die Religionshermeneutik P. Ricœurs. Deren Grundgedanke ist, dass religiöse Symbole und Bilder zu denken geben. Sie sind entstanden aus menschlichen Wünschen und Ansprüchen. Deswegen zeigen sie Spuren einer „Ökonomie“ der Macht, der Angst und des Wunsches. Das ist ihre Archäologie, die wir durch Rückgang auf psychische und soziale Faktoren manchmal aufdecken können. Zugleich aber weisen sie in ihrer Teleologie nach vorne. Sie motivieren dazu, weiter zu denken. Sie lassen eine Transzendenz aufleuchten, die sich in Bildern erschließt,9 können aber nie voll und ganz in rationale Gedanken verwandelt werden. Menschliche Endlichkeit und Schuld verhindern die Verwandlung religiöser Bilder in unmittelbar einleuchtende Gedanken. Daher haben die „Symbole des Bösen“ bei P. Ricœur eine Schlüsselstellung für das Verstehen religiöser Texte.10 Paulus könnte dem zustimmen. In 1,18–32 bietet er eine psychologische Deutung des Sündenfalls in einer beeindruckenden „Entmythologisierung“ der biblischen Tradition. Die Menschen hatten die Chance, Gott zu erkennen, aber weil sie ihn nicht als Gott verehrten, verdunkelte sich ihr Herz und ihre Gotteserkenntnis.

Wenn wir in diesem Buch die reformatorische Deutung der Rechtfertigungslehre und die New Perspective on Paul zusammenführen, so geschieht das in Übereinstimmung mit einer breiten Tendenz in der gegenwärtigen Paulusexegese. Um deren Situation transparent zu machen, stellen wir im folgenden Kapitel in einem Durchgang durch die Forschungsgeschichte die wichtigsten Positionen ausführlicher dar.11

Exkurs 1: Vorbemerkungen zur Terminologie

Wir folgen in der Regel dem traditionellen Sprachgebrauch. Wir übersetzen Ἰουδαῖοι (Ioudaíoi) mit Juden.12 „Jude“ steht im Römerbrief in Opposition zu „Grieche“ (1,16; 3,9; 10,12), ohne dass ein Bezug zu Judäa oder Griechenland erkennbar wäre. Die Definition eines „Juden“ in 2,17–24 nennt die Bindung an das Gesetz, nicht aber an das Land.13 Dass sich die Bedeutung von Ἰουδαῖοι/Ιoudaíoi in der Antike von „Judäern“ zu „Juden“ entwickelt hat, ist unbestreitbar. Das Neue Testament zeigt zwar Spuren dieses Bedeutungswandels, setzt ihn aber schon voraus.14

Ferner nennen wir Gemeindeglieder Christen. Nach Apg 11,26 wurden sie schon in Antiochien Χριστιανοί/Christianoí genannt, wie Anhänger des Herodes im Judentum Ἡρωδιανοί/Herōdianoí genannt wurden. Der Begriff „Christen“ ist daher kein Anachronismus. Er bezeichnete am Anfang nicht die Angehörigen einer neuen Religion neben dem Judentum. Wir benutzen oft in gleicher Bedeutung den Begriff Christusanhänger. Er bringt deutlicher zum Ausdruck, dass diese Christusanhänger genauso wie die Herodesanhänger zum Judentum gehörten. Gegner des Paulus haben den heidnischen Christusanhängern die Zugehörigkeit zum Judentum bestritten, wenn diese nicht Beschneidung und Speisegebote übernehmen. Paulus wirft diesen Gegenern vor: „Sie wollen euch ausschließen“ (Gal 4,17). Wir sollten ihre polemische Ausgrenzung der damaligen „Christen“ aus dem Judentum nicht übernehmen. Diese Gegner hatten nur darin Recht, dass diese Christusanhänger tatsächlich auf dem Weg waren, eine Religion neben dem Judentum zu bilden. Das war gegen die Intention des Paulus, auch wenn er faktisch dazu beigetragen hat.

Wir verzichten schließlich nicht auf den Begriff der Religion.15 Er bezeichnet die Überzeugungs- und Lebenswelt von Gemeinschaften, die sich durch Mythen, Riten und Normen auf eine transzendente Realität beziehen, wobei diese drei Ausdrucksformen in jeder Religion sehr verschieden gestaltet und gewertet werden können. Uns ist bewusst, dass es keine allgemein gültige Definition von Religion gibt, wir meinen aber, dass unsere Definition nicht allzu „extrem“ ist. Sie erhebt nicht den Anspruch, Religion sei ein autonomer Bereich der Kultur. Wir meinen aber, dass schon das antike Judentum auf dem Weg zu dieser „Autonomie“ war, da es das Leben konsequent vom Glauben an den einen und einzigen Gott her formen wollte. Alles in ihm ist eingebettet in das Leben des Volkes.16 Insofern war das antike Judentum eine embedded religion. Dennoch sollte man den Religionsbegriff nicht durch Begriffe wie Ethnizität ersetzen.17Juden sind gewiss ein Ethnos. Aber man wird diesem Ethnos nur gerecht, wenn man der Religion eine besondere Bedeutung zuschreibt. Denn in ihm war die Hoffnung lebendig, dass sich einst alle Menschen in der Verehrung des einen und einzigen Gottes vereinen werden. Zur ethnischen Identität des Judentums gehört die Hoffnung auf solch eine zukünftige transethnische Identität. Viele im damaligen Judentum deuteten ihre Situation als letzte Zeit vor einer Wende der Welt. Sie erwarteten: In der neuen Welt werden alle traditionellen Kategorien aufgehoben.

