Inhaltsverzeichnis
Widmung
Vorwort
§ 1 Einleitung: Das Programm einer Theorie der urchristlichen Religion
Copyright
Den Theologischen Fakultätender Universität Glasgow und St. Andrewsals Dank für die Verleihung der Ehrendoktorwürde gewidmet
Vorwort
Dies Buch ist der Versuch einer religionswissenschaftlichen Beschreibung und Analyse der urchristlichen Religion. Sie möchte ihren religiösen Gehalt so darstellen, dass er für Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder nicht-religiösen Einstellung zugänglich wird. Zwar gibt es viele Darstellungen der Geschichte des Urchristentums und seiner Literatur, die keine spezifischen Positionen voraussetzen. Was fehlt, ist eine entsprechende Darstellung der urchristlichen Religion, des Glaubens, des Ethos und des Ritus - also dessen, was die Menschen im Urchristentum in ihrem Innersten bewegt hat. Wer sich darüber informieren will, ist auf »Theologien des Neuen Testaments« angewiesen. Diese vertreten eine christliche Binnenperspektive. Sie sind in der Regel für zukünftige Pfarrer und Pfarrerinnen geschrieben. Sie sind legitime und notwendige Versuche, eine Religion von innen darzustellen. Das Neue Testament und das Urchristentum sind aber zu wichtig, um sie nicht in einer wissenschaftlichen Weise möglichst allen zugänglich zu machen. Seine Texte und Überzeugungen gehören zur kulturellen Grundinformation der menschlichen Geschichte - unabhängig davon, ob man sie als Predigttexte hört oder als Bestandteil unserer Tradition liest. Es ist weder für die Gesellschaft noch die Kirchen gut, wenn sie dem allgemeinen Diskurs entzogen werden.
Richtig ist: Jeder Wissenschaftler schreibt unwillkürlich von seinem Standpunkt aus. Der Verfasser dieses Buches ist Christ. Er lehrt Theologie an einer Theologischen Fakultät. Er ist ordinierter Pfarrer. Er predigt. Er liebt das Urchristentum und seine Texte. Manche mögen das als eine Grenze empfinden, die für sein Unternehmen unüberwindbar ist. Aber es ist ein Unterschied, ob man seinen Standpunkt zum Programm erhebt - oder ob man ihn als heuristischen Entdeckungszusammenhang akzeptiert und reflektiert, nicht aber als einzigen Geltungs- und Kommunikationszusammenhang des eigenen Denkens. Ich meine, dass wir die Dinge, die wir lieben, so darstellen können, dass sie für alle verständlich und zugänglich sind - auch für die, die ganz andere Einstellungen zu ihnen haben als wir. Wissenschaft dient dazu, daß wir mit Menschen in Kommunikation treten können, die in anderer Weise als wir geprägt sind und konträre Ansichten haben. In der heutigen Kultur und besonders in der Theologie wird diese Ansicht nur von einer Minderheit vertreten. Sie widerspricht postmoderner Mentalität. Aber es gibt verwandte Bemühungen in der finnischen Exegese: Der Neutestamentler Heikki Räisänen in Helsinki hatte unabhängig von mir die Idee zu solch einer Darstellung der urchristlichen Religion. Unsere Darstellungen werden sehr verschieden ausfallen. Aber wir sind beide der Meinung, dass wissenschaftliche Kommunikation über die Grenzen der jeweiligen religiösen Position hinaus möglich und notwendig ist.
Ich bin im übrigen der Ansicht, dass solch eine Darstellung der urchristlichen Religion auch für Kirche und Christentum selbst sehr wichtig ist. Niemand kann heute an eine Tradition anknüpfen, ohne in einen Dialog mit anderen einzutreten. Die »Außenperspektive« wird immer mehr zu einem Teil der »Binnenperspektive«. Wir vergewissern uns unserer eigenen Traditionen nur, indem wir sie dem Dialog aussetzen. Der Dialog mit anderen ist Teil eines Dialogs in uns selbst.
Dieses Buch geht auf die »Speaker’s Lectures« in Oxford im Frühjahr 1998 und 1999 zurück. Ich danke der Theologischen Fakultät der Universität Oxford für die Einladung zu diesen Vorlesungen. Sie waren eine Chance und ein Herausforderung, diese Theorie der urchristlichen Religion in kurzer Form und begrenzter Frist auszuarbeiten, obwohl ich dieses Projekt eigentlich als Zusammenfassung meiner Arbeit zum Urchristentum sehr viel später in Angriff nehmen wollte. Der Leser wird manchmal spüren, dass hier ein Grundriss skizziert wird, der noch ausgefüllt und weiter differenziert werden kann. Die Notwendigkeit, Grundzüge von Glauben, Ethik, Ritus und Geschichte des Urchristentums knapp zusammenzufassen, führt notwendig zu manchen Vereinfachungen. Auch die später den Vorträgen hinzugefügten Anmerkungen können nicht überall so in die Diskussion von Einzelheiten eintreten, wie das wünschenswert wäre.
Die Oxforder Vorträge sind zuerst in Englisch unter dem Titel »A Theory of Primitive Christian Religion« im SCM Verlag, London 1999, erschienen. Die deutsche Fassung wurde noch einmal durchgesehen und mit wichtigen Ergänzungen in Text und Anmerkungen versehen.
Ich danke besonders dem Oriel College und ihrem Provost Ernest Nicholson für die Gastfreundschaft, die ich als »visiting fellow« genossen habe. Ich danke meinen Kollegen und Freunden in Oxford für viele Gespräche, besonders Robert Morgan, Christopher Rowland und Christopher Tuckett - sowie allen, die durch kritische Anfragen und Kommentare zu meinen Vorträgen mir geholfen haben. Mein Dank gilt ferner John Bowden von SCM. Er hat meine Arbeit schon seit langem begleitet, die Vorträge und Manuskripte ins Englische übersetzt und mich bei meiner Arbeit unterstützt. In Heidelberg gilt mein Dank Heike Goebel und besonders Helga Wolf für das Schreiben des Manuskripts, Friederike Wendt und Simone Sinn für das Lesen der Korrekturen und Überprüfen der Stellenangaben, Annette Merz für die kritische Lektüre des ganzen Manuskripts. Meiner Frau danke ich für die ganze Zeit der Arbeit an diesem Buch - als meiner wichtigsten Gesprächspartnerin für alle Fragen.
Ich widme das Buch den beiden Fakultäten des United Kingdom, die mir 1990 und 1997 den Grad eines Ehrendoktors der Theologie verliehen haben.
Heidelberg, den 15. Oktober 1999
Gerd Theißen
§ 1 Einleitung: Das Programm einer Theorie der urchristlichen Religion
Warum eine Theorie der urchristlichen Religion? Warum keine »Theologie des Neuen Testaments«, um den Glauben der ersten Christen zusammenfassend darzustellen?
Bekanntlich kann man von »Theologie« in einem deskriptiven und in einem konfessorischen Sinne reden. Der Begriff »Theologie des Neuen Testaments« wird deskriptiv benutzt, wenn er eine Analyse aller Aussagen im NT meint, die von Gott sprechen oder von Welt und Mensch in ihrer Beziehung zu Gott, ohne dass für solche Aussagen ein normativer Anspruch erhoben wird. Eine solche deskriptive Theologie des NT ist m.E. nicht in der Lage, den urchristlichen Glauben in seiner ganzen Dynamik zu erfassen. Um zu erkennen, was die ersten Christen in ihrem Innersten bewegte, muss man ihr ganzes Leben untersuchen und ihre theologischen Aussagen in semiotische, soziale, psychische und historische Zusammenhänge hineinstellen, die nicht unmittelbar »theologisch« sind. Die Dynamik des urchristlichen Glaubens ist in der Dynamik des Lebens verwurzelt.
