Die Pferdefrau - Jutta Beyrichen - E-Book
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Die Pferdefrau E-Book

Jutta Beyrichen

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Beschreibung

Eine Frau geht unerschrocken ihren Weg – erleben Sie jetzt den Bestseller „Die Pferdefrau“ von Jutta Beyrichen als eBook. Diese Reise wird ihr Leben verändern: Um über eine unglückliche Liebe hinwegzukommen, beschließt die junge Tierärztin Christine für einige Zeit nach Irland zu reisen. Dort lernt sie den undurchschaubaren Denis O'Flaherty kennen, dessen wertvollster Besitz ein wunderschönes, aber verängstigtes Pferd ist. Niemand scheint einen Zugang zu dem Tier zu finden, doch Christine nähert sich ihm Schritt für Schritt an. Durch ihre einfühlsame und sensible Art gewinnt sie nicht nur das Vertrauen des Pferdes, sondern beginnt auch, sich nach der Liebe des Besitzers zu sehnen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Die Pferdefrau“ von Jutta Beyrichen. Wer liest, hat mehr vom Leben. dotbooks – der eBook-Verlag.

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Über dieses Buch:

Diese Reise wird ihr Leben verändern: Um über eine unglückliche Liebe hinwegzukommen, beschließt die junge Tierärztin Christine für einige Zeit nach Irland zu reisen. Dort lernt sie den undurchschaubaren Denis O'Flaherty kennen, dessen wertvollster Besitz ein wunderschönes, aber verängstigtes Pferd ist. Niemand scheint einen Zugang zu dem Tier zu finden, doch Christine nähert sich ihm Schritt für Schritt an. Durch ihre einfühlsame und sensible Art gewinnt sie nicht nur das Vertrauen des Pferdes, sondern beginnt auch sich nach der Liebe des Besitzers zu sehen …

Über die Autorin:

Jutta Beyrichen wurde 1964 geboren. Bereits als junges Mädchen entdeckte sie ihre Liebe zum Reiten. Neben Pferden hat sie eine zweite große Leidenschaft – Irland, die grüne Insel, auf der auch viele ihrer Romane spielen.

Jutta Beyrichen veröffentlichte bei dotbooks bereits »Die Tochter der Pferdefrau«.

***

eBook-Neuausgabe August 2014, Mai 2022

Copyright © der Originalausgabe 2000 Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München

Copyright © der Neuausgabe 2014, 2022 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)

ISBN 978-3-95520-651-2

***

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Jutta Beyrichen

Die Pferdefrau

Roman

dotbooks.

It's there you see the jockeys

and they're mounted out so stately

The blue, the pink, the orange and green

the emblem of our nation

When the bell was rung for starting

all the horses seemed impatient

I thought they never stood on ground

their speed was so amazing

(Aus »The Galway Races«)

Glaub dem Paar, das sein Picknick beendet hat

und sich im Gras heftig liebt,

den winzigen Kreaturen, die es anspornen.

Glaub an Meilensteine, an den Tag,

an dem die Heimat für immer hinter dir lag,

an die kühle Aufrichtigkeit,

mit der eine Welt dich von sich wies.

Glaub, du und ich wären dieses Paar.

Glaub, du und ich sängen zart und weise

und könnten, wollten wir,

Stein essen und weiterleben.

(Richard Hugo, aus »Gien Uig«)

It's the end of the world as we know it

And I feel fine.

(R. E. M.)

Prolog

Der auffrischende Wind ließ die langen Gräser zittern.

Noch vor kurzer Zeit war der Himmel blau gewesen, und eine milde Frühlingssonne tauchte die Wiesen in klare, freundliche Farben. Doch nun wurden die kleinen weißen Wölkchen von immer größeren, dunklen Haufen verdrängt, die die Sonne verdeckten und das Blau verbargen.

Der Himmel über dem Lough Corrib hatte eine dunkelgraue Tönung angenommen; die Bäume und die hohen Schilfpflanzen am Ufer des Sees hoben sich scharf davon ab. In den Bergen des Connemara-Nationalparks regnete es bereits, die Gipfel lagen hinter Dunstschleiern verborgen.

Ein unwirkliches Licht lag über der Landschaft, das die Farben veränderte und eine beinahe gespenstische Stimmung hervorrief.

Die Connemaraponys ließen sich durch das Wetter nicht stören. Sie waren für dieses rauhe Land geboren und gewohnt, Sturm und Regen auszuhalten. Sie schüttelten ihre dichten Mähnen und drehten ihre Köpfe in den Windschatten, ohne sich beim Grasen unterbrechen zu lassen.

Der dunkelbraune Hengst war allein.

Er graste nicht, verharrte ganz still, mit erhobenem Kopf und geblähten Nüstern. Die Windböen peitschten seinen langen Schweif, doch das Pferd stand wie aus Erz gegossen. Es kannte inzwischen den sintflutartigen Regen Connemaras und hatte gelernt, ihn nicht mehr zu fürchten, obwohl es weit weniger dafür geschaffen war als die abgehärteten einheimischen Ponys. Der Hengst wußte: Der Regen schmerzte nicht.

Aufmerksam sog der Hengst die Luft ein, ließ seine empfindlichen Ohren spielen. Beim Brausen der Böen, die nun immer heftiger kamen, bebte sein Körper. Doch es war nicht das Rauschen des Windes, dem er lauschte, nicht der Geruch des nahenden Regens, den er in sich aufnahm, nicht der Anblick der Wolkenwand über den westlichen Bergen, wonach er suchte.

Sein Blick ging in die andere Richtung.

Und er wartete.

Kapitel 1

»Wann, sagtest du, kommt sie?«

»Morgen.«

Padraig nickte bedächtig und nahm seine Pfeife aus dem Mund. Argwöhnisch musterte er sie aufs genaueste, und als er feststellen mußte, daß sie ausgegangen war, griff er in die Tasche seiner ausgebeulten Cordhose und holte ein Streichholzbriefchen heraus. Georg war immer wieder aufs neue fasziniert davon, mit welchem heiligen Ernst Padraig die Zeremonie des Pfeiferauchens vollzog. Umständlich zündete er die Pfeife wieder an, zog einige Male an ihr und wandte sich dann wieder Georg zu, der neben ihm am Schanktisch stand. »Da wird es wohl sicher die eine oder andere Überraschung geben, was?«

»Das denke ich auch«, erwiderte Georg und nahm einen Schluck aus seinem Glas. Das Guinness schmeckte abgestanden, und Georg fiel auf, daß er schon den ganzen Abend an anderes gedacht hatte als ans Trinken. Er lächelte Padraig an, der ihn immer noch erwartungsvoll ansah.

»Überraschungen wird es sicher geben«, meinte er betont gleichmütig. »Bei Frauen ist man vor Überraschungen niemals sicher.« Voll Befriedigung stellte er fest, daß Padraig über diese Bemerkung beifällig schmunzelte. »Und bei erwachsenen Töchtern sowieso nicht.«

»Wie alt ist sie denn jetzt?« wollte Padraig wissen.

»Achtundzwanzig«, antwortete Georg und leerte sein Glas. »Kann ich noch eins haben, Joe?« Er hielt ihm das leere Glas hin.

»Klar«, grinste Joe. »Besauf dich bloß nicht! Was soll denn deine Tochter von dir denken, wenn du sie mit einem dicken Kopf begrüßt?«

Georg fragte sich insgeheim, ob es hier überhaupt jemanden gab, der nicht darüber informiert war, daß seine Tochter morgen zu Besuch kommen wollte.

»Das geht dich gar nichts an, Joe«, knurrte Padraig und schob ihm sein Glas rüber. »Gib mir lieber auch noch ein Pint!«

Joe lachte und griff nach den beiden leeren Gläsern.

»Woher er das schon wieder weiß«, brummte Padraig und zog an seiner Pfeife.

»Das frage ich mich schon lange nicht mehr«, gab Georg gelassen zurück und wich vorsichtig einem Bierrinnsal aus, das über den Tresen floß. Er griff in die Tasche und holte eine Packung Zigaretten heraus. Früher hatte er nicht geraucht, doch inzwischen war ihm das Rauchen genauso in Fleisch und Blut übergegangen wie allen anderen hier. Die Nichtraucher waren seltener als die Totogewinner. Ganz automatisch reichte Georg das Päckchen herum, gab Feuer und zündete sich selbst eine Zigarette an.

»Ich find' gut, daß sie dich besuchen kommt«, meinte Padraig und grinste. »Dann hast du mal eine Frau im Haus, die sich um dich kümmert!«

Georg lachte. Padraigs Meinung über Frauen war klar abgegrenzt.

»Und du denkst, daß es nötig ist?« fragte er.

»Es ist für niemanden gut, immer allein zu sein«, sagte Padraig bestimmt. »Ich hab' dir ja schon oft gesagt, daß du dir eine Frau suchen sollst. Aber das willst du ja offensichtlich nicht.«

»In der Tat«, meinte Georg.

»Okay, jetzt kommt wenigstens deine Tochter«, fuhr Padraig fort. »Das ist auch schon was, die bringt auf jeden Fall Leben in dein Haus. Weißt du schon, wie lange sie bleiben will?«

»Sie hat nichts gesagt. Ich nehme aber an, daß sie eine Zeitlang bleiben wird. Immerhin hat sie ja ihr letztes Examen gemacht, und ich kann mir vorstellen, daß sie etwas pausieren will, bevor sie anfängt zu arbeiten.«

»Vergiß nicht, sie mal mitzubringen, wenn sie hier ist«, verlangte Padraig.