Die Abkürzungen biblischer Bücher einschließlich der Apokryphen und Pseudepigraphen folgen der RGG4. Den Römerbrief zitieren wir oft nur mit Ziffern, ohne „Röm“ vorwegzuschicken. Die paganen antiken Autoren werden nach DNP abgekürzt, Josephus und Philo sowie die Rabbinica nach Schwertner 3. Auflage, ebenso Reihen und Zeitschriften. Originalsprachliche griechische Zitate sind nach DNP 1,X transkribiert. Wir hoffen so, für Leserinnen und Leser, die nicht Griechisch lesen können, viele Beziehungen im Text bewusst zu machen, die durch Ähnlichkeiten und Gleichklang entstanden sind. Sekundärliteratur wird nur mit Autor und einem Kurztitel angeführt. Letzterer erscheint im Literaturverzeichnis kursiv.

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1 Vgl. THEISSEN, Polyphones Verstehen.

2 Zur Metaphern- und Bildfeldanalyse vgl. v. GEMÜNDEN, Vegetationsmetaphorik, 4–49. THEISSEN, Soteriologische Symbolik, ist ein erster Versuch, die gesamte paulinische Theologie als Bilderwelt zu deuten. Eine bildsemantische Analyse des Römerbriefs ist: THEISSEN/v. GEMÜNDEN, Metaphorische Logik, überarbeitet in v. GEMÜNDEN, Affekt und Glaube, 248–276.

3 Vgl. SOLON, Erlösung. Die Frage nach der Überwindung von Leid ist bei D. Solon von befreiungstheologischen Gedanken inspiriert.

4 Zur sozialgeschichtlichen Exegese: HOCHSCHILD, Sozialgeschichtliche Exegese.

5 Vgl. ALVAREZ CINEIRA, Religionspolitik.

7 Vgl. THEISSEN, Menschenbild.

8 Der zentrale Gedanke der Diskursanalyse ist nach Foucault die Steuerung der Gedanken durch gesellschaftliche Macht, nämlich „dass in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwer und bedrohliche Materialität zu umgehen“ (FOUCAULT, Ordnung, 10 f). Zur Anwendung auf das Neue Testament vgl. NEUMANN, Diskurs. Eine Analyse des Römerbriefs als Niederschlag eines Dialogs mit verschiedenen jüdischen Strömungen findet sich in THEISSEN, Letter.

9 Zur Hermeneutik P. Ricoeurs vgl. LUZ, Hermeneutik, 372–381. Sie wurde in Deutschland sehr einseitig in der Bibelhermeneutik rezipiert. Vgl. THEISSEN, Verschwinden.

10 Vgl. RICOEUR, Symbolique.

11 Einen umfassenden Überblick über die neuere Paulusforschung geben WESTERHOLM, Perspectives; BARCLAY, Gift, 79–182. Kurze Überblicke geben: STRECKER, Paulus; GERBER, Blicke; SCHLIESSER, Paulustheologien; GATHERCOLE, Deutsche Erwiderungen.

12 Für „Judäer“ plädiert mit Nachdruck ESLER, Conflict, 63–74.

13 Wo Paulus mit seinen Gedanken in Judäa und Jerusalem weilt wie in Röm 9–11, spricht er nur zweimal von Juden (9,24; 10,12), elfmal dagegen von „Israel“ bzw. „Israeliten“.

14 COHEN, Beginning, datiert diesen Bedeutungswandel ins 1. Jh. v. Chr. Die Übersetzung von Ioudaîoi mit Judäer ist u. E. nur dann zu erwägen, wenn im Kontext ein Bezug zu Judäa sichtbar ist wie in 1Thess 2,14.

15 Die „Dekonstruktion“ des Religionsbegriffs wendet sich gegen einen „Essentialismus“, der das zeitlose Wesen der Religion zu kennen meint. Die Ablehnung dieses Begriffs basiert aber manchmal auf einem ebenso naiven semantischen „Essentialismus“, als sei ein Wort für immer auf seine Bedeutung festgelegt. Aus der zahlreichen Literatur nennen wir nur WEINRICH, Religion, 11–24; BERGUNDER, Was ist Religion.