Eine »Theologie« im konfessorischen Sinne kommt dieser Dynamik auf den ersten Blick sehr viel näher. Denn sie ist »konfessorisch«, weil sie von der Prämisse ausgeht, dass dieser Glaube auch heute noch normativgültige Kraft hat. Sie ist daher sensibel dafür, dass er auch in seiner Entstehungszeit diese Kraft besaß. Man muss sich jedoch klar machen: Wer in einer Darstellung des Glaubens der ersten Christen von der normativgültigen Prämisse ausgeht: »Gott hat in Christus die Welt erlöst und menschliches Leben zu seiner Erfüllung gebracht«, - der läuft Gefahr, viele säkularisierte Zeitgenossen von einem solchen Zugang zum NT auszuschließen. Er entzieht das Zentrum urchristlichen Lebens dem allgemeinen Gespräch. Er bewegt sich in einem innerkirchlichen Diskurs. Eine Theorie der urchristlichen Religion will den urchristlichen Glauben in seiner das ganze Leben bestimmenden Dynamik mit allgemeinen religionswissenschaftlichen Kategorien beschreiben und erklären.1 Sie will eine Doppellektüre dieses Glaubens ermöglichen: eine Sicht von innen und von außen - und vor allem eine Vermittlung zwischen diesen beiden Perspektiven.
Nun ist in der allgemeinen Religionswissenschaft umstritten, was Religion überhaupt ist. Die folgende Definition kann und will nicht beanspruchen, die allein mögliche Definition zu sein, wohl aber, dass sie innerhalb des Spektrums möglicher Definitionen keine Extremformulierung darstellt:
Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.2
Der erste Teil der Definition sagt, was Religion ist: nämlich eine kulturelle Zeichensprache. Sie sagt damit etwas über ihr Wesen. Der zweite Teil sagt, was sie bewirkt: Lebensgewinn. Damit wird etwas über ihre Funktion gesagt. Die Definition lässt offen, ob und in welchem Sinne es eine letzte Wirklichkeit gibt. Denn die Aussage, dass Religion durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit Lebensgewinn verheißt, nimmt zwar das Selbstverständnis der Religionen auf, mutet aber niemandem zu, es zu übernehmen.
1. Das »Wesen« der Religion: Religion als kulturelles Zeichensystem
Nun zum ersten Teil der Definition, die das Wesen der Religion betrifft. Ihre Bestimmung als kulturelle Zeichensprache enthält drei Merkmale: Religion hat semiotischen, systemischen und kulturellen Charakter.
Religion ist zunächst ein semiotisches Phänomen. Damit grenzen wir uns von anderen religionsdefinitionen ab. Wir sagen nicht: Sie ist Erleben des Heiligen. Wir sagen auch nicht, sie sei eine menschliche Projektion. Wir sagen: Sie ist ein objektives Zeichensystem. Was ist damit gemeint? Der Mensch kann in seiner Umwelt so, wie er sie vorfindet, nicht existieren. Er muss sie verändern. Er tut das einerseits durch Arbeit und Technik, andererseits durch Interpretation. Die Interpretation der Welt erfolgt durch Deutungssysteme: durch common sense im Alltag, durch Wissenschaft, Kunst und Religion in spezialisierten Lebensbereichen. Durch Arbeit und Interpretation macht der Mensch seine Welt zu einer bewohnbaren Heimat. Die Verwandlung der Welt durch Interpretation geschieht dabei nicht durch kausale Eingriffe in die Natur wie in Arbeit und Technik, sondern durch »Zeichen«, d.h. durch materielle Elemente, die als Zeichen semiotische Beziehungen zu etwas Bezeichnetem herstellen. Solche Zeichen und Zeichensysteme ändern nicht die bezeichnete Wirklichkeit, sondern unser kognitives, emotionales und pragmatisches Verhalten zu ihr: Sie steuern unsere Aufmerksamkeit, organisieren unsere Eindrücke in Zusammenhängen, verknüpfen sie mit unseren Handlungen. Nur in der so gedeuteten Welt können wir leben und atmen.3
Was ist nun das Besondere des religiösen Zeichensystems? Es lässt sich als Kombination von drei Ausdrucksformen charakterisieren, die sich so nur in der Religion verbinden: durch Mythos, Ritus und Ethos. Jede dieser Ausdrucksformen sei kurz erläutert.4
Mythen erläutern in narrativer Form das, was Welt und Leben grundlegend bestimmt.5 Meist erzählen sie von Handlungen verschiedener
Götter in einer Ur- oder Endzeit, die weit entfernt ist von der gegenwärtigen Lebenswelt. In der biblischen Tradition fand hier schon früh eine Veränderung statt: Der Mythos von den grundlegenden Akten Gottes wurde in die ganze Geschichte bis in die Gegenwart hinein weitergeführt, er wurde zu einer heilsgeschichtlichen Story, die auch die Geschichte umfasst. Und gleichzeitig wurde aus der Erzählung von mehreren Göttern die Erzählung von dem einen und einzigen Gott, der nur noch einen Sozialpartner hat: das Volk Israel als Stellvertreter aller Menschen. Im Urchristentum finden wir eine Fortsetzung dieser Entwicklung: Ein Mythos verbindet sich mit einer konkreten Geschichte mitten in der Zeit. Ein einziger Mensch aus dem Volk Israel rückt ins Zentrum allen Geschehens. Eine Theorie der urchristlichen Religion muss diese einzigartige Verbindung von Mythos und Geschichte verständlich machen.
Riten sind sich wiederholende Verhaltensmuster, mit denen Menschen ihre alltäglichen Handlungen unterbrechen, um die im Mythos gemeinte andere Wirklichkeit darzustellen.6 Sie umfassen nach antiker Einteilung (Plutarch, Is 3.68):
• Deutungsworte (λεγοvµενα)
• Handlungen (δρώµενα)
• Gegenstände (δεικνυvµενα)
In den Deutungsworten wird in verdichteter Form der Mythos vergegenwärtigt. Die Handlungen erhalten dadurch einen symbolischen Mehrwert und werden als Zeichen auf die »andere Wirklichkeit« bezogen. Aufgrund dieses »Mehrwerts« werden die im Ritus präsenten Gegenstände dem alltäglichen, profanen Gebrauch entzogen - einschließlich der Orte und Gebäude, an und in denen die Riten stattfinden. Eine Theorie der urchristlichen Religion hat es mit einem großen Bruch in den rituellen Ausdrucksformen der Religion zu tun. Damals wurden - in verschiedener Weise in Judentum und Christentum (und auch in der Philosophie) - die traditionellen rituellen Handlungen (die blutigen Tieropfer) durch neue (unblutige) Riten abgelöst. Traditionelle heilige Gegenstände wie die Tempel verloren ihre »Heiligkeit«. Vor allem aber kam es zu einem paradoxen neuen Verhältnis zwischen rituellen Vollzügen und ihren Deutungen: Die ersten Christen entwickelten nämlich ein religiöses Zeichensystem ohne Tempel, ohne Opfer, ohne Priester und behielten dann in ihren Deutungen kontrafaktisch diese traditionellen Elemente religiöser Zeichensysteme bei - oft sogar in einer damals schon überholten archaischen Gestalt: Sie hörten zwar auf, Tiere zu opfern, reaktivierten aber in ihren Deutungen eine lange schon überholte Form des Opfers, das Menschenopfer - als Sühneopfer Jesu.
Zur religiösen Zeichensprache gehört schließlich das Ethos. Oder genauer: Ethisches Verhalten kann in verschiedenem Ausmaß in die religiöse Zeichensprache integriert werden. Im Judentum war diese Integration konsequent durchgeführt worden: Alle moralischen Normen und Werte waren in der Thora zusammengefasst. Weisheitliches Alltagsethos wurde ebenso als Teil der Thora interpretiert wie die Propheten, die man als Ausleger der Thora betrachtete. Und auch das Recht war ganz und gar von theonomen Elementen durchdrungen - gerade an den Stellen, wo es in ein Ethos überging, das sich menschlicher Kontrolle und Sanktion entzog. Mit anderen Worten, der eine und einzige Gott bestimmte durch seinen Willen das ganze Leben. Alles Verhalten gewann einen semiotischen Mehrwert an Sinn durch seine Beziehung auf Gottes Gebot und seine Geschichte. Es war nicht nur gutes oder böses Verhalten, sondern es war ein von unbedingten göttlichen Geboten gefordertes und von unbedingter Macht sanktioniertes Verhalten. Eine Theorie der urchristlichen Religion wird sich damit beschäftigen müssen, wie diese Integration des Ethos in die Religion im Urchristentum fortgeführt wurde: Sie wird einerseits zu einem ethischen Radikalismus gesteigert - und andererseits wird die Überforderung des Menschen durch solch einen Radikalismus mit einem Ethos der Vergebung bewältigt.
