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Seit ihr bester Freund bei einem Reitunfall ums Leben gekommen ist, gibt es für Patricia nur noch Schmerz und Verzweiflung. Erst ein Urlaub im schottischen Hochland ändert alles für sie. Denn dort stößt die 14-Jährige auf die junge Stute Dallis, die genauso verstört zu sein scheint wie sie selbst. Behutsam versucht sie, das Pferd aus seiner Isolation zu befreien. Doch dann werden mit einem Schlag Patricias Bemühungen zunichtegemacht …
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Seitenzahl: 414
Jutta Beyrichen
Der Ruf der Pferde
Jutta Beyrichen, geboren 1964, wuchs in Bad Kissingen auf. Schon als Kind entdeckte sie ihre Liebe zu den Pferden und der Reiterei. Bereits mit ihrem ersten Roman, dem Bestseller »Die Pferdefrau«, zeigte sie eindrucksvoll, wie heilsam Pferde auf verletzte Menschenseelen wirken können. Jutta Beyrichen lebt heute mit ihren zwei Söhnen in Würzburg.
Für meine Söhne
Veröffentlicht als E-Book 2010 © 2006 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Umschlagfoto: Frauke Schneider unter Verwendung eines Fotos von Bill McKelvie Umschlagtypografie: knaus. büro für konzeptionelle und visuelle identitäten, Würzburg ISBN 978-3-401-80115-5
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Song composed in August
Now westlin winds and slaught’ring gunsBring Autumn’s pleasant weather;The moorcock springs on whirring wingsAmang the blooming heather:Now waving grain, wide o’er the plain,Delights the weary farmer;And the moon shines bright, when I rove at night,To muse upon my charmer.
The partridge loves the fruitful fells,The plover loves the mountains;The woodcock haunts the lonely dells,The soaring hern the fountains:Thro’ lofty groves the cushat roves,The path of man to shun it;The hazel bush o’erhangs the thrush,The spreading thorn the linnet.
Thus ev’ry kind their pleasure find,The savage and the tender;Some social join, and leagues combine,Some solitary wander:Avaunt, away! the cruel sway,Tyrannic man’s dominion;The sportsman’s joy, the murd’ring cry,The flutt’ring, glory pinion!
But, Peggy dear, the ev’ning’s clear,Thick flies the skimming swallow,The sky is blue, the fields in view,All fading-green and yellow:Come let us stray our gladsome way,And view the charms of Nature;The rustling corn, the fruited thorn,And ev’ry happy creature.
We’ll gently walk, and sweetly talk,Till the silent moon shine clearly;I’ll grasp thy waist, and, fondly prest,Swear how I love thee dearly:Not vernal show’rs to budding flow’rs,Not Autumn to the farmer,So dear can be as thou to me,My fair, my lovely charmer!
Robert Burns (1759 1796)
Schottischer Lyriker
Prolog
Der Turnierplatz außerhalb Edinburghs lag verlassen da.
Die Zuschauertribüne war leer, lediglich herumliegende Pappbecher und andere weggeworfene Abfälle zeugten davon, dass sich hier noch vor Kurzem Menschen aufgehalten hatten. Die Anzeigetafeln waren ausgeschaltet und die Lautsprecher verstummt. Auf dem Parcours standen die Hindernisse verwaist, wie immer nach einem beendeten Turnier, und nur der von Fußspuren aufgewühlte Sandboden neben den nicht aufgehobenen Stangen des Doppeloxers ließ ahnen, dass hier nicht alles so war wie gewohnt.
Der Krankenwagen war vor zehn Minuten abgefahren, doch Patricia hockte noch immer neben dem Abfallbehälter an der Zufahrt des Parkplatzes auf dem Asphalt.
Die meisten Pferde waren inzwischen abgeholt worden, auch Helen hatte Goldie mit den anderen zusammen in den Anhänger verladen, um sie zum Stall zurückzubringen. Patricia war nicht dabei gewesen. Es berührte sie auch nicht, ob jemand daran dachte, die Siegerschleife entgegenzunehmen. Nur kurz schoss ihr durch den Kopf, ob sich wohl jemand um Seaspray kümmerte, doch der Eigentümer des Wallachs würde ihn bestimmt nicht in den Turnierstallungen vergessen. Obwohl Seaspray heute keine Platzierung erreicht hatte, konnte man davon ausgehen, dass er das nächste Mal sicherlich wieder in den vorderen Rängen landen würde.
Nur für Gavin würde es kein nächstes Mal geben.
Dabei hatte der Tag so wunderbar begonnen.
1.
»Wo bleibst du denn, Pat?« Gavin kam in den Stall gerannt, Gerte und Kappe unter den Arm geklemmt. »Der Transporter ist da!«
»Bin gleich fertig.« Patricia knüpfte den letzten Knoten in Goldies Mähne fest. Seit dem frühen Morgen war sie damit beschäftigt, die Fuchsstute für das Turnier herzurichten, und das Ergebnis ihrer Arbeit konnte sich sehen lassen: Das rote Fell schimmerte wie Seide, die Hufe glänzten und den langen Schweif hatte Patricia shampooniert, gekämmt und die Spitzen so sorgfältig gerade geschnitten, als wenn es sich um ihre eigenen Haare gehandelt hätte.
Goldie schien zu wissen, um was es ging. Unruhig trat sie in der Box hin und her und haschte spielerisch nach Patricias Hand, als diese ihr nun über die schmale Blesse strich.
»Du bist schon genauso aufgeregt wie ich, nicht wahr, meine Schöne?« Patricia lachte. »Sie hat Ehrgeiz, merkst du es?«
Der dunkelhaarige Junge mit den fröhlichen braunen Augen lachte ebenfalls. »Na, dann wird sie sich heute vielleicht ein wenig anstrengen müssen. Seaspray ist top in Form, ich glaube nicht, dass Goldie ihn schlägt.«
»Das werden wir ja sehen!« Patricias blaue Augen funkelten. »Das letzte Mal hast du auch gedacht, wir schaffen es nicht.«
Gavin winkte ab. »Das war reine Glückssache. Passiert heut nicht wieder, glaub mir.«
»Wollen wir wetten?« Patricia sah ihn herausfordernd an.
»Klar. Um was?«
»Ein Eis, wie immer?«
»Okay. Diesmal zahlst du, verlass dich drauf.«
»Sei dir da mal bloß nicht zu sicher!« Patricia wischte sich die Hände an ihrer Reithose ab, öffnete die Boxentür und führte die Stute heraus. »Du hast es gehört, Goldie«, sagte sie zu ihr und klopfte liebevoll den glatten, warmen Hals. »Es geht um ein Eis, also tu dein Bestes!«
Goldie schnaubte und Gavin grinste. »Sie mag kein Eis. Aber das werde ja sowieso ich gewinnen... Also, dann mal auf«, sagte er und trat hinter den beiden aus der Stalltür. »Seaspray ist schon draußen beim Parcours, Mr Evans wollte ihn direkt hinbringen.« Der Schimmelwallach gehörte im Gegensatz zu Goldie nicht dem Reitverein, sondern sein Besitzer, ein Rechtsanwalt aus Edinburgh, ließ ihn Gavin als Gegenleistung für die Pflege des Pferdes reiten. Schon mehrfach hatte Gavin für Mr Evans auf Turnieren Preisgelder errungen und vom Anteil, den er selbst dafür erhielt, hoffte er, sich irgendwann ein eigenes Pferd kaufen zu können. Patricia und er blätterten seit Langem schon die Anzeigenblätter durch und träumten von dem wunderbaren Pferd, das sich Gavin dann eines Tages kaufen würde. Gavins Eltern ließen ihn gewähren, sie waren der Meinung, wenn seine Pferdeverrücktheit anhielt, so sei das immerhin besser, als wenn sein Herz für Motorräder schlug. Ob Patricia selbst einmal Pferdebesitzerin werden würde, stand allerdings noch mehr in den Sternen – ihre Eltern hielten von solchen, wie sie meinten, kindischen Träumereien leider rein gar nichts. Patricia seufzte ein wenig, aber dann hob sie den Kopf und schritt schneller voran. Der Tag war zu vielversprechend, um sich die Laune verderben zu lassen. Sogar das Wetter spielte mit – der April war warm für schottische Verhältnisse, selbst in Edinburgh, und Patricias heimliche Gebete um trockenen Boden auf dem Parcours hatten sich wunderbarerweise erfüllt.