16 Vgl. THEISSEN, Religion der ersten Christen, 17–37.

17 Vgl. ESLER, Conflict, 41–76, hier das Kapitel: Ethnicity, Ethnic Conflict, and the Ancient Mediterranean World; ders., Judean Ethnic Identity; GUTTENBERGER, Ethnizität; GELARDINI, Religion.

1. Kapitel: Die Kritik an der reformatorischen PaulusdeutungEine forschungsgeschichtliche Einführung

Die folgende Skizze der Forschungsgeschichte soll deutlich machen, was wir den vielen Vorgängern jeweils verdanken und wo wir von ihnen abweichen. Dabei geht es nicht nur um die Geschichte exegetischer Hypothesen. Historische Arbeiten zu Paulus sind oft durch die Frage nach christlicher Identität motiviert. Schon Paulus selbst definierte, was Christen und Juden unterscheidet. Protestanten grenzten sich unter Berufung auf ihn von Katholiken ab. Liberale spielten Jesus gegen Paulus aus. Dialektische Theologen erneuerten unter Rückgriff auf ihn ihren christlichen Glauben. Paulus diente entweder der christlichen Identitätsfindung oder der Konstruktion einer negativen religionskritischen Identität: Für Friedrich Wilhelm Nietzsche (1844–1900) war er Inbegriff von „Sklavenmoral“ und Lebensfeindlichkeit.1

1.1 Luthers Verständnis der Rechtfertigungslehre

Jede Paulusinterpretation muss sich mit der reformatorischen Sicht des Paulus auseinandersetzen. Ausgangspunkt der reformatorischen Bewegung war die Frage Martin Luthers (1483–1546): „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“2 Die Antwort lautete: durch Gottes Freispruch im Gericht sola gratia, sola fide, sine lege. Der Mensch wird durch Gottes Urteil ein Gerechter, obwohl er ein Sünder ist. Er ist simul iustus et peccator. Sein Verhältnis zu Gott wird dabei juridisch gedeutet. Gott ist der Richter, der den Sünder freispricht und ihm seine Gerechtigkeit schenkt. Gewissheit dafür geben der Glaube an den stellvertretenden Tod Christi, der den Menschen von Sünden befreit, und der Glaube an seine Auferstehung. Der freigesprochene Mensch hat teil an dessen Gerechtigkeit. In seiner Vorrede zu seinen lateinischen Werken hat Luther 1545 den Durchbruch zu seiner reformatorischen Erkenntnis als ein neues Verständnis von Röm 1,17 beschrieben. Bis dahin hatte er die Gerechtigkeit Gottes, die sich im Evangelium offenbart, als eine formale Gerechtigkeit verstanden, die den Sünder straft und den Gerechten belohnt. Dann fährt er fort:

Ich aber liebte den gerechten und die Sünder strafenden Gott nicht, ja ich hasste ihn; denn ich fühlte mich, so sehr ich auch immer als untadeliger Mönch lebte, vor Gott als Sünder mit einem ganz und gar ruhelosen Gewissen und konnte das Vertrauen nicht aufbringen, er sei durch meine Genugtuung versöhnt. So zürnte ich Gott, wenn nicht in geheimer Lästerung, so doch mindestens mit gewaltigem Murren, indem ich sagte: Nicht genug damit, dass die elenden und ewig verlorenen Sünder infolge der Erbsünde mit Unheil aller Art durch das Gesetz der Zehn Gebote bedrückt werden – nein Gott will [auch noch] durch das Evangelium auf den alten Schmerz einen neuen Schmerz häufen und auch durch das Evangelium uns seine Gerechtigkeit und seinen Zorn drohend entgegenhalten! So raste ich mit wütendem und verstörtem Gewissen, und doch schlug ich mich an jener Stelle rücksichtslos mit Paulus herum, da ich glühend danach lechzte, zu wissen, was St. Paulus wolle. So lange bis ich endlich unter Gottes Erbarmen, Tage und Nächte lang nachdenkend, meine Aufmerksamkeit auf den [inneren] Zusammenhang der Worte richtete, nämlich „Die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben“, – da begann ich die Gerechtigkeit Gottes verstehen zu lernen als die Gerechtigkeit, in der der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, und zwar aus dem Glauben, und ich fing an zu verstehen, dass dies die Meinung ist, es werde durchs Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, nämlich die passive, durch welche uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus dem Glauben. Hier fühlte ich mich völlig neugeboren und als wäre ich durch die geöffneten Pforten ins Paradies selbst eingetreten. Da zeigte mir sogleich die ganze Schrift ein anderes Gesicht. Darauf durchlief ich die Heilige Schrift, wie’s das Gedächtnis mit sich brachte, und sammelte auch in anderen Ausdrücken die entsprechende Übereinstimmung, wie zum Beispiel ‚Werk Gottes‘, d. h.: das Werk, das Gott in uns schafft; ‚Kraft Gottes‘, durch welche er uns kräftig macht; ‚Weisheit Gottes‘, durch welche er uns weise macht; ‚Stärke Gottes‘, ‚Heil Gottes‘, ‚Ehre Gottes‘. So groß vorher mein Hass war, womit ich das Wort ‚Gerechtigkeit Gottes‘ gehasst hatte, so groß war jetzt die Liebe, mit der ich es als allersüßestes Wort rühmte, so ist mir diese Stelle des Paulus wahrhaftig zu einer Pforte des Paradieses geworden.3

