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Es ist so weit: Jahrelange akribische Planungen scheinen endlich Früchte zu tragen. Operation Atlas steht unmittelbar vor der Vollendung. Flotten und Truppenkontingente sind in Position gegangen für den finalen Schlag. In einer letzten Kraftanstrengung setzt die Koalition alles auf eine Karte. Unter Aufbietung sämtlicher verfügbaren Soldaten, Jäger und Schiffe bereitet man sich auf die letzte Entscheidungsschlacht vor, um das Ruder herumzureißen und die Ruul endgültig zu schlagen. Doch in letzter Sekunde droht die Aktion zu scheitern. Dem Überläufer Colin Grey gelingt es, die Angriffspläne der Koalition in seine Gewalt zu bringen. Er macht sich auf, die brisanten Dokumente in die RIZ zu seinen ruulanischen Herren zu bringen. Jonathan Clarke, ehemaliger MAD-Agent, setzt sich auf die Spur des Verräters und nimmt die Verfolgung auf, in der vagen Hoffnung, eine Katastrophe doch noch abzuwenden …
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Seitenzahl: 467
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Prolog
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Epilog
Weitere Atlantis-Titel
Stefan Burban
Die letzte Offensive
Commodore Vincent DiCarlo betrat den großen Planungssaal mit gemischten Gefühlen. Die TKS Lydia und ihr Geschwader weilten erst wenige Tage im MacAllister-System, doch bereits auf den ersten Blick hatte Vincent die Stimmung im ganzen System erfasst.
Etwas lag in der Luft. Etwas Großes. Seit der Invasion des Serena-Systems hatte Vincent eine solche Ansammlung von Schiffen nicht mehr gesehen. Alle Völker der Koalition waren vertreten, sogar die großen, schwer bewaffneten Container- und Frachtschiffe der Meskalno.
Erstaunlicherweise handelte es sich bei gut siebzig Prozent der versammelten Schiffe um Truppentransporter der verschiedensten Arten und Klassen. Das war insofern überraschend, als man erst einmal die Raumverteidigung eines umkämpften Systems niederkämpfen musste, bevor man überhaupt daran denken konnte, Bodentruppen zu landen. Aus diesem Grund benötigte man in erster Linie eine große Anzahl schwerer Frontlinienkriegsschiffe. Doch davon hielten sich im System verhältnismäßig wenige auf.
Eine logische Erklärung schien, dass die schweren Kriegsschiffe noch unterwegs waren, doch auch diese Antwort fühlte sich irgendwie nicht richtig an.
Er war immer noch in höchstem Maße verwundert. Doch nun, da er den Planungssaal betrat, sah er sich in seiner ersten Einschätzung durchaus bestätigt. Die Stimmung wirkte oberflächlich gelassen, doch darunter brodelte es gefährlich. Die Emotionen konnte man praktisch mit bloßer Hand greifen.
Der Planungssaal befand sich im Hauptquartier der Koalition auf dem dritten Mond von MacAllister II. Der Raum war – ähnlich einem Amphitheater – in mehrere Ebenen unterteilt. An der Stirnseite des Raums befand sich ein großer Holotank. Es war der modernste, den Vincent je gesehen hatte.
Der Raum war bereits zum Bersten voll. Alles, was Rang und Namen hatte, war anwesend. Die Männer und Frauen unterhielten sich gedämpft, was sich zu einem undeutlichen Hintergrundsummen vermischte. Vincent war kaum in der Lage, einen einzigen Gesprächsfetzen herauszufiltern. Was er hörte, war jedoch beunruhigend. Niemand schien zu wissen, worum es sich bei der sich anbahnenden Operation handelte. Und niemand wusste, wo die schweren Kriegsschiffe blieben, die diese Operation ohne Zweifel begleiten sollten.
Vincent beteiligte sich weder an den Gesprächen noch an den Spekulationen. Stattdessen begnügte er sich, die Szenerie aufmerksam zu mustern. Er kannte viele der Anwesenden und grüßte sie mit knappem Nicken oder kurzem Heben der Hand. Die versammelten Offiziere gehörten allen Waffengattungen an: einige – wie er – der Flotte, andere der TKA oder den Marines. Das ließ also auch keine Rückschlüsse zu, was hier vor sich ging.
Eine drahtige, grauhaarige Gestalt im Weiß der Flotte trat mit einem Mal an den Holotank. Die Geste war unmissverständlich. Es ging los. Der Offizier erfüllte mit seiner schweigenden Präsenz den Raum, sodass er sich schnell der Aufmerksamkeit aller sicher sein konnte.
Vizeadmiral Dennis Hoffer.
Die Gespräche kamen zur Ruhe, die Offiziere setzten sich. Die Galerien waren in mehrere Abschnitte unterteilt, sodass Menschen, Til-Nara, Nerai, Sca’rith und Meskalno auf den für sie zugeschnittenen Sitzgelegenheiten Platz nehmen konnten.
Jeder Sitz war mit Namen versehen. Das war eher ungewöhnlich und so dauerte es etwas, bis sich jeder gesetzt hatte. Vincent fand seinen Platz auf der dritten Ebene, was ihm einen guten Rundumblick verlieh.
Hoffer wartete, bis alle einen Sitzplatz gefunden hatten, und nickte zufrieden. Vincent bemerkte hinter dem Admiral weitere Gestalten. Coltor in der schwarzen MAD-Uniform war kaum zu übersehen. Doch Vincent erkannte hinter Hoffer außerdem jeweils mindestens zwei Schwarmführer der Til-Nara und Nerai, den derzeitigen König der Sca’rith und einen Theokraten der Meskalno.
Er schluckte. Die Besprechung war sogar noch hochkarätiger, als er vermutet hatte. Hoffer trat einen weiteren Schritt vor. Auch die letzten Gespräche verstummten und eine Aura gespannter Erwartung füllte den Raum.
»Vor fünf Jahren«, begann Hoffer, »kamen alle Völker der heutigen Koalition im MacAllister-System zusammen, um die Streitigkeiten untereinander beizulegen, damit wir alle uns dem Kampf gegen einen gemeinsamen, gnadenlosen Feind widmen konnten: den Ruul. Zugleich entwickelten wir einen riskanten, nichtsdestoweniger Erfolg versprechenden Plan, die Ruul ein für alle Mal zu schlagen. Wir wussten, die Umsetzung des Planes würde Zeit und Mühe kosten. Es würde nicht einfach werden. Das war uns allen von Anfang an klar. Doch nun, fünf Jahre später, tragen unsere Bemühungen Früchte. Der entscheidende Kampf gegen die Ruul steht uns bevor.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Hoffer hob um Aufmerksamkeit heischend die Hand und die Offiziere verstummten erneut. »Vor etwa einem halben Jahr gelang es einer Gruppe Extremisten, das menschliche Kreuzfahrtschiff Sternentraum zu kapern und in die RIZ zu entführen. Ich möchte Sie alle nicht mit Einzelheiten langweilen, doch die folgenden Ereignisse gipfelten in der Schlacht um das Voral-System. Die Entführung der Sternentraum und die Schlacht selbst waren für unsere Pläne von minimaler Bedeutung, jedoch nicht die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben. Während der Schlacht gelang es uns durch einen Trick, einen ruulanischen Aufklärer in das Penelope-System zu locken. Dort gestatteten wir ihm einen Blick auf einen winzig kleinen Teil unserer Vorbereitungen und anschließend erlaubten wir dem Aufklärer, unbehelligt zu entkommen.« Hoffers Stimme hob sich. »Dies war der Auftakt zur Operation Atlas.«
Hoffer trat an den Holotank, gefolgt von Coltor. Hoffer gab etwas ein und der Holotank gab ein System mit wenigen Planeten und einem großen Asteroidenfeld wieder. Das Feld erstreckte sich über das halbe System. Die Sonne im Zentrum des Systems war fast um die Hälfte heller als die des Solsystems. Hunderte kleiner Objekte befanden sich außerhalb ihrer Korona.