Im Stallhof herrschte bunter Trubel. Blank geputzte Pferde trippelten nervös im Morgensonnenschein, während sie von ihren jungen Reitern und Reiterinnen in die bereitstehenden Transportanhänger geführt wurden.
»Vorsicht da drüben!« Eine hochgewachsene, schlanke junge Frau eilte gerade noch rechtzeitig dazu, um zu verhindern, dass zwei Braune aufeinander losgingen. »Mensch Katie, du weißt doch, dass sich Missy und Chestnut nicht riechen können!« Die Reitlehrerin griff nach dem Zaum der einen braunen Stute und zog sie von der anderen weg. Chestnut hatte ihre Ohren flach an den Kopf gelegt und die Zähne gebleckt, während ihre Gegnerin Missy ihr schon die Hinterhand zukehrte, bereit, nach ihr auszukeilen. Beide trompeteten wütend.
»’tschuldigung, Helen!« Katie fuhr sich nervös durch ihr kurzes braunes Haar, ihr Gesicht brannte und schnell brachte sie ihr Pferd in Sicherheit. »Ich habe nicht darauf geachtet, dass Chestnut hier steht.«
»Na, ist ja noch mal gut gegangen.« Helen klatschte in die Hände. »Tempo, wir müssen los. Rein mit den Gäulen in den Wagen!«
»Mit den Gäulen!«, entrüstete sich Katie und führte Missy behutsam die Rampe hoch.
»Ach, du weißt doch, dass sie das nicht so meint«, beruhigte Patricia sie. Sie band Goldie im Wagen fest und sprang von der Rampe.
»Du gewinnst heute bestimmt«, sagte Katie und schaute Patricias Fuchsstute bewundernd an. »Ich wünschte, Missy hätte so viel Talent wie Goldie!«
»Ich hoff’s mal.« Patricia lachte. »Genug trainiert haben wir schließlich auf alle Fälle. Mein Dad hat schon einen Aufstand gemacht, weil ich in den letzten Wochen kaum noch zu Hause war.«
Katie verdrehte die Augen und nickte. »Genauso ging’s mir auch. Meine Mum hat mich schon gefragt, ob ich nicht lieber gleich in den Stall ziehen will, dann hätte sie wenigstens den Pferdegeruch nicht mehr in der Wohnung.«
»Eau de Cheval, was? Hmmmm!«, ertönte ein genießerisches Schnüffeln direkt hinter Patricias Ohr. Gavin hatte sich von hinten an die Mädchen herangeschlichen und wich jetzt ihren Box-hieben aus.
»Sei vorsichtig, Gavin MacCauley!« Patricia blickte ihn strafend an. »Vergiss nicht, dass ich dich schon damals im Sandkasten mit links besiegt habe. Und nur weil du jetzt einen Kopf größer bist als ich, brauchst du nicht denken, dass das heute anders wäre.«
Gavin grinste. »Da hab ich aber Angst!«
»Solltest du auch!« Ein drittes Mädchen gesellte sich zu der Gruppe.
»Hi Jen«, sagten Patricia und Katie im Chor, während Jennifer ungeschickt versuchte, ihre wilden roten Locken mit einer Haarspange zu bändigen.
»Warte, ich helfe dir.« Patricia trat hinter sie und drehte den Zopf zusammen. Sie kannte Jennifers Plage mit ihrer widerspenstigen Mähne nur zu gut und war wieder einmal froh darüber, dass ihre eigenen halblangen blonden Haare so problemlos zu frisieren waren. Mehr als eines Gummibands bedurfte es nicht, um stets freie Sicht zu behalten. Sie vermochte kaum zu verstehen, wie andere Mädchen in ihrem Alter jeden Tag Stunden vor dem Spiegel verbringen konnten. Für Patricia war das Verschwendung wertvoller Zeit, die man so viel besser für die Pferde aufwendete.
»Danke, ich dachte schon, ich schaff’s nicht mehr rechtzeitig«, sagte Jennifer atemlos. »Linus wollte sich einfach nicht die Hufe auskratzen lassen.«
»Er ist halt nervös vor dem Turnier«, meinte Patricia. »Die Pferde merken doch ganz genau, dass heute was Besonderes los ist.« Doch auch Patricia selbst musste sich eingestehen, dass sie aufgeregt war, als sie endlich alle im Wagen saßen und die Kolonne den Hof verließ. Vor einiger Zeit hatte sie ihren vierzehnten Geburtstag gefeiert, das hieß, die Zeit der Kinderturniere mit den relativ einfachen Parcours war endgültig vorbei. Heute sollte sie nun zum ersten Mal in der Altersklasse bis achtzehn starten. Gavin, der gerne betonte, dass er schließlich einen ganzen Monat älter war als sie, hatte dieses bahnbrechende Erlebnis bereits hinter sich, doch seine gut gemeinten Ratschläge trugen nicht
unbedingt dazu bei, dass Patricias heimliche Nervosität nachließ.
Sie hatten die Stadt nun hinter sich gelassen und fuhren über schmale kurvige Landstraßen. Patricia sah zwar zum Fenster hinaus, doch sie war so in Gedanken vertieft, dass sie keinen Blick hatte für die grünen Hügel und die niedrigen, von Brombeersträuchern überwucherten Steinmauern zu beiden Seiten der Straße.
Sie war nur froh, dass ihre Eltern heute keine Zeit hatten zuzusehen. Obwohl sie es früher gemocht hatte, wenn zumindest ihre Mutter ihr öfters bei Turnieren zusah, fand sie es inzwischen eher lästig. Schließlich war sie kein kleines Kind mehr, das seine Mama neben sich brauchte. Und ihr Vater verband seine Fragen nach ihren Freizeitbeschäftigungen in letzter Zeit ohnehin mehr und mehr mit bohrenden Nachforschungen, ob denn die Schule auch nicht darunter leide – und das konnte sie schon nicht mehr hören.
Patricia schnitt unwillkürlich eine Grimasse. Solche Unterstellungen nervten einfach. Immerhin hatte sie trotz allem ein einigermaßen gutes Zeugnis mit nach Hause gebracht – ein weitaus besseres als ihr jüngerer Bruder Ivan – und man konnte ja schließlich nicht die ganze Zeit lernen.
Sie bemerkte, dass Gavin sie fragend ansah.
»Musste nur gerade an meinen Dad denken«, erklärte sie und grinste schief.
Gavin grinste zurück und nickte. Er wusste, was sie meinte, denn er kannte ihre Familie seit Langem. Patricia konnte sicher sein, dass Gavin sie verstand.
Sie lehnte sich in ihrem Sitz zurück und atmete tief durch. Jetzt freute sie sich richtig auf das Turnier.
Noch bevor Goldie beim letzten Sprung wieder auf dem Sandboden aufkam, scholl tosender Beifall über den Parcours. Patricia war außer Atem und schwitzte fast ebenso sehr wie ihre Stute, doch sie wusste, dass sie gut gesprungen waren. Nach dem Start war ihre Nervosität wie von selbst verschwunden. Sie fühlte sich auf Goldies Rücken so sicher wie selten zuvor und kam wie von selbst in den fließenden Rhythmus der Sprünge. Die Zügel lagen leicht in ihrer Hand, die Ohren des Pferdes waren aufmerksam nach vorne gespitzt und die Stute ging weich und flink über die Hindernisse, als gäbe es nichts anderes auf der Welt. Ein einziges Mal touchierte sie eine Stange, sodass es hinter ihr kurz polterte, aber selbst den Wassergraben, vor dem sie sich am meisten fürchtete, absolvierten sie ohne Probleme.
