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Die lang erwartete Fortsetzung des Bestsellers „Die Pferdefrau“: Jutta Beyrichens „Die Tochter der Pferdefrau“ jetzt als eBook bei dotbooks. Auf die Ruhe folgt stets der Sturm … Die deutsche Tierärztin Christine hat in Irland ihr Glück gefunden: Sie ist mit dem liebevollen Denis verheiratet und kann sich nichts Schöneres vorstellen, als mit ihm auf dem gemeinsamen Pferdegut zu arbeiten. Doch dann begegnet sie der 17-jährigen Jessica, die nach dem tödlichen Unfall ihrer Mutter schwer traumatisiert ist. Von nun an setzt Christine alles daran, dem Mädchen zu helfen – nicht ahnend, dass diese Entscheidung ihre Liebe zu Denis für immer zerstören könnte … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Tochter der Pferdefrau“ von Jutta Beyrichen. Wer liest, hat mehr vom Leben. dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 599
Über dieses Buch:
Auf die Ruhe folgt stets der Sturm … Die deutsche Tierärztin Christine hat in Irland ihr Glück gefunden: Sie ist mit dem liebevollen Denis verheiratet und kann sich nichts Schöneres vorstellen, als mit ihm auf dem gemeinsamen Pferdegut zu arbeiten. Doch dann begegnet sie der 17-jährigen Jessica, die nach dem tödlichen Unfall ihrer Mutter schwer traumatisiert ist. Von nun an setzt Christine alles daran, dem Mädchen zu helfen – nicht ahnend, dass diese Entscheidung ihre Liebe zu Denis für immer zerstören könnte …
Über die Autorin:
Jutta Beyrichen wurde 1964 geboren. Bereits als junges Mädchen entdeckte sie ihre Liebe zum Reiten. Neben Pferden hat sie eine zweite große Leidenschaft – Irland, die grüne Insel, auf der auch viele ihrer Romane spielen.
Bei dotbooks erschien bereits der erste Roman rund um die Tierärztin Christine: »Die Pferdefrau«.
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eBook-Neuausgabe September 2014
Copyright © der Originalausgabe 2005 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2014 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nicola Bernhart Feines Grafikdesign, München, unter Verwendung von Bildmotiven von Fotolia.com/konradbak und vectorstock.com/Pazhyna
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH
ISBN 978-3-95520-822-6
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Jutta Beyrichen
Die Tochter der Pferdefrau
Roman
dotbooks.
Something inside so strong
The higher you build your barriers
The taller I become
The further you take my rights away
The faster I will run
You can deny me
You can decide to turn your face away
No matter 'cause there's
Something inside so strong
I know that I can make it
Though you're doing me wrong, so wrong
You thought that my pride was gone ... oh no There's something inside so strong
Something inside so strong
The more you refuse to hear my voice
The louder I will sing
You hide behind walls of JerichoYour lies will come tumbling
Deny my place in time
You squander wealth that's mineMy light will shine so brightly it will blind you
Because there's
Something inside so strong I know that I can make it
Though you're doing me wrong, so wrong
You thought that my pride was gone ... oh no
There's something inside so strong
Something inside so strong
Brothers and sisters
When they insist we're just not good enough
Well, we know better
Just Look 'em in the eyes and say
We're gonna do it anyway
We're gonna do it anyway
because there's
Something inside so strong
I know that I can make it
Though you're doing me wrong,
so wrong You thought that my pride was gone ... oh no
There's something inside so strong
Something inside so strong
(Labi Siffre – »So Strong«)
Eben noch hatten sie sich darüber unterhalten, dass es wohl allmählich an der Zeit sei, sich nach einer Unterkunft für die Nacht umzusehen, und beschlossen, deshalb die nächste Ortschaft anzusteuern. Ihre bisherigen Erfahrungen während ihres Urlaubs hier in Irland hatten gezeigt, dass es kein Problem sein sollte, irgendwo für ein paar Pfund ein Bett mit Frühstück zu finden.
Im Radio lief ein bekannter Song, den sie beide mochten und daher vergnügt mitsummten. Die Abendsonne schien von der Seite herein, tauchte die wellige Landschaft in ein beinahe unwirkliches Märchenlicht und färbte die weidenden Schafe, Kühe und Pferde in ein leuchtendes Rotgold, was zusammen mit dem Grün der Wiesen ein fast kitschiges Bild ergab.
Die Straße war zwar schmal, kurvig und vielfach geflickt, doch hatten sie sich während der letzten Tage schon gut an die hiesigen Verkehrsverhältnisse gewöhnt und erschraken nicht mehr jedes Mal, wenn ihnen ein Lastwagen entgegenkam.
Als der Zehnachser mit dem gelben holländischen Kennzeichen aus der nächsten Kurve auftauchte, schmunzelten sie.
»Na, der hat sich aber garantiert kräftig verfahren«, mutmaßte das Mädchen.
»Vielleicht folgt er ja gerade der Wegbeschreibung, die man ihm hier irgendwo gegeben hat«, erwiderte seine Mutter lachend.
»Dann konnte er entweder kein Englisch, oder der, der ihm die Auskunft gab, hatte dieses Ungetüm von Laster nicht gesehen.« Das Mädchen blickte dem Fahrzeug interessiert entgegen.
Der Lastzug näherte sich. Er fuhr nicht sehr schnell, doch nahm er durch seine gewaltigen Ausmaße einen beträchtlichen Teil der Straße ein. Hinter der riesigen Windschutzscheibe konnte man den Fahrer nur schemenhaft erkennen, das obligatorische Namensschild im Frontfenster wies ihn allerdings als einen gewissen Piet aus. Das Mädchen verzog ein wenig gelangweilt den Mundwinkel. Sie fand die Sitte mit diesen Schildern, die offenbar mittlerweile in ganz Europa verbreitet war, albern. Als ob es die anderen Verkehrsteilnehmer interessieren würde, wer da in den Lastwagen saß.
Ihr Blick hing noch geringschätzig an den Buchstaben hinter der Scheibe des Lastzugs, als eine Frage in leicht besorgtem Ton an ihr Ohr drang.
»Ja, will der denn nicht mal allmählich vom Gas?«
Und dann kam nur noch ein hohes »O mein Gott!«
Der Ruck traf das Mädchen völlig unvorbereitet. Es schien, als ob der Wagen einen heftigen Sprung zur Seite machen würde, ihr Kopf wurde herumgeschleudert, etwas presste ihr die Brust und den Hals zusammen und schnürte ihr brutal die Luft ab, und sie hatte das Gefühl, als würde sich ihr Körper in alle Einzelteile auflösen. Das Ganze dauerte nicht mehr als wenige Sekunden, doch für das Mädchen lief alles wie in Zeitlupe ab. Sie sah die Sonne, wie sie ihr für den Bruchteil eines Moments direkt in die Augen schien, sie erblickte die Grasfetzen und belaubten Äste der Büsche, die abgerissen und hochgeschleudert an den Autofenstern vorbeiflogen, sie erkannte während des Herumwirbelns die orangefarbene Plane des Lastwagens mit der blauen Aufschrift, und ganz deutlich konnte sie dabei sogar das Schild »Piet« im vorderen Fenster lesen. Seltsamerweise hörte sie den Knall, als das Auto an den Baumstamm prallte, nur leise, wie aus weiter Ferne, doch in ihrem Kopf tönte ein Schrillen, das sie nicht einordnen konnte. Sie verspürte nicht den geringsten Schmerz, nur so etwas wie Erleichterung, als der Wagen sich endlich nicht mehr bewegte. Sie war müde, fühlte sich immer noch, als ob ihr Körper nicht zu ihr gehören würde, und die Stille, die nun urplötzlich das störende Schleudern und Krachen abgelöst hatte, empfand sie als direkt angenehm, gerade richtig zum Ausruhen.
Sie legte ihren Kopf zurück und schloss die Augen. Sie war so müde.
Das Kalb wehrte sich heftig, strampelte und blökte laut und herzzerreißend.
»Verdammt, halten Sie mir doch die Kuh vom Leib!«, stieß Christine unbeherrscht aus und versuchte verbissen, den Kopf des Jungtiers mit dem Ellbogen einzuklemmen und gleichzeitig die Injektionsnadel in die richtige Position zu bekommen. Das regenfeuchte Fell des Kalbs machte diese Aufgabe nicht eben leichter. Christines Gummistiefel rutschten im nassen Gras, und ihr Pullover war mittlerweile vollkommen nass und dreckig.
Der Bauer, der zu Christines Erbostheit von Anfang an phlegmatisch zugesehen hatte und mehr als skeptisch schien, ob die zierliche junge Frau überhaupt ihr Handwerk verstand, schnüffelte betont und drehte sich in Zeitlupentempo zu dem Muttertier um, das offenbar befürchtete, dass ihrem Kind Übles widerfahren solle, und erregt versuchte, Christine von ihm zu trennen.
»Na komm schon«, sagte der Bauer beruhigend zur Kuh, klatschte ihr auf die Flanke und schob sie ohne sichtliche Kraftanstrengung zur Seite.