»Dies ist das Penelope-System«, fuhr Hoffer fort. »Dort haben wir die letzten fünf Jahre damit zugebracht, den Ruul eine Falle zu stellen.« Hoffer hob den Kopf. Sein durchdringender Blick schien alles und jeden im Raum zu erfassen. »Bei unseren Planungen stießen wir schnell auf ein großes, beinahe unüberwindliches Problem: die enormen Kapazitäten der Ruul und ihre Fähigkeit, in beeindruckender Geschwindigkeit Schiffe zu bauen. Die Ruul zu schlagen bedeutet, ihre Raumstreitmacht zu vernichten. Völlig und endgültig. Zu diesem Zweck haben alle Mitgliedsvölker der Koalition in den letzten fünf Jahren ihre Schiffsfriedhöfe geplündert und die Wracks nach und nach ins Penelope-System geschleppt. Techniker haben die Schiffe mit behelfsmäßigen Energieemittern ausgestattet, sodass sie auf den Sensoren der Ruul als funktionsfähig ausgewiesen werden. Zwischen den Schiffswracks haben wir Köder installiert, sodass die Schiffssignaturen größer wirken und es so aussieht, als wären es viermal so viele, wie wirklich da sind. Die Schiffe wurden von uns in der Nähe der Sonne platziert. Für den ruulanischen Aufklärer musste es so wirken, als versammeln wir die größte Armada, die die Koalition je aufgestellt hat, um eine Großoffensive einzuleiten.«
Hoffer sah erneut auf und lächelte. »Es hat funktioniert. Der ruulanische Funkverkehr hat in den letzten Monaten um fast achtzig Prozent zugenommen. Die ruulanischen Angriffe auf und hinter die Fortress-Linie kamen fast gänzlich zum Erliegen. Unsere Horchposten verzeichnen verstärkte ruulanische Schiffsbewegungen. Meine Damen und Herren, die Ruul versammeln eine große Streitmacht im Foley-System, nur wenige Lichtjahre von Penelope entfernt. Die größte, die sie bisher eingesetzt haben. Sie schicken jedes Schiff dorthin, das sie auch nur entfernt irgendwo loseisen können.«
Einer der menschlichen Flottenoffiziere hob die Hand. Hoffer nickte auffordernd. »Ja, Commodore Krüger?«
»Von wie vielen ruulanischen Schiffen reden wir hier?«
Hoffer schürzte die Lippen. »Wir gehen von einer Größenordnung aus zwischen sechs- und achttausend Schiffen. Die Ruul konnten dem Köder nicht widerstehen. Ebenso wie wir wollen sie den Krieg schnell beenden und unsere versammelte Raumstreitmacht vernichten – oder zumindest das, was sie für unsere Raumstreitmacht halten.«
Bei der Anzahl der zu erwartenden ruulanischen Schiffe ging erneut ein Raunen durch die Menge. Wenn Vincent den unterschwelligen Tenor richtig interpretierte, dann reichten die Emotionen von Unglaube bis hin zu offener Fassungslosigkeit.
»Und was bringt es uns, die Ruul nach Penelope zu locken, nur um dort eine Köderflotte vorzufinden?«, bohrte Krüger weiter.
»Dazu komme ich jetzt«, erwiderte Hoffer völlig ruhig. »Wie gesagt, haben wir einen schweren ruulanischen Angriff auf Penelope und unsere dort platzierten Köder provoziert. Wir erwarten, dass die Ruul einen Überraschungsangriff starten werden, um uns zu überrumpeln und in einem schnellen Schlag zu zerschmettern. Doch wir haben eine Überraschung vorbereitet. Die Köderflotte ist vermint mit Dutzenden Atomsprengköpfen. Wenn die Ruul nahe genug sind, um sie zu entdecken, wird es zu spät sein. Unser Ziel ist es nicht, die Atombomben dazu zu nutzen, die Ruul zu eliminieren, sondern wir benutzen den EMP, um einen Teil der ruulanischen Flotte auszuschalten oder zumindest in ihrer Einsatzfähigkeit stark einzuschränken.«
Hoffer holte tief Luft, bevor er fortfuhr. »Es steht nämlich in der Tat eine Koalitionsflotte bei Penelope. Wir haben sie über die letzten Monate hinweg behutsam nach und nach aufgebaut. Nie mehr als ein oder zwei Geschwader auf einmal, damit die Ruul nichts mitkriegen. Sie verbirgt sich im Asteroidenfeld. Bei dieser Armada handelt es sich um eine vereinigte Streitmacht aller Mitgliedsvölker. Sobald die Ruul durch den Einsatz der Atomsprengköpfe angeschlagen sind, greift die Flotte an und wird den Feind vernichten.«
Nun war es an Vincent, eine Frage zu stellen. »Wie viele Koalitionsschiffe?«
Hoffer zögerte kurz. »Viereinhalbtausend.«
Nun brach Tumult unter den anwesenden Offizieren aus. Alles sprach durcheinander, viele diskutierten das gerade Gehörte untereinander. Die vorherrschenden Gefühle schienen jedoch Sprachlosigkeit und Niedergeschlagenheit zu sein.
Hoffer konnte sich nur mit Mühe Gehör verschaffen. »Ja, ich weiß«, sagte er immer wieder. »Der Feind wird zahlenmäßig überlegen sein – sogar deutlich.«
Das Eingeständnis drang zu den Anwesenden durch und sie setzten sich wieder – wenn auch widerwillig.
»Sie werden uns überlegen sein«, wiederholte Hoffer. »Aber wir können sie schlagen. Das Überraschungsmoment gepaart mit dem Atomschlag werden ein Übriges zu unserem Sieg beitragen.«
»Die Koalition könnte doch sicher gut tausend Schiffe mehr aufbringen«, spann Vincent den Faden weiter, nicht bereit, Hoffer so schnell vom Haken zu lassen. »Das würde das Kräfteverhältnis zumindest etwas ausgleichen.«
»Das ist richtig«, gab Hoffer ihm recht. »Doch die Vernichtung der ruulanischen Flotte ist lediglich Phase zwei des Plans. Die übrige Koalitionsflotte wird an anderer Stelle benötigt.« Hoffer lächelte und trat zwei Schritte zurück. »General Coltor?«, forderte er ihn auf.
Coltor trat ernst vor und begann ohne Umschweife. »Sobald Admiral Hoffer die ruulanische Armada bei Penelope zur Schlacht zwingt, wird eine Angriffswelle aus Koalitionsschiffen die RIZ angreifen.« Seine letzten Worte wurden von einem Lächeln begleitet. »Die Ruul haben bereits damit begonnen, ihre Systeme zu entblößen, um genügend Schiffe für den Angriff auf Penelope zur Verfügung zu haben. Unsere Chancen stehen günstig, verlorenes Territorium zurückzugewinnen und wichtige feindliche Basen zu attackieren. Verstehen Sie mich richtig, es ist nicht unser Ziel, jeden einzelnen besetzten Planeten anzugreifen. Dazu hätten wir gar nicht die Mittel. Wir haben die RIZ innerhalb der letzten Jahre aufgeklärt und Ziele für den Angriff vorgemerkt. Wir greifen die stärksten feindlichen Basen und die wichtigsten ruulanischen Planeten an – einschließlich New Born. Wir eliminieren ihre Führung, zerstören ihre militärische Infrastruktur, ihre Umwandlungszentren, ihre Sklaveneinrichtungen und Aufmarschbasen.
Zu diesem Zweck wurden im MacAllister-System und an anderen Orten große Verbände an Bodentruppen zusammengezogen. Sie werden vom Rest unserer Flotte in die RIZ eskortiert, um in den Zielsystemen das zu zerschlagen, was die Ruul zur Raumverteidigung zurückgelassen haben. Die Angriffswelle gegen die RIZ markiert die dritte und letzte Phase. Sie startet, sobald die Schlacht im Penelope-System losbricht. ROCKETS-Teams sind in diesem Moment bereits im Einsatz, um die Invasion der RIZ zu unterstützen. Sie werden feindliche Kommandeure eliminieren, Kommunikations- und Versorgungseinrichtungen ausschalten und soweit möglich auch einen Teil der feindlichen Luft- und Raumverteidigung.«
Der MAD-General ließ den Blick über die Galerie schweifen, bevor er weitersprach. »Es ist von essenzieller Bedeutung, dass die Ruul gegen das Penelope-System vorgehen. Sollten sie merken, wie schwach derzeit unsere Systeme an mobiler Verteidigung besetzt sind, werden sie Penelope außer Acht lassen und stattdessen unsere Welten überfallen. Und sie werden die Verteidigung innerhalb kürzester Zeit überwältigen, bevor unsere Kräfte aus dem Penelope-System zur Hilfe eilen können. Aus diesem Grund haben wir in wichtigen Systemen Fregatten und Zerstörer postiert, die verstärkten Funkverkehr simulieren. Wir hoffen, damit die Ruul lange genug davon überzeugen zu können, dass unsere Front gut genug geschützt wird, um sie zum Schlag gegen Penelope und unsere dortige Armada verleiten zu können.«
Coltor seufzte tief, wechselte einen Blick mit Hoffer und fuhr schließlich fort, während er den Blick über die Galerie schweifen ließ. »Diese Operation markiert das Ende des Krieges – so oder so. Wir haben alle Reserven zusammengezogen und alles in die Waagschale geworfen. In den Systemen der Koalition wurden lediglich Rumpfmannschaften und kleinere Wachgeschwader zurückgelassen. Wer die folgende Schlacht gewinnt, gewinnt den Krieg. Weder wir noch die Ruul verfügen über die Reserven und Ressourcen, den Kampf aufrechterhalten zu können, falls das hier schiefgeht. Aber lassen Sie mich eines sagen: Wir könnten das ohnehin nicht viel länger. Wir bekämpfen die Ruul jetzt seit über einem Jahrzehnt und haben uns gut geschlagen. Wir haben nicht nur die Stellung erfolgreich gehalten, wir haben darüber hinaus dem Feind auch noch ein paar üble Schläge versetzt. Aber das Ende der Fahnenstange ist erreicht. Wir werden nie wieder so stark sein wie in diesem Moment. Diese materielle und personelle Stärke müssen wir nutzen.« Coltor nickte den Offizieren auf den Galerien zu und trat zurück.