Die Lautsprecherdurchsage konnte sie nicht verstehen, doch am Abreitplatz liefen ihr Katie und Jennifer voll Freude entgegen.
»Mensch Pat, das war cool!« Katie strahlte über das ganze Gesicht.
»Nur vier Fehlerpunkte und eine klasse Zeit, das könnte vielleicht für den zweiten Platz reichen!« Jennifer riss Patricia vor Begeisterung fast vom Pferd, was Patricia umso liebenswerter fand, als Jennifer selbst mit vier Abwürfen und einer Verweigerung leider auf den letzten Rängen gelandet war. Patricia konnte ihr Glück kaum fassen. Sollte sie auf ihrem ersten Turnier in dieser Leistungsklasse gleich ganz nach vorne gekommen sein? Ihr Gesicht glühte und sie konnte gar nicht mehr aufhören, Goldies Hals zu klopfen. Die Stute schnaubte zufrieden, als ob sie genau wüsste, dass sie heute eine gute Leistung abgeliefert hatte.
»Toller Ritt!« Gavin trat ebenfalls zu den Mädchen. Patricia wusste das Kompliment zu schätzen, da Gavin sonst eher mit liebenswürdigen Spötteleien als mit Lob um sich warf.
»Wann bist denn du dran?«, fragte Jennifer ihn.
Er schaute auf die Uhr, dann auf die große Anzeigetafel. »Ich komme als Letzter in dieser Klasse dran. Aber wie heißt es so schön: Die Letzten werden die Ersten sein!« Er grinste breit und Patricia, die inzwischen abgesessen war und sich Goldies Zügel um das Handgelenk wickelte, stieß ihn in die Rippen.
»Erst musst du mein Ergebnis toppen, bevor du hier große Töne spuckst!«
»Katie, hol dein Pferd, du bist gleich dran!« Helen kam um die Ecke, und während Katie schon losrannte, schüttelte die Reitlehrerin Patricia die Hand.
»Ganz große Klasse, Mädchen!« Patricia errötete noch tiefer. Ein Lob aus Helens Mund war etwas, nach dem sich alle heimlich sehnten, und Patricia wusste nur zu gut, dass sie niemals etwas äußerte, was sie nicht auch wirklich so meinte.
»Das war alles nur Goldies Verdienst«, murmelte Patricia.
»Na, ganz so war’s nicht«, lachte Helen. »Goldie ist ein gutes Pferd, aber auch das beste Pferd schafft es ohne guten Reiter nicht so weit.« Sie blickte zur Anzeigetafel. »Jetzt heißt es Daumen drücken, dass es nicht noch zum Stechen kommt.«
»Und wennschon«, wandte Patricia ein, »ich bin total zufrieden mit dem, was wir bis jetzt erreicht haben!«
»Gute Einstellung«, meinte Helen und drehte sich zu Gavin um. »Seaspray ist heute ein wenig übermütig«, sagte sie. »Pass auf, dass er keine Tänzchen anfängt. Du weißt, das macht er gern.«
Gavin nickte. »Wir werden es schon hinkriegen.« Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Fersen. Seine freche Selbstsicherheit schien geradezu aufreizend. Aber Patricia wusste, dass Gavin ein hervorragender Reiter war, der mit dem temperamentvollen Seaspray immer gut zurechtkam. Und er selbst wusste es offensichtlich auch.
»Also dann, Hals-und Beinbruch!« Helen nickte ihnen noch zu, dann eilte sie Philip hinterher, während Patricia Goldie zum Abreiben fortbrachte und die anderen sich an die Bande drückten, um Philips Ritt beobachten zu können.
Eine halbe Stunde später war alles vorbei.
Patricia kam im Nachhinein alles wie hinter einem Dunstschleier vor. Gavins fröhliches Winken beim Aufreiten auf dem Parcours, bevor er dem Schimmelwallach das Startzeichen gab. Seaspray galoppierte an und nahm den ersten Sprung in kraftvollem Bogen, flog geradezu hinüber. Patricia vergaß völlig, dass sie ja gewettet hatte, dass diesmal sie die Erfolgreichere sein würde, so perfekt wirkte Gavins Ritt. Sie passierten Hindernis um Hindernis, als wären sie miteinander verschmolzen. Nichts schien sie am Sieg hindern zu können.
Wie es dann passierte, konnte Patricia später nicht sagen.
Verweigerte das Pferd? Oder hatte den Wallach irgendetwas erschreckt? Jedenfalls kam Seaspray vor dem Doppeloxer mit einem Mal aus dem Tritt. Gavin trieb ihn energisch an, doch der mächtige Wallach warf den Kopf hoch. Als er schließlich viel zu früh absprang, stöhnte die Zuschauermenge auf. Patricia – zu Eis erstarrt und keines Lautes fähig – sah, wie sich Ross und Reiter mit einer machtvollen Kraftanstrengung am Hindernis emporarbeiteten, doch es war aussichtslos.
Mit einem schrecklichen Krachen prallten die beiden mitten in den Oxer. Holz splitterte, Balken polterten und für einen langen, quälenden Moment vermochte vor lauter Staub und fliegenden Beinen keiner zu unterscheiden, was Pferd und was Mensch war.
Ein Aufschrei ging durch die Menge. Dann wurde es totenstill, als sich der große Schimmelwallach endlich hochgekämpft hatte und schnaubend und mit bebenden Flanken stand. Sein Sattel war leer, die Zügel hingen herab. Für Patricia schien die Erde aufgehört zu haben, sich zu drehen.
Vermutlich dauerte es nur wenige Augenblicke, bis der erste Helfer heraneilte. Doch Patricia kam es vor, als seien Stunden vergangen. Sie vermochte sich nicht zu bewegen, stand nur da und merkte, wie es eiskalt in ihr emporstieg.
Dann begann sie zu zittern.
»Nein, oh nein«, flüsterte sie.
Doch es war keine Einbildung. Dort stand Seaspray, schnaubend, mit angelegten Ohren und vor Schreck weit aufgerissenen Augen auf drei Beinen, während immer mehr Menschen zum Ort des Sturzes strömten und sich zu der still daliegenden Gestalt hinabbeugten. Ein Sanitäter kam angerannt, seine schwere Tasche mehr schleifend als tragend.
Und immer noch diese tödliche Stille.
Jemand ergriff Patricias Arm. Sie achtete nicht darauf und sie hörte auch nicht, wie Katie keuchend neben ihr schluckte.
Sirenen, ein Krankenwagen. Gleich darauf noch ein weiteres, kleineres Rettungsfahrzeug – wohl der Notarzt. Helen befand sich mitten unter ihnen, mit so weißem Gesicht, wie Patricia sie noch niemals erlebt hatte. Jemand trat zu dem Wallach und ergriff ihn beim Zügel. Seaspray schrak zurück, aber sie hielten ihn fest. Der Schrei des Pferdes traf Patricia bis ins Innerste.
Sie konnte ihren Blick nicht von der Gruppe Menschen abwenden, die sich um den immer noch so schrecklich still liegenden Gavin kümmerten. Ihr Herz schlug ihr bis in den Hals. Es durfte nichts passiert sein, nein, es konnte einfach nichts Schlimmes passiert sein. Doch nicht Gavin. Gleich würde er sich aufrichten, grinsen und über sein Missgeschick fluchen. Immerhin hatte er gerade seine Wette verloren.
Wie von Weitem vernahm Patricia, wie jemand neben ihr drängend auf sie einsprach. Wahrscheinlich Katie oder Jennifer.