»Das vergesse ich schon nicht«, lächelte Georg.

Das Pub war voll an diesem Samstagabend. Zwar war es nicht die einzige Kneipe am Ort, doch die beliebteste. Georg kam gern hierher. Er fühlte sich in dem in dunklem Holz eingerichteten Schankraum, dessen altmodisches und abgewetztes Mobiliar unendliche Gemütlichkeit ausstrahlte, ausgesprochen wohl. Früher hätte Georgs deutscher Ordnungssinn sich wohl über den klebrigen Boden, die Bierpfützen auf den Tischen und den mit zunehmender Stunde steigenden Alkohol im Blut der meisten Pubbesucher mokiert, doch mit der Zeit hatte Georg entdeckt, daß die rauhe, aber ehrliche Herzlichkeit der Menschen hier wertvoller war als eine steril-gepflegte Umgebung. Georg mußte zugeben, daß der Gemeinschaftssinn ihm ein Heimatgefühl vermittelte. Die zahlreichen zum Teil schon erheblich in die Jahre gekommenen Fotografien an der Wand zeugten davon, daß Angelegenheiten, die eigentlich nur wenige betrafen, das gesamte Dorf bewegten. So das Bild der Fußballjunioren nach ihrem Sieg über den großen Gegner in Galway im Jahr 1974; und auch Georg hatte sich die Geschichte des glorreichen Entscheidungsschusses schon mehrfach anhören müssen. Er hatte sich früher nicht allzusehr für Fußball interessiert, doch die Begeisterung, die hier jeder – Mann und Frau, alt und jung –an den Tag legte, riß ihn einfach mit. Mittlerweile verfolgte er wie die anderen die Samstagsspiele mit Gleichgesinnten bei einigen Pints hier im Pub.

Heute allerdings beachtete er den Bildschirm nicht und fuhr daher zusammen, als ein Tor fiel und ein allgemeiner Aufschrei durch den Raum ging.

»Sie war ein so nettes kleines Mädchen«, sagte er versonnen und blickte dabei auf das Blechschild mit der Bierreklame über der Theke, ohne es wirklich wahrzunehmen.

»Du hattest keinen großen Kontakt zu ihr in der letzten Zeit, was?« fragte Padraig vorsichtig.

»Wenig.« Georg trank einen Schluck aus dem Glas, das ihm Joe hingestellt hatte. »Meiner Frau war es am liebsten, wenn ich mich nicht mehr blicken ließ, und deshalb, so nach und nach ...« Er nahm noch einen Zug und schwieg, in Erinnerungen versunken.

Georg kannte Padraig nun schon fast zehn Jahre. Zehn Jahre war es her, daß er an einem Samstagabend in diesem Pub in Irlands Westen gelandet war. Zuerst war er zurückhaltend gewesen, war er doch fremd hier; und wie viele Deutsche bewahrte er Fremden gegenüber Vorsicht. Auch war die Sprache anfangs noch ein Problem, aber in Irland blieb niemand allein am Tisch sitzen. Mit freundlicher Beharrlichkeit, die nichts mit aufdringlicher Neugier, sondern mit ehrlichem Interesse am Mitmenschen zu tun hatte, kam man ihm, dem Fremden, entgegen, tastete sich behutsam an ihn heran. Georg hatte bald gemerkt, daß ihm niemand Böses wollte, und er gestand sich heute ein, daß er damals sogar froh darüber gewesen war, daß man auf ihn zugegangen war. Obwohl es mit der Zeit nicht ausblieb, daß man über ihn Bescheid wußte, vermied es Georg, zuviel Persönliches zu offenbaren, und er wußte es zu schätzen, daß man es allgemein akzeptierte, ohne ihn deshalb auszugrenzen. Vielleicht war das der eigentliche Grund, weshalb er so gerne ins Pub kam. Er konnte kommen, einige Pints trinken, ein paar unverbindliche Gespräche führen und wieder gehen, mit dem Gefühl, einen angenehmen Abend verbracht zu haben. Wenn er darüber nachdachte, mußte Georg unwillkürlich lächeln. Niemals hätte er sich früher träumen lassen, daß er an so einem Dasein ehrliche Freude haben würde.

Padraig war damals der erste gewesen, dem Georg ein wenig mehr von sich erzählt hatte, und als Padraig hörte, daß Georg beabsichtigte, sich hier in der Gegend auf Dauer niederzulassen, hatte er ihm bei der Suche nach einer Behausung geholfen. Georg mochte den Iren, obwohl sie so verschieden waren, wie man es sich nur vorstellen konnte. Sie standen etwa im gleichen Alter, doch während Padraig durch Jahrzehnte harter Arbeit auf den Torffeldern früh gealtert war, seine Hände breit und rauh waren und sein Körper wie verwittert schien, war Georg eher der intellektuelle, asketische Typ. Georg schätzte den gesunden Menschenverstand und die Hilfsbereitschaft, die bei Padraig über vorhandene Mängel in der Bildung hinwegblicken ließen. Darüber hinaus fühlte er sich von Padraig uneingeschränkt akzeptiert – etwas, was er schon lange nicht mehr erlebt hatte. So hatte sich im Laufe der Jahre eine ehrliche Freundschaft zwischen den beiden Männern entwickelt, die dazu beitrug, Georg das Hineinfinden in diese ihm fremde Welt zu erleichtern. Obwohl Georg gerne allein war, gestand er sich doch ein, wieviel es ihm bedeutete, gelegentlich Menschen um sich zu haben, und sei es nur, um einen Schwatz über das Wetter zu halten. Er schien hier endlich seinen Platz gefunden zu haben. Man kannte ihn inzwischen, er wurde mit Namen gegrüßt, wenn er einkaufen ging, er wurde an die Tische gerufen, wenn er das Pub betrat, und man unterhielt sich mit ihm über die Mauer hinweg, die sein Grundstück von der Straße trennte. Es wurde sogar akzeptiert, daß er niemals zur Messe ging, und selbst der Priester nahm daran keinen besonderen Anstoß.

Padraig war sein besonderer Freund, deshalb fand er auch nichts dabei, mit ihm über Christine zu sprechen.

Seine Tochter Christine, die seit der Scheidung bei ihrer Mutter lebte.

Christine, die nach einem glänzenden Abitur Tiermedizin studiert hatte, ein Jahr davon sogar in den USA.

Christine, die eine Praxis eröffnen würde.

Christine, deren Bild auf dem Kaminsims seines Cottage stand. Zur Zeit der Aufnahme war sie fünfzehn gewesen, ein schlaksiges Wesen mit dunkelbraunem Pferdeschwanz und ein paar Sommersprossen auf der Stupsnase. Georg nahm das Bild oft in die Hand.

Seine kleine Christine, die nun schon seit langem erwachsen war.

Auch Padraig kannte das Bild.

»Was für ein hübsches Mädchen«, hatte er bewundernd gemeint.

Georg hatte genickt und gelächelt. Padraig hatte selbst vier Töchter, inzwischen alle erwachsen und aus dem Haus, doch kamen sie immer noch gerne zu ihren Eltern zu Besuch, und Georg erlebte des öfteren den Trubel anläßlich eines solchen Tages bei Padraig. Iren verfügen über einen ausgeprägten Familiensinn, und Padraigs Gesicht wirkte nie faltiger vor lauter Rührung, als wenn er von seinen ersten Enkeln erzählte.

Daran mußte Georg denken, als er an diesem Samstagabend spät aus dem Pub kommend sich auf den Nachhauseweg machte. Er hatte eine kleine Strecke zu laufen, sein Cottage befand sich außerhalb des Dorfes. Es störte Georg nicht, er liebte es, einsame Spaziergänge zu machen, und da der Himmel heute nacht klar und der Mond schon gut gefüllt war, lag der Weg deutlich vor ihm. Die milde Luft zeigte den fortgeschrittenen Frühling an, und Georg atmete den Duft der wilden Blumen ein, der zu dieser Jahreszeit den Torfgeruch überdeckte.

Morgen würde Christine kommen.

Georg war nervös. Padraig hatte gut reden, wenn er meinte, daß es ihm guttäte, wenn ein wenig Unterhaltung in sein Leben käme. Er lebte nun schon so lange allein, daß er sich gar nicht mehr vorstellen konnte, wie es sein würde, jemanden um sich zu haben.

Und nun kam Christine.

Ein leises Schnauben störte Georg in seinen Gedanken und ließ ihn aufblicken. Er hatte gar nicht bemerkt, wie das Pferd herangekommen war. Es streckte seinen Kopf über die Mauer, die die Koppel umgab, und schnüffelte an Georgs Ärmel. Geistesabwesend strich ihm Georg über den glatten Hals. Hinter dem Braunen tauchte ein weiteres Pferd auf, dann noch eins. Sie schienen sich über eine nächtliche Unterhaltungsmöglichkeit zu freuen.