Diese retrospektive Selbstdarstellung konzentriert eine über längere Zeit hinweg entstandene Erkenntnis auf einen einzigen Augenblick – auch wenn Luther selbst in einer Tischrede 1532 seine Erkenntnis gelegentlich auf ein einmaliges Turmerlebnis zurückgeführt hat.4 Wahrscheinlich ist seine Erkenntnis aber Stück für Stück entstanden. Der Mönch Luther deutete in der Tradition spätmittelalterlicher Mystik das Gewissen als innere Höllenfahrt, die umschlägt in die Seligkeit einer Übereinstimmung mit Gottes Willen, wenn der Mensch Gottes vernichtendem Urteil zustimmt.5 In dieser Tradition war Gerechtigkeit Gottes die neutrale Eigenschaft des Richters. Dieses Gottesbild muss Groll gegen Gott schaffen. Gott gibt dem Menschen Gebote, die ihn vernichten. Dabei war weniger die Erfüllung der Gebote Luthers Problem – er war ein vorbildlicher Mönch –, sondern seine Unfähigkeit, einen solchen Gott zu lieben. Es muss in Luther irgendwann ein Durchbruch geschehen sein, bei dem die Zustimmung zum vernichtenden Willen Gottes durch die Gewissheit einer unbedingten Bejahung durch Gott ersetzt wurde. Das Ergebnis war die reformatorische Erkenntnis: Gerechtigkeit Gottes ist die parteiische Gerechtigkeit Gottes für den Sünder. Mit dieser Überzeugung hob Luther das auf Angst basierende Buß- und Kontrollsystem der Kirche aus den Angeln. Seine Reformation entwickelte ab 1525 freilich eine Eigendynamik und verselbständigte sich ihm gegenüber.6

Er erscheint uns heute als ein Mensch mit zwei Seiten:7 als ein introvertierter Mönch mit Gewissenskonflikten auf der einen, als extrovertierter Kirchenpolitiker auf der anderen Seite. Der introvertierte Mönch gelangte zu einer Heilsgewissheit, mit der er die Kirche verwandelte. Der Kirchenpolitiker nutzte neue Instrumente wie Disputation, Buchdruck und Flugblätter zur Durchsetzung seiner Ideen.

Als Kirchenpolitiker hatte er problematische Seiten. Die Idee vom allgemeinen Priestertum der Laien wertete die Gemeinde auf, führte aber auch dazu, die Kirche an die Territorialfürsten auszuliefern; diese sollten als Laien Verantwortung in ihr übernehmen. Im Bauernkrieg zeigte er zunächst Verständnis für die Forderungen der Bauern, schlug sich aber am Ende auf die Seite der Fürsten. Um Juden warb er in seiner Frühzeit, als er aber 1545 den Durchbruch seiner reformatorischen Erkenntnis beschrieb, hatte er schon seine antijüdischen Hassschriften (zwischen 1538 und 1543) verfasst. Seine Polemik gegen Papst und Papisten wirkt auf uns abstoßend.

Luther selbst veranschaulicht, was es heißt, simul iustus et peccator zu sein. In Ausfällen gegen Bauern, Papisten und Juden war er ein Sünder, im Vertrauen auf Gottes Gnade ein Gerechter. Aber er hat bewirkt, was keiner vor ihm bewirkt hat: eine Reform der Kirche und in diesem Zusammenhang die Emanzipation des Einzelnen von der Kirche, ein persönliches Verstehen von Bibel und Glauben, die Aufwertung der weltlichen Berufe.8 Er hat mit seinen Ideen gewirkt, selbst wenn sie oft kompromittiert wurden – mit der Trennung von Person und Werk, der Idee des allgemeinen Priestertums, der Unterscheidung von zwei Reichen, der Freiheit des Glaubens und der Warnung vor Gewalt in Glaubensfragen. Nicht Gewalt, sondern allein das Wort (non vi sed verbo) soll in der Kirche herrschen. Vor allem aber hat Luther einen die ganze Gesellschaft umfassenden Diskurs über Grundfragen von Glauben und Leben eingeleitet, der bis heute nicht verstummt ist. Er war dabei von Paulus inspiriert, auch wenn er bei Paulus oft neue Akzente setzte.9 Paulus war in jedem Fall sein großes Vorbild, wenn er seiner Zeit und seiner Kirche widersprach.10