Christine, die nun wieder Luft hatte, warf ihm einen finsteren Blick zu. Wenn er hier schon dabeistehen musste, wie um sie der Unfähigkeit zu überführen, dann hätte er auch durchaus selbst auf die Idee kommen können, mal mit zuzupacken. Von der Zeit, die sie nun schon an diesem Nachmittag auf seinem Hof verbracht hatte, um die Jungrinder zu untersuchen und zu impfen, entfiel nämlich bei weitem der größte Teil darauf, die Kälber einzufangen, festzuhalten und zugleich den Hörnern der wütenden Muttertiere auszuweichen, und Christine wäre schon lange fertig gewesen, hätte sie dabei auch nur die mindeste Unterstützung erfahren.
Dieses Kalb hier war das letzte der Herde, und Christine unterdrückte ein erleichtertes Aufstöhnen, als sie endlich die Injektion setzen und das Tier wieder freilassen konnte. Mit schlenkernden Schwänzen trabten Mutter und Kind davon, und Christine ließ einen mürrischen Blick über die Weide schweifen, während sie ihre im Gras verstreuten Utensilien zusammensuchte.
»War's das?«, fragte sie, und ihr Ton fiel ein wenig unfreundlicher aus, als es gewöhnlich ihre Art war. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, dass ihre Kleidung von oben bis unten mit feuchtem Lehm und Grasflecken verschmutzt war und auch deutliche Spuren von Kuhfladen aufwies. Das war nun der Lohn für drei Stunden harte Arbeit.
»Ay.« Der Bauer nickte gleichmütig, und Christine schämte sich im selben Moment für ihre Patzigkeit. Schließlich meinte es der Mann nicht böse, und man musste ihm vermutlich auch nachsehen, dass er es nicht gewohnt war, seine Tiere von einem weiblichen Tierarzt behandeln zu lassen. Immerhin hatte während der letzten vierzig Jahre Doc O'Reilly diese Aufgabe ganz allein bewältigt, und nach so langer Zeit war es natürlich für jeden mehr als gewöhnungsbedürftig, dass nun Christine da war.
Doc O'Reilly hätte wohl auch den Schnaps nicht abgelehnt, den sie jetzt, während sie sich notdürftig von den Spuren ihrer Arbeit säuberte, angeboten bekam, vermutete sie bei sich. Doch so weil hatte sie sich mit den örtlichen Sitten bisher noch nicht anfreunden können, und deshalb lehnte sie liebenswürdig ab.
»Nein?« Der Bauer hielt ihr die Flasche fragend entgegen. »Wollen Sie nicht doch einen Schluck? Ist selbst gebrannt, viel besser als das Zeug, was man im Pub kriegt.«
Selbst gebrannter Poteen! Christine schüttelte sich innerlich. Das einzige Mal, als sie unvorsichtigerweise welchen probiert hatte, hatte sie minutenlang um Luft gerungen und noch eine ganze Weile danach den Geschmack des scharfen Kartoffelschnapses im Mund und in der Kehle verspürt.
»Danke, nein. Ich habe noch eine ziemliche Strecke zu fahren, da muss ich nüchtern bleiben«, nahm sie deshalb Zuflucht zu einer plausiblen Ausrede.
Der Bauer nickte bedächtig und stellte die Flasche nicht ohne Bedauern zurück in den Schrank. »Ganz schöne Entfernung, die Sie da jeden Tag zurücklegen müssen.«
»Man gewöhnt sich dran.« Christine trocknete sich die Hände ab und zog ihren letzten Reservepullover und die Jacke wieder an, die sie vor dem Kampf mit den Kälbern abgelegt hatte. Ihre schlechte Laune begann sich bereits zu verflüchtigen. Immerhin gehörte das alles zu der Arbeit, die sie sich selbst ausgesucht hatte, weshalb sich also beklagen!
Der Bauer begleitete sie höflich bis zur Tür und sah zu, wie sie in ihren Wagen stieg.
»Sagen Sie dem Doc, er soll die Rechnung wie immer stellen«, bemerkte er dabei.
»Mach ich.« Christine schlug die Autotür zu und ließ den Motor an. ›Wie immer‹ hieß wohl zwanzig Pfund und ein paar Naturalien, vermutete sie. Schon lange hatte sie es aufgegeben, sich darüber zu wundern. Alte Gebräuche waren nun eben durch nichts auszurotten, und warum sollte man es auch tun? Außer dem Finanzamt konnte es schließlich jedem egal sein.
Nach einem freundlichen Abschiedswinken wendete Christine vorsichtig den Wagen und bahnte sich dann ihren Weg durch die mit Regenwasser gefüllten Schlaglöcher auf dem Hofplatz. Der Weg zurück zur Hauptstraße war in kaum besserem Zustand. Tiefe Traktorspuren durchschnitten den unbefestigten Untergrund, und sie hielt das Lenkrad krampfhaft fest, während der Wagen im schwindenden Tageslicht zwischen Gebüschen und Weidezäunen voranholperte. Immer wieder nahmen ihr niedrig hängende Zweige, die gegen die Windschutzscheibe schlugen, die Sicht. Hoffentlich rutschte sie nicht wieder in einen Graben, wie es ihr im vergangenen Monat passiert war. Ein Fußmarsch zurück zum Hof, um Hilfe zu holen, wäre nun, nicht lange vor Einbruch der Dämmerung und bei diesem Wetter, mehr als unangenehm.
Sie atmete auf, als sie endlich die asphaltierte Landstraße erreichte. Vorsichtig gab sie Gas und hörte, wie sich bei zunehmender Geschwindigkeit die Lehmklumpen von den Reifen lösten und gegen den Wagenboden knallten. Wie das Auto inzwischen von außen aussah, wagte sie sich gar nicht vorzustellen. Nicht zum ersten Mal war Christine froh, dass es schon lange nicht mehr Georgs Mazda war, mit dem sie ihre Patientenbesuche unternahm. Ihr Vater legte keinen Wert auf Äußerlichkeiten und hatte noch nie ein Wort über eine schlammbespritzte Karosserie, malträtierte Reifen oder immer wieder reparaturbedürftige Stoßdämpfer verloren, doch war es Christine jedes Mal selbst unangenehm gewesen, und sie hatte daher die erste Gelegenheit, sich ein eigenes Fahrzeug anzuschaffen, genutzt. Obwohl sie sich allerdings inzwischen schon mehrfach ein etwas geländegängigeres Modell gewünscht hätte, war sie mit ihrem Kombi, den sie günstig gebraucht erstanden hatte, recht zufrieden. Zumindest musste sie sich nun keine Gedanken mehr machen, in welchen Zustand der Wagen bei ihren Fahrten geriet. Angesichts des Gepäcks, das sie stets mit sich führte, um für alle Fälle gerüstet zu sein, benötigte sie den Stauraum, und zur Not konnte man darin sogar übernachten.
Kurz hinter Newbridge hörte endlich der Regen auf, und Christine warf einen Blick auf ihre Uhr. Mindestens eine Stunde Fahrt lag noch vor ihr, doch wenigstens war die Strecke frei. Insofern hatte sich die Mitgliedschaft Irlands in der EU hervorragend ausgewirkt – überall wiesen große Schilder neben den Überlandstraßen darauf hin, dass sie mit Mitteln der Europäischen Union ausgebaut worden waren. Obwohl sich Christine sonst in keiner Weise für Politik interessierte, dachte sie, dass diese zumindest keine gar so schlechte Sache sein könnte, wenn sie dazu geführt hatte, dass etliche dieser schmalen, mit Schlaglöchern übersäten Straßen in Irland durch einwandfreie ersetzt wurden. Immerhin ersparte es ihrem Auto manche Reparaturkosten und ermöglichte ihr, einigermaßen schnell vorwärts zu kommen.
Vorsichtig erhöhte sie die Geschwindigkeit. Sogar die Sonne blitzte noch einmal kurz auf und ließ die nasse Fahrbahn glänzen.
Christine entspannte sich merklich. Sie liebte diese spontanen Wetteraufschwünge, die einen grauen, nassen Tag noch im letzten Moment in einem goldenen Abend enden lassen konnten. Die Gegend hier war zwar von der landschaftlichen Schönheit her nicht mit Connemara zu vergleichen, doch hatten auch die etwas eintönigen, von kleinen Wäldern durchzogenen Wiesenlandschaften mit den relativ stillosen verstreuten Bauten hier an der Grenze zwischen den Grafschaften Roscommon und Galway ihren Reiz, besonders nun in dieser prachtvollen Abendbeleuchtung. Sie kannte sich mittlerweile gut aus, auf ihren Fahrten kam sie weit herum, und beinahe jeden Tag fand sie irgendwo einen neuen Ort, einen anderen Anblick, eine weitere landschaftliche Schönheit, die ihr wieder bestätigten, was für eine wunderbare Heimat sie sich hier gewählt hatte. Seit drei Jahren lebte sie nun in Irland, und sie hätte früher nie für möglich gehalten, dass sie zu einem Ort, an dem sie sich aufhielt, zu einem Land und seinen Menschen, zu dem, was es atmete, so eine tiefe Beziehung aufbauen könnte. In Deutschland zumindest hatte sie nie so empfunden, auch nicht während ihres Studienaufenthalts in den USA. Doch hier ...