Georg kannte sie gut. Er mochte Tiere, auch wenn er nicht gerade den Kontakt zu ihnen suchte. Doch hatte er damals nicht lange überlegt, als ihm Padraig sagte, daß Niall O'Flaherty ihm das ehemalige Verwalterhäuschen zu vermieten bereit war. Das Cottage gefiel ihm spontan, und es war auch von der Lage her genau das, was ihm vorgeschwebt hatte – weit genug vom nächsten Nachbarn entfernt, um seiner Sehnsucht nach Einsamkeit zu entsprechen, aber doch noch nahe genug an der Zivilisation, ohne die man nicht immer auskam. Anfangs störte ihn das Geklapper der Pferdehufe auf dem Kopfsteinpflaster oder das gelegentliche Wiehern, das immer wieder bis zu seinem Cottage hinüberdrang. Doch mit der Zeit bekamen die Pferde sogar in gewissem Sinne etwas Beruhigendes für ihn. Er konnte sie von seinem Fenster aus betrachten, sah, wie sie auf der Koppel verharrten und grasten, beobachtete, wie die Fohlen spielten und die Junghengste kleine Ringkämpfe ausfochten. Auch ohne sich besonders mit ihnen zu beschäftigen, kam er nicht umhin, mit der Zeit einzelne zu kennen. Er fand heraus, daß sie ebenso Wesen mit charakteristischen Eigenarten wie die Menschen waren. Es gab humorvolle, eitle und griesgrämige Pferde, er bemerkte die Neugier in den klugen Augen der Connemaraponys, er erkannte, daß die Stimmung der Irish Hunter am Ende eines langen Tages viel mit der Feierabendlaune eines Fabrikarbeiters gemein hatte, und er wußte vom Ehrgeiz der durchtrainierten Vollblüter, wenn sie vor einem Rennen standen.

Der Braune ahnte, daß Georg ihm nichts geben wollte, und wurde energisch. Er nahm seinen Ärmel zwischen die Zähne und zupfte daran.

Georg mußte lachen.

»Tut mir leid, ich habe wirklich nichts für dich«, sagte er zu dem Pferd und entzog ihm seinen Ärmel. »Außerdem«, fügte er in belehrendem Ton hinzu, »ist Essen vor dem Schlafengehen schlecht für die Zähne!« Dabei mußte er grinsen, als er sich bewußtmachte, mit welcher Ernsthaftigkeit er mit dem Pferd diskutierte. Es mußte am Bier liegen, im nüchternen Zustand hielt Georg nicht viel davon, Tiere zu vermenschlichen. Er klopfte dem Braunen nun abschiednehmend den Hals und konzentrierte sich wieder auf seinen Heimweg.

Er hatte keine Ahnung, weshalb Christine kommen wollte. Vor zwei Wochen hatte er von ihr einen Brief erhalten, einfach so. Zuerst wußte er gar nicht, von wem er war. Die Druckbuchstaben auf dem Umschlag vermochte er keiner besonderen Schrift zuzuordnen. C. Bernhard hieß der Absender, darunter eine ihm unbekannte Adresse in Düsseldorf. Es hatte tatsächlich etwas gedauert, bis er schaltete; er entsann sich noch gut des Gefühls, das ihm in den Magen kroch, als er den Brief mit unsicheren Händen entfaltete. Das Schreiben war kurz gewesen; Christine hatte nicht viel von sich erzählt. Ihr täten einige Wochen Ferien gut, meinte sie, und Irland sei ja ein wunderschönes Land. Deshalb würde sie ihn, wenn es recht sei, gerne einmal für ein paar Tage besuchen. Sie wolle ihm selbstverständlich keine Umstände machen, und wenn er nicht in der Lage sei, sie unterzubringen, dann könne er ihr doch sicher eine Unterkunft empfehlen.

Ein Brief wie von einer entfernten Bekannten, freundlich und unpersönlich. Der Gefühlsaufruhr, den dieser Brief bei ihm auslöste, überraschte Georg selbst. Er lebte seit langem ohne seine Familie, hatte sich hier eine Existenz geschaffen und war erstaunlich glücklich dabei geworden. Er mochte das Land und die Leute, er hatte einige gute Freunde gefunden, konnte sogar kleine Erfolge bei seiner Arbeit vorweisen, und so waren die letzten Jahre in ruhiger Beschaulichkeit vorbeigezogen.

Gedanken an Christine hatte er verdrängt, sie durften ihn nicht belasten. Doch nun stellte er fest, daß während der ganzen Zeit der Schmerz unter der Oberfläche konserviert worden war.

Und nun würde er sie wiedersehen.

Georg gestand sich ein, daß er ein wenig Angst vor dieser Begegnung hatte. Was für ein Mensch war sie geworden? Christine war früh selbständig gewesen und bereits als Teenager von einer sachlichen Intelligenz, die Georg regelrecht verunsichert hatte. Sie hatte ein Studium gewählt, das überdurchschnittliche Leistungen verlangte, und der Aufenthalt in den USA hatte sicherlich noch weiter zu ihrer Selbstsicherheit beigetragen. Nun war sie erwachsen, eine junge Frau.

Die Pferde schritten jenseits der Mauer neben ihm her, begleiteten ihn auf seinem Weg zu seinem Häuschen. Es war spät, doch er hatte keine Eile, niemand wartete auf ihn.

Vor der Tür blieb er stehen und sah zum Himmel hinauf. Er war fast wolkenlos, zahlreiche Sterne blinkten, der Mond stand hell und ließ die Frühlingsnacht freundlich sein. Der immerwährende Wind blies heute sanft vom Lough Corrib her und brachte das Quaken der ersten Frösche in Hochzeitsstimmung herüber. Der Geruch des blühenden Stechginsters lag in der Luft, und es schien fast so, als wollte sich das Land zu Christines Ankunft in seinem schönsten Gewand zeigen.

Die Pferde beobachteten Georg, als er mit einem tiefen Seufzer die Tür öffnete und ins Haus trat. Er schaltete die Deckenbeleuchtung nicht ein. Der Mond schien durchs Fenster und leuchtete ihm.

Aus seinem Atelier drang der Geruch von Farbe und Terpentin. Georg hatte erst heute nachmittag wieder ein Bild beendet. Er hob es auf und hielt es gegen das Fenster ins fahle Licht. Es war recht gut gelungen, fand er. Stunden hatte er mit seinem Skizzenblock am See zugebracht, hatte dann in seinem Atelier die Farben gemischt. Nun mußte er die Leinwand nur noch in einen Rahmen spannen. Im Juli würde in Galway wieder das alljährliche Kunstfestival stattfinden, und bis dahin wollte er noch ein paar Bilder gemalt haben.

Vor einigen Tagen hatte die Galerie in Dublin angerufen. Die letzte Vernissage war ein hübscher kleiner Erfolg gewesen, und Georg freute sich zu hören, daß danach mehrere seiner Bilder verkauft worden waren. Dennoch hielt er daran fest, weiterhin auch in Galway auszustellen. Er liebte diese Stadt, und im tiefsten Inneren war er abergläubisch. In Galway hatte sein bescheidener Erfolg begonnen. Galway im Westen der Insel war eine Stadt der Künstler und Studenten, und wer wußte schon, wie lange man ihn in der Metropole sehen wollte!

Georg stellte das Bild vorsichtig zurück.

Morgen würde Christine kommen.

Georg hatte Christine angeboten, sie in Dublin am Flughafen abzuholen, doch das wollte sie nicht. Sie hatte sich informiert und wußte daher, daß es von Dublin eine direkte Bahnverbindung nach Galway gab. Georg hingegen hätte eine ganztägige Autofahrt auf sich nehmen müssen, um sie in Dublin in Empfang zu nehmen.

Als der Zug anfuhr, lehnte sich Christine in ihrem Sitz zurück. Sie fühlte sich müde, wie so oft in den letzten Wochen. Es war eine bleierne Müdigkeit, die nichts mit Schlafmangel zu tun hatte und die ihr ein Gefühl vermittelte, als würde sie nie mehr zu aktivem Handeln fähig sein.

Der Zug war nicht voll besetzt, sie hatte das Abteil für sich allein. Ihre Reisetasche hatte sie auf den Nachbarsitz und den Koffer davor auf den Boden gestellt, ihre Jacke neben sich an den Haken gehängt. Sie legte ihren Kopf hinein und schloß die Augen. Vielleicht würde sie doch ein wenig schlafen können. Sie schrak hoch, als sich die Abteiltür öffnete und der Schaffner den Kopf hereinsteckte.

»Jemand zugestiegen?« fragte er freundlich.

Christine richtete sich auf und holte ihre Fahrkarte aus der Tasche.

»Sie fahren bis Galway?« meinte der Schaffner und knipste das Ticket. »Dann haben wir Sie ja noch eine gute Strecke an Bord!«

Christine erwiderte sein freundliches Lächeln und bedankte sich, als er ihr die Fahrkarte zurückgab.

Sein Auge fiel auf ihren Koffer.

Christine lächelte ein wenig verlegen.

»Es tut mir leid. Ich weiß, daß der Koffer da unten im Weg steht, aber ...«

»Oh, machen Sie sich doch keine Gedanken«, beschwichtigte der Schaffner. Er lächelte Christine wieder an. »Es ist doch völlig verständlich, daß eine junge Dame wie Sie mit so einem schweren Stück nicht allein zurechtkommt.« Er ergriff den Koffer und hob ihn auf die Gepäckablage.

»Das ist furchtbar nett von Ihnen«, sagte Christine dankbar. »Nein, die Tasche brauche ich hier unten«, fügte sie schnell hinzu, als der Schaffner nach ihr greifen wollte. Er lächelte sie freundlich an, als Christine sich herzlich bedankte, und verabschiedete sich.

Christine ließ sich wieder zurücksinken, und ihre Gedanken begannen erneut zu schweifen.