Der öffentliche Luther war in der Reformation nur einer unter vielen Theologen, Prädikanten, Lehrern und Politikern. Der von ihm provozierte öffentliche Diskurs hatte eine Eigendynamik. Insofern schlug die Entwicklung der Reformation bald eine Richtung ein, die Luther von sich selbst entfremdet hat. Dennoch setzten sich Grundzüge seiner theologischen Gedanken durch. Wir fassen sie im Folgenden in zehn Punkten zusammen:11

(1)Der Mensch ist Gottes Ebenbild, seine Ebenbildlichkeit ist aber durch Sünde so nachhaltig zerstört, dass seine Gotteserkenntnis unvollkommen, sein Handeln verwerflich und seine Verurteilung durch Gott gerecht ist.

(2)Grund des Heils ist Christus (solus Christus). Sein Tod und seine Auferstehung geschehen stellvertretend für alle Menschen. Das Sterben mit dem Gekreuzigten befreit sie von ihren Sünden, das Leben in Christus gibt ihnen Anteil an der Gerechtigkeit des Auferstandenen. Es sichert ihnen das positive Urteil Gottes zu. Der Mensch wird im Glauben mit Christus eins, so dass auch Gott ihn in seinem Urteil mit Christus identifizieren kann.

(3)Das Evangelium ist die Botschaft, dass Menschen allein durch Gnade (sola gratia) gerechtfertigt werden. Ihre Rechtfertigung ist so real wie alles, was Gott durch sein Wort schafft. Der Christ ist zugleich Gerechter und Sünder (simul iustus et peccator): faktisch (in re) ist er ein Sünder, in Gottes Urteil (coram Deo) aber schon jetzt und in Hoffnung auf den Freispruch im Jüngsten Gericht in spe ein Gerechter. Jeden Tag vollzieht er neu eine Umkehr vom Sünder zum Gerechten.

(4)Aneignung und Verwirklichung des Heils geschehen allein durch Glauben (sola fide), nicht durch Werke. Zwischen Person und Werk ist zu unterscheiden. Gott verwirft die schlechten Taten des Menschen, spricht aber seiner Person unbedingten Wert zu. Der Mensch ist mehr als seine Werke und Taten.

(5)Das Wort Gottes vermittelt Heil als forderndes Gesetz und freisprechendes Evangelium. Es ist als Gesetz und Evangelium in der Schrift für jeden verständlich. Allein die Schrift (sola scriptura) ist Grundlage für die Verkündigung des Evangeliums. Ihre Klarheit, die claritas scripturae, wird durch das innere Wort als verbum internum des Heiligen Geistes bewirkt, das zum äußeren Wort als verbum externum hinzutritt. Das Verhältnis zwischen verbum internum und externum ist in der Reformation freilich umstritten.

(6)Gute Werke dienen nicht dem eigenen Heil, sondern dem Nächsten. Sie werden um ihrer selbst und dem Nächsten zuliebe getan, nicht aber, um vor Gott im Gericht zu bestehen. Der Heilige Geist motiviert dazu, die Gebote Gottes zu erfüllen. Die Heiligung des Lebens ist Folge der Rechtfertigung.

(7)Das Gesetz regelt im usus politicus das Zusammenleben aller Menschen, macht im usus elenchticus Sünde und Angewiesenheit auf Gnade bewusst, und gibt im (umstrittenen) tertius usus legis den erneuerten Christen Orientierung.

(8)Es gibt einen grundsätzlichen Unterschied zwischen dem Reich der Welt mit der Notwendigkeit, Zwang zugunsten anderer Menschen verantwortlich auszuüben und zu begrenzen, und dem Reich Gottes, das frei ist von jedem Zwang. Die beiden Reiche sind „zwei Regimente Gottes“, in denen ein und derselbe Gott in verschiedener Weise regiert.

(9)Die Riten des alttestamentlichen Gesetzes verweisen symbolisch auf Christus und das Heil. Die neutestamentlichen Riten verheißen als Sakrament kein Heil zusätzlich zum Wort, sondern vermitteln als sichtbares Wort (verbum visibile) Gewissheit des Heils. Christus ist in Wort und Sakrament (freilich in einer zwischen den Reformatoren umstrittenen Weise) präsent.

(10)Die Kirche wird durch das Wort geschaffen; sie ist creatura verbi. Die Schrift ist ihr vorgeordnet. An ihr müssen kirchliche Tradition und Autorität gemessen werden. Gegen deren Überbewertung wendet sich das sola scriptura. Kirche ist überall, wo das Evangelium durch Wort und Sakrament verkündigt wird. In ihr gilt das allgemeine Priestertum, das alle Christen gleich stellt, auch wenn die Konsequenzen daraus unter den Protestanten umstritten sind.