Nun erschienen zwei Männer, die eine Trage mit sich führten. Sie rannten nicht mehr.
Patricia sah, wie einer der Sanitäter Helen anblickte und mit dem Kopf schüttelte. Helen vergrub ihr Gesicht in den Händen, während man Gavins schmalen leblosen Körper auf die Trage hob und eine Decke über ihn zog. Sein Reithelm blieb am Boden neben dem Hindernis liegen, als sie ihn langsam vom Platz trugen.
Über die Lautsprecher kam die Stimme des Turnierleiters, der die Zuschauer über den Abbruch der Veranstaltung unterrichtete. Patricia hörte nicht zu, ihre Augen folgten der Trage bis zum Ambulanzwagen. Inzwischen war auch der Tierarzt eingetroffen und Seapray wurde fortgeführt. Er lahmte ein wenig, doch ihm schien ansonsten nicht allzu viel passiert zu sein.
»Patricia!«
Es brauchte mehrere Male, bis Patricia reagierte. Schwerfällig blickte sie sich um. Helen stand neben ihr, mit verweintem Gesicht.
Patricia wusste es, bevor Helen etwas sagte.
»Er ist tot?« Ihre Stimme klang winzig und sie hatte das Gefühl, als wäre ihre Kehle mit Sand gefüllt.
Helen nickte, während ihr die Tränen über die Wangen liefen.
Patricia hörte, wie neben ihr Katie in fassungsloses Schluchzen ausbrach und Jennifer leise »Nein, nein, nein!« flüsterte. Doch sie blieb stumm.
Es konnte einfach nicht wahr sein.
2.
». . . und ich hoffe, dass Deine Leistungen in diesem Trimester keinen Anlass zur Klage geben werden, denn Dein nächstes Zeugnis wird maßgebend für die Aufnahme in St. Andrews sein. Du wirst dort eine hervorragende Ausbildung erhalten, was schließlich nicht jedem zuteil wird, und es sollte selbstverständlich für Dich sein, dass Du das Deine dazu tust und Dein Studium mit Auszeichnung absolvierst. Demnächst wird im Übrigen die Saison für Rehböcke wieder beginnen und ich hoffe auf einige gute Abschüsse...«
Angewidert warf Ethan den Brief auf den Tisch.
Sein Zimmergenosse blickte von seinem Buch auf. »Schlechte Nachrichten?«
»Nein, nein, Tom«, gab Ethan bitter zurück. »Mein Vater informiert mich nur darüber, dass St. Andrews näher rückt.«
»Mann, das ist doch toll!« Tom klappte sein Buch zu. »Ich wollte, ich hätte auch schon einen Studienplatz. Aber bei meinen Noten . . .«
»Ich glaube kaum, dass du dich darum reißen würdest, nach St. Andrews zu gehen.«
»Na ja, ist ja vielleicht nicht gerade der coolste Laden im Land, aber wenn’s dein Daddy zahlt... Kostet ja ein paar Pfund, die Sache. Allerdings befindest du dich dafür dann in bester Gesellschaft – nicht so wie in meiner.« Tom grinste über das ganze sommersprossige Gesicht. »Die Crème de la Crème ist dort vertreten. Prinz William war auch da, hab ich gehört.«
»Scheiß auf Prinz William«, sagte Ethan und seine großen dunklen Augen blitzten vor Zorn. »Ich hab einfach keine Lust auf so einen verstaubten Nobelbunker, wo sogar die Küchenhilfen aus adeligem Hause sind. Und ich hab noch weniger Lust auf Betriebswirtschaft. Das ist nämlich der Studiengang, für den mich mein Vater dort angemeldet hat. Ich bin siebzehn und er behandelt mich immer noch wie ein kleines unmündiges Kind. Er hat mich noch nicht einmal nach meiner Meinung gefragt!«
»Autsch«, sagte Tom. »Das ist natürlich übel. Du wolltest sicher was mit Computern machen, oder?« Er warf einen Blick auf die Stapel CDs, Bücher und Fachzeitschriften zu diesem Thema, die überall in Ethans Zimmerhälfte herumlagen.
»Informatik.« Ethan wischte wütend den Brief seines Vaters vom Tisch. »Aber das kommt für meinen Vater gar nicht infrage. Er sagt, ich würde später die Whisky-Destillerie übernehmen und deshalb muss ich Betriebswirtschaft studieren, basta.«
Tom blickte ihn mitleidig an. Er teilte seit zwei Jahren das Zimmer im Internat mit Ethan und wusste, dass er auf seinen Vater nicht gut zu sprechen war. Insgeheim dachte er häufig, dass er um nichts in der Welt mit Ethan tauschen wollte, auch wenn dieser dreimal so viel Erfolg bei den Mädchen haben konnte, wenn er nur einmal die Augen aufmachen würde. Es war offensichtlich kein Spaß, der einzige Sohn eines solchen Patriarchen zu sein, wie der alte Longmuir einer war.
Ethan ließ sich auf sein Bett fallen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Sein Gesicht war mürrisch.
Tom stand auf. »Komm, geh mit zum Hockey, das vertreibt die schlechte Laune!«
»Nein, danke.« Er setzte sich abrupt auf. »Ich geh lieber runter in den Computerraum. Wir arbeiten da grad an einer kniffligen Sache und ich muss noch mal ins Forum schauen.«
»Verstehe: deine Linux-Module. Na gut, ich geh dann mal«, sagte Tom. »Wenn du magst, kannst du ja noch nachkommen.« Er zog seinen Schläger hinter seinem Bett hervor, ergriff seine Sporttasche, winkte seinem Freund zu und verließ den Raum.
Ethan nahm die schwarze Jacke seiner Schuluniform vom Haken und zog sie langsam über. Seine Gedanken kreisten immer noch um den Brief seines Vaters und er fühlte sich mehr und mehr in einer aussichtslosen Lage gefangen. Verdammt noch mal, wie sollte er seinem Vater nur klarmachen, dass seine Zukunftspläne für ihn rein gar nichts mit dem zu tun hatten, was sich Ethan vorstellte. Schon als Ethan damals auf dieses Internat sollte, hatte es heftige Kämpfe zwischen Vater und Sohn gegeben. Ethan verstand nicht, wozu das gut sein sollte – alle seine Freunde wechselten nach der Grundschule auf eine normale weiterführende Schule in Inverness, der nächsten größeren Stadt. Warum musste ausgerechnet er aufs Internat? Dieser verdammte Standesdünkel seines Vaters – sein einziger Sohn sollte doch nicht mit dem gewöhnlichen Volk zusammen aufwachsen, immerhin würde er einmal der Besitzer der exklusivsten WhiskyDestillerie weit und breit sein, die hundertjährige Familientradition fortführen, verantwortlich für sämtliche Mitarbeiter und deren Angehörige sein, blablabla . . .
Ethan trat an den Schreibtisch und faltete den Brief fein säuberlich zu einem kleinen Flieger. Der blöde Whisky konnte ihm gestohlen bleiben. Und das Gerede über Tradition auch. Er öffnete das Fenster und ließ den Brief seines Vaters fliegen. Nachdenklich fuhr er sich durch die immer etwas verstrubbelt wirkenden Haare und sah dem Papierflieger nach, wie er in weiten Bögen nach unten segelte und sich im Efeu verfing, der an dem alten Gemäuer des Wohntraktes emporrankte. Ethan ließ den Blick über das weitläufige Schulgebäude schweifen. Dem Wohntrakt gegenüber befand sich das eigentliche Schulgebäude – ein alter, ehrwürdiger Bau im neugotischen Stil mit hohen Bogenfenstern. Es stand inmitten eines großen Parks und war einst ein herrschaftlicher Landsitz gewesen. Allerdings wirkte es viel freundlicher und nicht so antiquiert wie der väterliche Besitz, was Ethan als Wohltat empfand. Die Lehrer waren auch einigermaßen okay, und mit den Mitschülern – besonders Tom – kam Ethan gut aus. Das Beste war allerdings, dass sie hier einen relativ modernen Computerraum besaßen, den die Schüler jederzeit benutzen durften. Für Ethan, der zu Hause nur davon träumen konnte, Zeit am Computer zu verbringen, war er inzwischen mehr oder weniger zum Mittelpunkt seines Internatslebens geworden. Hier fühlte er sich wohl, kannte sich aus, es machte ihm Freude, er fand Anerkennung, und er wusste so deutlich wie nichts anderes, dass das genau das Fachgebiet war, in dem er weitermachen wollte. Aber in St. Andrews würde das vorbei sein.