Christine schaute zum Seitenfenster hinaus. Die weißen Feldsteinmauern neben der Straße waren an dieser Stelle niedrig genug, um aus dem Auto hinüberblicken zu können, und sie sah die obligatorischen Schafe mit ihren roten und blauen Farbklecksen auf den wolligen Rücken friedlich weiden. Jetzt im September war die Farbpalette der Vegetation nicht mehr so vielfältig wie früher im Jahr, das Gras nicht mehr ganz so sattgrün, doch die leuchtend roten Blüten der Fuchsien, die überall an den Böschungen und Straßenrändern wuchsen, setzten bunte Tupfer in eine Landschaft, die bald schon herbstlich verblassen würde. Wann wohl die Pferde dieses Mal anfangen würden, ihr Winterfell zu entwickeln? Vergangenes Jahr waren sie sehr früh dran gewesen, und es hatte tatsächlich einen relativ kalten Winter gegeben.
Der Gedanke an die Pferde ließ Christine lächeln, und sie drückte unwillkürlich das Gaspedal ein wenig kräftiger durch. Von den Pferden war es nur ein kleiner Schritt zu Denis ...
Sie blickte auf das Schild, das am Straßenrand die Entfernungen anzeigte. Bis nach Galway waren es immer noch über dreißig Kilometer.
Es war schon lange dunkel, als Christine endlich in die Auffahrt zum Hof einbog. Die schwachen Lichtkegel, die ihre Autoscheinwerfer auf die Stallwand warfen, erinnerten sie daran, dass sie morgen Früh unbedingt den Wagen vom gröbsten Schmutz befreien musste. Auch wenn es keine Rolle spielte, wie er aussah, so durfte sie zumindest die Verkehrssicherheit nicht ganz außer Acht lassen.
Sie seufzte, stellte den Motor ab und öffnete mit steifen Bewegungen die Tür. Erst jetzt merkte sie so richtig, wie anstrengend der Tag heute gewesen war, sie spürte jeden Muskel im Leib. Behutsam dehnte sie ihre müden Glieder und hielt dann ihre Armbanduhr ins trübe Licht der Hofbeleuchtung. Nach zehn bereits, da war Denis sicher schon schlafen gegangen. Zurzeit hatte er mit seinen Zweijährigen so viel Arbeit, dass er jede Gelegenheit nutzte, möglichst früh ins Bett zu kommen.
Im selben Moment, als Christine das dachte, öffnete sich die Tür des Wohnhauses. Ein schmaler Lichtstreifen fiel hindurch, sie sah eine hohe Gestalt heraustreten und mit leisen Schritten den Weg herunterkommen.
»Christine?«
Immer wieder wunderte sie sich, wie sie auch nach drei Jahren noch beim Klang dieser Stimme erbebte.
»Du bist noch auf? War irgendwas los?«
»Nein, warum?« Denis öffnete den Laderaum des Kombis und hob den Metallkoffer mit Christines Ausrüstung heraus.
»Moment«, bremste sie ihn, als er die Klappe wieder schließen wollte. »Da muss noch mehr mit!« Sie zerrte die große Plastiktüte mit den unordentlich hineingestopften schmutzigen Kleidungsstücken heraus und suchte dann noch ihre lehmigen Gummistiefel zusammen.
Denis lächelte. »Übles Wetter heute, was?«
»Das kann man wohl sagen.« Christine erwiderte das Lächeln. »Hat es hier auch so viel geregnet?«
»Fast den ganzen Tag. Wenn's morgen nicht besser wird, kann Ruaidhri seine Tour vergessen.«
»Aber vorhin sah es doch schon wieder ganz gut aus.«
Denis nickte und warf einen prüfenden Blick auf den Wagen. »Alles zu?«
»Nein, warte!« Christine bückte sich noch einmal ins Auto, zog den Zündschlüssel ab und verschloss dann sorgfältig die Türen. Als sie bemerkte, dass Denis mit gerunzelter Stirn zuschaute, lachte sie leise auf. »Du siehst langsam Gespenster.«
»Man weiß ja nie, was den Kids als Nächstes einfällt.« Denis schüttelte den Kopf.
»Nun stell sie mal nicht schlimmer hin, als sie sind.« Christine schaute zu ihm hinauf und strich kurz über seinen Arm, woraufhin Denis' Blick wieder freundlicher wurde.
»Gab's denn was Besonderes heute?« Christine sah ihn fragend an, während sie nebeneinander den Weg hinaufgingen.
»Ich habe von weitem bloß wieder irgendein Geschrei gehört.« Denis zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, um was es diesmal ging, da musst du Fiona fragen.«
Christine musste ein Schmunzeln unterdrücken. Obwohl Denis selten etwas äußerte, wusste sie doch nur zu gut, dass er von dem Modellversuch, der seit einem Jahr auf dem O'Flaherty-Hof lief, nicht allzu überzeugt war. Allerdings hatte er sich damals bereit erklärt, dem Vorschlag seiner Schwester Fiona eine Chance zu geben, und ertrug daher geduldig alle Unbilden, die sich aus der Anwesenheit der Jugendlichen im Zusammenhang mit dem Therapieprogramm notwendigerweise ergaben. Nicht zuletzt war es Christine gewesen, die wusste, wie wichtig Fiona ihr soziales Engagement war, und ihm daher in langen Diskussionen versucht hatte Verständnis dafür zu vermitteln. Und schließlich verfügte auch Denis über genügend Realismus, um sich klar darüber zu sein, dass ein derartig auf Pferde spezialisierter Hof wie der ihre auf Dauer von Reitstunden allein nicht zu halten war und man daher auch neue Wege beschreiten musste, um seine Zukunft zu sichern. Doch die Teenager, die unter sorgsamer Betreuung von Fiona und der Psychotherapeutin Siobhán hier auf dem Hof lernen sollten, mit ihren verschiedenen Problemen zurechtzukommen, bedeuteten zuweilen eine harte Zerreißprobe für Denis' Nerven, was Christine nicht entging.
Daher drückte ihre Miene, als sie Denis jetzt anblickte, eine Mischung von Humor und Verständnis aus, und Denis, der wusste, was ihr durch den Kopf ging, lächelte leise zurück.
»Stell die Kiste einfach ins Büro«, bat sie, als sie das Haus betraten. »Ich bringe nur rasch die Wäsche weg.«
Das Büro, wie sie es nannte, war eigentlich nur ein winziger Raum gleich neben der Eingangstür. Früher hatte Eleanor dort ihre Buchhaltung für die Pension erledigt, daher die Bezeichnung, doch jetzt diente er Christine gleichzeitig als Arbeitszimmer, als Archiv, als Labor und gelegentlich auch noch als Sprechzimmer. Da sie keine richtige Praxis führte, sondern ihrer tierärztlichen Betätigung in der Hauptsache im Außendienst nachging, reichte das Zimmerchen bisher auch gut aus. Denis hatte schon einige Male gemeint, dass man doch im hinteren Teil des Hauses zwei oder drei Räume als Praxis abtrennen und entsprechend einrichten könne, aber Christine verspürte keine besondere Lust dazu. Sie liebte dieses kleine voll gestopfte Zimmer, diesen ersten Ort ihrer selbstständigen Berufsausübung, mit einer gewissen Sentimentalität, zu welcher der hübsche Blick aus dem Fenster, der über die Auffahrt bis hinunter zur Straße und die dahinter liegenden Wiesen reichte, sicher mit beitrug. Später, wenn sie einmal einen festen Patientenstamm aufgebaut haben und nicht mehr nur als sozusagen mobile Vertretung und Unterstützung für die Tierärzte aus halb Westirland unterwegs sein würde, mochte man ja immer noch über solche Pläne nachdenken.
Sie öffnete nun den Metallkoffer, den Denis auf den Aktenschrank gelegt hatte.
»Ich darf nicht vergessen, das Kombinationsserum für die Kälber nachzubestellen«, bemerkte sie halb zu sich selbst, während sie aufmerksam den Inhalt des Kastens überprüfte.
Denis reichte ihr wortlos den Hefter mit den Formularen, der auf dem Schreibtisch lag.
»Musst du morgen wieder los?«
»Nein, gottlob nicht.« Christine seufzte erleichtert, als sie den fehlenden Impfstoff in ihr Bestellbuch eintrug. »Seit langer Zeit der erste Samstag, den ich freihabe.«
»Na, wie ich dich kenne, wird dir sicher auch hier genug einfallen, was du tun willst, stimmt's?«
»Ich muss das Auto waschen«, bestätigte Christine und lachte. »Es ist so voll Schlamm, dass ich kaum noch durch die Scheiben sehen kann.«
»Lass das doch welche von den Kids machen.« Denis sagte es humorvoll, doch mit nachdrücklichem Unterton. »Die sind doch schließlich zum Arbeiten hier, oder etwa nicht?«
»Aber doch nicht zum Autowaschen.« Christine schüttelte den Kopf. »Nein, das erledige ich schon selbst.« Sie lächelte. »Ist mal was anderes als das, was ich sonst mache. Das Auto strampelt und beißt wenigstens nicht, während ich es behandle.«
Denis lachte nicht.
»Wird es dir nicht zu viel, was du alles zu tun hast?«, fragte er ernst, während sie in den Flur hinaustraten. »Die viele Fahrerei, die Notfälle ...«
»Nicht zu vergessen die widerspenstigen Rindviecher«, ergänzte Christine, löschte das Licht im Büro und zog die Tür hinter sich zu. »Nein, es ist schon okay. Es ist anstrengend, das gebe ich zu. Aber es macht mir Freude, das weißt du.«
»Ja, das weiß ich.« Denis' Stimme klang warm.
Für einen langen Moment hingen ihre Blicke ineinander. Dann räusperte sich Denis.