Hoffer übernahm erneut seinen Platz. »Unter jedem Ihrer Sitze ist ein versiegelter Umschlag mit Ihrem Einsatzziel und Ihrer Mission. Bitte behandeln Sie die Informationen vertraulich. Reden Sie nicht darüber. Weder untereinander noch mit Dritten. Falls einige von Ihnen an derselben Mission teilnehmen, werden Sie dies recht schnell merken.« Hoffers stechender Blick glitt über die Galerien. »Noch Fragen?«
Niemand meldete sich. Vincent hätte noch tausend Fragen gehabt, hielt sich aber zurück. Er wollte den Admiral nicht in Verlegenheit bringen und nahm sich vor, sie ihm in vertraulichem Umfeld zu stellen.
Stattdessen griff er unter seinen Sitz und förderte einen versiegelten braunen Umschlag hervor. Er brach das Siegel und holte seine Missionsbefehle hervor. Der Raum war erfüllt von raschelndem Papier, als Hunderte Hände es ihm gleichtaten.
Vincent schürzte die Lippen. Sein Geschwader würde sich der Prince of Wales anschließen und als eine der letzten Flotteneinheiten das Penelope-System ansteuern. Er würde also an der Raumschlacht gegen die Ruul teilnehmen. Das war immerhin etwas.
Die Versammlung löste sich langsam auf. Hoffer und Coltor unterhielten sich noch in der Nähe des Holotanks. Vincent erhob sich und drängte sich durch die Menge dem Ausgang zustrebender Soldaten. Es dauerte etwas, bis er die zwei hochrangigen Offiziere erreichte. Als sie seiner Annäherung gewahr wurden, verstummten beide und nahmen ihn misstrauisch in Augenschein. Vincent wurde klar, dass er sie gerade bei einer geheimen Unterredung störte. Entschuldigend neigte er den Kopf.
»Admiral. General«, grüßte er die beiden Männer.
»DiCarlo«, erwiderten beide unisono.
»Gibt es noch etwas?«, fragte Hoffer mit hochgezogenen Augenbrauen.
»Ja, einiges«, gab Vincent zurück, bevor er sich zügeln konnte. »Das kann doch nicht wirklich der Plan sein?«
Hoffer und Coltor wechselten einen leicht verständnislosen Blick, bevor sich der Admiral ihm erneut zuwandte. »Wie darf ich das verstehen?«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Es gibt so unglaublich viel, was schiefgehen kann. Zum Beispiel mal angenommen, die Ruul überleben nicht nur die Raumschlacht, sondern sie besiegen die Koalitionsflotte. Was dann? Sie werden zu ihren Basen in der RIZ zurückkehren und mit unseren Truppen den Boden aufwischen. Oder was ist, wenn sich die Slugs nicht wie erwartet verhalten und ein anderes Ziel als Penelope angreifen? Oder wenn sie das Penelope-System nicht massiert, sondern in Wellen angreifen? Oder wenn der Atomschlag nicht die gewünschte Wirkung erzielt? Soll ich weitermachen?«
»Lieber nicht«, entgegnete Hoffer nonchalant. »Ich verstehe Ihre Bedenken, aber Sie können versichert sein, wir haben uns über all diese Dinge den Kopf zerbrochen und sind darauf vorbereitet. Der Plan ist perfekt.«
»Es gibt keine perfekten Pläne.«
Coltor lachte bellend auf und auch Hoffer verzog amüsiert die Miene. »Da haben Sie sicherlich recht, doch der Plan ist so perfekt, wie er unter den gegebenen Umständen sein kann. Vertrauen Sie uns, wir haben die Sache völlig im Griff.«
Vincent wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Wenn ein Admiral erklärte, er habe alles im Griff, war das eigentlich schon Grund genug zur Sorge. Andererseits standen ihm hier Hoffer und Coltor gegenüber, die Architekten der bisher größten Siege gegen die Ruul. Wenn jemand Vertrauen verdiente, dann doch wohl diese beiden. Oder?
Vincent straffte seine muskulöse Gestalt. Er wusste, wenn er auf verlorenem Posten kämpfte. Der Plan war ohnehin schon angelaufen und es gab kaum etwas, das man daran noch ändern konnte. Trotzdem fühlte er sich nicht wohl bei dem Gedanken, mit etwas zu Felde zu ziehen, das er bestenfalls als unausgegoren betrachtete.
Vincent nahm Haltung an und salutierte erst vor Hoffer und schließlich vor Coltor. Die beiden Offiziere erwiderten die Ehrenbezeugung ernst. Vincent drehte sich um und stapfte in Gedanken verloren davon. Er hoffte wirklich sehr, dass die beiden auch wirklich wussten, was sie taten, und das all diese Selbstsicherheit nicht nur vorgegaukelt war.
Brigadier General David Coltor sah dem davoneilenden Vincent DiCarlo nachdenklich hinterher. Er schürzte die Lippen und wandte sich halb seinem Offizierskollegen zu. »Ein kluger Kopf«, kommentierte er.
Hoffer schnaubte. »Hin und wieder ein wenig zu klug, wenn du mich fragst.«
David schüttelte den Kopf. »Er hat Zweifel. Und wenn mich nicht alles täuscht, steht er damit nicht alleine da.« Er stieß einen Schwall Luft zwischen den Vorderzähnen aus. »Vielleicht hätten wir ihnen das ganze Ausmaß des Planes erzählen sollen. Es hätte ihnen mehr Vertrauen eingeflößt.«
Hoffer schüttelte den Kopf. »Das hatten wir doch lang und breit besprochen, David. Die Gefahr ist zu groß, dass es den Ruul zu Ohren kommt. Wenn das geschieht, war alles umsonst. Außerdem ist es gar nicht nötig, dass sie den ganzen Plan kennen. DiCarlo und die anderen werden es verstehen, wenn alles vorüber ist.«
»Das hoffe ich, alter Freund. Es würde nämlich bedeuten, dass wir dann alle noch da sind.«
Jonathan Clarke, ehemals Captain des MAD, drückte sich eng an die Hauswand und zählte leise bis fünf. Die Waffe in seiner Hand fühlte sich kalt und seltsam beruhigend an.
Der Mond stand voll am Himmel und Nikosia kam langsam zur Ruhe. Die Hauptstadt Zyperns war ein beliebtes Reiseziel vieler Touristen, die keinerlei Lust verspürten, die Erde zu verlassen, oder nicht über das nötige Kleingeld verfügten. Kein Wunder, dass sich Colin Grey dazu entschlossen hatte, hier unterzutauchen. Bei dieser Vielzahl unterschiedlicher Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen würde ein weiteres fremdes Gesicht nicht weiter auffallen.
Jonathan packte die Waffe fester. Heute Nacht würde es enden. Er hatte Grey die letzten drei Jahre quer durch den Raum des Konglomerats und auch noch durch einen Teil der RIZ verfolgt. Der Kerl war ihm jedoch immer einen Schritt voraus gewesen.
Aber nicht heute. Jonathan war sich sicher, den Mistkerl endlich gestellt zu haben.
Colin Grey war wie ein Wurm, der sich wand, um seinem Schicksal zu entgehen – und er hatte Hilfe gehabt. Die Kinder der Zukunft waren zerschlagen, das stimmte schon. Es gab jedoch immer noch Extremisten und Sympathisanten der Ruul, die der MAD trotz aller Versuche nicht gänzlich hatte ausrotten können. Und an Versuchen hatte es nicht gemangelt, wie er sehr wohl wusste. Fanatiker waren wie Kakerlaken – zertrat man eine, tauchten plötzlich zehn neue auf. Und sie krabbelten in ihre Löcher, sobald man das Licht einschaltete.
Es war erst zwei Monate her, da war er knapp einer ziemlich üblen Schießerei zwischen MAD-Agenten und einigen übrig gebliebenen Fanatikern auf dem Mars entgangen. Die MAD-Soldaten hatten einen terroristischen Unterschlupf ausgeräuchert. Jonathan war vor Ort gewesen, weil er Colin Grey dort vermutet hatte. Dieser war jedoch bereits wieder über alle Berge gewesen. Und am Ende war er es gewesen, der um sein Leben hatte rennen müssen.
Es wäre schwierig, wenn nicht gar unmöglich gewesen, seinen ehemaligen Kollegen vom MAD seine Anwesenheit zu erklären. Bestenfalls wäre er eine Weile zur Befragung festgehalten worden, schlimmstenfalls hätten sie ihn irgendwo eingesperrt, bis seine Geschichte überprüft worden wäre. Oder auch einfach nur, weil er zur falschen Zeit am falschen Platz gewesen war.
Jonathan beugte sich leicht vor und beobachtete angestrengt das Haus auf der anderen Straßenseite. Colin Grey war dort drin. Er spürte die Anwesenheit des verhassten feindlichen Agenten förmlich.
Er zählte erneut langsam bis fünf und spürte bei jeder Zahl, wie sich sein Herz weiter beruhigte und in einen normalen Rhythmus überging. Das bevorstehende Ende der Jagd ließ ihn unruhig werden.