Über viele Fragen herrscht Dissens unter Protestanten, z. B. darüber, ob und wie die Sünde im Leben der Glaubenden weiter wirksam ist, ob die Gnade unwiderstehlich wirkt, ob es eine Prädestination zum Heil gibt, wie Christus in den Sakramenten präsent ist, wie das „innere Wort“ sich zum äußeren Wort verhält, wie sich die Gleichheit aller Christen in der Kirche realisiert. Aber es bleiben die oben genannten Grundzüge des Protestantismus, die fast alle auf Paulus zurückgehen.

Die neuere Paulusexegese hat sich freilich z. T. entschieden gegen dieses reformatorische Bild der paulinischen Theologie gewandt. Sie hat Luther für ein angeblich verzerrtes Paulusbild verantwortlich gemacht. Wenn Luther Paulus missverstanden haben sollte, stünde er freilich in einer langen Tradition des Missverstehens, die bis zu Augustinus zurückgeht.12 Luther blieb auch nicht der Letzte in dieser Tradition. Ihm folgten Johannes Calvin (1509–64), John Wesley (1703–91) und der Neutestamentler Rudolf Bultmann (1884–1976). Als sich 1999 die katholische Kirche und der lutherische Weltbund über die Rechtfertigungslehre verständigten, legten sie das traditionelle protestantische Verständnis der Rechtfertigung zugrunde, nicht die Ergebnisse der modernen „entlutheranisierenden“ Paulusexegese.13

1.2 Erlösung als Verwandlung: Die erste „Entlutheranisierung“ des Paulus in der liberalen Theologie14

Die Loslösung der Paulusinterpretation von Martin Luther begann mit dem Tübinger Neutestamentler Ferdinand Christian Baur (1792–1860). Paulus ist für Baur der Vertreter eines Universalismus, der in Konflikten die Universalität der neuen Religion durchsetzte. Seine Gegner seien als Anhänger des Petrus partikularistisch denkende Judenchristen gewesen. Der Römerbrief wende sich gegen judenchristlichen Partikularismus, die Auseinandersetzung mit Israel in Röm 9–11 sei daher der Höhepunkt des Briefes.15 Baur nimmt eine entscheidende Einsicht der New Perspective on Paul vorweg. Für Paulus ist die Überwindung sozialer Schranken genauso wichtig wie die Überwindung individueller Sünde. Jedoch sieht die New Perspective das Judentum weit positiver als Baur. Es macht einen Unterschied, ob Paulus das Judentum überwindet oder seine Werte für alle Menschen öffnet.

Der zweite Schritt dieser Entlutheranisierung des Paulus problematisierte die Überwindung individueller Sünden durch Freispruch des Sünders. Luther dachte hier (nach protestantischer Tradition) in forensischen Kategorien. Hermann Lüdemann (1842–1933) entdeckte dagegen bei Paulus zwei Erlösungslehren,16 eine ethisch-juridische Erlösungslehre, nach der Menschen gerecht gesprochen werden, und eine naturhafte, nach der Menschen durch die Taufe verwandelt werden. Die ethisch-juridische Erlösungslehre entspreche der jüdischen Herkunft des Paulus, die naturhafte seiner Anpassung an den Hellenismus. Dass der Mensch effektiv verwandelt werde, sei ihm sachlich ebenso wichtig wie die Zuversicht, dass er im Gericht freigesprochen wird.

Wilhelm Wrede (1859–1906) kehrte diese Entwicklung um.17 Die naturhafte Erlösungslehre sei die ursprüngliche Position des Paulus, die juridische Rechtfertigungslehre eine sekundäre Kampflehre, die Paulus in Reaktion auf judaistische Gegenmissionare entwickelt habe. Sie stamme nicht aus seiner Bekehrungserfahrung, sondern aus den sozialen Konflikten im frühen Urchristentum.18 Sie sei als „Kampflehre“ auch nicht das Herz der paulinischen Theologie. Das sei die naturhafte Verwandlungslehre. Mit ihr rückt Paulus in die Nähe katholischer Auffassungen, die sagt, dass durch Taufe und Abendmahl Menschen effektiv verwandelt werden.19