»Doch ich würde vorschlagen, jetzt isst du erst mal was. Du bist doch bestimmt wieder den ganzen Tag nicht dazu gekommen.«
»Oh, sag das nicht! Heute Mittag habe ich irgendwo ein Sandwich gegessen. Muss in der Gegend von Roscommon gewesen sein, rein vom Zeitplan her.« Christine verzog humorvoll das Gesicht.
»Na also. Ich sehe mal nach, ob noch was vom Abendessen übrig ist.« Denis wandte sich in Richtung Küche, doch Christine hielt ihn zurück.
»Warte, vorher möchte ich gerne noch mal schnell ...«
»... zu Cuchulainn, ich weiß.« Denis seufzte betont. Doch sein Lächeln war verständnisvoll. Er kannte Christines Rituale, wusste insbesondere, wie viel ihr der Hengst Cuchulainn bedeutete, und wäre selbst der Letzte gewesen abzustreiten, welch entscheidende Rolle das Pferd in ihrer beider Leben gespielt hatte.
Als Christine das Haus verließ, folgte er ihr.
Die Luft draußen schien zu bestätigen, dass sich das Wetter zu bessern beabsichtigte. Die schwere Klammheit der letzten Tage war merklich geschwunden, obwohl es hier, in der Nähe des Lough Corrib, immer etwas feucht war. Jetzt im September waren die Nächte schon recht kalt, und Christine schlug einen forschen Gang an, als sie den Weg hinunter zu den Koppeln schritten.
Zahlreiche Schatten und vereinzelte helle Gestalten bezeichneten die Pferde auf den Weiden, an denen sie vorbeikamen. Christine kannte sie gut, und so manch ein Tier hob den Kopf und blickte mit gespitzten Ohren zu ihr herüber. Gelegentliches leises Schnauben und die vertrauten Geräusche, die vom Poltern der Hufe auf dem weichen Wiesenboden und vom Abrupfen des Grases herrührten, klangen in Christines Ohren wie Musik. Sie ließen in ihr die Anspannung des Tages verschwinden und erzeugten eine Stimmung von Frieden.
Der Hengst stand wie immer bereits am Zaun.
»Es ist wirklich erstaunlich, wie er deinen Schritt kennt«, bemerkte Denis, während sie herantraten.
»Er weiß schließlich, dass ich ihn jeden Abend besuche.« Christine empfing die schnuppernden Nüstern des Vollblüters mit beiden Händen. »Ja, mein Kleiner, du hast mich schon erwartet, stimmt's?«
Cuchulainn schnaubte leise und versuchte, seine Nase in ihre Jackentasche zu stecken. Christine lachte auf, als er sie dabei energisch anstieß, und zog die Karotte heraus, um die es ihm zu tun war.
Denis schüttelte den Kopf. »Er ist ein wahrer Opportunist, wie du siehst.«
»Unsinn.« Christine streichelte die samtigen Nüstern des Pferdes. »Er würde sich genauso auf mich freuen, wenn ich keine Leckerbissen dabeihätte.«
»Probier's doch mal aus.« Denis grinste.
»Ach, so gemein wollen wir doch nicht sein, oder?« Sie schmiegte ihre Wange an den glatten Hals des Hengstes. Sie liebte die Wärme und den vertrauten Geruch, und das pulsierende Leben, das sie in ihm fühlte, ließ sie immer wieder aufs Neue tiefes Glück über die Zuneigung und das Vertrauen, welches ihr das Tier entgegenbrachte, empfinden.
Denis hatte seine Ellbogen auf die oberste Koppelzaunstange gelegt und sah schweigend zu.
Es schien tatsächlich, als ob sich das Pferd mit Christine unterhalten würde. Es blieb ganz still, während sie es liebevoll streichelte und ihm Koseworte ins Ohr flüsterte, und seine dunklen Augen waren die ganze Zeit auf sie gerichtet. Sein zufriedenes Pusten und die sanfte Berührung seiner Nüstern, als er Christines Gesicht beschnupperte, zeigten deutlich die Vertrautheit der beiden miteinander, und unbeteiligten Zuschauern fiel es immer wieder auf, wie bedachtsam der große, starke Hengst mit Christine umging. Er hätte ihren zierlichen Körper mit einer einzigen Bewegung seines Kopfes umwerfen können, doch er schien zu wissen, wie viel er ihr zumuten durfte. In ihren zahlreichen Diskussionen über dieses Phänomen neigte Denis dazu, es mit dem angeborenen Instinkt von Hengsten, mit Fohlen behutsam umzugehen, zu erklären, doch Christine bezweifelte das. Immerhin ordnete sich ihr Cuchulainn dann beispielsweise beim Reiten wiederum anstandslos unter, was einer solchen Theorie widersprach. Denis pflegte darauf zu argumentieren, dass es für den Hengst vermutlich zwei verschiedene Personen waren, mit denen er bei verschiedenen Gelegenheiten zu tun hatte, aber Christine lachte dann und beschuldigte ihn, sich Dingen, die seine nüchterne Betrachtungsweise überstiegen, zu widersetzen.
Was allerdings niemand zu bestreiten wagte, war, dass sowohl das Pferd als auch Christine diese stille halbe Stunde jeden Abend unendlich genossen.
Sie blickte schließlich unter dem Hals des Pferdes hervor.
»Hast du dich jetzt eigentlich entschieden, was du mit ihm vorhast?«
»Seit wann entscheide ich das?« Denis lächelte zärtlich, streckte seine Hand aus und klopfte Cuchulainn den Hals.
Christine versetzte ihm einen Rippenstoß. »Na, immerhin bist du ja für Cuchulainns Karriere zuständig, oder etwa nicht?«
»Und du für sein Privatleben.« Denis nickte amüsiert. »Nun, ich denke, wir werden ihn jetzt wohl nicht mehr so oft starten lassen.«
»Und dann?« Christines Stimme klang ein wenig besorgt. In den vergangenen Jahren hatte sie genügend über Rennpferde gelernt, um zu wissen, dass sie sehr jung anfingen, an Rennen teilzunehmen, aber auch, dass sie nach relativ wenigen Jahren schon als zu alt galten, um noch Siegchancen zu haben, und daher in der Regel durch jüngere Pferde ersetzt wurden. Und für ein ausgedientes Rennpferd, insbesondere wenn es sich um ein männliches Tier handelte, gab es danach nicht mehr allzu viele Möglichkeiten. Cuchulainn war nun sieben Jahre alt – für ein Reitpferd durchaus noch jugendlich, doch als erfolgreiches Rennpferd beinahe schon am Ende seiner Laufbahn. Die Entscheidung über seine Zukunft stand in nächster Zeit an, das wusste sie, und sie hatte deshalb bereits seit längerem eine gewisse Nervosität verspürt.
»Und dann? Dann werden wir uns wohl allmählich für ihn um einen Termin beim Abdecker bemühen müssen«, sagte Denis mit gelassener Miene.
»Wie bitte?« Christine traute ihren Ohren nicht. »Zum Abdecker? Cuchulainn? Niemals!« Mit geballten Fäusten und zorngeschwellter Brust trat sie Denis entgegen. Doch dann sah sie seine lachenden Augen und stieß die Luft aus. »Du nimmst mich auf den Arm!«
»Klar.« Denis grinste. »Ich würde es doch im Leben nicht wagen, deinem Cuchulainn etwas anzutun. Eher besorge ich ihm, wenn er mal dreißig ist, eigenhändig einen Rollstuhl.«
Christine lachte erleichtert. »Mach das bloß nicht wieder! Mir so einen Schrecken einzujagen!«
»Nein, jetzt mal im Ernst«, meinte Denis und lehnte sich wieder an den Zaun. »Ich habe mich schon seit einiger Zeit ein wenig erkundigt, und ich glaube, die Chancen stehen gar nicht schlecht, dass Cuchulainn zum Zuchthengst gekört werden könnte. Er hat einen ausgezeichneten Stammbaum, hat alle wichtigen Rennen gewonnen, erfüllt auch rein äußerlich alle Voraussetzungen, auf solche ist der Verband immer aus. Und er stammt ursprünglich nicht hier aus der Gegend, das heißt, sein Genmaterial wäre eine willkommene Auffrischung für die hiesige Vollblutpopulation.«
»Die Inzucht ist bei ihm kein Problem«, erwiderte Christine nickend, »und für den einheimischen Genpool bedeutete er daher eine hervorragende Bereicherung.« Dann fiel ihr etwas ein, und ihr Gesicht wurde wieder besorgt. »Aber können wir hier denn überhaupt einen richtigen Zuchthengst halten? Soviel ich weiß, verursacht er weitaus mehr Aufwand, als er nützt.«
»Schon. Das, was an Deckkosten hereinkäme, stünde in keinem Verhältnis zu den Sondermaßnahmen für die Haltung eines solchen Tieres. Man muss ihn von allen anderen Pferden getrennt halten, muss ständig aufpassen, dass nichts passiert, und so weiter.« Denis lächelte. »Doch vielleicht hat das ja dann zur Folge, dass du öfter als bisher hier bist.«
Christine lachte, ging aber nicht darauf ein.
»Und wenn's nicht klappt, kastrieren wir ihn einfach, und du hast dann ein gutes Reitpferd«, schloss Denis.
»Könnten wir uns denn so einen Luxus leisten?« Christine schob ihren Arm unter seinen und schaute fragend zu ihm auf.