Die Fahrt würde einige Stunden dauern, und sie würde sicherlich mehrmals Zuflucht zu ihrer Wasserflasche oder den Müsliriegeln nehmen müssen, deshalb wollte sie auch ihre Reisetasche griffbereit haben. Sie hatte sich anspruchslosen Lesestoff für unterwegs besorgt, doch im Augenblick verspürte sie keine Lust zum Lesen.

Die Entscheidung, ihren Vater in Irland zu besuchen, war ganz kurzfristig gefallen. Renate, ihre Mutter, sagte wenig, als Christine verkündete, zu ihrem Vater fahren zu wollen. Christine hatte keine großen Erklärungen abgegeben, das war nicht ihre Art. Aber unfreundliches oder abweisendes Verhalten konnte man ihr niemals vorwerfen. Sie traf ihre Entscheidungen selbst und ließ sich selten hineinreden. Und Rechenschaft über ihre Beweggründe legte sie selten ab.

Renate akzeptierte das. Sie selbst führte ein emanzipiertes Leben und hatte daher auch Christine früh dazu angehalten, Eigenverantwortung zu übernehmen. Angesichts von Christines Reiseplänen gestattete sie sich daher nicht mehr als eine leichte Verwunderung, und Christine war ihr dankbar dafür.

Abgesehen davon kannte Christine die Meinung ihrer Mutter, daß es ihr nur guttun könne, ein paar Wochen woanders zu verbringen und in der neuen Umgebung richtig abzuschalten. Obwohl ihr Verhältnis zueinander nicht besonders innig, sondern eher durch Sachlichkeit geprägt war, wußte Christine, daß sich hinter der zurückhaltenden Art ihrer Mutter tiefe Zuneigung zu ihr verbarg. Ihr entging auch nicht, daß sich Renate in der letzten Zeit Sorgen um sie machte. Christine hatte sich ihr nicht anvertraut, doch war sie sich darüber im Klaren, daß Renate wußte, daß etwas nicht in Ordnung war.

Als der Zug hielt, schreckte Christine aus ihren Gedanken auf; sie erhob sich und schob das Fenster herunter. Frische, kühle Luft strömte ins Abteil und strich belebend über ihr Gesicht. Suchend blickte sie sich nach einem Namen um. ›Mui Leann Cearr – Mullingar‹, las sie auf dem Schild. Bereits bei ihrer Ankunft auf der Grünen Insel war ihr aufgefallen, daß alle Wegweiser und Hinweisschilder zweisprachig waren. Christine mußte unwillkürlich lachen, und sie wurde sich der Tatsache bewußt, daß sie sich in einem Land mit einer Kultur befand, von der sie bisher wenig bis gar nichts wußte. Und zum ersten Mal nach langer Zeit begann sie, sich für das, was vor ihr lag, zu interessieren.

Sie blickte auf die Uhr. Sie hatten bis jetzt noch nicht einmal die Hälfte der Strecke bis Galway zurückgelegt. Der Zug ruckte an, gewann langsam an Fahrt. Während er Mullingar in westlicher Richtung verließ, schloß Christine das Fenster und setzte sich wieder. Von nun an würde sie aufmerksam sein.

Sie passierten die letzten Häuser des Städtchens und kamen in offenes Land. Die Nachmittagssonne strahlte ins Abteil hinein, der Himmel war blau, mit ein paar kleinen weißen Wölkchen betupft. Sie fuhren durch endlos scheinendes, von vereinzeltem Buschwerk besprenkeltes, sattgrünes, flaches Land, auf dem Schafe und Kühe weideten. Ab und zu sah man ein paar Pferde neben dem Bahndamm grasen, mit den Schweifen die Fliegen fortwedelnd, unberührt vom Rattern des Zuges. Sie passierten einzelne Häuser, Bauernhöfe und Kapellen und durchquerten kleinere Wälder. Immer wieder liefen die Schienen für einige Kilometer an einer Straße entlang; der eine oder andere Autofahrer winkte den Reisenden lächelnd zu.

Christine winkte nicht zurück, aber ihr Gesichtsausdruck verlor allmählich die maskenhafte Starre.

Wie würde ihr Vater sein? Sicher war er verändert, hatte nicht mehr viel gemein mit dem Bild, das sie von ihm in sich trug. Immerhin hatte er auf ihren Brief sehr freundlich geantwortet. Die Überraschung, nach so langer Zeit plötzlich von ihr zu hören, war zwar zwischen den Zeilen deutlich herauszulesen gewesen, aber es schien so, als beabsichtige Georg, Vergangenes begraben sein zu lassen und einen neuen Anfang zu machen. Er fragte nicht danach, was sie plötzlich bewogen hatte, ihn zu besuchen; er ging in seinem Brief überhaupt nicht auf Persönliches ein. Er teilte ihr nur mit, daß er sich herzlich auf ihr Kommen freue, und selbstverständlich könne sie bei ihm wohnen, so lange sie mochte. Daraufhin hatte sie ihm nur noch zurückgeschrieben, um ihre genaue Ankunftszeit in Galway mitzuteilen.

Sie wußte noch nicht, wie lange sie bleiben würde.

Alex war der Meinung gewesen, daß sie ohnehin in spätestens einer Woche wieder vor seiner Tür stehen würde.

Christine biß die Zähne zusammen.

Der Zug war vor einer halben Stunde durch Athlone gekommen und hielt jetzt in Ballinasloe. Ballinasloe befand sich bereits in der Grafschaft Galway, in etwa einer Stunde würden sie am Ziel sein.

Christine schrak auf, als sich die Tür ihres Abteils öffnete. Eine freundliche Stimme fragte, ob noch Plätze frei seien. Ganz automatisch murmelte Christine ihr Ja und schob die Reisetasche unter ihren Sitz, während eine junge Frau zwei Mädchen im Vorschulalter hereinschob. Sie hatten kein Gepäck dabei, offenbar machten sie nur einen Tagesausflug. Im Handumdrehen war das stille Abteil von Leben erfüllt. Die Kinder plapperten fröhlich und begannen dann, sich um den verbliebenen Fensterplatz zu streiten. Christine lächelte der Mutter zu, stand auf und setzte sich selbst neben die Tür, den Kindern ihren Fensterplatz überlassend. Die Frau lächelte zurück und bedankte sich ein wenig erschöpft.

»Oh, ich weiß, wie Kinder sind«, lächelte Christine.

»Ja, ja«, seufzte die Mutter. »Man könnte manchmal meinen, ihr Leben hinge von so einem dummen Fensterplatz ab!«

»Sie haben eben keine anderen Sorgen.«

»Oh, ja«, erwiderte die Frau zustimmend. »Glückliche, kleine Wesen!«

Christine schwieg und betrachtete die beiden Mädchen, die jetzt friedlich auf den Sitzen kauerten und die Nasen an die Scheiben preßten.

»Fahren Sie auch bis Galway?« fragte die Frau Christine neugierig.

Christine nickte, und die Frau fragte sogleich weiter, mit Blick auf Christines doch ein wenig umfangreicheres Gepäck: »Sie kommen sicher von weiter her, nicht wahr?«

»Ich bin schon in Dublin zugestiegen«, bestätigte Christine, und im stillen über das erwartungsvolle Gesicht der Frau lächelnd, fügte sie hinzu: »Ich komme aus Deutschland.«

»Oh, aus Deutschland? Das hätte ich aber nicht gedacht! Sie sprechen wirklich gut Englisch!«

Es wäre auch schlimm, wenn ich es nicht täte, dachte Christine bei sich, heimlich amüsiert. Wenigstens das sollte ich in Kalifornien doch gelernt haben!

»Und Sie machen Ferien in Connemara?« wollte die Frau wissen.

»Ja«, bestätigte Christine und wunderte sich ein wenig über sich selbst. Normalerweise versetzte sie solch offenkundige Neugier stets in Rage. Doch in diesem Fall brachte sie es nicht übers Herz, grob zu antworten. Die junge Mutter schien so froh über die Gelegenheit zu einem kleinen Plausch zu sein, daß sie sie nicht enttäuschen mochte und gelassen blieb. Geduldig beantwortete sie Fragen nach ihrem Wohnort in Deutschland, wie ihr Irland bis jetzt gefiele und wie sie ihre Ferien zu verbringen gedächte. Dazwischen ließ sie sich ausführlich Empfehlungen hinsichtlich Ausflügen, Besichtigungen und sonstiger Möglichkeiten zur Gestaltung ihres Urlaubs erteilen und erfuhr gleichzeitig Näheres über Ziel und Fahrt der Familie.

So verging der letzte Teil ihrer Reise wie im Fluge, und Christine war einigermaßen erstaunt, als die junge Mutter sich auf einmal mitten im Satz unterbrach, aus dem Fenster deutete und rief: »Da sind wir schon!«

Christine blickte ebenfalls hinaus.

Die Gleise hatten sich geteilt, Signale tauchten auf, und der Zug wurde zusehends langsamer. Er passierte gleichförmige Vorstadthäuser, flache Lagerhallen, und Güterzüge auf Abstellgleisen kündigten den Bahnhof an. Mit kreischenden Bremsen hielt der Zug schließlich neben dem weißen ›Gaillimh – Galway‹-Schild.

Christine blieb einen Moment still sitzen.

Ihre Reisegefährtin nahm die Kinder bei der Hand und schob die Abteiltür auf, drehte sich dann aber zu Christine um.

»Soll ich Ihnen mit Ihrem Gepäck helfen?« fragte sie hilfsbereit.

»Danke, es geht schon«, lächelte Christine zurück.

»Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Aufenthalt hier.« Unter freundlichem Nicken schob sie ihre Kinder hinaus.