Wenn die juridische Erlösungslehre sekundär, die Verwandlungslehre primär ist, fällt es schwer, letztere aus nicht-jüdischen Quellen abzuleiten – es sei denn, man nimmt an, Paulus hätte sie schon in seiner Jugend in Tarsos aus hellenistischen Mysterienreligionen in sich aufgesogen.20 Albert Schweitzer (1875–1965) fand eine überzeugendere Lösung.21 Auch für ihn war die Rechtfertigungslehre ein „Nebenkrater“ der paulinischen Theologie, aber er unterschied neben der juridischen und mystischen noch eine dritte, eschatologische Erlösungslehre. Erst der Glaube an die Verwandlung der Welt habe den Glauben an die Wandlung des Menschen möglich gemacht. Dieser Glaube an die Verwandlung der Welt aber sei ein Erbe der jüdischen Apokalyptik. Die Christusmystik sei daher keine Übernahme hellenistischer Ideen, sondern erkläre sich aus jüdisch-apokalyptischen Traditionen heraus, vor allem als Verarbeitung der Parusieverzögerung. Je mehr sich das nahe Ende der Welt hinauszögerte, desto mehr erfuhr der einzelne in einer „eschatologischen Mystik“ schon hier und jetzt eine Verwandlung.

Auch wenn W. Wrede und A. Schweitzer zusammen mit anderen Vertretern der „religionsgeschichtlichen Schule“ bewusst die Fremdheit der neutestamentlichen Gedankenwelt herausarbeiteten, ist ihr Paulusbild zeitbedingt. Es ist der Paulus der Lebensphilosophie, die das religiöse Erleben ins Zentrum stellte und Mystik als dessen Vollendung betrachtete.22 Ihre Paulusdeutung machte ihn für moderne Menschen insofern zugänglicher, als sie den Sühnetod Christi an den Rand rückte. Wichtiger war die Christusmystik des Seins in Christus und des Sterbens mit Christus, die den Christen aus einer vergehenden Welt herausreißt und sein Leben verwandelt.

In unserer Auslegung knüpfen wir an die Entdeckung mehrerer „Heilskonzeptionen“ bei Paulus an. Wir unterscheiden freilich noch mehr Heilskonzepte bei Paulus, neben der Gesetzesfrömmigkeit eine Rechtfertigungs-, eine Verwandlungs- und eine Erwählungslehre. Wir betonen die Widersprüche und Spannungen zwischen ihnen. Erwählung setzt eine unendliche Distanz zwischen Gott und Geschöpf voraus und steht in Spannung zur Christusmystik der Verwandlungslehre. Dieses Transzendenzbewusstsein drohte in der „liberalen“ Paulusauslegung verloren zu gehen.

1.3 Erlösung als existenzielle Erneuerung: Die Erneuerung der Rechtfertigungslehre in der Existenzialtheologie

Die dialektische Theologie erneuerte das Bewusstsein einer Distanz zwischen Gott und Mensch. Rudolf Bultmann (1884–1976) übernahm dabei Ergebnisse der „liberalen“ religionsgeschichtlichen Schule, indem er die reformatorische „Rechtfertigungslehre“ durch eine existenzial gedeutete „Verwandlungslehre“ modernisierte. Er begründete die Rechtfertigung in einer existenziellen Verwandlung mit Christus, nicht durch das Sterben Christi für uns. Durch Mitsterben mit Christus gelangt der Mensch in ein neues Leben, das er ausschließlich Gott verdankt. Er hat sein altes Leben hinter sich gelassen und ist dadurch „gerechtfertigt“. Zentrale Aussagen sind: „Wer gestorben ist, ist gerechtfertigt von der Sünde“ (6,7), denn er „ist der Sünde ein für allemal gestorben“ (6,10). Damit konnte Bultmann den „Sühnegedanken“ existenzial deuten, d. h. nicht als objektives Geschehen, sondern als subjektive Verwandlung der Existenz. Wir knüpfen daran an, halten aber gegen Bultmann fest, dass Paulus die Heilsbedeutung des Todes Jesu mit verschiedenen Bildern zum Ausdruck gebracht hat, die neben der Vorstellung der Verwandlung mit Christus ihr Eigengewicht haben. Der Tod Jesu gilt auch als Sühne, Ärgernis23 und Versöhnung.24 Da Paulus mit dem Sühnegedanken in 3,25 die Wende vom Unheil zum Heil einleitet, muss er ihm sehr wichtig gewesen sein. Es stellt sich daher die Aufgabe, seine Bedeutung im Römerbrief zu verstehen und ihn für die Gegenwart so zu deuten, dass er die menschliche Existenz erhellen kann.25

Bultmann hat nicht nur die Sühne, sondern auch die Sünde existenzial gedeutet. Abwendung von der Sünde ist Abkehr von einer Existenz, die nicht nur durch Gesetzesübertretungen gezeichnet ist, sondern durch den Willen, das Gesetz erfüllen zu wollen. Nicht nur Unmoral, sondern auch Moralismus wird als Entfremdung von Gott erkannt. Die zentrale Sünde ist, sich durch Erfüllung des Gesetzes wahres Leben „eigenmächtig“ verschaffen zu wollen. Damit wurde Bultmann der Problematisierung aller Moral in der Neuzeit gerecht. Die Aufgabe besteht in der Neuzeit ja nicht nur darin, anerkannte Normen zu realisieren, sondern angesichts der Erschütterung aller Normen eine Moral zu entwerfen. Der moderne Mensch ist hier zu eigenmächtigem Handeln „verurteilt“. Er muss Normen Anerkennung verschaffen. Paulus musste in seiner Zeit keine neue Moral entwerfen. Aber er kritisierte nicht nur ein normatives Versagen angesichts eines unumstrittenen Gesetzes, sondern auch eine verfehlte existenzielle Orientierung am Gesetz. Ja, er kritisierte das Gesetz selbst.