»Eigentlich nicht.« Denis grinste, doch sein Blick, der auf Christines Gesicht gerichtet war, drückte Zärtlichkeit aus. »Aber Cuchulainn ist nun mal etwas Besonderes.«
»Heißt das, für dich auch?« Christines Stimme war leise.
»Aber natürlich für mich auch.« Denis war nun ebenfalls ganz ernst. »Ohne ihn hätte ich dich nicht.«
Er strich behutsam eine Haarsträhne aus Christines Gesicht, als sie sich schweigend anschauten. Es war zu dunkel, als dass sie ihn deutlich hätte sehen können, doch sie wusste, was seine Augen sprachen. Und ihr Herz klopfte.
Christine erwachte vom Duft des Kaffees. Verwundert über den ungewohnten Geruch im Schlafzimmer, öffnete sie die Augen und stellte fest, dass es bereits heller Tag war. Ein klapperndes Geräusch neben dem Bett ließ sie den Kopf drehen, und sie erblickte Denis, der gerade ein Tablett auf ihrem Nachttisch abstellte. Seine Kleidung zeigte, dass er schon bei seiner Arbeit gewesen war.
»Um Himmels willen, wie spät ist es?« Christine fuhr auf und blickte auf die Uhr. »Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Bleib liegen, es ist alles in Ordnung.« Denis setzte sich auf den Rand ihres Bettes und lächelte über ihr erstauntes Gesicht.
»Ich habe heute doch nicht Geburtstag oder so«, wunderte sich Christine.
»Na, selten genug ist es ja, dass du morgens nicht schon vor Tagesanbruch wegmusst«, bemerkte Denis, beugte sich über sie und gab ihr einen zärtlichen Kuss. »Guten Morgen erst mal«, meinte er dann.
»Guten Morgen«, sagte Christine leise und erwiderte seinen Kuss. Noch immer erschien es ihr wie ein kleines Wunder, wie sich ihr Leben hier entwickelt hatte. Vor drei Jahren war sie an einem Punkt gewesen, wo sie gedacht hatte, dass es für sie nie mehr Grund zur Freude geben würde – doch wie reich war sie seitdem beschenkt worden. Irland war ihr zur wunderbaren neuen Heimat geworden, die Tiere ihr eine täglich neue Aufgabe, und Denis war das Zentrum, um das ihr Dasein kreiste. Denis, bei dem sie anfangs nie für möglich gehalten hätte, dass er irgendwelcher Gefühle fähig sei! Doch wie sehr hatte er sie seitdem eines Besseren belehrt.
»Und, hast du noch Schmerzen im Nacken?« Denis betrachtete sie liebevoll.
»Ich glaube nicht.« Christine bewegte ihren Kopf und die Schultern probeweise. Wie verspannt sie gewesen war, hatte sie gestern erst nach geraumer Zeit gemerkt. Ihre Arbeit war tatsächlich zuweilen mehr als anstrengend, und die vielen Stunden im Auto taten noch das ihre dazu.
Sie lächelte nun. »Bei deiner wunderbaren Massage kann ja gar nichts mehr wehtun.«
»Hat sie dir also geholfen?«
Christine errötete leicht, als sie sich an den vergangenen Abend erinnerte. An Denis' Blick erkannte sie, dass er ebenfalls daran dachte.
»Jetzt trink erst mal deinen Kaffee.« Er schob ihr nun das Tablett hin.
»Hast du denn schon gefrühstückt?« Christine griff nach einer Toastscheibe.
»Vor zwei Stunden«, antwortete Denis. »Ich war schon mit Erin unterwegs.«
»Und, wie macht sie sich?« Christine nahm einen Schluck Kaffee. Sie mochte die kleine hellbraune Stute, die Denis seit dem Frühjahr trainierte. Sie schien allein aus Freude am Laufen gewinnen zu wollen. Denis belächelte Christines Theorie zwar, doch musste er selbst zugeben, dass die Zweijährige offenbar Ehrgeiz hatte.
»Gut. Sie rennt wie der Wind. Nur neigt sie dazu, sich vorzeitig zu verausgaben, da muss man sie öfter bremsen.«
»Sie ist eben noch jung«, meinte Christine und lachte, als sich Denis ein Stück ihres Toasts stibitzte. »Hier, nimm noch mehr«, bot sie ihm an.
»Nein, ist schon okay.« Denis schluckte den Bissen hinunter.
»Hör mal, läutet da nicht das Telefon?« Christine lauschte auf einmal. »Ja, tatsächlich.«
»Irgendeiner wird schon rangehen.« Denis rührte sich nicht.
In der Tat schwieg das Geklingel nun, und man hörte jemanden sprechen.
»Na also, Fiona hat abgenommen. Wird sowieso nicht für einen von uns sein. Du musst nicht immer gleich an einen Notfall denken.« Denis strich über Christines Handrücken. »Außerdem hast du dieses Wochenende keine Bereitschaft, oder irre ich mich?«
»Eigentlich nicht, nein.« Christine horchte immer noch nach draußen.
Und wie zur Bestätigung ihrer Befürchtung hörten sie gleich darauf Fiona die Treppe heraufpoltern.
»Anscheinend doch ein Notfall«, stellte Christine fest und schlug die Bettdecke zurück, um aufzustehen.
Denis seufzte. Seine Antwort auf Fionas vorsichtiges Klopfen an der Zimmertür fiel eine Spur brüsker aus als nötig.
Die Tür öffnete sich, und Fiona steckte ihren Kopf herein. Ihr sonst so heiteres Gesicht drückte unerwartete Ratlosigkeit aus.
»Was gibt's?« Christine hielt ihre Kleidung bereits in der Hand.
»Ein großes Problem, fürchte ich«, sagte Fiona mit sorgenvoller Miene. Ihr dunkler Pferdeschwanz schien sich direkt zu sträuben. »Wir kriegen einen Neuzugang.«
»Und was hat das mit Christine zu tun?« Denis betrachtete Fiona mit gerunzelter Stirn. Christine hatte tatsächlich genug eigene Arbeit, da war es seiner Ansicht nach das Mindeste, dass Fiona sie nicht auch noch mit ihren Schützlingen behelligte, wenn sie schon meinte, den Hof mit ihnen bevölkern zu müssen.
Doch Christine blickte Fiona aufmerksam an. »Worum handelt es sich?«
Fiona atmete tief durch und schaute sie Hilfe suchend an.
»Es ist ein deutsches Mädchen«, sagte sie. »Und sie kann nicht sprechen.«
Schemenhafte Gestalten, gleißende Beleuchtung, wirre Stimmen. Ab und zu ein Gesicht, das sich über sie beugte, und Hände, die sie berührten. Sie hatte den Eindruck, als würde sie sich ständig in Bewegung befinden. Ihre Umgebung drehte sich um sie, sie fühlte sich hin und her geschoben, der Boden schwankte unter dem Bett, auf dem sie lag, und die Flasche mit der klaren Flüssigkeit über ihrem Kopf baumelte. Und was war das für ein Geruch, nach Zahnarzt! Sie hatte doch gar keinen Termin, oder?
Jessica schloss ihre Augen wieder. Sie war immer noch so müde, sie wollte nichts als schlafen. Warum ließ man sie nicht in Ruhe!
Nun kam es ihr vor, als wäre sie am Bahnhof, der Lärm, die ständig wechselnden Personen und Stimmen um sie herum, sogar die Lautsprecherdurchsagen fehlten nicht. Doch weshalb sollte sie am Bahnhof sein? Wo wollte sie hinreisen?
Wieder ein Gesicht. Es sprach mit ihr, sie verstand kein Wort. Sie versuchte den Kopf zu schütteln und merkte dabei, wie weh er ihr tat.
Was war passiert?
Die Person neben ihr stand noch da. Jessica erkannte eine Frau in grünem Kittel und mit nach hinten gebundenem Haar. Sie hatte ein freundliches Gesicht und redete behutsam mit ihr. Doch sie verstand immer noch nichts. Was war denn bloß los? Wo war sie hier?
Und wo war ...?
Mit einem Mal fiel es ihr wieder ein. Das Auto, der Lastwagen, die schmale Straße ...
Und dieser Schrei!
Ihre Augen weiteten sich, und mit einem Ruck fuhr sie hoch.
»Mama!« Ihre Stimme klang rau, ihre Kehle tat weh, und die wilde Bewegung verursachte einen heftigen Schmerz in ihrer Brust, ihr linker Arm schien hingegen wie taub zu sein. Die Frau machte eine besorgte Miene und drängte sie wieder zum Hinlegen, doch Jessica kümmerte sich nicht darum. Wo war ihre Mutter? Warum war sie nicht hier bei ihr?
Sie versuchte sich von dem lästigen Plastikschlauch zu befreien, der an ihrem Arm haftete, und machte hilflose Anstalten, sich von der Liege gleiten zu lassen, doch die grün gekleidete Frau fasste sanft, aber fest ihre Hände und hinderte sie daran. Ihr freundliches Gesicht zeigte eine Mischung aus Trauer und Besorgnis, und ihre Stimme, obwohl Jessica nicht verstehen konnte, was sie sagte, klang mitfühlend.
Und mit einem Mal wusste sie, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
»Mama«, wimmerte sie nun kaum mehr vernehmlich, doch sie wehrte sich nicht mehr dagegen, dass sie wieder hingebettet wurde. Die Frau hielt ihre Hand fest und strich ihr mit der anderen sanft über die Stirn. Ihre Stimme war leise und warm, und ihre Augen blickten mitleidig auf sie. Jessica ertrug diesen Blick nicht länger und schloss die Lider.