»Auf Wiedersehen«, sagten alle drei.

»Auf Wiedersehen!« Christine blickte ihnen nach.

Dann griff sie langsam nach ihren Sachen. Sie vermied es dabei, aus dem Fenster zu schauen. Würde ihr Vater da sein? Was, wenn sie ihn gar nicht mehr erkannte? Oder er sie nicht mehr? Dann schalt sie sich selbst. Was sollte der Unsinn, natürlich würden sie sich erkennen, soviel Zeit war schließlich auch wieder nicht vergangen!

Sie stellte ihre Tasche auf dem Sitz ab, legte ihre Jacke darüber und holte mit einiger Mühe ihren Koffer von der Ablage. Sie fühlte sich ziemlich steif nach der langen Reise, und ihr fiel auf einmal ein, daß sie seit dem Frühstück im Flugzeug nichts mehr gegessen hatte, ihr Reiseproviant war nach wie vor unberührt. Trotzdem verspürte sie keinen Hunger, im Gegenteil, der Gedanke an eine Mahlzeit widerte sie eher an.

Christine zog ihre Jacke an und hängte sich ihre Reisetasche über die Schulter. Dann ergriff sie den Koffer und zog ihn hinter sich auf den schmalen Gang hinaus Richtung Tür, vorsichtig kletterte sie die Stufen hinunter, den Koffer mehr ziehend als tragend. Erst als sie auf der Plattform stand, hob sie ihren Blick. Sie war als eine der letzten ausgestiegen, und der Bahnsteig hatte sich bereits ziemlich geleert.

Ihre Blicke trafen sich. Sie verharrten einen Moment stumm, dann begannen sie, aufeinander zuzugehen.

Er hat sich fast überhaupt nicht verändert, dachte Christine, während sie auf ihren Vater zuschritt.

Mein Gott, sie ist erwachsen geworden, dachte Georg im gleichen Moment. Er sah eine schlanke, junge Frau mit kurzgeschnittenen dunkelbraunen Haaren auf sich zukommen, gekleidet in Leinenschuhe, hellblaue Jeans, einen weißen Baumwollpullover unter einer dunkelblauen Mikrofaserjacke von der Sorte, wie sie zur Zeit im Trend lag. Georg war angenehm überrascht über ihr schlichtes Äußeres. Nach dem, was er über sie wußte, hatte er eine elegante junge Dame, womöglich vom Typ extravagante Karrierefrau, erwartet, doch Christine schien sich ihre Natürlichkeit zu bewahren. Ihr Gesicht zeigte nur wenig Make-up, sie trug außer einem dünnen, silbernen Halskettchen keinen Schmuck, und ihre Kleidung war zwar bestimmt nicht vom Billigsten, jedoch unauffällig im Stil. Christine konnte sicher nicht als Schönheit im klassischen Sinn bezeichnet werden, doch der Kontrast zwischen ihren dunklen Haaren und den klaren, grünen Augen weckte beim Betrachter Interesse. Als sie nun vor Georg stand, bemerkte er, daß sie seit damals nicht mehr viel gewachsen sein konnte, er überragte sie immer noch um Haupteslänge. Obwohl sie klein von Wuchs war, strahlte Christine so viel Würde aus, daß Georg sich unsicher fragte, wie er sie bloß begrüßen sollte.

Auch Christine fühlte sich lange nicht so selbstsicher, wie sie wirkte. Auch sie zitterte innerlich vor diesem Wiedersehen und hoffte, daß Georg das erste Wort sagen würde.

»Christine«, sagte Georg stockend.

»Hallo, Vater«, erwiderte Christine kaum hörbar.

Früher hatte sie Papa gesagt, schoß es Georg durch den Kopf, aber irgendwie war es ganz selbstverständlich für ihn, daß Christine ihn nun Vater nannte.

Er streckte ihr ein wenig unsicher die Hand entgegen. Christine ergriff sie zögernd. Ihre Hand war kalt.

»Willkommen in Irland«, sagte Georg, und ein vorsichtiges Lächeln malte sich auf sein Gesicht.

Christine erwiderte das Lächeln und drückte seine Hand.

»Danke, daß ich kommen durfte!«

Cuchulainn raste über die Koppel. Er hatte die Ohren flach an den Kopf gelegt, die Nüstern gebläht, das Weiße des Augapfels kam deutlich zum Vorschein. Die Steigbügel schlugen ihm an die Flanken, der Zügel flatterte hinter ihm her. Ruaidhri befürchtete zuerst, der Dunkelbraune würde in seiner Wildheit versuchen, den hohen Zaun im Sprung zu nehmen, doch glücklicherweise stoppte er kurz vorher, in ziellosen Bocksprüngen auf der Stelle tobend. Der baumelnde Zügel schien erneut seinen Zorn zu erregen, er versuchte, danach zu beißen, und schnaubte laut und heftig.

Denis hatte sich wieder vom Boden erhoben.

»So ein Mistvieh«, stieß er zwischen den Zähnen hervor.

»Daß ich einmal erleben werde, daß dich ein Pferd abwirft, hätte ich mir nie träumen lassen«, bemerkte Ruaidhri, den Zorn seines Bruders ignorierend. »Was ist eigentlich los mit euch beiden?«

»Frag ihn«, gab Denis übellaunig zurück und wies mit einer Kopfbewegung auf den jungen Hengst, der mit der Toberei aufgehört hatte und unruhig am Zaun hin und her lief.

»Irgendwie scheint ihr tatsächlich ein Problem miteinander zu haben«, meinte Ruaidhri gelassen. Er rutschte von der obersten Stange des Koppelzaunes, auf der er gesessen hatte, herunter. »Na, zum Glück ist es nicht meines!«

Denis warf ihm einen bösen Blick zu und wandte sich dann ab.

Cuchulainn stand nun still in der hintersten Ecke der Koppel. Als sich Denis langsam auf ihn zubewegte, sah er ihm argwöhnisch entgegen, warf den Kopf hoch und schnaubte. Denis bemühte sich, langsam und ruhig zu gehen, doch der Hengst ließ sich nicht täuschen. Noch bevor Denis ihn packen konnte, warf er sich herum und galoppierte an ihm vorbei zum anderen Ende der Wiese.

Denis fluchte unbeherrscht.

»Laß ihn sich doch erst mal beruhigen«, schlug Ruaidhri vor. »Kümmere dich gefälligst um deinen eigenen Kram«, raunzte ihn Denis an. Ruaidhri zuckte die Achseln und wandte sich zum Gehen. Mit Denis war heute wieder einmal absolut nichts anzufangen. Wenn er sich in einer solchen Stimmung befand, dann war es das beste, man ging ihm aus dem Weg. Ruaidhri warf einen nachdenklichen Blick zu ihm zurück, als er pfeifend zum Stall schlenderte.

Irgendwie verhielt es sich schon sonderbar. In letzter Zeit hatte sich Denis ziemlich verändert, manchmal kam es Ruaidhri vor, als stünde ein Fremder vor ihm. Denis war noch nie sehr zugänglich gewesen, doch diese Verbissenheit, die er im Moment an den Tag legte, hatte er früher bei ihm nicht gekannt. Auch die Pferde bemerkten seine Veränderung und reagierten auf ihre Weise darauf. Derartige Schwierigkeiten, wie Denis sie nun mit Cuchulainn erlebte, waren sonst nicht vorgekommen. Und gerade auf diesen Hengst setzten sie große Hoffnungen.

Ruaidhri hörte den Wagen und drehte sich um. Er sah Georgs Mazda vorbeifahren und hob grüßend die Hand. Ihm fiel ein, daß Georgs Tochter heute kommen sollte. Georg hatte nicht viel über sie erzählt, doch kannte man sich nach zehn Jahren enger Nachbarschaft so weit, daß die Familie O'Flaherty im großen und ganzen informiert war. Ruaidhris Eltern hielten gerne einmal mit Georg einen Schwatz, und Eleanor O'Flaherty ließ es sich nicht nehmen, ihm ab und zu einmal etwas aus ihrer Küche hinüberzubringen. Ruaidhri selbst hatte mit Georg nicht viel zu tun, er interessierte sich nicht für Malerei und betrachtete daher den Deutschen als Sonderling, den man anerkannte, obgleich man über ihn ein wenig lächelte.

Auf dem Platz vor dem Stall herrschte geschäftiges Treiben. Vor einigen Minuten war Fionas Gruppe vom Ausritt zurückgekommen und sattelte ab. Fiona übernahm meist die Anfänger und Kinder, sie verfügte über ein unnachahmliches Talent, mit unsicheren Reitern umzugehen. Ruaidhri machte niemals einen Hehl daraus, daß er für so etwas keine Geduld besaß. Fiona behauptete zwar immer, seine Nachsicht mit einer Anfängerin stünde in direktem Zusammenhang mit der Attraktivität der betreffenden Dame, doch Ruaidhri lachte dann bloß und meinte, mit der Attraktivität sei es meist nicht mehr weit her, wenn diese Dame erst einmal in ein Schlammloch gepurzelt sei.

»Na und? Dann hast du ja immerhin Gelegenheit, den Kavalier zu spielen und sie herauszuziehen«, konterte Fiona ungerührt.

Auch diesmal musterte Ruaidhri erst einmal unauffällig die Mitglieder der Gruppe. Er sah auf den ersten Blick, daß keine des Ansehens würdige weibliche Person darunter war, und wartete geduldig in einiger Entfernung, daß die Versorgung der Tiere beendet sein und die Gruppe sich zerstreuen würde.