Wenn wir Religion als eine Zeichensprache auffassen, so schreiben wir ihr nicht nur einen semiotischen, sondern auch einen systemischen Charakter 7 zu: Wir wissen heute, dass »Zeichen« nur in Beziehung und Opposition zu anderen Zeichen ihre Aufgabe erfüllen können. Sie bilden zusammen ein »System«. Auch die Zeichen und Ausdrucksformen einer Religion bilden zusammen ein Zeichensystem, eine einheitliche »Sprache«, die von bestimmten Regeln gesteuert wird und spezifische Elemente umfasst, so wie eine Sprache von Grammatik und Lexikon bestimmt wird. Diese Grammatik muss ihren Benutzern so wenig bewusst sein, wie uns die Regeln unserer Muttersprache bei ihrem Gebrauch bewusst sind: Man lernt eine Sprache, bevor man mühsam ihre Grammatik lernt. Und man verfügt immer nur über Teile des Lexikons. Die Grammatik religiöser Sprache besteht ebenso wie andere Grammatiken aus positiven und negativen Verknüpfungsregeln, d.h. aus Anweisungen dafür, was man verbinden darf und was nicht. Wenn wir z.B. eine bilderlose Kirche betreten und auf dem Altar nichts außer einer geöffneten Bibel finden, dann wissen wir: Wir sind in einer reformierten Kirche. Innerhalb des reformierten »Dialekts« der christlichen Zeichensprache gibt es eine negative Verknüpfungsregel, die sagt: Es ist verboten, Gott mit Bildern zu verbinden - und erst recht, ihn mit Bildern darzustellen. Zum Ausgleich dafür gibt es eine positive Verknüpfungsregel: Dieser Gott zeigt sich in der ganzen heiligen Schrift. Daher werden Bibel und Altar verbunden - und es wird auf jeden Kerzenschmuck auf dem Altar verzichtet. An verschiedenen religiösen Grammatiken erkennen wir, ob wir uns innerhalb einer jüdischen, islamischen oder christlichen Zeichensprache bewegen - oder ob wir uns wie in unserem Beispiel innerhalb eines reformierten, lutherischen oder katholischen »Dialekts« der einen christlichen Zeichensprache befinden.
Eine Theorie der urchristlichen Religion wird sich um die Erkenntnis einer solchen »Grammatik« der urchristlichen Zeichensprache bemühen müssen. Dabei ist die Grammatik der jüdischen Religion Ausgangspunkt. Hier finden wir zwei Grundaxiome: Einerseits eine negative Verknüpfungsregel: Der eine und einzige Gott darf nicht mit anderen Göttern verbunden werden - alles, was zu ihnen gehört, ist ihm ein Gräuel. Andererseits finden wir eine positive Verknüpfungsregel: Gott ist in einzigartiger Weise mit seinem Volk verbunden, indem er mit ihm einen Bund schloss und ihm die Thora zur Erhaltung dieses Bundes gab. Abstrakt ausgedrückt: Monotheismus und Bundesnomismus sind die beiden Grundaxiome des Judentums.
Dazu kommen viele einzelne Grundmotive, d.h. grammatische Regeln der religiösen Zeichensprache, die nur begrenzte Reichweite haben. Sie sind den grundlegenden Axiomen untergeordnet und werden von diesen Axiomen her organisiert: das Motiv der Schöpfung, der Weisheit, der Umkehr, der Nächstenliebe, der Distanz zu Gott usw.
Die Frage ist: Inwiefern wurden diese Grundaxiome und Motive im Urchristentum verändert? Wurde nicht die monotheistische Ausschließungsregel aufgeweicht, wenn ein Mensch an die Seite Gottes als dessen Sohn trat? Wenigstens müssen sich die Christen im JohEv gegen den jüdischen Vorwurf verteidigen, dass sich bei ihnen ein Mensch selbst zum Gott macht (Joh 5,18). Ebenso kann man fragen, ob nicht auch der Bundesnomismus prinzipiell verlassen wurde, als die Verbindung von Gott und Volk durch den Glauben an einen Erlöser auf alle Völker ausgeweitet wurde. Kurz, wir finden im Urchristentum anstelle der beiden jüdischen Grundaxiome Monotheismus und Bundesnomismus die beiden Grundaxiome Monotheismus und Erlöserglaube - wobei der Monotheismus durch den Erlöserglauben modifiziert und der Bundesnomismus durch den Glauben an einen universalen Erlöser auf alle Menschen ausgedehnt wurde.
In jedem Fall bedeutet die Erkenntnis des systemischen Charakters religiöser Zeichensprachen, dass wir ihre Entstehung als »Systembildung« verstehen müssen. Was aber heißt das: ein System bilden? Zwei Eigenschaften müssen erkennbar sein: Ein System hat erstens die Fähigkeit der Selbstorganisation aus einer eigenen Mitte heraus, d.h. es wird in seinem Verhalten und seiner Entwicklung nicht nur von außen gesteuert. Es hat zweitens die Fähigkeit, sich selbst von seiner Umwelt zu unterscheiden, d.h. zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz zu differenzieren. Ein Sprachsystem kann (vermittelt durch das Sprachhandeln seiner »Bewohner«) erfolgreich testen, ob eine Äußerung Bestandteil des eigenen Systems (also der deutschen Sprache) ist oder ein Fremdelement darstellt (also z.B. eine typisch anglizistische Konstruktion darstellt), selbst wenn sich diese Konstruktion deutscher Vokabeln bedient. Eine Theorie des Urchristentums wird also danach fragen, von welchem Zentrum her das neue religiöse Zeichensystem sich selbst organisiert und wie es sich von der Umwelt unterscheidet - und im eigenen Bereich (in mannigfachen Konflikten und Auseinandersetzungen) seine eigenen Regeln entwickelt und durchsetzt. Wir werden daher den Prozess der Ausdifferenzierung aus dem Judentum hin zu einem sich selbst organisierenden, unabhängigen Zeichensystem verfolgen müssen.
Schließlich noch ein paar Worte zum dritten Merkmal religiöser Zeichensprache: Sie ist ein kulturelles Phänomen, d.h. sie ist weder (allein) ein natürliches, noch ein übernatürliches Phänomen. »Kulturell« heißt, jede religiöse Zeichensprache ist von Menschen hervorgebracht, unabhängig davon, dass Religionen sich selbst als Ergebnis göttlichen Handelns verstehen. Die Verknüpfung von bestimmten materiellen Elementen mit Bedeutungen und die Organisation dieser Bedeutungen in einem System von Sinn ist menschliches Handeln, vor allem: Es ist soziales Handeln. Denn nur durch Partizipation ganzer Gruppen und Gemeinschaften kann ein Zeichensystem wirksam werden. Religionen sind sozio-kulturelle Zeichensysteme. Daher sind sie geschichtlich: Sie entstehen und vergehen, spalten sich auf und vermischen sich. Sie sind eng mit der Geschichte ihrer Trägergruppen verbunden. Die Geschichte des Urchristentums ist die Entstehungsgeschichte einer neuen Religion, die sich von ihrer Mutterreligion ablöst und verselbständigt. Eine Theorie der urchristlichen Religion wird sich um eine Deutung dieses Wandels bemühen müssen.