Sie merkte kaum, wie eine zweite Person neben sie trat und sich an ihrer Infusionskanüle zu schaffen machte. Das Beruhigungsmittel wirkte rasch, und sie versank im wohltuenden Nichts.
Waren es Tage, waren es Wochen, die sie nun im Krankenhaus lag? Jessica wusste es nicht. Sie wusste nur, dass ihre Mutter nicht mehr da war.
Nach und nach waren ihre Erinnerungen wieder da, der Tag des Unfalls in ihr Gedächtnis zurückgekehrt. Dieser Urlaub in Irland, auf den sie sich so gefreut hatten, der schöne Abend, als sie sich von der Küste kommend irgendwo eine Übernachtungsmöglichkeit suchen wollten.
Und dann dieser große Lastwagen, der direkt auf sie zufuhr.
Hier setzte Jessicas Erinnerung stets aus. Sie wusste nicht mehr, was dann passiert war, weshalb sie verunglückt waren, wie es abgelaufen war. Sie sah bloß die große Front des Lastzugs, mit diesem lächerlichen Schild »Piet« hinter der Windschutzscheibe. Sie sah das Schild pausenlos, sobald sie ihre Augen schloss.
Nachdem die Wirkung der anfänglich verabreichten Schlafmittel abgeklungen war, wehrte Jessica sich daher dagegen, einzuschlafen. Sie fürchtete die Träume, die sie immer und immer wieder das Gleiche erleben ließen – das Bild des Lastwagens, wie er auf sie zufuhr, und der Schrei, von dem sie nicht wusste, wer ihn ausstieß, dann Dunkelheit. War sie jedoch wach, so weigerte sie sich zu denken. Sie hielt ihren Blick starr auf die Infusionslösung über ihrem Bett gerichtet. Sie hätte die Aufschrift auf dem Flaschenetikett sicher auswendig wiedergeben können, wenn sie in ihrem Bewusstsein angekommen wäre.
Und falls sie sprach.
Doch sie blieb stumm.
Die Schwestern taten ihr Möglichstes, umsorgten sie, redeten freundlich mit ihr, linderten ihre Schmerzen, und Jessica war sich nach kurzer Zeit klar darüber geworden, dass der Grund, weswegen sie nicht verstand, was sie zu ihr sagten, darin lag, dass sie Englisch sprachen. In der Schule war Jessica in Englisch nicht schlecht. In der elften Klasse, die sie gerade beendet hatte, waren ihre Noten sogar so gut gewesen, dass ihre Mutter nicht zuletzt auch deshalb einen Urlaub in einem englischsprachigen Land vorgeschlagen hatte.
Doch nun verstand sie kein einziges Wort, war sie wie taub. Sie war fast froh, dass sie nichts verstehen musste. Sie wollte nicht zuhören, wollte nicht wissen, was geschehen war.
Wollte nicht wissen, was aus ihr nun werden sollte.
Wenn ihre Mutter nicht mehr da war, hatte sie niemanden mehr auf der Welt.
Ein Gesicht erschien ganz ungewollt vor Jessicas innerem Auge. Nein. Sie verdrängte es mit aller Macht. Das war vorbei. Damit wollte sie nichts mehr zu tun haben. Jessica presste die Lider zu und biss ihre Zähne zusammen.
Nein, ihre Mutter war sicher in irgendeiner Pension untergebracht und wartete darauf, dass sie sie im Krankenhaus besuchen durfte. Oder sie lag möglicherweise sogar selbst hier, in einem anderen Raum. Vielleicht hatte sie sich etwas gebrochen und konnte schlecht laufen, sodass es einige Tage dauern würde, bis sie kam.
Jessicas Brustkorb war eng bandagiert, ihr linker Arm war in einer Schlinge, und auf ihrem Gesicht klebten Pflaster. Die Kopfschmerzen waren jedoch schon viel besser geworden, und auch sonst tat ihr kaum noch etwas weh, solange sie ruhig lag. Jessica lag ganz ruhig. Schmerzen konnte man heilen.
Die Tür ging auf, es mochte schon zum zehnten Mal an diesem Tag sein. Jessica hatte sich abgewöhnt, jedes Mal aufzublicken. Ihre Mutter kam nicht, alles andere interessierte sie nicht.
Die eine der beiden Frauen, die ins Zimmer traten, war schon öfter da gewesen. Jessica ignorierte sie, kannte auch nicht ihren Namen, obwohl ein Schildchen an ihrem weißen Kittel steckte, doch wusste sie ungewollt, dass es sich um eine der Stationsärztinnen handelte. Die andere Frau war mittleren Alters und trug gut geschnittene Geschäftskleidung. Ihr Blick heftete sich eingehend auf Jessica.
»Hallo«, sagte sie freundlich in akzentfreiem Deutsch. »Mein Name ist Rita Selbert, ich komme von der deutschen Botschaft.«
Jessica reagierte nicht.
Die Frau schien ein wenig unschlüssig.
»Hallo«, sagte sie noch einmal. »Kannst du mich verstehen?«
Jessica rührte sich nicht, sah sie auch nicht an.
»Sind Sie sicher, dass das Mädchen Deutsche ist?«, wandte sich die Frau nun in englischer Sprache an die Ärztin. »Sie scheint kein Wort zu verstehen.«
Die Ärztin blickte zu Jessica hin und seufzte. »Nun, sicher sind wir natürlich nicht. Sie war in dem Wagen, den eine Deutsche gemietet hatte, und als sie hier eingeliefert wurde, rief sie etwas, das Schwester Caitlin, die ein wenig Deutsch versteht, als das deutsche Wort für Mummy interpretierte. Mehr wissen wir auch nicht.«
»Also könnte es durchaus sein, dass sie bloß irgendeine Anhalterin ist, die zufällig in diesem Wagen saß?«
»Möglich. Aber das werden wir erst erfahren, wenn sie mit uns spricht. Und das hat sie bis jetzt noch nicht getan. Ich hatte eigentlich gehofft, dass sie mit Ihnen reden würde, denn bis jetzt haben wir ebenso noch keinen Beweis dafür, dass sie Englisch versteht.«
»Haben Sie denn schon mit der Polizei gesprochen? Ob man Ausweise oder Ähnliches gefunden hat?« Die Frau von der Botschaft schien ein wenig pikiert, dass man sie zu Fällen rief, bei denen noch nicht einmal sicher war, ob sie tatsächlich in ihren Zuständigkeitsbereich fielen.
Die Ärztin bemerkte es, blieb jedoch gelassen.
»Soviel ich weiß, ist der Wagen ausgebrannt, da bezweifle ich, dass noch Papiere existieren. Aber fragen Sie vielleicht besser selbst bei der Polizei nach, Sie erfahren da sicher Genaueres. Wir sind hier schließlich nur für ihre medizinische Betreuung zuständig, da informiert man uns vermutlich nicht über alles.«
Das verbindliche Lächeln der Ärztin nahm ihren Worten die Spitze, und Rita Selbert nickte.
»Das werde ich am besten gleich tun. Dann wissen wir mehr. Es muss doch herauszufinden sein, wer dieses Mädchen ist.«
Sie wandte sich zur Tür. Während sie sie öffnete, fiel ihr Blick noch einmal auf Jessica. Sie lag unverändert still da, ihren Blick starr zur Decke gerichtet, und nichts deutete darauf hin, dass sie irgendetwas von dem Gespräch verstanden oder auch nur gehört hatte.
Die Frau grüßte ein wenig steif und ging. Man hörte ihre Schritte im Flur verhallen.
Die Ärztin blieb noch einen Augenblick neben Jessicas Bett stehen.
»Armes Mädchen«, sagte sie leise und zupfte andeutungsweise die Bettdecke zurecht. Als sie sich abwenden wollte, hielt sie inne und blickte Jessica eingehend an.
Jessica rührte sich nicht. Sie hatte die Augen fest geschlossen, ihre Kiefermuskeln schmerzten, so sehr biss sie die Zähne zusammen.
Sie hatte verstanden.
Und sie fühlte Hass. Hass auf die Botschaftsangehörige, für die sie nur ein Fall war. Hass auf die Ärzte und Schwestern, die sie ständig belästigten. Hass auf das Land, in dem sie hier gestrandet war, in dem ihre Mutter ... Hass auf alle.
Und am meisten hasste sie sich selbst.
Weil sie noch da war.
Nachdem Christine nun schon das fünfte Mal an derselben Kreuzung angekommen war, ohne sich ihrem Ziel auch nur ein Stückchen zu nähern, hingegen bereits zweimal um ein Haar das Opfer eines Auffahrunfalls geworden war, gab sie es auf. Nach einem prüfenden Blick in den Rückspiegel hielt sie am Straßenrand und kurbelte das Fenster herunter, das sie, seit sie sich in Dublins Innenstadt befand, gegen den Lärm und Abgasgestank geschlossen hatte.
»Entschuldigen Sie bitte!«
Das ältere Paar, das gerade vorbeischlenderte, blickte sich fragend nach Christine um.
»Könnten Sie mir vielleicht helfen?« Christine lächelte sie freundlich an.
Die beiden schauten auf, reagierten aber nicht gleich, doch als Christine ihre Frage wiederholte, hob der Mann entschuldigend die Schultern.