Dabei ging sein Blick noch einmal zu Denis zurück, der den Hengst inzwischen wieder eingefangen hatte. Das wütende Schnauben des Tieres schallte laut zu Ruaidhri herüber, gefolgt von Denis' zornigen Flüchen.

Ruaidhri schüttelte nur den Kopf. Es war ihm einfach schleierhaft, wieso Denis mit dem Pferd nicht zurechtkam. Normalerweise verstand kaum jemand mehr von Pferden als er, und Ruaidhri gab stets eine Menge auf das Urteil seines Bruders. Noch im vorigen Herbst, als sie den damals Dreijährigen gekauft hatten, hatte Denis ihn in den höchsten Tönen gelobt. Auch Ruaidhri war beeindruckt gewesen von der Schnelligkeit und der Sprungkraft, die das Tier auf der Rennbahn, auf der ihn sein Vorbesitzer bereits laufen ließ, zeigte. Denis hatte gehofft, den Hengst zum Galway Hurdle Handicap im Juli melden zu können. Unglücklicherweise schien aber Cuchulainn plötzlich eine unüberwindliche Abneigung gegen Denis zu haben, was das Training zunehmend zu einem Kampf zwischen Mensch und Tier werden ließ.

Ruaidhri wunderte sich immer mehr über Denis' Verhalten. Dieser schien die Widerspenstigkeit des Pferdes als persönliche Beleidigung aufzufassen und reagierte unbeherrscht, was ihr Verhältnis nicht eben verbesserte. Ruaidhri war selbst Fachmann genug, um zu erkennen, daß der Hengst in seiner momentanen Stimmung keine Rennen laufen würde, und die ohnmächtige Wut, die Denis darüber zu empfinden schien, konnte er nicht ganz nachvollziehen.

Auch Fiona blickte mit gerunzelter Stirn zu Denis hinüber.

»Was hat er eigentlich in der letzten Zeit?«

»Frag mich nicht«, gab Ruaidhri zurück und hob die Schultern. Dann grinste er. »Und ich würde dir empfehlen, auch ihn nicht zu fragen, wenn du nicht willst, daß er dir den Kopf abreißt!«

»Ich werde mich hüten!« Fiona begann, ihre Fuchsstute mit einem Strohbüschel abzureiben. »Seine Rennpferde gehen mich zum Glück nichts an. Aber wenn du meine Meinung hören willst – so wie er das Pferd behandelt, wird das sowieso nie etwas mit den beiden.«

»Das ist mir schon lange klar«, nickte Ruaidhri. »Bloß er selbst merkt es offenbar nicht.« Er will es gar nicht merken, setzte er in Gedanken für sich hinzu.

»Ich muß sagen«, meinte Fiona nun energisch, »daß mir seine schlechte Laune allmählich gewaltig auf die Nerven geht. Und mich wundert es nur, daß ihm Dad nicht endlich mal die Meinung sagt.«

Das wunderte Ruaidhri eigentlich auch. Sein Vater war normalerweise niemand, der mit seinen Ansichten hinter dem Berg hielt, und Ruaidhri fand es aufgrund eigener Erfahrung äußerst seltsam, daß er das Verhalten seines ältesten Sohnes so einfach hinnahm.

Andererseits war es Ruaidhri im Grunde ziemlich egal, was Denis tat oder nicht tat. Nachdem jeder seinen eigenen Aufgabenbereich im Betrieb hatte, war er auf ihn nicht angewiesen und vermochte ihm daher auch leicht aus dem Weg zu gehen. Seinetwegen konnte er soviel schlechte Laune haben, wie er wollte.

Er zuckte daher bloß gleichgültig die Schultern und wechselte das Thema.

»Hast du übrigens schon die Tochter von George gesehen?« Seine Stimme klang beiläufig.

»Habe ich nicht«, meinte Fiona nicht sehr interessiert, ergriff ihr Pferd beim Halfter und führte es in den Stall. »Du?«

»Kurz im Vorbeifahren«, antwortete Ruaidhri und schlenderte hinter seiner Schwester her, die sich in ihrem Tun nicht stören ließ. »Das ist schon irgendwie komisch, nicht? Ich meine, jahrelang sieht man nichts von ihr, und dann taucht sie auf einmal auf!«

»Es wird schon so eine Zicke sein«, bemerkte Fiona bissig. »Ist sie nicht Studentin oder so?«

»Irgendwas in der Art, glaube ich, ja.« Ruaidhri grinste. »Ich denke, ich werde sie mir bei Gelegenheit einmal aus der Nähe ansehen.«

»Wann hast du dir denn jemals die Gelegenheit, ein weibliches Wesen aus der Nähe anzusehen, entgehen lassen?« erwiderte Fiona anzüglich.

»Noch nie, das ist richtig.« Ruaidhris Grinsen wurde breiter. »Hast du eigentlich nichts zu tun?« fragte Fiona beiläufig.

»Nein, warum?« Ruaidhri vergrub seine Hände in die Hosentaschen.

»Weil du mir gerade recht kommst zum Füttern«, informierte Fiona ihn, klopfte der Fuchsstute noch einmal liebevoll den Hals und trat dann aus der Box. »Ich habe nämlich Ma versprochen, daß ich mit ihr noch schnell zum Einkaufen fahre.«

»Eigentlich ...«, begann Ruaidhri, doch Fiona war schon an der Stalltür.

»Und gib Myra heute keine Häcksel«, rief sie ihm noch von draußen zu. »Sonst bekommt sie wieder Koliken!«

»Biest«, murmelte Ruaidhri, der sich übertölpelt vorkam. Er warf einen düsteren Blick auf die lange Reihe der Boxen, seufzte dann tief auf und wandte sich in Richtung Futterkammer.

Christine stand am Fenster und schaute hinaus.

Das Zimmer, das Georg für sie hergerichtet hatte, lag gen Westen. Die Sonne war schon lange untergegangen und hinterließ nichts als einen leichten rötlichen Schimmer am dunkelblauen Abendhimmel. Weit in der Ferne konnte Christine die glatten Berge Connemaras erkennen, blaugrün und schattengleich, und das Schilfrohr am Ufer des Lough Corrib stand schwarz gegen das letzte Licht am Horizont.

Christine wunderte sich, wie still es hier war. Es war nicht das Fehlen der Alltagsgeräusche, das ihr auffiel – es war die Stille selbst, obwohl sie Vogelstimmen zu hören vermochte, das Zirpen von Insekten und gelegentlich ein Wiehern von der nahe gelegenen Koppel. Doch kein Motor dröhnte, kein Nachbar ließ sein Radio oder seinen Fernseher laufen, kein menschlicher Laut störte den Frieden. Über dem Land vor Christines Fenster lag eine gleichsam majestätische Ruhe, die sie glaubte greifen zu können.

Sie hatten nicht viel gesprochen auf der Fahrt im Auto, Georg und sie. Beide waren befangen, keiner von beiden fühlte sich sicher, keiner wußte, wie er sich dem anderen gegenüber verhalten sollte. Deshalb widmete Christine auch der Umgebung bis zu Georgs Zuhause betonte Aufmerksamkeit. Georg war froh um jeden unverbindlichen Gesprächsstoff und erteilte bereitwillig Auskunft.

Das Dorf, zu dem der O'Flaherty-Hof gehörte, lag nördlich von Galway, nicht weit vom Lough Corrib, dem großen See, entfernt. Christine hatte sich ein wenig über das Land informiert, und so wußte sie, daß sie sich im kargen Nordwesten der Grünen Insel befand, in einer schroffen Landschaft mit felsiger Wüste, Bergen, Sumpf- und Moorland. Obgleich in der Großstadt aufgewachsen, fühlte sie sich stets zur Natur hingezogen, was sie letztendlich auch dazu gebracht hatte, sich für das Tiermedizinstudium zu entscheiden. Deshalb war ihr Interesse an Connemara durchaus echt, und je mehr sie auf der Fahrt aus dem Autofenster blickte, desto weniger beruhte ihre Aufmerksamkeit auf Verlegenheit.

»Wir sind gleich da«, sagte Georg schließlich. »Das Haus da vorn an der Straße ist meines.«

Christine sah hinaus. Das Haus gefiel ihr. Es sah zwar nicht gerade aus wie eines dieser malerischen, alten Cottages mit Reetdach zwischen zwei Kaminen, die sie schon auf Ansichtskarten gesehen hatte, sondern es war ein einfaches, gekalktes Häuschen mit Schieferdach, das immerhin auch schon ein stattliches Alter besaß. Eine Pferdekoppel trennte es vom O'Flaherty-Hof.

Unwillkürlich wanderte ihr Blick zu den langgestreckten Gebäuden des Reiterhofs. Georg hatte ihr während der Fahrt erzählt, daß sich sein Haus auf seinem Gelände befand, und Christine war ein wenig überrascht gewesen, als sie daraufhin einen kleinen freudigen Schrecken verspürte. Sie äußerte sich nicht weiter dazu und nahm an, daß Georg auch vermutlich nichts davon ahnte, wieviel Pferde für sie bedeuteten. Sie war sich nie bewußt gewesen, daß sie die Pferde so sehr vermißte. Und beim Anblick der Stallungen und der schönen Tiere auf den Koppeln schlug ihr Herz höher.

Sie bemerkte nicht, daß Georg einen flüchtigen Gruß mit dem jungen Mann, der gerade über den Hof geschritten kam, tauschte.