Erneuerung und Wandel in der Religionsgeschichte kann durch Neuinterpretation der traditionellen Zeichensysteme geschehen (z.B. durch Schriftauslegung), sie kann aber auch durch Auswahl unter den Elementen der traditionellen Religion geschehen: einige rituelle Vollzüge wie die Beschneidung wurden im Urchristentum ausgeschieden, andere Elemente wie das Nächstenliebegebot und die Vatermetaphorik für Gott rückten ins Zentrum. Schließlich gibt es die Möglichkeit, durch Austausch mit benachbarten Religionssystemen neue Entwicklungen zu bewirken. Auch das Urchristentum hat seinen Glauben in Interaktion mit seiner paganen Umwelt ausgestaltet, auch wenn die alte religionsgeschichtliche Schule das Ausmaß dieses »Synkretismus« überschätzt hat.
Bewirkt wird solch ein Wandel im religiösen Zeichensystem vor allem durch Charismatiker, d.h. durch den Einfluss, den einzelne Menschen aufgrund einer irrationalen Ausstrahlungskraft auf andere Menschen ausüben - unabhängig von vorgegebenen Autoritätsrollen und Traditionen, oft gegen heftige Anfeindungen der Umwelt: Die Stigmatisierung des Charismatikers durch die Umwelt kann seine Durchschlagskraft sogar erhöhen. Wenn er die Ablehnung durch sozialmoralische Verachtung und negative Sanktionen »übersteht«, stellt er das ihn ablehnende »System« um so nachhaltiger in Frage. Dieser Zusammenhang von Stigma und Charisma8 tritt im Urchristentum in Reinformat auf: Gerade der Gekreuzigte - der eine der grausamsten Todesarten erlitt, mors turpissime crucis, - wurde hier zum Weltenherrn und zur entscheidenden Autorität. Die römischen Beamten und Soldaten, die ihn verurteilten und zwischen zwei Verbrechern hinrichteten, konnten nicht ahnen, dass sich 300 Jahre später das Römische Reich zu ihm »bekehren« und ihn als den Richter über Tote und Lebendige bekennen würde.
Zum Zusammenhang von Charisma und Stigma kommt ein zweiter Zusammenhang: der von Charisma und Krise. Innovativ wirkende Charismatiker entfalten sich in Zeiten des Umbruchs, wenn viele Menchen bereit sind, traditionelle Überzeugungen zu verlassen und sich neu zu orientieren. Angemerkt seien dazu nur zwei Selbstverständlichkeiten: Krisen sind nicht nur Zeiten von Verelendung, sondern von Veränderung überhaupt. Auch Zeiten wirtschaftlichen Aufschwungs können traditionelle Werte und Orientierungen erschüttern. Krisen sind ferner nicht nur Erfahrungen der unteren Schichten. Sie erfassen alle Gesellschaftsschichten - wobei der Gegensatz der Schichten und Klassen fast immer ein Element der Krise ist.
2. Die Funktion von Religion: Religion als Verheißung von Lebensgewinn
Mit unseren Überlegungen zum kulturellen Charakter der Religion haben wir schon die Funktion von Religion im Leben ins Auge gefasst, auf die sich die zweite Hälfte unserer Definition bezieht. Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt. Wir beschränken uns hier darauf zu erläutern, worin dieser »Lebensgewinn« besteht. Auf weitere Aspekte der Religion möchte ich erst im letzten Kapitel zurückkommen.
Unter Lebensgewinn ist in der Religion oft etwas sehr Handfestes zu verstehen, vor allem Gesundheit und Hilfe. Man denke nur an Wundergeschichten und Heilcharisma im Urchristentum. Oft aber verheißen Religionen darüber hinaus Sublimeres: ein Leben in Wahrheit und Liebe, Identitätsgewinn in den Krisen und Wechseln des Lebens - bis hin zur Verheißung ewigen Lebens.
Religionswissenschaftliche Betrachtung untersucht vor allem den psychischen und sozialen Lebensgewinn, d.h. die Funktion von Religion im individuellen und sozialen Leben.
Bei der psychischen Funktion von Religion kann man kognitive, emotionale und pragmatische Aspekte unterscheiden.9
Kognitiv haben Religionen immer eine umfassende Weltdeutung angeboten: Sie teilten dem Menschen seinen Platz im Universum der Dinge zu. Erst mit Verlust dieser »Weltbildkompetenz« in der modernen Zeit entstand eine Tendenz, Religion als »Gefühl« oder als »Appell zur Entscheidung« zu verstehen. Aber das ist einseitig. Religion hält den Glauben an eine verborgene Ordnung der Dinge aufrecht - und sie tritt dort in Funktion, wo in kognitiven Krisen unser Wissen versagt (etwa bei der Frage, was jenseits unserer Lebenswelt ist und was uns im Tod von uns selbst entfernt). Gleichzeitig aber hält Religion den Sinn für Orte kognitiver Irritation wach: Sie provoziert immer wieder durch Zeugnisse vom Einbrechen einer ganz anderen Welt in unsere Welt. Auch das Urchristentum bezeugt solche »Offenbarungseinbrüche«, die in die menschliche Lebenswelt »einbrechen« wie ein Dieb in der Nacht. Immer wieder hören wir von ekstatischen Phänomenen, von Visionen und Offenbarungen.
Emotional hat die Religion vergleichbare Funktionen: Sie vermittelt ein Gefühl der Geborgenheit in dieser Welt und ein Vertrauen, dass am Ende doch alles gut ist oder gut sein könnte. Gerade deshalb aber beschäftigt sie sich mit den Grenzsituationen, wo dies Vertrauen bedroht und erschüttert wird: mit Angst, Trauer, Schuld und Versagen. Hier stabilisiert sie Menschen angesichts der Gefahr emotionalen Zusammenbruchs. Gleichzeitig provoziert Religion solche Grenzsituationen. Sie motiviert zu extremem Verhalten wie Askese und Martyrium oder ruft extreme Schuldgefühle hervor: Die Angst vor der Hölle gehört ebenso zum Urchristentum wie die Geborgenheit in der Liebe Gottes.
Die pragmatische Funktion von Religion besteht schließlich darin, dass sie Lebensformen mit ihren Verhaltensmustern legitimiert. Und auch hier finden wir ein Nebeneinander von Krisenbewältigung und Krisenprovokation. Religion gibt Möglichkeiten an die Hand, pragmatisch mit dem umzugehen, worüber wir nicht verfügen: mit Situationen, in denen unsere Verhaltensmuster versagen. Sie bewältigt die Krisen unseres Handelns und schafft doch selbst solche Krisen, indem sie Zonen von Unverfügbarkeit definiert: Bereiche, über die Menschen durchaus verfügen könnten, aber über die sie nicht verfügen sollten. Religion umhüllt so das menschliche Leben an vielen Stellen mit einer Aura von Unberührbarkeit: mit irrationalen Tabus sagen die einen, mit dem Glanz der Ebenbildlichkeit Gottes die anderen.
In einer tabellarischen Übersicht kann man sich die drei Funktionen der Religion klar machen:
Wichtig ist, dass man sich von jeder einseitigen Funktionsbestimmung der Religion frei macht. Sie dient nicht nur der Stabilisierung von Denken, Fühlen und Handeln, sie dient nicht nur der Bewältigung von Krisen. »Lebensgewinn« kann auch darin liegen, dass Menschen schweren Erschütterungen ausgesetzt werden, dass sie durch »Prüfungen« und »Versuchungen« geläutert werden und zu einem neuen Leben gelangen. Das Urchristentum versteht man nicht, wenn man in der Religion nur Krisenbewältigung sieht. Hier erleben wir vielmehr immer wieder Eruptionen, die selbst zu Krisen werden. Was wir von irrationalen Impulsen, von Einbrüchen fremder Wirklichkeiten, extremen Verhaltensweisen wie Askese und Martyrium hören, passt ganz und gar nicht in das Bild einer sedativen Religion, die die Gesellschaft von metaphysischer Unruhe »entsorgt«.