»Verzeihung, wir sind leider auch nicht von hier.«
Er sprach stockend mit starkem Akzent, sodass Christine auf Anhieb den deutschen Touristen in ihm erkannte. Innerlich seufzte sie. Heute war offenbar nicht ihr Tag. Zuerst irrte sie endlos im Verkehrschaos von Dublins Zentrum herum, und dann war der Erste, den sie nach dem Weg fragte, natürlich kein Einheimischer. Ganz automatisch hütete sie sich jedoch, ihre eigene Nationalität zu enthüllen. Sie hatte weder Zeit noch Lust, sich in eine Unterhaltung ziehen zu lassen. Deshalb schenkte sie dem Paar ein liebenswürdiges Lächeln.
»Danke trotzdem.«
Sie hob grüßend die Hand, und während die beiden Urlauber ihren Spaziergang fortsetzten, kurbelte sie das Seitenfenster wieder hoch. Himmel, sie würde doch dieses verdammte Kloster finden! Fiona hatte ihr den Weg haarklein beschrieben, doch auch sie konnte nicht wissen, dass eine offensichtlich neue Straßenbaustelle die Strecke versperren und einen anderen Anfahrtsweg nötig machen würde. Dummerweise befand sich der Stadtplan, den Christine im Handschuhfach vermutet hatte, nicht dort, und dunkel fiel ihr ein, dass sie das vorige Mal mit Denis' Wagen in Dublin gewesen war. Vermutlich lag der Stadtplan also im Rover, während sie hier nun schon seit über einer halben Stunde ziellos kreiste.
Und von Denis' Auto wanderten Christines Gedanken automatisch zu Denis selbst. Und sie fühlte tief in sich ein kleines Unbehagen. Denis hatte wenig zu Christines Entschluss, heute nach Dublin zu fahren und dieses angeblich deutsche Mädchen abzuholen, geäußert, aber sie kannte ihn so gut, dass sie genau merkte, dass er es nicht billigte. Sein Gesicht hatte keine Regung gezeigt, doch die Art, wie er zurückhaltend »Du wirst schon wissen, was du tust!« sagte, erinnerte sie mehr, als ein Schwall von Vorwürfen es vermocht hätte, daran, dass Denis der Meinung war, die Jugendlichen seien allein Siobháns, höchstens noch Fionas Aufgabe. Christine hingegen hatte seiner Ansicht nach wirklich genug eigene Arbeit und bedurfte weitaus dringender eines Ruhetags als einer anstrengenden Achtstundenfahrt nach Dublin und zurück. Sie wusste nur zu gut, dass Denis sich lediglich Sorgen um sie machte, und deshalb tat es ihr besonders Leid, dass sie sich über seinen Wunsch so einfach hinwegsetzte. Doch wie hätte sie die Bitte abschlagen können, die an sie gerichtet worden war!
Das Mädchen kam ihr wieder in den Sinn, und das unendliche Mitgefühl, das Christine spontan empfunden hatte, als John ihr den Fall am Telefon schilderte, stieg erneut in ihr auf. Nein, man durfte sie einfach nicht im Stich lassen, es war schon richtig, was sie tat.
Halt, die jungen Leute dort sahen aus, als wären sie Einheimische. Sie waren in der nachlässig-provozierenden Art gekleidet, die die derzeitige Teenagermode vorschrieb, und kamen flotten Schrittes, in eine lebhafte und scherzende Unterhaltung vertieft, dabei rauchend, näher.
»Hallo, kennt ihr euch hier aus?« Christine lehnte sich aus dem Autofenster, dabei halb erwartend, eine freche Antwort zu kriegen.
Doch die Jugendlichen hielten an. »Ja, wo wollen Sie denn hin?«
»Ich suche das Kloster St. Mary's.« Christine glaubte selbst nicht ernsthaft daran, dass jemand, und schon gar nicht diese coolen Teenager, dieses Kloster kannte.
»Oh, da sind Sie aber ganz verkehrt«, sagte einer der Jungen kopfschüttelnd und trat an den Wagen. »Passen Sie auf, Sie müssen ...«
Nach mindestens fünf Minuten vielstimmiger Wegbeschreibung entschied Christine für sich, dass sie nun eine ungefähre Ahnung hatte, wie ihr Ziel zu erreichen sei, und hob abwehrend die Hand.
»Danke, danke, das habe ich jetzt verstanden. Nett von euch, mir weiterzuhelfen.«
»Keine Ursache. Und Sie wissen jetzt wirklich, wie Sie zu fahren haben? Sie biegen ...«
Christine lachte. »Ja, ich weiß es jetzt. Herzlichen Dank!«
Als sie anfuhr, winkten ihr die jungen Leute nach.
Solchermaßen informiert, lenkte Christine nun den Wagen zielstrebiger durch den brandenden Dubliner Verkehr, bis sie endlich in die stillen Straßen gelangte, die sie laut Beschreibung direkt zum Kloster St. Mary's führen sollten.
Vor einem großen hölzernen Tor endete die Fahrt. Sie überlegte, ob sie es riskieren konnte, das Auto hier einfach unbewacht auf der Straße zu parken, doch dann stellte sie entschlossen den Motor ab. Es würde schon nichts passieren, zumal hier direkt vor den Pforten des Klosters.
Ob man sie erwartete? Sie hatte am Telefon nur mit John Kinsella, dem Sozialarbeiter, gesprochen, der ihr gesagt hatte, dass sie das Mädchen hier abholen könne.
Rechts von dem großen Tor befand sich eine kleine schmale Tür, daneben ein Klingelknopf. Christine drückte darauf. Sie konnte nichts hören und fragte sich einen Moment, ob die Glocke womöglich kaputt war, doch dann vernahm sie Schritte, die sich der Tür näherten. Schlüssel klapperten, und die Tür öffnete sich.
»Ja, bitte?«, fragte eine Frau mit einem freundlichen Gesicht, die Schwesterntracht schwarz und schlicht.
»Guten Tag«, sagte Christine höflich. »Mein Name ist Christine Bernhard. Ich komme wegen eines deutschen Mädchens, das hier bei Ihnen untergebracht sein soll ...«
»Ach ja, natürlich.« Die Schwester öffnete die Tür weiter und forderte Christine mit einer Handbewegung zum Eintreten auf. »Wir haben Sie schon erwartet. Ich bin Schwester Jean. Kommen Sie bitte herein.«
Christine blickte sich unauffällig um. Sie war noch nie zuvor in einem Ordenshaus gewesen und verspürte eine gewisse Neugier. Das Anwesen war nicht groß, der mit Blumenrabatten hübsch angelegte Hof von ordentlich verputzten Gebäuden umgeben. Zwei Schwestern traten gerade aus einer Tür. Als sie Christine bemerkten, grüßten sie freundlich. Alles hier strahlte Ruhe und Sauberkeit aus, und während Christine neben Schwester Jean den Hof überquerte, ging es ihr durch den Kopf, dass es bestimmt auch seine Vorteile haben mochte, hier zu leben, fernab der unbarmherzigen Welt.
»Wie geht es ihr denn?« Christine erspähte ein Gesicht hinter einem der Fenster im oberen Stockwerk. John hatte ihr erzählt, dass das Kloster St. Mary's ein Heim für heranwachsende Mädchen beherbergte, in welchem man der kleinen Deutschen vorübergehenden Aufenthalt bot.
Schwester Jean hob bekümmert die Schultern. »Medizinisch gesehen ist sie weitgehend wiederhergestellt. Aber sonst ...«
»Sie spricht nicht, hat man mir erzählt?«
Schwester Jean nickte und seufzte. »Kein Wort. Sie sitzt immer nur stumm in ihrem Zimmer. Die anderen Mädchen haben anfangs versucht, ihr etwas zu entlocken, aber sie haben es dann aufgegeben.«
»Und Sie wissen immer noch nicht, wer sie ist, oder?« Christine sah Schwester Jean fragend an.
Sie schüttelte den Kopf. »Es waren keine Papiere da, und so ... Aber das kann Ihnen die Mutter Oberin weitaus besser erzählen. Da sind wir schon.« Sie betraten nun das offensichtliche Hauptgebäude, ihre Schritte auf dem Steinboden hallten von den Wänden des langen Flurs wider. Schwester Jean blieb vor einer Tür am Ende des Gangs stehen und klopfte vorsichtig an.
»Herein, bitte!«
Schwester Jean hielt die Tür für Christine auf.
»Hier ist die Dame aus Deutschland, die Sie erwartet haben«, sagte sie, und die ältere Schwester am Schreibtisch des kleinen hellen Zimmers erhob sich höflich.