Doch Georg, der ihr einen prüfenden Blick von der Seite zuwarf, erkannte sehr wohl, daß ihre Augen an den Pferden hingen. Und er glaubte nicht, daß er sich täuschte, wenn er meinte, daß Christines vorsichtig distanzierte Gesichtszüge auf einmal weicher und froher wurden.

Christines Zimmer war schlicht eingerichtet wie die anderen Räume auch. Sie konnte unschwer erkennen, daß es sich hier um einen Haushalt ohne Frau handelte. Nirgendwo sah sie irgendwelchen Zierrat, und Christine mußte ein wenig lächeln, als sie die typischen Anzeichen männlichen Geschmacks erkannte: Möbel und Haushaltsgegenstände waren ganz offensichtlich mehr nach praktischen Erwägungen ausgesucht worden als nach visuell-ästhetischen Gesichtspunkten. An allen möglichen Stellen standen oder hingen Bilder, und über allem schwebte der penetrante Geruch von Farben und Lösungsmitteln.

Dennoch übte alles einen seltsamen Reiz auf Christine aus. Die kleinen Räume, die niedrigen Decken und die schmalen Fenster des Cottage strahlten Gemütlichkeit aus, und Christine ergriff ein kleines Gefühl der Rührung, als sie auf dem Kaminsims die gerahmte, alte Fotografie von sich selbst bemerkte.

»Hoffentlich ist es dir bei mir nicht zu spartanisch«, meinte Georg später beim Abendessen, in einem mühsamen Versuch, ein leichtes Gespräch in Gang zu setzen. Er hatte aus den Augenwinkeln beobachtet, wie sich Christine im Haus umsah, und bemerkt, wie nervös er dabei auf ihrem Gesicht nach abfälliger Kritik suchte.

»Oh, nein, keine Sorge«, erwiderte Christine und lächelte freundlich. »Es ist doch sehr hübsch!« Tatsächlich meinte sie es durchaus ehrlich und wäre ziemlich überrascht gewesen, wenn sie von Georgs Besorgnis gewußt hätte.

»Ja, nicht wahr?« Georg erwiderte das Lächeln voll heimlicher Erleichterung. »Und für mich ist es geradezu ideal von der Größe und der Lage her. Es reicht gerade aus für mich und meine Bilder, und ich habe hier in der Umgebung eine unerschöpfliche Fülle von Motiven.«

»Du malst immer noch, sehe ich«, bemerkte Christine und sah sich nach den Bildern um, die sich sogar noch in der Wohnküche stapelten. Sie verstand nicht viel davon, doch erkannte sie beim flüchtigen Hinsehen, daß es Landschaftsbilder in kräftigen Farben mit einem Faible fürs Realistische waren.

»Mehr denn je«, meinte Georg und folgte ihrem Blick. »Das sind nur einige Entwürfe, die guten Stücke habe ich drüben im Atelier. Wenn sie dich interessieren, kann ich sie dir auch einmal zeigen.«

»Doch, ich würde sie gerne sehen«, sagte Christine. »Verkaufst du sie?«

»Ich kann nicht klagen«, antwortete Georg lächelnd.

»Das ist ja wundervoll«, meinte Christine.

Stille trat ein.

»Wie geht es deiner Mutter?« fragte Georg nach einer Pause.

»Gut«, antwortete Christine höflich. »Sie läßt dich übrigens grüßen.«

»Du wohnst nicht mehr bei ihr, oder?« Georg bemerkte, daß er Christine damit zum ersten Mal eine persönliche Frage stellte.

»Nein«, erwiderte Christine, »schon lange nicht mehr. Es wäre zu umständlich gewesen, jeden Tag die Strecke bis zur Uni fahren zu müssen, und deshalb habe ich mir schon zum ersten Semester ein Zimmer genommen.«

»Das hätte ich genauso gemacht«, meinte Georg zustimmend.

»Ja, Mutter fand auch, daß das das vernünftigste wäre. Und dann später, als die ganzen Praktika kamen, habe ich sowieso alle paar Monate woanders gewohnt.«

»Du warst sogar in den Staaten, hat Renate mir erzählt?«

»In Kalifornien«, bestätigte Christine. »Ich habe dort ein einjähriges Praktikum an einem Forschungsinstitut absolviert.«

»Labormäuse und so?« sagte Georg und lächelte.

»Keine Labormäuse«, meinte Christine und lächelte ebenfalls. »Rinder und Schafe.«

»Oh«, machte Georg beeindruckt.

»Meine Doktorarbeit habe ich über Hufkrankheiten bei Paarhufern geschrieben«, fügte Christine hinzu.

»Mir fällt in diesem Zusammenhang eigentlich nur die Maul- und Klauenseuche ein«, gestand Georg freimütig.

»Es gibt noch einiges andere«, lächelte Christine. Sie war es inzwischen gewohnt, daß die meisten fragten, was um Himmels willen man denn auf diesem Gebiet noch erforschen könne.

»Und du willst große Tiere behandeln?« fragte Georg interessiert. Er gestand sich ein, daß es für ihn fast nicht vorstellbar war, daß ein so zierliches Wesen wie Christine solch einen körperlich doch sicher nicht einfachen Beruf auszuüben imstande sein sollte.

»Nicht unbedingt.« Christine erriet seine Gedanken. »Aber solche Themen interessieren mich schon um einiges mehr als die Tätigkeit in einer Kleintierpraxis, wo ich hauptsächlich Hunde impfen und Katzen sterilisieren würde.«

»Das kann ich verstehen«, nickte Georg. Er konnte sich gut daran erinnern, daß Christine immer schon das Schwierige gereizt hatte, von Kindheit an. Sie war nicht unangenehm ehrgeizig, keine Streberin gewesen, doch war es ihr zuwider, der Einfachheit halber eine Kompromißlösung einzugehen. Insofern sollten ihn ihre Pläne für ihre berufliche Zukunft nicht weiter überraschen.

»Dann könntest du ja direkt in Irland bleiben«, lächelte Georg nun. »Hier dürfte es mindestens so viele Rinder und Schafe geben, wie das Land Einwohner hat.«

»Ja, das ist mir schon aufgefallen.« Christine ging auf seinen leichten Ton ein. »Deine Nachbarn scheinen aber keine zu haben, oder?«

»Nein«, bestätigte Georg. »Sie halten nur Pferde, hauptsächlich Reitpferde und so.«

»Dann kann man bei ihnen reiten?« fragte Christine betont gleichmütig.

»Ja, natürlich«, meinte Georg und betrachtete Christine prüfend. »Möchtest du's auch versuchen?«

»Ich habe doch keine Reitkleidung dabei«, wehrte Christine ab. Das stimmte, sie hatte gar nicht daran gedacht.

»Oh, das dürfte wohl das geringste Problem sein«, sagte Georg. »Soviel ich weiß, haben sie für solche Fälle vorgesorgt.« Er schaute sie fragend an. »Du reitest zu Hause?«

»Ja«, sagte Christine schlicht.

Georg betrachtete sie einen Moment stumm, dann lächelte er.

»Nun, dann mußt du es hier aber unbedingt auch tun. Ich selbst habe mich zwar noch niemals dazu durchringen können, aber es heißt ja immer, daß man Irland am besten auf dem Pferderücken kennenlernen sollte.«

»Wir werden sehen«, erwiderte Christine und lächelte.

Kapitel 2

Der Morgen nach Christines Ankunft begann kühl. In der Nacht waren Wolken aufgezogen, doch es regnete nicht, und so ließ sich Georg von dem trüben Wetter nicht beeindrucken.

Christine schlief noch, und er wollte sie nicht wecken. Obwohl er sie seit ihrer Mädchenzeit nicht mehr gesehen hatte und daher keinen Vergleich zu ihrem üblichen Äußeren herstellen konnte, fand er, daß sie müde wirkte. Ihr Gesicht war blaß, und selbst wenn man voranstellte, daß sie aufgrund von viel Arbeit in letzter Zeit wohl nicht sehr oft an die frische Luft gekommen sein mochte, waren da Schatten unter ihren Augen, die ihm nicht gefielen. Gestern, am Abend, hatte sie kaum etwas gegessen, und als er sie ohne ihre weite Jacke sah, stellte er fest, daß sie nicht nur schlank, sondern regelrecht dünn war.

Noch immer wußte Georg nicht, weshalb Christine gekommen war. Er hütete sich jedoch, sie einfach darauf anzusprechen. Der gestrige Abend war letztendlich harmonisch verlaufen, und es fand sich unerwarteterweise genügend unverfänglicher Gesprächsstoff, um das Fundament für eine vorsichtige Annäherung zu legen. Georg wollte dies nicht durch überstürzte Fragen nach persönlichen Dingen aufs Spiel setzen.

Er war sich darüber im klaren, daß er seine Tochter wieder ganz von neuem kennenlernen mußte. Von dem Kind, zu dem er früher solch ein vertrautes Verhältnis gehabt hatte, war nichts mehr übriggeblieben. Christine war ihm im Moment fremder als jeder andere, mit dem er zu tun hatte. Mehr noch, er fühlte sich in ihrer Gegenwart fast ein wenig unsicher, ihre ruhig-sachliche Art und ihre Gelassenheit in bezug auf ihre berufliche Laufbahn erinnerten Georg geradezu unangenehm deutlich an Renate. Andererseits schien Christine weicher und zugänglicher als ihre Mutter zu sein – und instinktiv ahnte Georg, daß sie auch verletzlicher war.