Genauso mannigfaltig wie die psychischen Funktionen der Religion sind ihre sozialen Funktionen. Zwar gibt es auch hier monofunktionale Deutungen der Religion, etwa wenn man sagt, Religion diene der Legitimation der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung oder sei Opium des Volkes. All das ist richtig, aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Auch hier wird man nur durch eine Vielfalt von Funktionen dem tatsächlichen religiösen Leben gerechter.10 Dabei zeigt sich: Religion hat an zwei Stellen vor allem eine soziale Funktion, bei der Sozialisation des Einzelnen und bei der Konfliktregulierung zwischen Gruppen.
Die sozialisierende Funktion der Religion zielt darauf, im Einzelnen die Werte und Normen der Gesellschaft so zu verinnerlichen, dass er ein loyaler Bewohner der geschichtlich kontingenten »Welt« wird, in der er lebt. Religion hilft durch rites de passage, in diese Lebensordnung hineinzuwachsen und in ihr zu bleiben, wenn »Theodizeekrisen« den Sinn und Wert der vorhandenen Ordnung erschüttern. Oft kann die Religion einzelne auffangen, die durch Krisen »verloren« zu gehen drohen. Oft aber hat sie auch die Funktion, Menschen dazu zu motivieren, aus der allgemeinen Lebensform »auszusteigen«. Dann wird sie zum gegenkulturellen Protest gegen die Welt, die »im Argen liegt«.
Die konfliktregulierende Funktion zwischen Gruppen und Klassen lässt sich von der sozialisierenden Funktion der Religion gut unterscheiden: Hier steht nicht der Einzelne der Gesellschaft gegenüber, sondern ganze Gruppen, die sich durch ökonomische Position oder ethnische Zugehörigkeit bilden, geraten in Konflikt miteinander. Auch hier finden wir mehrere Funktionen: Konfliktregulierung, Konfliktentschärfung und -verschärfung. Religion kann sowohl durch Betonung gemeinsamer Fundamentalwerte Brükken schlagen als auch durch Fundamentalismus Aggressionen schüren.
Die Mannigfaltigkeit der sozialen Funktionen von Religion lassen sich in folgender Tabelle veranschaulichen:
Bei der Erforschung des Urchristentums kommt man nur zu einem realistischen Ergebnis, wenn man all diese widersprüchlichen Funktionen im Blick hat. Wir finden im Urchristentum eine starke Tendenz, Christen zu den besten Staatsbürgern, Frauen und Sklaven nach damaligen Maßstäben zu machen, also eine ausgesprochen konformistische Tendenz - und gleichzeitig eine ungeheure gegenkulturelle Energie, die Menschen aus ihrem normalen Leben herausriss und zu Wandercharismatikern mit einem abweichenden Lebensstil machte. Wir finden Indizien für eine »Wertrevolution«, in der kleine Leute sich Werte und Einstellungen der Oberschicht aneigneten - aber auch für einen Wertkonformismus, der diese wertrevolutionären Impulse eindämmte. Wer das Urchristentum vorurteilslos zu erforschen sucht, sollte immer beide Seiten sehen.
Um die psychischen und sozialen Funktionen der Religion zu verstehen, ist es schließlich wichtig, sich klar zu machen, wie die Religion als kulturelle Zeichensprache diese Funktionen ausüben kann. Hier gibt es in den Religionstheorien zwei sehr verschiedene Ansätze.11 Für viele ist das religiöse Zeichensystem nur etwas Sekundäres gegenüber den Lebensfunktionen der Religion. Am Anfang steht hier ein religiöses Erleben (etwa die Erfahrung des Heiligen als mysterium fascinosum et tremendum) oder ein elementares Lebensproblem, das in religiösen Formen artikuliert wird (etwa die Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Vater im Ödipuskomplex). Die religiöse Zeichenwelt gilt dann als sekundärer Ausdruck solcher primären Erfahrungen und Probleme. In solchen Religionstheorien ist die Funktion der Religion im Leben oder eine religiöse Erfahrung das eigentliche Wesen der Religion.
Wir haben schon damit eine andere Position bezogen, dass wir das Wesen der Religion als ein kulturelles Zeichensystem definieren. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine geschichtlich vorgegebene Zeichensprache die Bedingung der Möglichkeit religiöser Erfahrung und Lebensfunktionen ist. Die alten Dogmatiker des Protestantismus haben das in ihrer Weise zum Ausdruck gebracht, wenn sie das verbum externum (d.h. die objektive religiöse Zeichensprache - also Bibelwort und Predigt) dem verbum internum, dem eigentlichen religiösen Erleben, vorordneten. Sie hatten recht damit.
Was zu klären ist, ist nun die Frage: Wie kann diese religiöse Zeichenwelt Auswirkungen auf das Leben haben? Wie kann sie Denken, Fühlen und Handeln bestimmen und Menschen zu sozialer Kooperation und Konflikt befähigen?
Dazu müssen wir uns noch einmal die Ausdrucksformen der Religion anschauen. In Mythos, Ritus und Ethos einer Religion finden wir durchgehend dieselben Elemente, die in das Leben hineinwirken: Rollen, Symbole und Normen. Dabei enthalten Mythen vor allem Rollen, Riten arbeiten mit Symbolen, das Ethos mit Geboten - aber charakteristisch ist, dass Rollen, Symbole und Normen überall begegnen: Sie wandern durch alle Ausdrucksformen.
Rollen ermöglichen Identifikation. Insofern sind Religionen ein »Rollenangebot« an ihre Mitglieder.12 Wir wissen, dass Rollenübernahmen auch die Wahrnehmung verändern: Wir betrachten einen Wald anders, wenn wir ihn in der Rolle des Försters, Wanderers, Straßenbauers usw. betrachten. Die Übernahme religiöser Rollen ermöglicht es daher, die Welt mit anderen Augen zu sehen als sonst: Sie wird für Gott transparent. Man kann sogar sagen: Mit jeder Rollenübernahme ist eine korrespondierende Beziehungsaufnahme verbunden. Wer die Rolle des »Schülers« übernimmt, nimmt damit eine Beziehung zu einem »Lehrer« auf. Wer die Rolle eines »Kindes« übernimmt, nimmt damit eine Beziehung zu »Eltern« auf. Ebenso wird mit den biblischen Rollen zugleich eine Beziehungsaufnahme zu Gott »angeboten«. Wer sich mit der Rolle Abrahams identifiziert, nimmt auch eine Beziehung zur Rolle dessen auf, der Abraham aus seinem Vaterhaus ausziehen lässt. Wer die Rolle des klagenden »Ichs« in den Psalmen übernimmt, nimmt damit eine Beziehung zu Gott auf. Solche Rollen finden sich nicht nur in den tradierten Erzählungen und Mythen der Religionen, vielmehr werden sie in Riten »gespielt« - und gelten für das Ethos als Paradigmen des Verhaltens. Durch rituelle Vollzüge wird die Übernahme von Rollen »internalisiert«: Wer getauft wird, wird zum »Kind Gottes«, wer am Abendmahl teilnimmt, zum Jünger Jesu. Durch ethisches Verhalten werden diese Rollen auch im alltäglichen Leben »praktiziert«.
Symbole entstehen durch eine symbolische Wahrnehmung der Welt, durch die reale Dinge einen Verweischarakter auf etwas anderes erhalten. 13 Sie werden transparent für die ganze Lebenswelt, für ihre Tiefendimensionen und für das, was jenseits von ihr liegt. Sie werden gleichzeitig transparent für menschliche Tiefenschichten im Innern der Seele. Die Unterscheidung von »Symbolen« und »Rollen« ist sinnvoll, weil die meisten Symbole keine Identifikation in dem Sinn ermöglichen, dass man sich als Handelnder mit ihnen identifizieren kann. Solche Symbole können topologische Orte sein: Weg, Meer, Wüste und Feld; architektonische Gebäude wie: Tempel, Haus und Hütte; oder Körperteile wie: Hand, Fuß, Auge, Ohr, Herz usw. Durch ihren Verweischarakter auf anderes ermöglichen sie Orientierung in der Welt (und Auseinandersetzung mit dem eigenen Innern). Sie bauen einen Kosmos auf, in dem man atmen und leben kann: Die Welt wird zum großen Haus, die Natur zum Tempel, der Körper zum lebendigen Opfer usw.