»Sie sind Mrs Bernhard, richtig?« Sie streckte Christine ihre Hand entgegen und erwiderte liebenswürdig ihren Gruß. Schwester Jean war lautlos gegangen und hatte die Tür hinter sich geschlossen. »Wir sind Ihnen sehr dankbar, dass Sie gekommen sind.« Die Mutter Oberin wies auf den Stuhl, der dem Schreibtisch gegenüberstand. »Setzen Sie sich doch. Mr Kinsella sprach mit großer Hochachtung von Ihnen.«
»Danke.« Christine nahm Platz und blickte die Mutter Oberin aufmerksam an. »Ich muss gestehen«, meinte sie, »dass ich kaum was über die Sache weiß. Mr Kinsella hat mir nicht allzu viele Einzelheiten sagen können.«
»Wir wissen alle nicht viel über sie.« Die Schwester blickte bekümmert. »Wir schätzen sie auf sechzehn oder siebzehn Jahre. Bekannt ist uns lediglich, dass sie vor ein paar Wochen einen schweren Autounfall überlebte, wobei ihre Begleiterin, wir nehmen an, es war ihre Mutter, ums Leben kam. Aber wir wissen bis heute nicht, wer sie ist, wie sie heißt und wo sie herkommt. Sie hat seit dem Unfall kein einziges Wort gesprochen.«
»Und woraus schließen Sie, dass sie Deutsche ist?«
»Wir vermuten es nur. Bei dem Auto, in dem sie fuhren, handelte es sich um einen Mietwagen, der eine Woche vorher in Dublin an eine deutsche Urlauberin vermietet worden war. Leider kam es dabei wohl zu einigen Versäumnissen. Die Autovermietung hatte offenbar das Formular fehlerhaft ausgefüllt, jedenfalls war bis jetzt die tatsächliche Identität der Fahrerin nicht zu ermitteln.«
»Hatte sie denn keine Papiere bei sich?« Christine konnte es kaum glauben.
Die Schwester schüttelte den Kopf. »Der Wagen ist völlig ausgebrannt. Zum Glück schaffte es ein am Unfall beteiligter LKW-Fahrer noch, die beiden rechtzeitig aus dem Wrack zu holen, bevor es in Flammen aufging. Die ältere Frau starb dann auf dem Weg ins Krankenhaus, ihre Verletzungen waren zu schwer.«
Einen Moment lang herrschte Stille.
Christine musste einen Kloß im Hals hinunterschlucken. Sie blickte auf die gefalteten Hände und das unbewegte Gesicht der Ordensfrau. Eine Nonne denkt über den Tod sicher anders als weltliche Menschen wie sie, kam ihr unwillkürlich in den Sinn.
»Das arme Mädchen«, sagte sie leise. »Wenn es tatsächlich ihre Mutter war ...« Dann blickte sie die Schwester an. »Weiß sie, was passiert ist?«
»Ich nehme es an.« Die Schwester wiegte den Kopf. »Ganz sicher bin ich mir da nicht, denn wie Sie wissen, war es bisher nicht möglich, mit ihr in Kontakt zu kommen. Sie verschließt sich gegen alles, obwohl wir uns große Mühe mit ihr geben.«
»Vielleicht spricht sie ja auch nur kein Englisch.«
»Möglich«, sagte die Schwester. »Deshalb hat man sich wohl an Sie gewandt.«
»Und Sie meinen, wir könnten ihr helfen?«
»Es war Mr Kinsellas Idee«, erwiderte die Mutter Oberin, und Christine hatte den flüchtigen Eindruck, dass sie persönlich Johns Entscheidung nicht allzu sehr billigte. »Sie sind mit ihm bekannt?«
»Eigentlich mehr meine Schwägerin Fiona«, sagte Christine. »John und sie sind alte Schulfreunde, und er hat schon öfter einen seiner Schützlinge an uns vermittelt. So wie diesmal. Er rief bei uns an und bat darum, das Mädchen für eine Weile aufzunehmen.«
»Er meinte, nachdem sie nicht das geringste Interesse zeigt, nach Hause zurückzukehren, wo immer das auch sein mag, sollte man sie damit fürs Erste in Ruhe lassen.« Die Schwester betrachtete Christine nicht ohne Interesse. »Sie haben da eine Art Reitstall im Westen?«
»Es ist ein Gestüt in der Nähe von Galway, am Lough Corrib«, antwortete Christine. »Früher war es ein reiner Pferdebetrieb mit Ferienpension. Seit einigen Jahren ist es anerkannte Therapiestätte für verhaltensgestörte Jugendliche.«
»Sie sind Therapeutin?«
»Nein, ich selbst nicht, aber wir haben eine ausgebildete Psychotherapeutin, die dort mit den Kindern arbeitet. Und meine Schwägerin ist Expertin auf dem Gebiet des therapeutischen Reitens.« Christine lächelte. »Mein Zuständigkeitsbereich liegt mehr bei den Tieren, ich bin Tierärztin. Aber ich bin geborene Deutsche, und deshalb bat mich Mr. Kinsella, das Mädchen abzuholen, um ihm vielleicht die Eingewöhnung ein wenig zu erleichtern.«
»Von Pferdetherapie habe ich schon gehört«, sagte die Schwester. »Ich wage absolut keine Prognose darüber, ob dem Mädchen damit geholfen werden kann, aber ich wünsche es ihm.« Ihr Gesicht nahm einen etwas weicheren Ausdruck an, und Christine erkannte, dass die Nonne durchaus mitfühlen konnte, was der Verlust der Mutter für einen jungen Menschen bedeutete, ungeachtet allen religiösen Glaubens.
»Sehen Sie«, fuhr die Schwester fort, »die meisten Mädchen hier sind Waisen oder stammen aus schwierigen Verhältnissen, werden vom Jugendamt betreut, weil sich ihre Eltern nicht um sie kümmern können oder dürfen. Wir versuchen unser Möglichstes, um ihnen so etwas wie ein Zuhause zu geben. Dabei wissen wir nur zu gut, dass eine richtige Familie durch nichts zu ersetzen ist. Man merkt es den Kindern an. Es ist keine natürliche Umgebung, in der diese Mädchen aufwachsen. Man kann ihnen hier einfach nicht so viel Individualität und Zuwendung, wie sie sie idealerweise in einer Familie erhielten, geben. Und hier, wo jedem der Mädchen etwas Entscheidendes fehlt, nämlich die eigene unverwechselbare Identität, kann die kleine Deutsche seelisch niemals gesund werden, nachdem sie sich so große Mühe gibt, sich von uns allen abzusondern.« Sie blickte Christine direkt an. »Nehmen Sie die Kleine mit«, sagte sie. »Bringen Sie sie zum Lough Corrib, zu den Pferden. Sie muss wieder Vertrauen in ihre Umgebung gewinnen, vielleicht fällt ihr das über die Tiere leichter.«
Christine war ungewollt gefangen von dem, was die Nonne sagte. Sie selbst war nicht besonders religiös, hatte mit Ordensleuten bisher wenig zu tun gehabt und sie eigentlich immer für weltfremd und in starren Mustern denkend gehalten. Doch nun musste sie erkennen, dass diese Frau Intellekt und ein warmes Herz besaß und offenbar auch modernen Ideen gegenüber aufgeschlossen war. Christine hatte schon zu oft die Skepsis vieler hinsichtlich Fionas Projekt miterlebt, um das nicht hoch einzuschätzen.
Die Mutter Oberin erhob sich nun und kam hinter ihrem Schreibtisch hervor.
»Ich würde vorschlagen, wir gehen jetzt hinüber in den Wohntrakt der Mädchen. Oder haben Sie noch eine Frage?«
»Oh, da werden sich mit der Zeit sicher noch welche ergeben.« Christine lächelte. »Aber ich möchte jetzt wirklich gern das Mädchen kennen lernen.«
»Kommen Sie«, sagte die Schwester und hielt Christine die Tür auf.
Mädchen der verschiedensten Altersstufen, neugierig aus ihren Zimmertüren lugend, Getuschel und Gekicher. Christine warf im Vorbeigehen ebenfalls neugierige Blicke in die offen stehenden Räume. Es waren helle Zimmer, in bunten Farben eingerichtet, keine Spur von klösterlicher Nüchternheit. Man schien sich hier tatsächlich sehr darum zu bemühen, auf die Bedürfnisse der jungen Menschen einzugehen. Am Ende des Flurs befand sich eine geschlossene Tür.
»Hier schläft sie.« Die Mutter Oberin klopfte höflich an, wartete einen Moment, und als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür. »Dürfen wir stören?«, fragte sie. »Hier ist die Dame, von der wir dir erzählt haben. Wie du weißt, möchte sie dich gerne für eine Weile zu sich einladen. Sie lebt im Westen, in Connemara, auf einem Pferdehof.«
Keine Reaktion.
Das Mädchen saß am Fenster und sah hinaus, ohne zu erkennen zu geben, ob es zugehört oder ihr Eintreten überhaupt bemerkt hatte. Sie trug fleckige Jeans und ein einfaches blaues Sweatshirt, das ihr offenbar nicht gehörte, da es ihr um einiges zu groß war, und ihr langes braunes Haar hing strähnig und zerzaust herab. Ganz offensichtlich hatte sie sich nicht die Mühe gemacht, es zu waschen oder auch nur zu kämmen. Sie schien auf ihr Äußeres ebenso wenig Wert zu legen wie auf die mindesten Regeln der Höflichkeit, denn sie drehte nicht einmal den Kopf, obwohl sie gehört haben musste, dass jemand hereingekommen war.
Christines erster Eindruck war entmutigend. O Gott, worauf habe ich mich da eingelassen, dachte sie bei sich. Sie hatte sich spontan hilfsbereit gezeigt, als John sie darum bat, aber nun erhielt sie eine leise Ahnung, dass es durchaus nicht damit getan sein würde, mit dem Mädchen Deutsch zu sprechen, damit es sich nicht so einsam in einem fremden Land fühlte. Sie hatte ein schweres Trauma erlitten, einen ihr nahe stehenden Menschen verloren und offenbar beschlossen, sich völlig von der Welt zurückzuziehen.