Liebend gern hätte er sich an die örtlichen Behörden oder die Polizei gewandt. Doch was sollte er ihnen sagen? Ein seit Jahren gesuchter Sympathisant der Ruul versteckte sich praktisch unter ihrer Nase? Ohne Beweise hätten sie ihn vermutlich ausgelacht. Der MAD kam ebenfalls nicht infrage. So wie Coltor und der Rest dieser Bande ihn behandelt hatten, würde er ihnen erst wieder unter die Augen treten, sobald er Grey verhaftet oder ausgeschaltet hatte. Im Moment bevorzugte er letztere Alternative.
Jonathan merkte auf. Das Licht im Einfamilienhaus, das er mit Argusaugen beobachtete, ging aus. Er verzog das Gesicht zu einer gehässigen Miene und setzte sein Nachtsichtgerät auf. Es wurde Zeit, die Sache zu einem Ende zu bringen.
Jonathan schlich sich vorsichtig näher und verharrte erst im Schutze der Hauswand. Seinen Informationen zufolge sollten sich nicht mehr als drei oder vier Personen im Gebäude aufhalten – einschließlich Grey.
Jonathan schraubte mit schnellen, präzisen Bewegungen einen Schalldämpfer auf den Lauf der Waffe. Er schlich vorsichtig zur Haustür. Mit einem handlichen kleinen Scanner, den er für seine Zwecke modifiziert hatte, überprüfte er die Tür auf Alarmanlagen oder andere Sicherungen. Die Tür war lediglich durch einen einzelnen elektronischen Schaltkreis gesichert.
Jonathan schnaubte. Er war irgendwie enttäuscht. Seine Gegner fühlten sich hier zwar sehr sicher, doch er hatte trotzdem mehr erwartet. Es hätte ihnen zwar auch nicht viel genutzt, doch das konnten sie ja unmöglich wissen.
Er kniete sich neben die Tür und nahm einige wenige Einstellungen an seinem Scanner vor. Jonathan zögerte noch ein letztes Mal und betätigte einen Knopf am unteren Teil des Scanners. Das Gerät löste einen kleinen, doch wirkungsvollen EMP aus, der sämtliche Elektronik im Gebäude innerhalb eines Sekundenbruchteils grillte. Das Gerät wurde dadurch nutzlos, doch das spielte keine Rolle. Es hatte seinen Zweck erfüllt.
Jonathan ließ es achtlos fallen und widmete sich dem nun schutzlosen Schloss der Eingangstür. Mithilfe eines altmodischen Dietrichs widersetzte sich das Ding seinen Bemühungen nur wenige Sekunden lang.
Er schnalzte mit der Zunge und ließ die Tür nach innen aufschwenken. Es war stockdunkel. Die Restlichtverstärkung seines Nachtsichtgeräts ließ die Szenerie in einem unheimlich grünen Schimmer erscheinen.
Mit beiden Händen an der Waffe arbeitete sich Jonathan ins Innere des Gebäudes vor. Bei dem einzigen Geräusch, das er vernahm, handelte es sich um den unablässig tropfenden Wasserhahn in der Küche. Als geschulter MAD-Agent blendete er das entnervende Geräusch innerlich aus.
Er durchsuchte langsam und unendlich vorsichtig Küche, Wohnzimmer und Esszimmer. Auf dem Esszimmertisch standen noch mehrere leere Pizzakartons. Jonathan verzog leicht amüsiert die Miene. MAD-Agenten auf Mission und Terroristen teilten eine Eigenschaft: Auf gesunde Nahrung wurde weitestgehend verzichtet zugunsten von Lieferservice und Fertiggerichten.
Jonathan schlich langsam weiter und überprüfte das gesamte Erdgeschoss. Erst als dies abgeschlossen war und er sicher sein konnte, dass ihm niemand in den Rücken fiel, ging er leise die Treppe hoch.
Jonathan erfuhr nie, was ihn verraten hatte. Vielleicht hatte er eine Sicherheitsvorkehrung übersehen. Vielleicht waren seine Gegner auch wachsamer, als er erwartet hatte. Auf jeden Fall bemerkte er plötzlich Licht, das sich in kurzem Aufblitzen auf Metall spiegelte. Jonathan zögerte nicht lange – und das rettete ihm das Leben.
Auf der obersten Treppenstufe angekommen, ließ er sich fallen und rollte sich über die rechte Schulter ab. Ein Schuss knallte und stanzte hinter ihm ein Loch in die Wand. Hätte er nicht so geistesgegenwärtig gehandelt, so hätte die Kugel sein Gehirn über die Wand verteilt.
Jonathan kam in einer geschmeidigen Bewegung hoch, kauerte sich jedoch augenblicklich nieder. Ein zweiter Schuss ging über ihn hinweg. Seine Waffe hustete einmal kurz – und wurde durch schmerzerfülltes Keuchen belohnt.
Er sah durch die Restlichtverstärkung den Mann fallen, doch Jonathan war sich sicher, dass er noch lebte. Er wollte einen zweiten Schuss nachsetzen und die Sache zu ihrem verdienten Ende bringen. Doch da ging plötzlich das Licht an.
Jonathan fluchte lautstark und riss sich das Nachtsichtgerät vom Kopf. Vor seinen Augen tanzten bunte Flecke und er taumelte zwei Schritte zurück. Seine kurzzeitig überlasteten Sehnerven ließen ihn kaum etwas wahrnehmen. Er erkannte lediglich schemenhafte Umrisse.
Jemand riss ihn von den Beinen. Jonathan landete schwer auf dem Rücken, der unbekannte Angreifer über ihm. Die Waffe entglitt seinen Fingern. Instinktiv schlug er zu und traf etwas, das sich verdächtig nach einer Nase anfühlte. Der Knochen gab nach und knirschte ekelerregend. Sein Gegner gab jedoch keinen Laut von sich. Jonathans Sicht klärte sich ein wenig, gerade rechtzeitig, um ein Stilett auf sein Gesicht zukommen zu sehen.
Sein Kopf neigte sich leicht zur Seite und das Messer mit der dünnen, feinen Klinge traf den Boden neben seinem linken Ohr. Ohne seine Reaktion hätte das Messer ihm das Auge ausgestochen und wäre tiefer ins Gehirn getrieben worden.
Jonathan packte den Kragen des Mannes mit beiden Händen und in einem Ruck zog er ihn dicht zu sich heran, während er seinem Angreifer gleichzeitig die eigene Stirn ins Gesicht schlug.
Nun keuchte der Mann doch schmerzerfüllt auf. Seine Augen bekamen einen leicht glasigen Ausdruck und er schwankte. Jonathan nutzte die Gunst der Stunde, griff Kinn und Nacken seines Angreifers – und brach ihm mit schnellem Ruck das Genick.
Der leblose Körper sackte ohne Laut über ihm zusammen. Jonathan keuchte schwer. Es würde eine Weile dauern, bis sein Körper das ganze Adrenalin abgebaut hatte, das im Moment durch seine Venen pumpte. Bis dahin würde er mit erhöhtem Puls zu kämpfen haben.
Jonathan hievte den Mann von sich herunter. Der Kerl war bullig und muskelbepackt, was die ganze Sache erschwerte. Der ehemalige MAD-Agent nahm seine Waffe auf und trat zu dem ersten Gegner, den er niedergeschossen hatte. Er lebte noch.
Jonathan drehte ihn unsanft mit dem Fuß um. Der Mann war schweißgebadet. Die Kugel hatte ihn seitlich des Brustkorbs getroffen. Blutiger Schaum benetzte seine Lippen.
MAD-Agenten kannten sich in der menschlichen Anatomie berufsbedingt ein wenig aus. Die Lunge des Mannes hatte etwas abbekommen. Der Kerl erstickte gerade am eigenen Blut. Sein Atem ging stoßweise, was Jonathans Diagnose zwar nicht bewies, aber doch zumindest einen glaubwürdigen Anhaltspunkt in diese Richtung lieferte. Trotzdem hatte der Mann noch eine Überlebenschance, wenn Jonathan auf der Stelle einen Krankenwagen rief.
Er hatte jedoch nicht die leiseste Absicht, dies zu tun. Er starrte den Mann lediglich voller Verachtung an. Unvermittelt schlug dieser die Augen auf und starrte zurück. Die Augen des Fanatikers sprühten vor Hass.
Trotz seiner schwerwiegenden Verletzung begann er zu sprechen. »Ich … weiß … wer Sie sind.«
»Dann wissen Sie auch, wen ich haben will.«
»Er … ist nicht hier.«
Jonathan schnaubte. »Ist mir schon aufgefallen. Wo ist er?«
»Fick dich!«
Jonathan verzog das Gesicht zu einer halb amüsierten Miene – hob seinen Fuß und übte damit Druck auf die Wunde seines Gefangenen aus. Der Mann stöhnte kurz auf, doch dann versagte seine Stimme vor Sauerstoffmangel und er atmete nur noch hechelnd.