Am direktesten wirkt Religion durch Normen in das Leben hinein. 14 Dabei muss es sich nicht immer um imperativische Formulierungen handeln, obwohl »Gebote« eine nicht zu unterschätzende Rolle im religiösen Leben spielen. Auch sentenzenhafte Leitsätze haben eine Orientierungsfunktion im Leben. Manche dieser Imperative und Sentenzen haben einen hohen Abstraktionsgrad. Sie repräsentieren die Grundmotive und Axiome einer Religion - wie etwa das erste Gebot oder das Nächstenliebegebot in Judentum und Christentum.
Durch Rollen, Symbole und Normen werden einige wenige Axiome und Grundmotive in immer wieder neuen Variationen vermittelt: also jene Elemente einer Grammatik der religiösen Zeichensprachen, die wir in, mit und unter den religiösen Erzählungen, Riten und Normen internalisieren. Wir verinnerlichen sie so stark, dass sie, obschon sie kulturell gelernt sind, wie ein Apriori des Verhaltens und Erlebens wirksam sind. Sie bestimmen die Art und Weise, wie wir die Welt und das Leben deuten und auf sie reagieren. »Glauben«, so sagt Paulus mit Recht, stammt aus dem »Wort«, das geschichtlich tradiert wird (Röm 10,17). Was dies Wort vermittelt, ist nah im Herzen der Menschen (Röm 10,8). Es wird »internalisiert«. Im Lichte solcher internalisierten Überzeugungen sehen wir die Welt. Wer also aus dem religiösen Rollen- und Symbolangebot das Grundmotiv »Schöpfung« verinnerlicht hat, d.h. die Überzeugung, dass alles durch eine unendlich überlegene Macht geschaffen ist, der verändert im Lichte dieses Schöpfungsglaubens seine Wahrnehmung der Welt und sein Verhalten in ihr: Alles wird durchsichtig für den Schöpfer. Und alles menschliche Tun soll seine Schöpfung erhalten.
Wir brechen hier unsere Skizze einer allgemeinen Religionstheorie ab. Die wichtigsten Kategorien, mit deren Hilfe wir das Urchristentum analysieren wollen, sind entfaltet oder kurz genannt worden. Daher können wir in einem dritten Teil zusammenfassend eine erste Beschreibung des Urchristentums geben und drei Grundprobleme skizzieren, die uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen werden.
3. Grundprobleme einer Theorie der urchristlichen Religion
Wenn man das Proprium der urchristlichen Religion beschreiben will, so ist das am einfachsten, indem man ihren Unterschied zur jüdischen Mutterreligion benennt. Wir gehen dabei an unseren oben eingeführten Kategorien entlang: Grundaxiome, Basismotive, Ausdrucksformen, und fragen jeweils nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zum Judentum.
Während das Judentum von zwei Grundaxiomen bestimmt ist, nämlich einem exklusiven Monotheismus15 und einem Bundesnomismus16, der Gott an dies eine Volk bindet und dies Volk an den einen und einzigen Gott, werden im Urchristentum diese Grundaxiome abgewandelt. Der Monotheismus bleibt als erstes Axiom erhalten, wird aber durch das zweite Axiom, einen Erlöserglauben, modifiziert: Das ganze religiöse Zeichensystem wird von der Gestalt eines einzigen Erlösers her neu strukturiert. Alles wird auf diese Mitte bezogen. Dieser Erlöser rückt neben Gott, was von Juden als Infragestellung eines strengen Monotheismus erlebt werden musste. Gleichzeitig wird durch diesen Erlöserglauben das Judentum für alle Menschen geöffnet. Urchristentum ist auf weite Strecken universalisiertes Judentum.
Viele Grundmotive der Religion bleiben in Judentum und Christentum dieselben, nur dass sie sich im Christentum um ein neues Zentrum herum kristallisieren. Beide Religionen teilen Grundmotive ihres Weltverständnisses: Sie ist einerseits irrational gegebene Schöpfung. Die göttliche Macht kann immer wieder überraschend in das Geschehen eingreifen. Als Ausgleich zu diesem »Schöpfungs- und Wundermotiv« finden wir ein »Weisheitsmotiv«. Diese Schöpfung ist Ausdruck der Weisheit Gottes, die in ihren regulären Strukturen erkennbar ist. Und auch im Geschichtsverständnis findet man - trotz aller Betonung des souveränen Eingreifens Gottes - eine verborgene Ordnung: den Willen Gottes zum Heil Israels und der Menschen.
Ebenso teilen beide Religionen die wichigsten Grundmotive menschlichen Selbstverständnisses. In beiden gilt der Glauben als angemessener Zugang zu Gott: ein Sich-Festmachen in Gott mit Denken, Fühlen und Wollen. In beiden gilt die Umkehr als Chance und Gebot in der Konfrontation des Menschen mit Gott. In beiden durchdringt ein intensives Gefühl der Distanz zu Gott das Denken, wobei es im Urchristentum (bei Paulus) radikaler formuliert wird als sonst im Judentum. Glaubens-, Umkehr- und Distanzmotiv strukturieren das Verhältnis zu Gott.
Vergleichbar ist die Strukturierung des Verhältnisses zu anderen Menschen durch die beiden Grundmotive der Nächstenliebe und der Demut. Die Nächstenliebe wird im Urchristentum in Fortsetzung jüdischer Tendenzen ausgeweitet zur Feindes-, Fremden- und Sünderliebe. Die Bereitschaft zur Demut tritt ergänzend hinzu: Wenn Nächstenliebe Liebe unter Gleichgestellten ist, so lässt sie sich nur durch Verzicht des Überlegenen auf seinen überlegenen Status und durch Aufwertung des Status der Niedrigen verwirklichen, also durch Demut und Statusverzicht.
Auch wenn es zwischen Judentum und Urchristentum Unterschiede auf der Ebene der tiefliegenden Grundmotive gibt, so sind sie doch begrenzt. Nähe und Verwandtschaft beider Religionen ist unbestreitbar. Die Unterschiede treten weniger in der Tiefenschicht auf als in der Oberflächenschicht der Ausdrucksformen.
Die erste Ausdrucksform einer Religion ist ihr Mythos oder ihre Grunderzählung. 17 Meist spielt sie in grauer Urzeit, als die Götter die Welt einrichteten. Im Judentum hatte sich dieser Mythos in einzigartiger Weise mit der Geschichte verbunden: Er wurde zu einer Heilsgeschichte, die sich nach der Urzeit ganz auf Israel konzentrierte und über die sagenhafte Urzeit hinaus bis in die Gegenwart führte. Das Drama zwischen verschiedenen Göttern und Göttinnen wurde in ihr durch das Drama des einen Gottes und des von ihm erwählten Volkes ersetzt. Dieser Gott hat keine Sozialpartner mehr unter Göttern und Göttinnen, sondern als Sozialpartner stellvertretend für alle Menschen allein Israel. Israel ist sein Knecht, sein Sohn, sein Zeuge, seine Ehefrau. Das Urchristentum setzte diese Geschichte nicht nur fort, sondern zentrierte sie neu auf einen einzigen Menschen, Jesus von Nazareth, hin. Er wurde als Erfüllung der ganzen bisherigen biblischen Geschichte verstanden, ja noch mehr, in ihm wurden mythische Endzeiterwartungen als Geschichte dargestellt: Er verkörpert die Gottesherrschaft. Er »historisiert« diesen Endzeitmythos. Die Zentrierung der neuen religiösen Grunderzählung auf diese eine historische Gestalt aus Gegenwart und naher Vergangenheit machte die neue Religion noch »historischer« als ihre Mutterreligion. Die Bindung an die konkrete Geschichte wurde intensiviert. Zugleich aber erleben wir im Urchristentum eine Intensivierung des Mythos, ja eine regelrechte Re-mythologisierung, die an dieser einen historischen Gestalt ansetzt: Jesus wurde nach seinem Tod in kürzester Zeit zur Gottheit erhoben. Er wurde als Sohn Gottes, erhöhter Kyrios und Erlöser verehrt. Die Zeit seines Auftretens wurde mit dem mythischen Glanz einer neuen Entscheidungszeit umgeben und seine Geschichte als Auseinandersetzung zwischen Satan und Dämonen, zwischen Gott und seinem Sohn, zwischen dem Kyrios und den von ihm unterworfenen Geistermächten mythisch dramatisiert. Wir finden also im Urchristentum zwei gegenläufige Tendenzen: Eine Intensivierung des Geschichtsbezugs und eine Intensivierung des Mythos, eine Re-historisierung und Re-mythologisierung zugleich. Oder anders ausgedrückt: Geschichte und Mythos gehen eine einzigartige spannungsvolle Einheit ein. Ein konkreter Mensch wird zur Gottheit, die Gottheit inkarniert sich in einem konkreten Menschen. Diese spannungsvolle Einheit muss das erste Thema einer Theorie der urchristlichen Religion sein. Wir behandeln es im zweiten und dritten Kapitel.