Ethan blinzelte in die tief stehende Abendsonne. Er konnte von hier aus bis hinüber auf die Sportplätze schauen und sah seine Mitschüler beim Hockey-und Lacrosse-Training. Ein paar jüngere spielten Cricket. Noch weiter entfernt ging gerade eine Gruppe Mädchen in den langen grauen Röcken und schwarzen Blazern der Schuluniform den Weg über die grünen Hügel in Richtung Dorf hinunter. Internatsalltag, fern der Realität. Sollte das ewig so weitergehen? Erst hier und dann in St. Andrews?
Ethan schloss das Fenster und schlug mit der Faust gegen die Wand. Es tat weh und irgendwie fühlte es sich gut an, weil es wehtat.
Wie zum Teufel kam er nur um diese Sache mit St. Andrews herum?
3.
Es klopfte an die Tür, doch Patricia rührte sich nicht.
»Pat?« Die Tür ging einen Spalt auf und der rote Lockenschopf von Jennifer schob sich hindurch. »Dürfen wir reinkommen?«
Patricia gab keine Antwort. Sie saß auf ihrem Bett, die Beine angezogen und das Kinn auf die über den Knien verschränkten Arme gelegt. Ihre Haare hingen ungekämmt herunter, ihre Kleidung sah aus, als hätte Patricia willkürlich irgendetwas aus dem Schrank gezerrt, ohne darauf zu achten, was es war. Die Musik aus dem CD-Player dröhnte in ohrenbetäubender Lautstärke.
Jennifer und Katie blickten sich an, dann betraten sie das Zimmer. Katie setzte sich neben Patricia aufs Bett, während Jennifer zuerst unauffällig die Musik ein wenig leiser drehte, bevor sie sich den Schreibtischstuhl heranzog und darauf niederließ.
»Deine Mutter hat uns reingelassen«, begann Katie ein wenig unsicher. »Wir wollten mal nach dir schauen, weil du dich in letzter Zeit überhaupt nicht mehr blicken lässt. Ich hab dir schon ein Dutzend SMS geschickt, hast du sie nicht gelesen?«
»Mein Akku ist leer«, sagte Patricia, aber sie rührte sich nicht und hob auch nicht den Blick zu den Freundinnen. Ihr Gesicht war sehr blass, unter den Augen hatte sie dunkle Ringe.
Jennifer räusperte sich.
»Helen hat schon öfter nach dir gefragt, sie macht sich Sorgen. Und Goldie vermisst dich auch.«
»Ich hab Goldie ein paar Mal bewegt«, mischte sich nun Katie ein. »Ich hoffe, du hast nichts dagegen. Sie kann ja nicht die ganze Zeit stehen, sonst ist sie im Reitunterricht immer ganz kirre und wirft die Anfänger aus lauter Übermut ab.« Sie musterte Patricia ein wenig ängstlich, aber als diese nichts sagte, fuhr sie ermutigt fort. »Ich hab sie auch geputzt und ihr ab und zu ein paar Möhren gebracht. Meine Missy ist schon ganz eifersüchtig.« Katie probierte ein zaghaftes Lächeln.
»Ich hab mich mit Linus für die Dressurprüfung angemeldet«, warf nun Jennifer ein. »Du weißt schon, für die Ende Mai in Glasgow. Linus geht wirklich gut im Moment, es scheint ihm richtig Spaß zu machen.«
Patricia hörte zu, aber sie fühlte sich wie unter einer Glasglocke. Alles schien weit von ihr weg, die Namen der Pferde kamen ihr seltsam unbekannt vor. Und alles war so uninteressant. Warum erzählten sie ihr eigentlich davon?
Als Katie und Jennifer nichts mehr einfiel, über was sie sprechen sollten, verstummten sie und blickten sich hilflos an. Sie kannten Patricia nicht mehr wieder.
»Pat«, begann Jennifer behutsam, »es ist furchtbar, was mit Gavin passiert ist. Wir alle sind fix und fertig deswegen. Aber es muss doch irgendwie weitergehen. Du kannst dich doch jetzt nicht völlig vergraben.«
Patricia sah auf. Was redete Jennifer? Wusste sie eigentlich, was sie da sagte? Vor zwei Wochen war die Beerdigung gewesen und Patricia standen immer noch die Bilder des blumengeschmückten Sarges, der starren, schwarz gekleideten Eltern Gavins vor Augen, und sie hörte die erbarmungslos endgültigen Worte des Geistlichen, die Gavin zu etwas Vergangenem werden ließen. Gleichzeitig brannten in ihr die Erinnerungen an den Jungen, mit dem sie befreundet war, solange sie denken konnte. Sie waren Nachbarskinder gewesen, hatten bereits im Sandkasten miteinander gespielt, waren zusammen eingeschult worden, hatten sich gestritten und wieder versöhnt, zusammen hinter den Johannisbeerbüschen im Garten ihre erste heimliche Zigarette geraucht und irgendwann auch gemeinsam ihre Liebe zu den Pferden und dem Reitsport entdeckt. Trotz aller Rivalitäten und auch ungeachtet anderer Freundschaften, waren sie unverändert die besten Freunde geblieben. Gavin war in Patricias Zuhause genauso selbstverständlich ein und aus gegangen wie Patricia bei den MacCauleys und für Patricia war er sehr viel mehr der Bruder gewesen als Ivan, mit dem es häufig zu heftigen Auseinandersetzungen kam.
Und nun sollte sie so tun, als sei nichts Besonders passiert, und einfach wieder zur Tagesordnung übergehen?
»Möchtest du nicht wenigstens mal nach Seaspray sehen?«, fragte nun Katie beinahe flehend. »Seine Zerrung ist schon viel besser, aber er ist immer noch ziemlich verschreckt. Eric kümmert sich um ihn, aber vielleicht wäre es ganz gut, wenn du mal vorbeikämst. Dich kennt er doch immerhin auch gut.«
Sie sollte Gavins Pferd besuchen? Das Pferd, das ihn getötet hatte?
Zum ersten Mal dachte Patricia das Ungeheuerliche. Seaspray hatte Gavin umgebracht. So sicher, wie wenn der Schimmel ihn mit den Hufen erschlagen hätte. Hätte Seaspray vor dem Oxer nicht verweigert, wäre das alles nicht passiert. Dann wäre Gavin noch am Leben, dann würden sie jetzt das gewettete Eis essen und gemeinsam über irgendeinen Blödsinn lachen, wie immer.
Sie straffte sich und blickte Katie böse an.
»Ich werde Seaspray ganz bestimmt nicht besuchen. Ich werde überhaupt nicht mehr in den Stall gehen. Und ich will mit Pferden und Reiten nichts mehr zu tun haben.« Ihre Stimme klang blechern, sie brachte die Worte kaum heraus.
Katie und Jennifer starrten Patricia an.
»Das kannst du doch nicht machen«, stieß Katie erschrocken hervor.
»Das ist doch albern«, sagte Jennifer gleichzeitig. »Was soll das bringen?« Sie rückte ihren Stuhl ganz nahe an Patricia heran und fasste sie bei der Hand. »Du willst wirklich alles hinschmeißen? Davon wird Gavin auch nicht mehr lebendig! Und glaubst du im Ernst, er würde das wollen?«
Patricia riss ihre Hand zurück, ihre Augen funkelten vor unterdrückter Wut.