Er wußte nicht, was Christine für Pläne hinsichtlich ihres Aufenthaltes bei ihm hatte, ob sie beabsichtigte, Ausflüge zu unternehmen, oder einfach nur, sich auszuruhen. Er wagte auch nicht, Mutmaßungen darüber anzustellen, inwieweit er selbst einbezogen werden würde. Erwartete sie von ihm, daß er sich um sie kümmerte, womöglich den Fremdenführer spielte? Oder wäre sie im Gegenteil sogar ungehalten, wenn er ihr dies anböte?

Georg seufzte unwillkürlich. Er hatte sich in den letzten zehn Jahren fast zu sehr daran gewöhnt, allein und unabhängig zu sein und niemanden in seinen Tagesablauf einbeziehen zu müssen.

Er schaute auf die Uhr. Es war zehn vorbei. Noch immer kein Geräusch aus Christines Zimmer.

Christine war schon länger wach. Sie hatte tief und traumlos geschlafen, fast schien es, als ob sie hier zum ersten Mal seit langer Zeit wieder richtig schlafen konnte. Sie war so unendlich müde gewesen, was nicht allein durch die lange, anstrengende Reise bedingt war, und sie ahnte, daß es wohl noch vieler Stunden Schlaf bedurfte, bevor sie wieder das Gefühl haben würde, richtig ausgeruht zu sein.

Sie wußte nicht, was sie an diesem Morgen geweckt hatte, doch sie verspürte kein Verlangen danach aufzustehen. Im Zimmer war es nicht sehr hell, sie hatte die Vorhänge zwar offengelassen, doch kam durch das kleine Fenster nur trübes Licht herein. Offenbar war der Himmel bedeckt.

Christine lag im Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und lauschte dem Wind, hörte das Knirschen des Kieses unter Pferdehufen, das von der Einfahrt zum Reiterhof herüberkam, das metallene Klappern, als Reiter erst über den kopfsteingepflasterten Hof, dann über die Asphaltstraße kamen, das dumpfe Getrappel der über den Grasboden der Koppel laufenden Weidepferde, gelegentlich ein Wiehern oder Schnauben, und ab und zu klang auch die Stimme eines Menschen zu ihr herüber. Die Vorhänge am Fenster schwangen leise im Luftzug. Es war kühl, doch Christine fror nicht. Sie atmete die frische, feuchte Brise ein, die vom Lough Corrib herübergeweht kam, und sie mußte lächeln, als sie daran dachte, daß zu Hause in Deutschland viele Menschen hohe Summen investierten und lange Wartezeiten in Kauf nahmen, um für einige Wochen eine solche Luft atmen zu dürfen. Erst im vergangenen Jahr waren Alex' Eltern zur Kur an der Nordsee in St. Peter-Ording gewesen. Er und Christine hatten sie dort für einige Tage besucht.

Für einen winzigen Augenblick drohten Christine Erinnerungen zu überfallen, Dinge, an die sie nicht denken wollte. Sie holte tief Luft und schwang sich entschlossen aus dem Bett. Barfuß ging sie zum Fenster.

Das Wetter war trüb, wie sie schon vermutet hatte. Trotzdem bot sich ihr die Umgebung des Häuschens alles andere als trist dar. Das Gras auf der angrenzenden Koppel leuchtete in einem unwahrscheinlichen Grün, das mit dem graubewölkten Himmel kontrastierend noch kräftiger erschien. Die Stechginsterbüsche standen bereits in voller Blüte und bildeten kräftig-gelbe Farbkleckse auf dem Grün und Grau der Weite.

Christine zählte sechs Pferde, die über das Feld verteilt grasten, drei davon trächtige Stuten. Sie erkannte die schönen Irish Hunter sogleich nach den ihr vertrauten Bildern. Christine selbst hatte noch niemals ein solches Pferd geritten, sie wollte hier eigentlich überhaupt nicht reiten. Sie konnte gestern Georgs Vorschlag nicht rundheraus ablehnen, weil sie sein offensichtliches Bemühen, ihr Unterhaltungsmöglichkeiten zu bieten, irgendwie rührend fand. Beim Anblick der Pferde auf der Koppel regte sich bei ihr allerdings die Lust, es vielleicht doch zu tun.

Christine wandte sich vom Fenster ab.

Nun, es mußte ja nicht gleich heute sein, die Pferde liefen ihr nicht davon.

»Möchtest du Kaffee zum Frühstück?« fragte Georg freundlich.

Christine lächelte. »Ich dachte immer, in Irland gibt es nur Tee!«

»Das war einmal. Inzwischen ist man hier auf den Kaffeegeschmack gekommen. Kaffee trinkt man heute überall genauso wie Tee.« Georg lächelte humorvoll. »Allerdings mußt du dich darauf einstellen, daß es sich dabei oftmals bloß um Nescafé handelt, besonders wählerisch ist man im Lande nämlich in bezug auf Kaffee nicht.«

Er lachte, als Christine das Gesicht verzog. »Keine Sorge, dies ist einer der Punkte, in denen ich mich noch nicht an die hiesigen Sitten angepaßt habe.«

Er füllte die Kaffeemaschine und schaltete sie ein.

»Soll ich dir helfen?« fragte Christine.

»Oh, es ist eigentlich alles fertig«, dankte Georg.

»Ich habe wohl ein wenig verschlafen«, meinte Christine entschuldigend.

»Das macht doch wirklich nichts«, widersprach Georg. »Schließlich bist du hier, um Ferien zu machen, da kannst du doch schlafen, so lange du möchtest.«

»Ich möchte aber nicht gerne deinen gewohnten Tagesablauf stören.«

Christine setzte sich an den schlichten Holztisch in der Wohnküche, auf dem Georg für das Frühstück gedeckt hatte.

»Ach, dabei lasse ich mich schon nicht stören«, erwiderte Georg und lächelte sie an.

»Toast?«

»Gerne«, sagte Christine, obwohl sie nicht den mindesten Hunger hatte. Sie wollte ihren Vater jedoch nicht enttäuschen und nahm daher eine Scheibe aus dem Brotkorb, den er ihr reichte.

»Arbeitest du heute?«

»Nun ja«, meinte Georg, »ich muß das Bild rahmen, das ich gestern fertig gemalt habe. Außerdem wollte ich ein paar Skizzen von einem Baum machen, der mir vor ein paar Tagen aufgefallen ist. Den muß ich einfangen, du mußt ihn dir auch einmal anschauen. Das heißt ...«, er stockte und sah Christine forschend an, »wenn du irgend etwas anderes vorhast, ich meine, wenn ich mit dir irgendwo hinfahren soll, dann sag es mir ruhig. Schließlich sind es deine Ferien, und da möchtest du vielleicht das eine oder andere besichtigen ...?«

»Das ist nett von dir, Vater, aber nicht nötig«, sagte Christine. »Irgendwann einmal, später vielleicht, aber ich glaube, ich werde mir heute erst einmal die nähere Umgebung ansehen.«

»Ja, das solltest du wirklich«, sagte Georg mit heimlicher Erleichterung. »Es gibt hier wunderschöne Wege, die du laufen könntest, zum Teil direkt am See entlang.«

»Ja, an etwas in dieser Art dachte ich«, bestätigte Christine. Menschen waren zur Zeit das, worauf sie am allerwenigsten Lust verspürte, deshalb empfand sie die Aussicht auf ein paar einsame Stunden in schöner Landschaft als durchaus angenehm.

Eine halbe Stunde später befand sie sich bereits außer Sichtweite des Hauses und des Reiterhofs. Sie folgte einem schmalen, in seiner Mitte bewachsenen Feldweg, der geradewegs in Richtung See führte. Die zahlreichen Hufabdrücke, die im sichtlich sonst öfters aufgeweichten Boden festgetrocknet waren, sowie Pferdemist zeigten ihr, daß die Strecke viel von Reitern benutzt wurde.

Christine schritt zügig aus. Dem Rat ihres Vaters folgend, hatte sie zusätzlich zu ihrer Windjacke einen dünnen Regenmantel dabei, den sie sich um die Taille gebunden hatte, und statt ihrer Leinenschuhe feste, lederne Halbschuhe angezogen. Sie hatte sich sogar ein wenig Proviant mitgenommen, da sie beabsichtigte, einige Stunden unterwegs zu sein. Der Wind blies frisch, doch es war nicht kalt, und Christine reckte ihr Gesicht in die Luft und genoß es, als er ihr das Haar zerzauste.

Bis zum See war es doch noch ein ganzes Stück zu laufen, von ihrem Fenster aus hatte er so nah gewirkt. Doch das war Christine nur recht. Körperliche Bewegung fehlte ihr in der letzten Zeit, und nachdem sie es besonders während ihres Kalifornienaufenthalts gewohnt war, viel an der frischen Luft zu arbeiten, genoß sie die Gelegenheit zu einem ausgiebigen Aufenthalt im Freien.

Der Boden war weich und dunkel, und es wuchs hier eine Sorte Gras, die Christine noch nirgendwo gesehen hatte. Je näher sie dem See kam, desto feuchter wurde es, und sie konnte die Schilfwiesen, die das Ufer säumten, erkennen.

Hufschlag ließ sie aufhorchen. Sie drehte sich um und blickte zurück über die Wiese, die sie soeben überquert hatte. Weiter hinten auf dem Hügelhang bemerkte sie einen Reiter. Ohne es eigentlich bewußt zu wollen, blieb Christine stehen und blickte ihm hinterher.