Als zweite religiöse Ausdrucksform sei das Ethos des Urchristentums genannt.18 Hier kann man schon in der Geschichte Israels und des Judentums eine zunehmende »Theologisierung« aller Normen beobachten.19 Nicht nur die kultischen Gebote und ein Minimum an Fundamentalethik, wie sie im Dekalog formuliert wurde, sondern alle Normen wurden auf den Willen Gottes zurückgeführt und von der Thora her legitimiert: Das
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Diese Auffassung des Menschen als animal symbolicum, das durch zeichengebundene Interpretation die Welt in Heimat verwandelt, findet sich bei Ernst Cassirer, Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, Stuttgart: Kohlhammer 1960.
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Die drei Ausdrucksformen der Religion werden in Anlehnung an Fritz Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, KVR 1527, Göttingen: Vandenhoeck 1988, 79ff., definiert: Er unterscheidet »Darstellungsmöglichkeiten« oder »Kodierungsmöglichkeiten« der religiösen Botschaft im Bereich des Tuns, des Sehens und des Sprechens: also vollziehende, gegenständliche und sprachliche Ausdrucksformen. Die vollziehenden und gegenständlichen Ausdrucksformen der Religion werden hier als rituelle Ausdrucksformen zusammengefasst: Eucharistie und Altar gehören zusammen. Die sprachlichen Ausdrucksformen erscheinen als Mythos, können aber auch, weiter entfaltet, zu Theologie und Reflexion werden. Das Ethos gilt als eigene Ausdrucksform - entsprechend seinem großen Gewicht innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition.
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Vgl. Bernhard Lang, Art. Ritual/Ritus, HRWG IV, 1998, 442-458. Wenn man zwischen Ritus und Ritual unterscheiden will, so liegt es nahe, mit B. Lang zu definieren: »Während ›Ritus‹ (Plural: Riten) die kleinsten Bestandteile heiliger Handlungen meint, bleibt Ritual für das sich aus Riten aufbauende Gesamtgeschehen vorbehalten.« (S. 444).
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Den Zusammenhang von Stigma und Charisma hat Wolfgang Lipp in mehreren Veröffentlichungen herausgearbeitet: Ders., Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten, Schriften zur Kultursoziologie 1, Berlin: Reimer 1985; ders., Charisma - Social Deviation, Leadership and Cultural Change. A Sociology of Deviance Approach, The Annual Review of the Social Sciences of Religion 1 (1977), 59-77. Seine Ideen wurden zunächst nur auf Jesus und seine Anhänger angewandt (Michael N. Ebertz, Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung, WUNT 45, Tübingen: Mohr 1987), dann auf das ganze Urchristentum (Helmut Mödritzer, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, NTOA 28, Freiburg Schweiz: Universitätsverlag/Göttingen: Vandenhoeck 1994).
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Viele Religionspsychologien betonen einseitig emotionale Aspekte der Religion. Den verschiedenen Funktionen der Religion gerecht werden: Bernhard Grom, Religionspsychologie, München: Kösel/Göttingen: Vandenhoeck 1992; Nils G. Holm, Einführung in die Religionspsychologie, UTB 1592, München/ Basel: Reinhardt 1990.
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Man kann prinzipiell folgende Ansätze in der Religionstheorie unterscheiden:
1. Kognitivistische Religionstheorien sehen in der Religion ein System von Vorstellungen, die auf spezifisch religiöse Gegenstände bezogen sind.
2. Expressive (oder expressivistische) Religionstheorien sehen in der Religion den Ausdruck menschlichen Lebens, insbesondere seiner Emotionalität (wie etwa bei Friedrich D. Schleiermacher).
3. Pragmatisch-funktionale Religionstheorien sehen in der Religion vor allem ein Steuerungssystem für menschliches Verhalten - etwa wenn sie die Macht des Heiligen als Objektivierung der Übermacht der Gesellschaft gegenüber dem Einzelnen interpretieren (wie etwa bei Emile Durkheim).
In diesem Buch wird eine kulturell-linguistische (oder semiotische) Religionstheorie vertreten: Religionen sind Zeichensysteme mit drei Dimensionen. Sie organisieren Kognitionen, Emotionen und Verhalten. Zu solch einer kulturell-linguistischen Religionstheorie vgl. vor allem George A. Lindbeck, Christliche Lehre als Grammatik des Glaubens, 52ff.
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Die klassische Analyse der Religion als ein Rollenangebot, das die Wahrnehmung der Wirklichkeit in einer spezifisch religiösen Weise umstrukturiert, wurde von Hjalmar Sundén, Die Religion und die Rollen, (schwedisch 1959), Berlin: Töpelmann 1966; vgl. ders., Gott erfahren. Das Rollenangebot der Religionen, ligionen, GTB 98, Gütersloh: Mohn 1975, entwickelt. Eine positive Weiterführung findet sich bei Bernhard Lang, Art. Rolle, HRWG IV, 1998, 460-476, bes. 469ff. Ferner in Nils G. Holm/J.A. Belzen (Hg.), Sundén’s Role Theory - an Impetus to Contemporary Psychology of Religion, Religionsvetenskapliga skrifter 27, Aabo: Aabo Akademi 1995.