»Das war aber sehr unhöflich. Fangen wir noch mal von vorne an. Wo ist Colin Grey?« Er nahm den Fuß vom Brustkorb des Mannes. Dessen Atmung verlangsamte sich nur unwesentlich. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, wollte er aus diesem Wrack noch etwas herausholen. »Also?«, wiederholte er. »Wo ist die kleine Ratte abgeblieben?«
»Weg.«
Jonathan seufzte. »Offensichtlich. Könnten Sie vielleicht etwas präziser werden.«
Der Mann schwieg beharrlich. Jonathan bemerkte, wie die Augen des Mannes leicht ihren Glanz verloren. Der Kerl driftete davon. Er durfte nicht sterben, bevor er einige Antworten geliefert hatte. Jonathan kniete sich neben den Sterbenden. »Hören Sie, noch ist es nicht zu spät. Ich hole Ihnen Hilfe, wenn Sie mir sagen, was ich wissen will.«
Der Mann zögerte. Jonathan wartete geduldig. Aufgrund der Umstände hatte er alle Zeit der Welt, sein Gefangener nicht. Es musste dem Mann nur noch klar werden. Bei Fanatikern konnte man einer Geisteshaltung sicher sein: Sie waren ihrem Anliegen treu, solange sie sich selbst obenauf glaubten. Im Grund ihres Herzens waren die meisten jedoch Feiglinge und nur die wenigsten wollten für ihre Sache tatsächlich in den Tod gehen.
»MacAllister«, flüsterte der Mann heiser.
Jonathan beugte sich tiefer. »Was?«
»Er … ist nach MacAllister abgereist.«
»Warum?«
Die Stimme des Mannes wurde immer leiser. »Auftrag … Ruul.«
»Und was soll er dort tun? Für die Ruul?«
»Weiß … nicht …«
Jonathan richtete sich wieder auf. Seine Gedanken überschlugen sich ob des Gehörten. Sein Gefangener hob die Hand, wollte nach ihm greifen. »Hilfe … Sie haben mir Hilfe … versprochen.«
»Ja, in der Tat«, nickte Jonathan, hob die Waffe und schoss dem Mann eine einzelne Kugel in den Kopf. Der Körper erschlaffte auf der Stelle. Der ehemalige MAD-Agent stand auf. Ein Krankenwagen wäre zwischenzeitlich ohnehin nicht mehr rechtzeitig gekommen. Dafür war die Verwundung zu weit fortgeschritten gewesen. Außerdem konnte er sich jetzt nicht mit dergleichen befassen.
Die Alarmierung eines Rettungswagens nach einer Schießerei hätte die Anwesenheit der hiesigen Polizei zwingend notwendig gemacht. Und die hätten Fragen gestellt, die er eigentlich tunlichst vermeiden wollte.
Jonathan verließ zielstrebig das Haus, ohne Spuren zu hinterlassen, die auf ihn hingedeutet hätten. Seine Gedanken hatten das Blutbad, das er zurückließ, bereits so gut wie verdrängt. Sein Verstand befasste sich mit ganz anderen Dingen.
Colin Grey befand sich also im MacAllister-System. Der Mann hatte die Wahrheit gesagt, daran glaubte Jonathan ganz fest. Nur, was wollte Grey dort? Und wie war es ihm überhaupt gelungen, die Erde unbemerkt zu verlassen und ein so wichtiges grenznahes System zu besuchen?
MacAllister war inzwischen eine militärische Sperrzone, die man nur mit spezieller Genehmigung anfliegen durfte. Jedes Schiff, das im System materialisierte, ohne den derzeit korrekten Code zu kennen, wurde ohne viel Federlesens zerstört. Die Koalition kannte in diesen Dingen keinen Spaß.
Und die Erde ohne Jonathans Wissen zu verlassen, war auch kein Kinderspiel. Seit Jonathan nach der Schlacht um Serena den Dienst quittiert hatte, war es ihm gelungen, ein Netzwerk an Informanten ins Leben zu rufen. Auf der Erde war es besonders dicht. Gerade für Grey war es äußert schwierig, sich zu bewegen, ohne dass Jonathan davon erfuhr. Trotzdem gelang es diesem Mistkerl ständig, ihm mindestens einen Schritt voraus zu bleiben.
Die einzig logische Schlussfolgerung war ebenso unumgänglich wie beunruhigend: Colin Grey hatte immer noch Helfer in Positionen, die es ihm erlaubten, sich relativ frei im Konglomerat zu bewegen.
Inzwischen war er sich sicher, dass es sich bei dem Gebäude, das er soeben gestürmt hatte, nur um ein Ablenkungsmanöver handelte. Grey wusste bereits geraume Zeit, dass Jonathan ihm auf den Fersen war.
Während er der Spur nach Zypern gefolgt war, hatte sich Grey nach MacAllister abgesetzt. Jonathan seufzte. Wäre er noch MAD-Agent, wäre es ein Leichtes, Grey zu folgen. Doch nun waren ihm offizielle Kanäle nach MacAllister verschlossen. Er strich sich über das glatt rasierte Kinn.
Colin Grey hatte also Helfer. Na schön, das war kein Beinbruch. Jonathan grinste. Er war vielleicht kein MAD-Agent im aktiven Dienst mehr, doch mit Freunden, die ihm im Bedarfsfall zur Seite standen, konnte er ebenfalls aufwarten. Und an eine Person dachte er dabei ganz besonders.
Die Prince of Wales materialisierte an der südlichen Nullgrenze des Penelope-Systems an der Spitze von rund sechzig Kriegsschiffen.
Bei einem von ihnen handelte es sich um Commodore Vincent DiCarlos Lydia. Kaum wieder im Normalraum angekommen, formierten sich die Schiffe zu einem Pulk und nahmen Kurs auf das innere System.
Vincent ließ sich umgehend alle taktischen Daten auf sein Hologramm überspielen, die die Sensoren ihm liefern konnten. Ihm stockte schier der Atem. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie derart viele Kriegsschiffe an einem Ort versammelt gesehen. Das musste die größte Armada aller Zeiten sein – abgesehen von der ruulanischen natürlich.
Die Schiffe unter Führung der Prince of Wales strebten eilig der Sonne und damit dem Zentrum des Systems entgegen. Je näher sie der Sonne kamen, desto geschäftiger wurde die Aktivität. Kriegsschiffe standen auf Parkposition oder wurden gerade von Flottentendern mit Nachschub oder Vorräten versorgt. Jäger flogen staffelweise Patrouille. Sollten sich früher als erwartet feindliche Schiffe ins System verirren, würde ihr Auftauchen nicht unentdeckt bleiben. Spionagesatelliten vervollständigten die Sicherheitsvorkehrungen.
Vincent war vor dem Krieg schon einmal hier gewesen. Das System war bar jeden Lebens und eignete sich allein aus diesem Grund schon für Manöver und Kriegsübungen. Das Asteroidenfeld, das Hoffer und Coltor bereits während der Besprechung erwähnten, umfasste das halbe System. Davon zu hören, war eine Sache, es zu sehen, eine ganz andere. In Vincents Augen war es schlichtweg Ehrfurcht einflößend.
Es war nicht schwierig, sich auszumalen, dass dort eine ganze Flotte Platz fand, um den Ruul einen heißen Empfang zu bereiten.
Die Vielfalt der Flotte stellte eine ganz eigene Herausforderung dar – sowohl für die Befehlshierarchie als auch für die Aufstellung. Til-Nara- und Nerai-Kriegsschiffe standen Seite an Seite mit Sca’rith-Einheiten, menschliche Schiffe vervollständigten das Bild. Die Einzigen, die fehlten, waren die Meskalno. Ihre Schiffe würden bei Phase drei zum Einsatz kommen: dem Sturm auf die RIZ.
Die Meskalno gehörten zu den ältesten raumfahrenden Völkern. Ihr ISS-Antrieb war weit leistungsfähiger als der jedes anderen Volkes. Aus diesem Grund wurden Teile der Bodentruppen mit ihrer Hilfe in die Einsatzgebiete befördert, zumindest in der ersten Welle. Die Truppen würden weitaus schneller vor Ort sein als mit eigenen Schiffen.
Vincent schüttelte leicht fassungslos den Kopf, lächelte jedoch gleichzeitig. Die hier versammelte Streitmacht war beispiellos. Der Gedanke, jemand könne sie schlagen, schien beinahe absurd. Und doch – die Ruul wären ohne Zweifel dazu in der Lage.
Vincents Lächeln schwand. Der Plan war alles andere als perfekt. Wie befohlen hatte er mit keinem anderen darüber gesprochen. Das war auch gar nicht nötig. In den Tagen und Wochen nach der Besprechung hatte er die eigenen Zweifel auf vielen Gesichtern gesehen. Ein Spiegelbild der eigenen Befürchtungen. Der Plan konnte gelingen, natürlich. Doch er besaß auf der anderen Seite durchaus das Potenzial, zur Katastrophe zu werden.
Sein XO, Commander Vasili Ivanov, trat zu ihm, das allgegenwärtige tragbare Datenterminal an seine Brust gepresst. »Wir haben unsere Parkkoordinaten erhalten.«
Vincent nickte abwesend. »Wo?«
Mit wenigen Handgriffen überspielte Ivanov die Daten auf das taktische Hologramm seines Kommandanten. Innerhalb des Asteroidenfelds flammte ein markierender roter Punkt auf. Erneut nickte Vincent. »Wir werden Teil der rechten Flanke der Armada sein«, sann er halblaut vor sich hin. Er sprach mehr zu sich selbst als zu seinem Ersten Offizier. »Kurs setzen.«
Ivanov nickte. »Navigation? Sie haben den Commodore gehört. Ein Viertel Kraft voraus.«
»Ein Viertel Kraft, aye«, bestätigte der weibliche Lieutenant an der Navigationsstation. Die Lydia und ihr Begleitgeschwader lösten sich aus der Formation der Prince of Wales und schwenkten in Richtung Asteroidenfeld. Das Flaggschiff setzte seinen Flug unbeirrt Richtung Sonne fort.