»Was Gavin wollen würde oder nicht, das geht euch einen Dreck an! Lasst mich einfach in Ruhe, okay?«
Jennifer zuckte zurück. Katie blickte entsetzt drein. So hatten sie ihre Freundin Patricia noch nie erlebt. Patricia konnte das nicht ernst meinen. Sie war im Moment wohl einfach zu sehr in ihrem Kummer um Gavin gefangen, das würde sich wieder geben, davon waren sie überzeugt. Also sollten sie das, was Patricia da sagte, nicht krummnehmen. Jennifer holte tief Luft und schluckte herunter, was sie im ersten Moment hatte antworten wollen.
»Na, komm, Pat«, sagte sie versöhnlich. »Zieh dich um und komm mit uns mit. Wir gehen auch nicht in den Stall, versprochen! Wie wär’s, wenn wir in die Stadt fahren und ein Eis essen?«
Dass das genau das Falsche war, merkte Jennifer schon, als sie es aussprach.
Patricia wurde noch bleicher, als sie ohnehin schon war. »Haut endlich ab.« Sie sprach ganz leise, aber ihr Ton war deutlich. Sie beugte sich vor und drehte den Lautstärkeregler des CD-Players hoch. Dann wandte sie sich ab und vergrub ihr Gesicht unter ihren verschränkten Armen. Ihre Fingerknöchel waren weiß, so heftig krampfte sie ihre Hände zusammen.
Jennifer und Katie schauten sich an. Dann stand Jennifer auf und auch Katie rutschte vom Bett.
»Ruf an, wenn wir was für dich tun können«, sagte Katie leise.
»Wir...wir sind für dich da, vergiss das nicht.« Jennifers Gesicht zeigte keinen Ärger. Nur tiefen Kummer.
Dann gingen sie.
Das Geräusch der sich schließenden Tür war durch die laute Musik kaum zu hören, doch Patricia hob den Kopf und lehnte sich zurück. Sie war erleichtert, wieder allein zu sein. Tief in ihrem Innern wusste sie jedoch ganz genau, dass sie sich unmöglich benommen hatte. Sie war sich darüber im Klaren, dass sie den Freundinnen eigentlich nachlaufen und sich bei ihnen entschuldigen sollte. Doch gleichzeitig regte sich in ihr namenloser Zorn. Sie hasste die beiden dafür, dass sie so einfach zur Tagesordnung übergingen, obwohl sie noch auf dem Friedhof Rotz und Wasser geheult hatten. Gavin war auch ihr Freund gewesen, auch wenn er ihnen natürlich nicht so nahe gestanden hatte wie ihr selbst. Wie konnten sie so schnell vergessen, was geschehen war?
Und von ihr zu verlangen, dass sie sich auch noch um das Pferd kümmerte, das für Gavins Tod verantwortlich war – das war ja wohl das Allerletzte!
Doch tief im Innersten wusste Patricia, dass es nicht Seaspray war, dem sie die Schuld geben durfte. Schließlich hatte Gavin ihn angetrieben und sich damit selbst in Gefahr gebracht. Warum nur mussten sie um dieses blöde Eis wetten! War es denn nicht vollkommen egal, wer auf einem Turnier besser abschnitt? Was sollte dieser ewige kindische Wettstreit! Für so was waren sie beide ja wohl schon zu alt! Und sie hätten sich darüber im Klaren sein sollen, dass Sicherheit stets an erster Stelle rangierte.
Hätte sie ihn doch nur nicht ständig angestachelt! Dann hätte Gavin bei jenem letzten Hindernis, als Seaspray verweigerte, dem Schimmel möglicherweise lachend seinen Willen gelassen und sich gutmütig mit einem hinteren Rang begnügt. Doch ihre, Patricias, boshafte Bemerkungen im Ohr, wollte er es wohl trotz allem versuchen, schließlich konnte er es ja nicht auf sich sitzenlassen, dass sie ihn verspottete.
Patricia vergrub den Kopf zwischen ihren angezogenen Knien.
Wenn sie doch nur weinen könnte! Nicht einmal bei der Beerdigung wollten die erlösenden Tränen kommen und auch jetzt fühlte sie nur diese eisige Starre. Vermutlich hatte sie es nicht verdient, weinen zu dürfen.
Schließlich war sie an allem schuld.
4.
Es war Mai, der Himmel strahlend blau, die Sonne schien warm und ein milder Wind blies aus Süden. Von der wenig befahrenen Straße vor dem Haus her schallten Kinderstimmen und das Ploppgeräusch eines Balles. Ivan spielte mit seinen Freunden Fußball, er plante für sich eine spätere Profikarriere bei Celtic oder den Rangers – er hatte sich noch nicht endgültig für einen der beiden Vereine entschieden.
Das Fenster in Patricias Zimmer stand offen. Patricia saß auf dem Fensterbrett, an die Laibung gelehnt, die Knie hochgezogen. Ihre Mutter rügte sie immer, wenn sie sie so sitzen sah. Sie hatte Angst, Patricia würde noch hinausfallen.
Patricia war das egal. Sie konnte auf sich selbst aufpassen. Und selbst wenn sie hinausfiele – was machte das schon, dachte sie.
Mrs Mackintosh arbeitete im Garten. Sorgfältig hackte sie das Unkraut zwischen den sprießenden Mohrrübenpflanzen heraus und warf es auf den immer größer werdenden Haufen neben sich. Für Patricias Mutter war die Gartenarbeit eine heilige Handlung. Obwohl das Grundstück nicht sehr groß war – wie alle anderen in der Siedlung verfügte ihr Reihenhaus lediglich über eine kleine Grünfläche vor und einen handtuchschmalen Gartenhinter dem Haus – setzte Mrs Mackintosh alljährlich ihren ganzen Ehrgeiz daran, ihre Familie mit möglichst viel frischem Gemüse zu versorgen.
Dieses Jahr wird sie immerhin nichts zu meckern haben, weil ich dauernd Möhren für die Pferde klaue, dachte Patricia bitter. Sie wusste, dass sich ihre Mutter freuen würde, wenn sie hinunterginge und ihr beim Jäten helfen würde. Aber sie brachte es nicht über sich. Sie ärgerte sich noch zu sehr über das Gespräch mit ihren Eltern vom Vortag.
Die wollten sie doch tatsächlich zum Psychiater schleifen!
»So geht es nicht weiter«, hatte ihr Vater gemeint. »Du hast deinen guten Freund verloren, da ist es verständlich, dass du trauerst. Aber allmählich ist es an der Zeit, dass du versuchst, darüber hinwegzukommen. Die Sache ist jetzt fast zwei Monate her und du schleichst immer noch herum wie ein Gespenst, isst nichts, gehst nicht aus dem Haus, redest mit keinem – das ist doch nicht mehr normal, findest du nicht?«
Patricia hatte ihn beinahe hasserfüllt angefunkelt. »Es kann dir doch egal sein, was ich mache!«
»Es ist uns nicht egal«, mischte sich die Mutter ein. Ihr Gesicht war kummererfüllt. »Wir machen uns Sorgen um dich, verstehst du das nicht?«
Patricia gab keine Antwort.
»Wir haben für dich einen Termin bei Dr. Duncan vereinbart«, sagte Mr Mackintosh. »Er wird dir helfen, das Ganze besser verarbeiten zu können.«
»Was ist das für ein Doktor?« Patricia ahnte Böses.