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Der mehrdeutige Begriff des Symbols lässt sich nur dadurch klar verwenden, dass man die verschiedenen Gedankentraditionen jeweils mit benennt, innerhalb derer er gebraucht wird. (a) Aus der ästhetischen Tradition ist uns der Gegensatz von Symbol und Allegorie vertraut. Das Symbol gilt dabei als sinnliches Erscheinen einer Idee im Konkreten, während die Allegorie nur eine gedanklich vermittelte Beziehung zwischen dem konkret Sinnlichen und seinem Sinn ermöglicht. In beiden Fällen offenbart sich im Symbol bzw. in der Allegorie etwas Objektives (J.W. Goethe). Dieser Gegensatz ist uns aus der Dichtungstheorie der deutschen Klassik vertraut. (b) Aus der psychologischen Tradition kennen wir den Symbolbegriff als Ausdruck des Unbewussten in Traum und Mythos - entweder als Verschleierung sozial unzulässiger Impulse und Wünsche, die nicht direkt in die Kommunikation eingebracht werden können (bei S. Freud ist das Traumbild eher eine verhüllende »Allegorie«), oder als eine Sprache, die das Unbewusste öffentlicher Kommunikation zugänglich macht (bei C.G. Jung u.a. ist das Traumbild eher ein offenbarendes Symbol). (c) In der neukantianischen Tradition ist der Symbolbegriff Oberbegriff zu verschiedenen »symbolischen Formen«, die Welt zu ordnen und zu strukturieren: durch Mythos, Sprache, Kunst und Erkenntnis (E. Cassirer). Hier bezieht sich der Symbolbegriff nicht auf die Erscheinung einer objektiven oder subjektiven »transzendenten« Realität, sondern ist Ausdruck eines intellektuellen »transzendentalen« Aktes des Menschen, mit dem er seine Welt ordnet. Unabhängig von diesen drei Traditionen, die alle in dem oben verwandten Symbolbegriff nachwirken, sollte man bei sprachlichen Bildern zwischen Symbol und Metapher unterscheiden, ohne beides zu trennen: Ein Symbol ist die Darstellung eines realen Gegenstands, der für einen tieferen Sinn transparent wird. Eine reale Flamme wird etwa so dargestellt, dass sie für eine reale Leidenschaft transparent wird. Symbole basieren auf der Fähigkeit, die reale Welt symbolisch wahrzunehmen. Symbolische Texte muss man daher immer zugleich wörtlich und übertragen verstehen. Sie haben einen primären Sinn - und zugleich einen Mehrwert an Sinn. Spricht man dagegen von der »Flamme der Leidenschaft« (ohne ein reales Feuer zu meinen), so hat man aus der symbolisch wahrgenommenen Realität eine sprachliche Metapher gemacht. Während Symbole wörtlich genommen werden müssen (und zusätzlich übertragen verstanden werden dürfen), dürfen Metaphern nur übertragen verstanden werden. Ihr wörtliches Verständnis wäre immer ein Missverständnis. Dasselbe »Bild« kann also in einem Text als Symbol (als transparente Realität) oder als Metapher (als übertragene Vorstellung) begegnen. Die religiöse Bildlichkeit, die wir oben »Symbol« nennen, begegnet daher in den Texten oft als Metapher. Zur Abgrenzung der verschiedenen Formen von Bildlichkeit vgl. Petra v. Gemünden, Vegetationsmetaphorik im Neuen Testament und seiner Umwelt, NTOA 18, Freiburg Schweiz: Universitätsverlag/Göttingen: Vandenhoeck 1993, 1-49 (mit Literatur).
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Die beiden Begriffe »ethische Normen« und »Gebote« gehören verschiedenen kulturellen Gedankenkontexten an: Ein »Gebot« ist Teil eines objektiven Gesetzes, setzes, das dem Menschen vorgegeben ist. Der Begriff »Norm« entstand erst in der Neuzeit als Begriff für »zweckmäßige Regelungen«, wurde dann aber zu einem ganz allgemeinen Begriff, der alles »Normative« in Alltag, Wissenschaft und Religion bezeichnen kann. Vgl. Dietmar Mieth, Art. Normen, HRWG IV, 1998, 243-250. Charakteristisch für das normative System der biblischen Religion ist, dass zwei Unterscheidungen zwar vorhanden sind, aber nicht durchgeführt werden:
1. Die Unterscheidung zwischen den rechtlichen und sittlichen Normen. Man kann im AT zwar deutlich sanktionsbewehrte Normen von solchen ohne Sanktionen eines menschlichen Richters unterscheiden, denn an diesen Stellen tritt die Vorstellung von Gott als Richter ein. Aber beide begegnen oft unmittelbar nebeneinander in den alttestamentlichen Gesetzessammlungen.
2. Die Unterscheidung zwischen ethischen Normen, die das Zusammenleben der Menschen, und rituellen Normen, die Gottesverehrung ermöglichen. Auch die Erfüllung ethischer Normen wird als »Gottesdienst« verstanden - oft sogar als der eigentliche Gottesdienst. Dadurch wird die Ethik ungeheuer aufgewertet.
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Der Monotheismus ist seit der exilischen Zeit das Grundbekenntnis Israels. Dabei handelt es sich um einen exklusiven Monotheismus, der die Existenz und Verehrung anderer Götter ausschließt - im Gegensatz zu einem philosophischen Monotheismus, der mit der praktischen Verehrung vieler Götter im Volkskult vereinbar ist, indem er hinter den verschiedenen Gottheiten letztlich nur einen Gott sieht. Ihre Begegnung ist das Grundthema des antiken Judentums in hellenistischer Zeit. Vgl. Yehoshua Amir, Die Begegnung des biblischen und des philosophischen Monotheismus als Grundthema des jüdischen Hellenismus, EvTh 38 (1978), 2-19. Beim exklusiven Monotheismus kann man theoretisch einen prophetischen und praktischen Monotheismus unterscheiden: Der prophetische ist durch eine prophetische Gestalt mit Offenbarungsanspruch vermittelt (durch Echnaton in Ägypten oder Deuterojesaja in Israel), der praktische Monotheismus entwickelt sich aus der Verehrung eines Gottes (aus zeitweiligem Henotheismus bzw. dauernder Monolatrie), zu der es oft in Krisensituationen kommen kann, in denen Menschen ihr Heil ganz von einem Gott erwarten. In Israel kam beides zusammen: Prophetische Offenbarergestalten setzten den Glauben an den einen und einzigen Gott durch, eine chronifizierte Krisensituation machte ihre Botschaft plausibel. Vgl. Bernhard Lang, Art. Monotheismus, HRWG IV, 1998, 148-165. Zur Unterscheidung von prophetischem, praktischem und philosophischem Monotheismus siehe dort S. 151-154.
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Anstatt von »Mythos« kann man neutraler von einer »Grunderzählung« sprechen. Denn gerade in der biblischen Religion wurden in dieser Grunderzählung Mythisches und Geschichtliches eng miteinander verbunden - und innerhalb des Geschichtlichen wurde »Dichtung und Wahrheit« vermischt. Der Begriff der »Story« umfasst alles: Mythisches, Fiktives und Historisches im engeren Sinne. Solche Grunderzählungen begründen sowohl die Identität ganzer Gruppen als auch einzelner Menschen. Was wir im Neuen Testament »Christologie« nennen, basiert immer auf einer (mehr oder weniger entfalteten) Erzählung. Die christologischen Hoheitstitel sind Abbreviaturen von Erzählungen. Zur Theorie des Verhältnisses von summierenden Abstraktionen und Erzählungen in der Religion vgl. Dietrich Ritschl/Hugh O. Jones, »Story« als Rohmaterial der Theologie, TEH 192, München: Kaiser 1976. Eine Darstellung der neutestamentlichen Christologie, die sich von der Fixierung auf Titel löst und diese im Rahmen ihrer »Erzählungen« würdigt, ist Martin Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen: Vandenhoeck 1998.
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Obwohl in der Religionswissenschaft Mythos und Ritus meist unmittelbar nebeneinander genannt werden - und allenfalls als Ergänzung das Ethos erwähnt wird, werden wir im Folgenden nach der Grunderzählung des Urchristentums (in dem sein Mythos zu suchen ist) zunächst sein Ethos analysieren. Das entspricht sowohl dem hohen Gewicht des Ethos in der biblischen Religion als auch der großen Bedeutung des Ritus: Im Ritus finden wir eine verdichtete Zusammenfassung der ganzen Religion - einschließlich ihres Ethos. Erst wenn dies bekannt ist, erkennt man seine Symbolisierung im Ritus.
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Dass im Alten Testament alle Normen theologisiert werden, hat besonders Eckart Otto herausgearbeitet in: Theologische Ethik des Alten Testaments, ThW 3,2, Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1994. Dabei fällt auf, dass Gott oft bei den Normen ins Spiel kommt, die nicht sanktionsbewehrt sind. Ohne juridische Sanktionen sind im Bundesbuch: die Freilassung von hebräischen Sklaven (Ex 21,1-11), die Rücksicht auf Fremde, Witwen und Waisen (22,20- 23), das Zinsverbot (22,24-25), das Verbot der Rechtsbeugung (23,1ff.), die Hilfe für den Feind (23,4f.), Sabbatjahr und Nachlese (23,10-11), die Sabbatheiligung auch für Tiere, Sklaven und Fremde (23,12) - also gerade die sozialen Gebote, in denen ein humaner Geist zu spüren ist.
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