Auf seinem taktischen Hologramm verfolgte Vincent den Flug von Hoffers Schiff. Wie mochte es wohl dem Admiral gehen? Falls er diese Schlacht gewann, würde er in die Geschichte eingehen. Falls nicht … nun, er brauchte sich dann wohl keine Sorgen machen, die Geschichte würde ihn dafür verdammen. Es würde nämlich keine mehr geben. Er seufzte. Vincent träumte davon, eines Tages in den Admiralsrang aufzusteigen, doch in diesem Augenblick hätte er um nichts in der Welt mit Hoffer den Platz getauscht.
Die Lydia erreichte den Rand des Asteroidenfelds, drehte dann jedoch um mehrere Grad nach steuerbord und nach unten ab und drang dann erst in das dichte Feld ein.
Vincent runzelte die Stirn. »Warum der schräge Eintrittswinkel?«, fragte er verwirrt.
Ivanov drehte sich halb zu ihm um. »Wir erhielten eine Prioritätsnachricht von einem der Wachschiffe am Rand des Felds.« Ivanov überspielte weitere Daten auf Vincents Hologramm. Ein kleiner kugelförmiger Bereich mit einem Radius von vielleicht fünf Kilometern erschien in warnendem Orange. »In diesen Bereich dürfen wir nicht einfliegen. Kein Schiff darf das. Anweisung von Hoffer.«
Vincent richtete sich augenblicklich auf. Seine Neugier war geweckt. Das war seltsam, vor allem in einem Moment, den man durchaus als Vorabend der entscheidenden Schlacht bezeichnen konnte – auch wenn der Beginn der Schlacht vermutlich noch gut ein paar Wochen in der Zukunft lag.
»Zeigen Sie es mir!«, befahl er. »Sensorabtastung.«
Auf seinem Hologramm erschien ein rechteckiger Kasten. Normalerweise hätte dort jetzt ein Livebild des Bereichs innerhalb der Sperrzone erscheinen müssen. Doch das Bild zeigte nur Schneegestöber.
»Nicht möglich«, erwiderte Ivanov ihn. »Innerhalb der Sperrzone werden alle Sensoren gestört.«
Vincents Stirnrunzeln vertiefte sich. Er erwog, den Kurs zu ändern und sich diese Zone selbst einmal anzusehen. Doch er entschied sich dagegen. Das würde bedeuten, sich einem direkten Befehl zu widersetzen. Außerdem wurde der Bereich von nicht gerade freundlich wirkenden Kriegsschiffen kontrolliert. Meskalno-Frachter flogen hinein und wieder hinaus. Vincent schnalzte mit der Zunge. Was immer sich in der Sperrzone befand, Hoffer wollte es geheim halten – auch vor den eigenen Leuten. Im Prinzip war das sogar sinnvoll. Der alte Admiral ging kein Risiko ein. Es gab immer noch Menschen, die den Ruul Informationen und auch ihre Dienste verkauften. Trotzdem hätte Vincent zu gern gewusst, was Hoffer so dringend zu verbergen suchte.
Der Ensign an der ComStation drehte sich um. »Nachricht vom Flaggschiff, Commodore. Admiral Hoffer wünscht Sie zu sehen.«
Vincent zog eine Augenbraue hoch und wechselte einen schnellen Blick mit seinem XO. Dieser behielt jedoch jeden Kommentar für sich, wofür ihm sein Kommandant äußerst dankbar war.
Was wollte der Admiral von ihm so kurz nach ihrer Ankunft? Möglicherweise war das bereits eine Reaktion auf den Scanversuch der Sperrzone, doch das schien eher unwahrscheinlich. Vincent schürzte die Lippen. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
»XO? Sie haben die Brücke. Und lassen Sie meine Pinasse startklar machen.«
Das Lichtgewitter verblasste und machte dem Sternenmeer Platz, als der GLT in das Penelope-System eindrang.
»Heilige Mutter Gottes!«, hauchte Jakob Olafsson vom Pilotensitz aus. Major Alan Foulder, Kommandant und Truppführer des ROCKETS-Teams Panther, beugte sich interessiert vor, zog beide Augenbrauen hoch und stieß einen lang gezogenen Pfiff aus. »Also das nenne ich mal eine Flotte.«
Die Mitglieder des Teams strömten aus der Passagierkabine und versammelten sich im klaustrophobisch anmutenden Cockpit. Für Benito reichte der verfügbare Platz nicht mehr aus, sodass er nur seinen Kopf hereinstecken konnte.
Der GLT brauste zwischen den unzähligen Schiffen dahin Richtung Sonne. Alan schmunzelte verhalten. Seine Kameraden, Freunde und Teammitglieder bestaunten die versammelte Armada mit großen Augen. Ungefähr so stellte man sich eine Touristengruppe vor, die zum ersten Mal die Pyramiden besuchte.
Jakob griff sich mit zwei Fingern plötzlich an sein Headset über dem linken Ohr. Er sah nur Sekunden später auf. »Wir werden gerufen.«
Alan nickte. »Lass hören.«
Mit einem kurzen Tastendruck schaltete Jakob die Kommunikation auf den Lautsprecher. »Willkommen, GLT 1-0-9. Bleiben Sie auf derzeitigem Kurs. Andockerlaubnis Hangar Nummer drei der TKS Prince of Wales genehmigt. Eine Eskorte wird Sie einweisen.«
Der Lautsprecher knackte und die Verbindung wurde gekappt. »Ziemlich wortkarg die Leute«, meinte Nancy.
Alan warf ihr über die Schulter einen kurzen Blick zu. »Was hattest du erwartet? Einen roten Teppich? Die Jungs müssen solche Gespräche gerade hundertfach führen, schätze ich. Mich überrascht nur, dass man uns zum Flaggschiff umleitet. Die Prince of Wales ist Hoffers Baby.«
»Denkst du, er hat uns angefordert?«, wollte Susan wissen. »Das letzte Mal, als wir mit Hoffer zu tun hatten, sind wir knapp mit dem Leben davongekommen.«
Alan schnaubte. »Das war wohl kaum seine Schuld. Niemand konnte ahnen, was uns im Arvino-System erwartet.« Der Teamleiter des Panther-Trupps dachte für einen Augenblick darüber nach, noch eine flapsige Bemerkung hinterherzuschicken, entschied sich jedoch im letzten Moment dagegen. Die Geschehnisse bei Arvino waren nichts, über das man Witze machte. Der Panther-Trupp hatte bei dieser Mission zwei gute Leute und Kameraden verloren. Und zwei gute Freunde. In Renées Fall war nicht einmal etwas übrig gewesen, das man in den Sarg hatte packen können. Alan fragte sich ernsthaft, was Hoffer nun wieder im Schilde führte.
»Unsere Eskorte trifft ein«, informierte Jakob ihn und riss Alan damit aus seinen Gedanken. Er beugte sich vor, um durch das Cockpitfenster zu spähen. Links und rechts des GLT hatte sich jeweils ein Arrow-Abfangjäger positioniert – und das in nur wenigen Metern Abstand. Das war verdammt dicht. Die Piloten flogen jedoch mit großem Geschick.
Alan suchte auf den Flügeln nach Einheitsabzeichen oder anderen Markierungen – und wurde schnell fündig. Die beiden Arrows gehörten demnach zur 217. Abfangjägerstaffel, stationiert auf der TKS Saratoga. Als Emblem trugen die Jäger den Kopf einer Bulldogge mit Schaum vor dem Maul. Darunter prangte der Schriftzug: Die Ersten bei Serena. Die Jäger gehörten also den Tollwütigen Hunden an, einer der besten Jägerstaffeln des Konglomerats.
Den Schriftzug unter dem Einheitsemblem trugen sie nicht zu Unrecht. Bei der Schlacht um Serena hatte das 217. den Planeten während der Raumschlacht als erste Einheit überhaupt erreicht und mehr Abschüsse feindlicher Jäger erzielt als jede andere Abfangjägerstaffel.
Alan war zutiefst beeindruckt. Hoffer hatte hier offensichtlich das Beste versammelt, was die terranische Flotte zu bieten hatte. Bei dem, was da draußen an Jägern und Schiffen herumflog, war das nicht weiter verwunderlich. Man hatte die ROCKETS noch nicht darüber informiert, was hier vor sich ging. Doch es wurde immer offensichtlicher, dass es etwas ganz Großes war. Hoffer wäre ein Idiot gewesen, hätte er nicht das Beste an Schiffen, Soldaten und Jägern zusammengezogen, was man finden konnte. Und eines war Hoffer ganz sicher nicht – ein Idiot.
Der Flug zur Prince of Wales dauerte über vier Stunden, selbst mit der Eskorte, die sie am dichtesten Getümmel vorbeiführte. Doch schließlich öffnete sich das breite Maul des Beiboothangars in der Flanke des mächtigen Kriegsschiffes.