»Ein sehr guter Psychotherapeut«, antwortete ihre Mutter. »Er ist uns empfohlen worden, ein Spezialist für posttraumatische Belastungsstörungen bei Kindern und Jugendlichen.«
»Ein Seelenklempner?« Patricia war fassungslos. »Denkt ihr jetzt, ich bin bekloppt oder was?«
»Unsinn!« Ihr Vater bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Das hat mit bekloppt gar nichts zu tun. Aber du brauchst Hilfe, das musst du doch einsehen. Und gerade für so etwas sind solche Ärzte da.«
»Bitte, Patsy, sei vernünftig!« Die Stimme ihrer Mutter klang flehend. »Vielleicht kannst du ja mit dem Doktor über deine Probleme reden, wenn du es schon mit uns nicht willst.«
Patricia hatte sie wütend angeblitzt. Sie hasste es, wenn ihre Eltern sie Patsy nannten, und noch mehr machte es sie zornig, dass man sie nicht einfach in Ruhe ließ. Was hieß das, der Psychoonkel sei ihnen empfohlen worden? Von wem? Tratschten ihre Eltern über sie in der Gegend rum? Verdammt, was gingen andere Leute ihre Probleme an?
Ihre Mutter war nun fertig mit dem Möhrenbeet und sammelte die Abfälle ein. Mit düsterer Miene schaute Patricia zu, ohne sich im Geringsten dafür zu interessieren. Mrs Mackintosh öffnete die Mülltonne und kippte die Pflanzenreste hinein. Dann stutzte sie und blickte genauer in die Tonne. Mit spitzen Fingern zog sie einen Packen zusammengerolltes Papier heraus.
Patricia wusste, was es war. Sie hatte es gestern selbst hineingestopft. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck musterte sie die leeren Wände ihres Zimmers, auf der geblümten Tapete sah man deutlich die hellen Vierecke, wo vorher die Pferdeposter gehangen hatten. Endlich ist der Mist weg, dachte sie. Alles, was sie jetzt noch zu tun hatte, war, ihre Reitsachen zu entsorgen. Momentan lagen Stiefel und Hose zusammen mit Kappe und Gerte in eine Plastiktüte geknüllt in der hintersten Ecke ihres Kleiderschrankes, aber die Gefahr, dass ihre Mutter sie beim großen Aufräumen finden und ans Tageslicht holen würde, war immer gegeben. Das Einzige, von dem sich Patricia bisher noch nicht trennen konnte, war der Schnappschuss, der gerahmt auf ihrem Schreibtisch stand. Er zeigte Gavin und sie selbst bei der Siegerehrung der Juniorenmeisterschaft im letzten Sommer. Sie hatten damals die ersten beiden Plätze belegt und winkten, fröhlich auf ihren Pferden sitzend, mit den Kappen in die Kamera.
Patricia betrachtete das Bild häufig und jedes Mal war der Schmerz unglaublich stark. Doch sie brachte es nicht übers Herz, es wegzupacken. Es war das einzige neuere Foto, das sie von Gavin besaß, und sie empfand es irgendwie als ihre wohlverdiente Strafe für ihre Schuld an seinem Unfall, dass sie es ständig vor Augen hatte.
Es klopfte an der Tür.
»Patricia?« Die Stimme ihrer Mutter.
Oh Mann, jetzt macht sie gleich einen Aufstand wegen der Poster, dachte Patricia.
Doch merkwürdigerweise ging Mrs Mackintosh auf dieses Thema überhaupt nicht ein.
»Hör mal, Patricia, hast du gerade was Wichtiges zu tun?«
Was soll ich denn schon Wichtiges zu tun haben?, dachte Patricia.
»Warum?« Ihr Ton machte deutlich, dass sie sich gestört fühlte.
»Ich wollte fragen...« Ihre Mutter wirkte unsicher. »...Ich müsste zum Einkaufen fahren und da ist heute eine Menge zu schleppen. Wärst du so nett und kommst eben mit?«
Patricia stöhnte innerlich auf und lehnte ihren Kopf mit geschlossenen Augen an die Fensterlaibung. Auch das noch! Auf Einkaufen hatte sie absolut keine Lust! Konnte ihre Mutter nicht Ivan mitnehmen?
Doch ihre Mutter blickte sie so bittend an und in ihrem Innern mahnte sie eine leise Stimme, dass sie es trotz allem nicht übertreiben dürfe – sonst würden ihre Eltern sie doch noch zu dem Psychotherapeuten schicken. Widerwillig rutschte sie vom Fensterbrett.
»Von mir aus.« Ihr Gesichtsausdruck war mürrisch.
»Lieb von dir, danke«, sagte ihre Mutter, zögerte kurz, als wollte sie noch etwas hinzufügen, ließ es dann aber und verließ das Zimmer.
Lustlos folgte ihr Patricia.
BeiTescowar es voll – ein Umstand, der Patricias Laune nicht gerade hob. Sie hasste die Atmosphäre in solchen Supermärkten, das Gedränge, die grelle künstliche Beleuchtung und das Klirren der Einkaufswagen gepaart mit seichter Musikberieselung und aufreizend-fröhlichen Werbedurchsagen aus den Lautsprechern. Und am meisten nervten sie die vielen Menschen.
Sie war froh, als das gute halbe Dutzend prall gefüllter Plastiktüten mit den Einkäufen endlich im Kofferraum des Wagens verstaut war und ihre Mutter den Motor anließ. Patricia lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Sie sehnte sich nach der Ruhe und dem Frieden in ihrem Zimmer, so schnell würde sie sich bestimmt nicht mehr zum Einkaufen überreden lassen.
Erst als das Auto auf Kopfsteinpflaster einbog, schreckte Patricia hoch. Wo um Himmels willen fuhr ihre Mutter denn hin? Nirgendwo auf dem Heimweg gab es Kopfsteinpflaster!
Und dann der Geruch, der durch die heruntergelassenen Scheiben hereinwehte – dieser warme, durchdringende Geruch nach Pferden!
Sie riss die Augen auf und erstarrte.
Das Erste, was sie sah, war Chestnut. Die braune Stute wurde gerade von einem jüngeren Mädchen aus dem Stall geführt. Die beiden wichen Helen aus, die mit einem Schubkarren voll Heu hineinwollte. Aus dem Gebäude schallte Pferdegewieher.
Patricia richtete sich kerzengerade auf dem Beifahrersitz auf.
»Was soll das?«, flüsterte sie. »Was machen wir hier? Du hast nichts davon gesagt, dass wir zum Stall fahren!« Ihre Stimme wurde lauter und sie spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten und ihr Gesicht heiß wurde. »Ich mag nicht hierher! Dreh sofort rum, ich will nach Hause!«
»Patricia, bitte!« Mrs Mackintosh stellte den Motor ab und lehnte sich über das Lenkrad. »Es geht so nicht mehr weiter. Du kannst dich nicht für immer zu Hause vergraben!«
»Aber ich will nicht in den Stall!« Patricia schrie nun fast. Ihr Herz klopfte wild und sie blickte sich beinahe panisch um. Noch hatte keiner sie entdeckt, aber die Gefahr, dass Helen wieder aus dem Stall herauskam und sie sah, war groß.
Wie konnte ihre Mutter sie nur so verraten!
»Patricia, sei doch vernünftig!« Ihre Mutter blickte sie flehend an. »Du bist so gerne hier gewesen, magst die Pferde so gern, das kann doch nicht alles vorbei sein!«
»Hattest du das geplant?«, fragte Patricia stattdessen.
Ihre Mutter zögerte.
»Na ja, dein Vater und ich haben uns Sorgen gemacht und da dachten wir . . .«
»Was habt ihr euch gedacht?«, fauchte Patricia. »Dass ihr’s jetzt auf diese Weise probiert, nachdem ihr das mit dem Psychoonkel nicht durchsetzen konntet?«
»Nein, Patricia, das siehst du falsch! Wir wollten dir nur helfen! Wir dachten, wenn du das alles hier wieder siehst, den Stall, die Pferde, kriegst du vielleicht wieder Lust zu reiten.«
»Ihr habt doch sonst immer gemeckert, dass ich zu viel im Stall herumhänge«, sagte Patricia zynisch. »Seid doch froh, dass ich es nicht mehr tue!«
»Aber doch nicht so«, widersprach ihre Mutter. »Ich weiß, dass du das nicht so meinst, Patsy. Du bist durcheinander und furchtbar traurig, aber das geht irgendwann wieder vorbei, glaub mir. Du kannst doch jetzt nicht alles aufgeben, das Reiten und die Pferde haben dir doch immer so viel bedeutet!«
Patricia gab keine Antwort. Sie starrte auf den Hofplatz.