Bultmann hat neben der Vorstellung der „Sühne“ und dem Konzept der „Sünde“ auch das Judentum existenzial gedeutet. Es verkörpert für ihn die Möglichkeit des Menschen, die Erfüllung seines Lebens auf eigene „Werke“ zu bauen. Er nimmt es im Lichte des protestantischen Gegensatzes von Gesetz und Evangelium wahr. Zum sündigen Verhalten „nach dem Fleisch“ gehöre „auch die eifrige Erfüllung des Gesetzes, sofern der Mensch dadurch aus eigener Kraft die Gerechtigkeit vor Gott zu erringen meint“.26 Bultmanns Aussagen treffen nur Teile des Judentums.27 Bultmann fand „Werkgerechtigkeit“ freilich nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Judentums: „Der Hochmut, der im jüdischen Bereich als der Eifer der Gesetzeserfüllung und der Stolz auf die Leistungen wie auf die israelitischen Ehrentitel zur Entfaltung kommt, erscheint in der hellenistischen Welt als das Weisheitsstreben und als der Stolz auf Erkenntnis und pneumatische Begabung“.28 Die Alternative von Gesetz und Evangelium gehört für Bultmann also zum Menschsein und ist in allen Kulturen und Religionen als Möglichkeit vorhanden – auch im Christentum.

Schließlich rückte Bultmann juridische Kategorien wieder ins Zentrum der paulinischen Theologie. Das Scheitern der alten Existenz begreift er als Gericht Gottes, die Rechtfertigung als Freispruch durch Gottes Wort. Reformatorische Begriffe wie „Wort Gottes“, „Gericht“, „Rechtfertigung“ und „Glauben“ wurden wieder Schlüsselbegriffe der Auslegung. Jedoch trat eine, wie wir gesehen haben, für die Reformatoren zentrale Lehre in den Hintergrund: der Sühnetod Jesu für die Sünden der Menschen. Diese Vorstellung ist für Bultmann ein Mythos.29 Er widerspreche der Einheit der Person, die nur für sich selbst eintreten und nicht die Stelle eines anderen übernehmen könne. Bultmann leugnete exegetisch freilich nicht, dass der Sühnetod Jesu für Paulus wichtig war, aber interpretierte ihn hermeneutisch in ein existenzielles Sterben mit Christus um.30

Der Existenzialismus war eine Antwort auf die Krisen Europas in zwei Weltkriegen und totalitären Diktaturen. Im Existenzialismus behauptete der Mensch die Freiheit seiner bedrohten Existenz. Bultmann stand während der NS-Herrschaft vorbildlich dafür ein. Sein Entwurf eines Christuskerygmas, das den Menschen in der Welt aus dieser Welt befreit, ist auch eine Antwort auf die Krisenzeit, in der er lebte. Gegen den gegenwärtigen exegetischen Trend knüpfen wir in diesem Buch positiv an Bultmann an, auch wenn wir sein Bild vom Judentum nicht teilen und die „Christusmystik“ bei Paulus für zentral halten. Letztere dient einem Anliegen, für das gerade die dialektische Theologie Verständnis hat: Wie kann der Mensch Gott entsprechen? Paulus sagt, er entspreche ihm durch Verwandlung seines Wesens in der „Christusmystik“. Deren Perhorreszierung durch die dialektische Theologie hinderte Bultmann daran, Erkenntnisse der liberalen Exegese an dieser Stelle positiv aufzugreifen.31

1.4 Erlösung als universales Heil: Die zweite Entlutheranisierung in der New Perspective on Paul

Nach der Renaissance einer reformatorischen Paulusdeutung bei R. Bultmann kam es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer zweiten Entlutheranisierung. Sie unterschied sich von der ersten durch eine Revision unseres Bildes vom Judentum. Diese Revision begann in der alttestamentlichen Wissenschaft. Gegen die Kritik der „Deutschen Christen“ am Alten Testament hatten Gerhard von Rad (1901–1971) und Martin Noth (1902–1968) gezeigt, dass im Alten Testament der Bund Gottes konstitutiv ist, während das Gesetz nur eine regulative Bedeutung innerhalb dieses Bundes hat, damit Menschen in ihm bleiben. Der Indikativ gehe dem Imperativ voran.32