Die beiden Arrow-Jäger drehten zeitgleich und in perfekter Symmetrie ab. Sie boten ein beeindruckendes Beispiel fliegerischen Könnens. Alan folgte den beiden Jägern, solange er konnte, mit den Augen. Die beiden Abfangjäger schwenkten nach backbord und zogen über die Deckaufbauten der Prince of Wales davon und außer Sicht. Vermutlich, um für die nächsten Neuankömmlinge das Empfangskomitee zu spielen.
Jakob steuerte den GLT so versiert in den Hangar, wie es Esteban nicht besser gekonnt hätte. Beim Gedanken an den Piloten des Teams, den sie bei der letzten Mission verloren hatten, zog sich Alans Brust schmerzhaft zusammen. Der Verlust tat noch immer weh und würde das auch noch eine ganze Weile tun.
Hinter ihnen schlossen sich die Hangartore wieder und das Kraftfeld, das das Vakuum während eines Landevorgangs draußen hielt, wurde abgeschaltet.
Jakob fuhr den Antrieb herunter und öffnete die Luke. Alan erhob sich steif und streckte nach dem langen Flug erst mal die Arme und lockerte mit kreisenden Bewegungen die Schultern. Erst dann verließ er das Gefährt. Sobald seine Füße das metallene Deck des Shark-Schlachtraumers berührten, blieb er jedoch schlagartig stehen.
Sie wurden bereits erwartet. Doch nicht von Hoffer oder jemandem aus dessen Stab – vor Alan stand niemand Geringeres als Brigadier General David Coltor.
Der MAD-General lächelte schadenfroh angesichts von Alans Verwunderung. »Willkommen im Penelope-System!«
Alan nahm unwillkürlich Haltung an. Nacheinander kamen die Mitglieder seines Teams aus dem GLT und stellten sich an seine Seite. Coltor jedoch winkte lediglich ab.
»Meine Damen und Herren, stehen Sie bequem.«
Die Männer und Frauen des Panther-Teams lösten die starre Haltung und verschränkten die Hände stattdessen hinter dem Rücken. Für einen unbeteiligten Beobachter hätte es beinahe so ausgesehen, dass die Elitesoldaten immer noch jede Faser in ihren Körpern anspannten. Sie wirkten selbst in ruhender Pose überaus gefährlich und kompetent. Für Alan war diese Haltung jedoch tatsächlich entspannend.
Coltor trat langsam näher und musterte jedes Mitglied des Teams eingehend. Schließlich wandte er sich Alan zu und zwinkerte leicht. »Schön, Sie und Ihre Leute zu sehen, Major.«
Alan nickte. »Gleichfalls, General. Ich hatte keine Ahnung, dass Sie auch hier sein würden.«
Das Lächeln des MAD-Offiziers wurde leicht wehmütig. »So war es auch gedacht. Nur die wenigsten Menschen außerhalb der Prince of Wales wissen von meiner Anwesenheit hier und das soll auch so bleiben. Aber ich hoffe, dass dieses Versteckspiel und die ganzen Geheimnisse bald ein Ende finden werden.«
Alan merkte bei Coltors Tonfall auf. »Dann ist es also wahr? Es geht los? Und wir sind dabei?«
Coltors Lächeln wuchs in die Breite. »Sie können es wohl kaum erwarten?«
Alan schnaubte. »Ich träume schon lange davon, den Slugs einen so heftigen Tritt zu verpassen, dass sie aus der Milchstraße rausfliegen.«
Coltor lachte kurz und bellend auf. »Das mag ich so an Ihnen, Foulder. Ich gebe Ihnen die schwierigsten Aufträge und es verlangt Ihnen immer noch nach mehr.«
Alan schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, General. Nur …«
»Nur …?«
»Ich habe den Krieg satt und will helfen, ihn zu beenden.«
»Das werden Sie, Major. Das werden Sie.« Coltor musterte jedes Mitglied des Teams ein letztes Mal. »Folgen Sie mir«, war alles, was der General noch sagte, bevor er sich umdrehte und davonstapfte.
Alan war im ersten Moment etwas perplex, doch dann beeilten er und sein Team sich, den MAD-Offizier einzuholen und mit ihm Schritt zu halten.
Coltor sagte den ganzen Weg über kein einziges Wort, also entschied sich Alan, ebenfalls zu schweigen. Der MAD-General führte die kleine Truppe in die Eingeweide des Schlachtschiffs. Alan musterte verstohlen die Gesichter der Männer und Frauen, die ihren Weg kreuzten. Sie alle versahen mit hoher Professionalität ihren Dienst, doch eine tiefe Anspannung war ihnen allen gemein. Diese Soldaten waren keine Anfänger. Es handelte sich fast ausnahmslos um kampferprobte Veteranen. Wenn sie jedoch Grund hatten, nervös zu sein, dann musste man sich unwillkürlich fragen, was ihnen allen für ein Höllenritt bevorstand.
Coltor hielt vor einer Tür, vor der zwei MAD-Soldaten in schwarzer Montur auf Posten standen. Die Männer nahmen Haltung an, sobald der General sich näherte. Einer von ihnen bewegte sich nur, um die metallene Tür zu öffnen. Coltor schlüpfte hindurch, Alan und sein Team folgten ihm. Die Tür schloss sich geräuschvoll hinter ihnen wieder.
Alan sah sich neugierig um. Sie befanden sich in einem kleinen, annähernd viereckigen Raum mit einem Holotank in der Mitte. Ansonsten gab es hier nicht sehr viel. Offenbar handelte es sich hierbei um eine Art Planungsraum, doch außer Coltor und den ROCKETS war niemand anwesend.
Coltor bemerkte Alans verwirrten Blick und forderte die Kommandosoldaten mit einer knappen Geste auf, näher zu treten.
»Hoffer hat mir einen Gefallen getan und diesen kleinen Taktikraum für die Planung geheimdienstlicher Operationen eingerichtet. Sehr nützlich, muss ich sagen.« Coltor schloss die Erklärung, indem er auf den Holotisch zeigte. Die ROCKETS versammelten sich um das Gerät. Es war noch deaktiviert. Alan bemerkte Coltors durchdringenden Blick, der die holografische Fläche musterte, als wäre dort etwas zu sehen. Doch er erkannte, dass Coltors Verstand weit entfernt weilte.
»Erinnern Sie sich noch an Ihre allererste Mission, Alan?«, fragte Coltor plötzlich, ohne von dem Holotank aufzusehen. »Ich meine Ihre erste Mission in diesem Krieg. Als Sie nur ein Strafgefangener waren, der der vagen Hoffnung auf Rehabilitation folgte.«
Alan schnaubte und nickte in Gedanken versunken. »Das werde ich nie vergessen. Nogujama holte mich aus dem Knast auf Lost Hope, nur um mich in ein Torpedogehäuse zu stopfen und auf ein ruulanisches Schiff abzufeuern.« Ein Grinsen hellte Alans Gesicht auf. »Der alte Kauz hatte ganz schön Eier, was?! Auf Lost Hope schickte er die Wachen raus und unterhielt sich ohne jeglichen Schutz mit mir. Ich war damals so sauer auf ihn und ich wäre in der Lage gewesen, ihn mühelos in zwei Teile zu brechen. Aber er blieb völlig ruhig und brachte mich auf diese Weise dazu zuzuhören.«
Coltor grinste breit, doch auch mit unübersehbarem Schmerz. »Ja, er hatte wirklich einiges drauf. Er fehlt mir.«
Alan nickte. »Ja, mir auch.« Mit einem Mal sah er auf und musterte Coltor scharf. »Aber warum unterhalten wir uns über Nogujama?«
Coltors Lächeln schwand etwas. »Sie hätten es damals fast geschafft. Beinahe wäre die Tiamat abgestürzt, so schwer haben Sie und Ihre Leute den Slugs an Bord zugesetzt.«
»Ja, aber beinahe war leider nicht gut genug.«
»Und wenn Sie es tatsächlich geschafft hätten? Haben Sie sich jemals Gedanken gemacht, wie der Krieg dann verlaufen wäre? Kein ruulanischer Ältestenrat mehr, kein Kriegsmeister, das gesamte ruulanische Volk uneins und führerlos.«
Alan nickte. »Der Krieg hätte einen gänzlich anderen Verlauf genommen.«
»Die Ruul wären im Kampf um die Führung in einen blutigen Bürgerkrieg gestürzt worden«, ergänzte Coltor. »Sie hätten sich über Jahre hinaus gegenseitig bekämpft. Das ruulanische Volk hätte dabei seine besten Schiffe und Krieger verloren. Die Slugs wären ausgeblutet, anstatt immer neue Angriffe auf uns zu starten.«
Alan schnaubte. Coltors Vortrag besaß das Potenzial, ihn in schwerwiegende Depressionen zu stürzen. »Passiert ist passiert. Es hat keinen Sinn, über die Vergangenheit zu brüten. Wir haben damals versagt. So einfach ist das.«
Coltor sah ruckartig auf. »Wollen Sie eine zweite Chance?«
Mit einem einfachen Handgriff aktivierte der Leiter des MAD den Holotank. Sofort gab das Gerät bereits zuvor eingespeiste Daten ab. Das holografische Bild zeigte eine einstmals grüne Welt, die nun von Braun- und Grautönen dominiert wurde. Im Orbit befand sich eine ruulanische Flotte, die ein riesiges Schiff beschützte.