Dort, genau dort hatte Gavin ihr vor dem letzten Turnier beim Verladen von Goldie geholfen. Und weiter hinten, beim Misthaufen, hatten sie noch vor wenigen Monaten eine Rauferei veranstaltet, weil Gavin sie wegen eines Risses in ihrer Reithose gehänselt hatte. Am Ende hatten sie sich beide ausgeschüttet vor Lachen, waren völlig außer Atem und über und über mit Stroh und Pferdemist bedeckt gewesen. Obendrein hatten sie ordentlich Schelte von Helen geerntet, weil sie sich gegenseitig mit Pferdeäpfeln beworfen hatten. Hinterher mussten sie gemeinsam den ganzen Hof fegen, weil Helen meinte, es sei schließlich ein Pferde-und kein Schweinestall, und wer den Dreck verursache, solle ihn auch wieder beseitigen. Aber, wie Gavin sagte, das war der Spaß wert gewesen.
»Bitte, Patricia«, sagte ihre Mutter wieder und riss Patricia damit aus ihren Gedanken. »Steig wenigstens mal aus. Du musst ja nicht reiten, wenn du nicht willst. Dein Pferd freut sich bestimmt, wenn du es mal wieder besuchst. Wer kümmert sich momentan eigentlich darum?«
Patricia rührte sich nicht und gab auch keine Antwort. Ihre Hände krampften sich um den Autositz, als wolle sie sich daran festhalten. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie die Stalltür sich wieder öffnete und Helen heraustrat. Und, wie nicht anders zu erwarten, entdeckte die Reitlehrerin sofort das Auto. Helens Gesicht leuchtete auf, als sie Patricia erkannte, und schnellen Schrittes kam sie heran.
»Hallo Patricia!« Ihre Stimme klang freudig. »Das ist aber schön, dass du mal wieder vorbeikommst!« Sie wischte sich rasch die Hände an ihrer Reithose ab und stützte die Ellenbogen auf das Autofenster auf.
Mit ihren kurzen aschblonden Haaren und dem einfachen blauen T-Shirt sah Helen aus wie immer, stellte Patricia widerwillig fest. Und sie lächelte auch wie immer. Als ob nie etwas passiert wäre, dachte Patricia böse. Sie wandte sich ab, während Helen ihre Mutter begrüßte.
»Guten Tag, Miss Gilroy«, sagte Patricias Mutter und erwiderte das Lächeln. »Wir waren gerade in der Nähe und da dachten wir...« Doch ihr künstlich fröhlicher Ton ließ sich nicht länger erzwingen und Mrs Mackintosh brach hilflos ab.
Helens Miene wurde besorgt, als sie Patricias Gesicht genauer betrachtete.
»Wie geht es dir?«, fragte sie und legte ihre Hand auf Patricias Schulter.
Das war zu viel.
Mit wütender Bewegung schüttelte Patricia Helens Hand ab, öffnete den Sicherheitsgurt und riss die Autotür auf, sodass Helen zurückspringen musste, um nicht getroffen zu werden.
»Patricia!«, rief ihre Mutter entsetzt, doch Patricia war schon hinausgestolpert.
»Lasst mich endlich in Ruhe!«, schrie sie. Sie sah nicht die entsetzten Gesichter der anderen, die sich erschrocken nach ihr umwandten. Sie beachtete auch Chestnut nicht, die von ihrer lauten Stimme aufgeschreckt den Kopf hochwarf und nervös umherzutänzeln begann.
»Verdammt noch mal, kapiert es endlich«, stieß sie atemlos aus. »Ich will nicht mehr reiten und ich will nie wieder was mit den Scheißgäulen zu tun haben! Ist das endlich bei euch angekommen?«
Helen starrte sie an, aber in ihrem Blick stand mehr Mitleid als Schockiertheit.
»Hör mal, Patricia«, begann sie ruhig, »ich kann dich sehr gut verstehen, aber . . .«
»Spar dir dein Verständnis«, unterbrach Patricia sie barsch, während ihre Mutter ihr bleiches Gesicht mit den Händen bedeckte. »Man hat mich mit einem Trick hergelockt, aber das heißt nicht, dass ich hier bleiben werde. Und...«Sie warf einen bitterbösen Blick auf ihre Mutter. ». . . Wenn sich meine Mutter nun auch noch weigert, mich sofort zurück nach Hause zu bringen, dann geh ich eben zu Fuß. Ihr könnt mich doch alle mal!«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und schlug einen Bogen um das Auto. Bevor Helen oder ihre Mutter auch nur ein Wort sagen konnten, war Patricia schon aus dem Tor hinaus und um die Ecke verschwunden. Patricias Mutter unterdrückte ein Schluchzen. Hektisch begann sie, in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch zu kramen.
»Es tut mir leid«, sagte sie undeutlich hinter dem Tuch hervor.
»Das muss es nicht«, wandte Helen ein, die geradezu verloren neben dem Auto stehen geblieben war und Patricia traurig nachblickte. Auch sie hatte mit den Tränen zu kämpfen und kaute, ohne es zu merken, an einem Fingernagel herum. »Sie tun doch alles für Patricia, was Sie können. Und ich kann mir nur zu gut vorstellen, wie schwierig es für Sie alle momentan ist.«
»Wir wissen nicht mehr, was wir machen sollen, um dem Kind zu helfen!« Mrs Mackintosh sah Helen beinahe Hilfe suchend an. »Sie trauert um ihren Freund, das können wir ja verstehen. Aber sie steigert sich geradezu hinein! Sie wissen nicht, was bei uns zu Hause los ist. Patricia ist so verändert, wir kennen sie nicht mehr wieder. Bis vor Kurzem waren wir immer froh, dass sie keines dieser Modepüppchen ist. Doch jetzt wären wir nur zu glücklich, wenn sie wenigstens ein bisschen auf sich achten würde! Sie zieht jeden Tag dieselbe Jeans und dasselbe T-Shirt an, sie wäscht sich kaum noch die Haare. Und sie fährt immer gleich aus der Haut – wir trauen uns kaum noch, sie anzusprechen...« Mrs Mackintoshs Stimme klang erstickt, die Verzweiflung war ihr deutlich anzumerken. Doch dann nahm sie sich zusammen und putzte sich die Nase. Es hatte sie sichtlich erleichtert, dass sie das Ganze einmal aussprechen konnte.
»Manchmal habe ich das Gefühl, sie macht uns dafür verantwortlich, was Gavin passiert ist!«, fügte sie leise hinzu.
»Das ist Unsinn«, sagte Helen bestimmt. »Sie weiß ganz genau, dass keiner etwas dafürkann. Sie sucht nur irgendein Ventil, um mit ihrem Schmerz fertig zu werden. Wut ist da eine ganz natürliche Reaktion – und Sie sind leider diejenigen, die es zurzeit abbekommen.« Sie zögerte einen Moment und fuhr dann fort: »Ihre beiden Freundinnen, Katie und Jennifer, haben mir erzählt, dass Patricia sie rausgeworfen hat, als sie kürzlich bei ihr waren.«
Mrs Mackintosh nickte. »Ich konnte es kaum glauben. Die drei sind seit Jahren ein Herz und eine Seele. Und dann das! Ich habe Angst, dass es sich Patricia auf diese Weise mit allen verscherzt und am Ende völlig isoliert ist.«