Alan musste gar nicht erst fragen, um welche Welt es sich handelte. Die Geschehnisse dort waren immer noch Teil seiner schlimmsten Schuldgefühle. Es handelte sich um einen einstmals wichtigen Flottenstützpunkt des Terranischen Konglomerats – New Born.
Der Planet war als einer der ersten an die Ruul gefallen. Dort hatten sie ihre Basis für die weitere Expansion aufgebaut und die weiteren Angriffswellen gegen die Welten der damals noch nicht gegründeten Koalition koordiniert. Das Schiff im Orbit war die Tiamat. Sie war nicht nur ein Flaggschiff, sie war das Flaggschiff der Ruul.
Alan sah ungläubig auf. »Ist das Ihr Ernst?«
Coltor nickte und ließ Alan dabei keine Sekunde aus den Augen. Dieser schluckte schwer. Das musste er erst einmal verdauen. Schließlich sah er mit zusammengekniffenen Augen auf. »Erklären Sie es uns.« Die Mitglieder seines Teams rückten unwillkürlich näher. Es war eine instinktive Reaktion. Coltor quittierte sie mit knappem Nicken.
»In den letzten fünf Jahren versuchten wir viermal, ROCKETS-Teams auf New Born einzuschleusen. Keines der Teams hat sich nach Erreichen des Systems je wieder gemeldet.« Coltor zögerte. »Ich schätze, das ist ein Indiz für die Effizienz der ruulanischen Abwehr.«
»Was hat sich nun geändert?«, wollte Alan wissen.
»Die Situation«, erwiderte Coltor. »Wir gehen davon aus, dass die ruulanischen Verteidigungskräfte im System innerhalb der nächsten vier Wochen signifikant verkleinert werden. Die Ruul werden einen Großteil der Flotte abziehen, um ihre Offensive gegen das Penelope-System zu unterstützen.«
Alan zog eine Augenbraue hoch. »Das ist also der Grund für die Anwesenheit dieser gigantischen Flotte da draußen. Sie sind dabei, den Slugs eine Falle zu stellen.«
»So was in der Art«, wich Coltor geschickt aus. »Aber das ist ein anderes Thema. Viel wichtiger ist, dass die Tiamat verwundbar sein wird, wenn ihre Schutzflotte verkleinert oder gar ganz abgezogen wird. Das ist unsere Chance.«
»Und wenn die Schiffe nicht abgezogen werden? Dann stehen wir dort, wo wir angefangen haben.«
Coltor schmunzelte. »Sie werden abgezogen. Die Vorbereitungen für den Aufbruch laufen bereits auf Hochtouren.«
Alan merkte auf. »Ist das eine Spekulation?«
»Nein. Fakt.«
»Woher wissen Sie das?«
Coltor zögerte ganz kurz, sprach dann jedoch weiter. »Vom örtlichen Widerstand.«
Nun hob Alan auch die zweite Augenbraue. »Es gibt auf New Born immer noch eine Widerstandszelle?«
»Allerdings. Sie ist nicht sehr aktiv, aber sie hält für uns Augen und Ohren offen. Wir haben erst seit gut zweieinhalb Jahren Kontakt zu ihnen. Sie haben aus Ersatzteilen und gestohlener Ausrüstung einen Piratensender gebastelt, mit dem sie uns erreichen können. Sie kontaktieren uns einmal pro Woche. Immer zu festgelegten Zeiten. Sie ändern den Standort des Piratensenders jedes Mal, um nicht von den Slugs angepeilt zu werden.«
Alan schnalzte mit der Zunge. »Entschuldigen Sie, General, aber ich halte das gelinde gesagt für recht unglaubwürdig. Welche Beweise gibt es, dass das keine Falle ist? Selbst wenn am anderen Ende der Leitung Menschen sind, könnten Sie genauso gut für die Ruul arbeiten.«
Coltor seufzte. »Einen Beweis kann ich Ihnen nicht liefern. Die Gefahr besteht natürlich, dass Sie in eine Falle laufen. Ich halte das jedoch für sehr unwahrscheinlich. Solange diese Flotte im Orbit des Planeten hängt, wird es keine Offensive gegen das New-Born-System geben und der Aufwand wäre viel zu hoch, nur um ein einzelnes ROCKETS-Team in einen Hinterhalt zu locken. Nein, der Widerstand auf New Born ist immer noch aktiv, auch nach über einem Jahrzehnt. Als die Ruul die Flottenbasis aus dem Orbit sprengten, gingen die Bruchstücke auf dem Planeten nieder und zerstörten drei der vier größten Städte. Anschließend folgten die ruulanischen Bodentruppen. Sie setzten ihre gefürchteten Jagdkommandos ein auf der Suche nach Sklaven und ihre Säuberungstrupps, um die letzten Widerstandsnester auszuradieren. Doch die Zerstörung der halben Planetenoberfläche trieb das, was von der menschlichen Population noch übrig war, so tief in den Untergrund, dass nicht einmal die brutalsten Anstrengungen der Ruul ausreichten, den Restwiderstand auszurotten.« Coltor zuckte die Achseln. »Der Widerstand begnügt sich mittlerweile mit dem Sammeln von Informationen und kleineren Überfällen. Aber für Ihre Mission werden diese sehr hilfreich sein. Die Leute kennen den Planeten wie niemand sonst.«
Alan war noch immer nicht gänzlich überzeugt, nickte jedoch. Selbst falls es tatsächlich eine Falle war, Coltor hatte recht: Es war eine Chance, die sie nutzen mussten. Es wäre sträfliche Nachlässigkeit, sie ungenutzt verstreichen zu lassen.
Alan sah halb amüsiert auf. »Und wie bringen Sie uns diesmal auf die Tiamat? Wieder in einem Torpedogehäuse?« Er hatte kaum ausgesprochen, da hörte er Jakob hinter sich leise aufstöhnen.
Coltor lächelte jedoch beruhigend. »Diesmal nicht.« Er betätigte mehrere Knöpfe und der Bildausschnitt wurde so weit vergrößert, dass Teile der zerstörten Hauptstadt zu sehen waren. Er schwenkte das Bild, bis der Ausschnitt eine weitere größtenteils zerstörte Stadt in der südlichen Hemisphäre zeigte. Außerhalb der Stadt befand sich etwas, das nach einem Flugfeld aussah.
»Die Ruul haben auf dem Planeten mehrere Bodenstationen eingerichtet«, fuhr Coltor fort. »Es findet ein reger Verkehr zwischen Oberfläche und Tiamat statt. Wir wissen nicht, was die Ruul am laufenden Band auf das Flaggschiff bringen lassen, doch es eröffnet uns Möglichkeiten.«
»Wir sollen uns in einen der Transporter einschleichen und so die Tiamat entern?«
Coltor nickte erneut. »Exakt. Der Widerstand wird dabei enorm hilfreich sein.«
Alan ließ sich das Gesagte durch den Kopf gehen. Der Plan war in der Tat durchführbar. Die ROCKETS hatten schon Schlimmeres geschafft, unter anderem Aufträge, die als undurchführbar galten. Im Prinzip hing der Plan von drei wichtigen Faktoren ab: erstens, ob die feindliche Flotte tatsächlich abgezogen oder zumindest verkleinert wurde; zweitens, ob sie das System überhaupt unbemerkt anfliegen und anschließend unbemerkt landen konnten; und drittens, ob es diesen Widerstand tatsächlich gab. Ohne ortskundige Hilfe wäre es schwierig, sich auf einen ruulanischen Transporter einzuschleichen. Ja, der Plan war in der Tat machbar. Und Alan brannte darauf, die Scharte wettzumachen, die schon viele Jahre an ihm nagte. Coltor hatte recht. Hätte das Einsatzteam damals nicht versagt, wäre der Krieg mit Sicherheit anders verlaufen. Niemand konnte ihnen daraus einen Vorwurf machen. Sie hatten nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt und den Ruul ganz schön die Hölle heißgemacht. Aber am Ende hatte es dennoch nicht gereicht. Und das wollte Alan unbedingt wiedergutmachen.
Der Truppführer der ROCKETS sah sich unter seinen Leuten um. Bei dieser Mission wollte er ihre Meinungen wissen. Eine militärische Organisation konnte sich keine Demokratie leisten, doch dieses eine Mal gab er darauf einen großen Haufen Kuhmist. Sein Blick wanderte reihum. Ihm begegnete Zustimmung gepaart mit leichtem Kopfnicken. Seine Leute waren einverstanden. Sie würden diese Mission übernehmen. Und dieses Mal würden sie es niemandem erlauben, ihnen einen Strich durch die Rechnung zu machen.
Er warf dem MAD-General einen scharfen Blick zu. »Unser Missionsziel, wenn wir an Bord sind?«
Coltor grinste boshaft. »Nichts allzu Kompliziertes. Ich will einfach nur, dass Ihr Team die ruulanische Führungsriege auslöscht.«
Vincent zögerte kurz und strich die eingebildeten Falten aus seiner makellos weißen Flottenuniform, bevor er an die Tür von Hoffers Quartier klopfte.