Der Scharlatan -  - E-Book

Der Scharlatan E-Book

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Beschreibung

Eine Liebe droht zu scheitern und kann nur durch ein Geständnis gerettet werden

Das E-Book Der Scharlatan wird angeboten von BoD - Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Liebesroman, occultismus, Dramatik, Schottland, Charktere

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1. Teil

1 Im Schloß Wanborough

2 Im Salon

3 Ein moderner Verehrer

4 Der Asra

5 Philip Woodville

6 Das Turmzimmer

7 Isabel

8 Allein zu zweit

9 Intuition

10 Vorahnung

11 Gewebte Fäden

12 Die Erscheinung

2.Teil

13 Wieder im Turmzimmer

14 Die Schlafwandlerin

15 Die weiße Gazelle

16 Der letzte Kampf

17 Das Geständnis

18 Mr. Philips

19 Mervyn mit neuem Charakter

20 Vermittlung

21 Faszination

22 Das letzte Mittel

23 Das große Wasser

24 Der letzte Blick

Anmerkungen

Teil 1

Kapitel 1

Im Schloß Wanborough

„Aber sicher“, sagt der Dean(1), lehnt sich in seinen Sessel zurück, fügt seine Fingerspitzen elegant zusammen und seine kurzsichtigen braunen Augen sehen seine Gesprächspartner unter zusammengezogenen Brauen fragend und überrascht an, „sich unser modernes religiöses Denken hat weitgehend genug solchen Aberglauben wie diesen verworfen?“

„Ich denke, mein lieber Dean“, erwidert der Earl(2), „es sollten keine Art menschliche Zeugnisse verworfen werden! Sie werden mir als Laien verzeihen, aber ich erlaube mir eine bescheidene historische Beurteilung der Kirche, die Sie meinen. Haben nicht Kirchenmänner Ihres Schlages noch an den wichtigen Lehren der modernen Wissenschaft festgehalten – aber haben sie nicht, möchte ich fragen, zu leicht und zu schnell auf Geheiß, die Wissenschaft verworfen? Einige wenige Religionen, deren seriöse Zeugnisse von der großen Masse gebilligt sind, dachten ihre Wahrheit ist nicht durch Mikroskope und erlösende Prüfsteine zu beweisen.“

„Das würde ein sehr weites Feld der Auseinandersetzung sein“, sagt der Dean mit einem Lächeln, „wir haben die Möglichkeit, aber wirklich, mein lieber Lord Wanborough, die Astrologie ist eine schwarze Kunst . . .“

„Und sie war deutlich in den Händen ihrer theosophisch(3) betrügerischsten Anhänger. Wir haben den Beweis – einen absoluten Beweis – daß Offenbarungen der unverständlichen Natur stattgefunden hatten. Zum Beispiel dieser bemerkenswerte Mann, Dr. Dee erweckte in einer Sitzung, bei der Königin Elizabeth anwesend war, den Geist des Ersten Plantagenet (4)“

Die Augenbrauen des Deans heben sich und er schaut seinen Partner verwundert und etwas mitleidig an.

„Sie glauben das tatsächlich?“ fragt er ernst.

„Warum sollte ich das nicht glauben?“ fragt der Earl zurück „es ist eine historische Tatsache, wie auch andere. Sie selbst akzeptieren Wunder. Ich hatte das Vergnügen Ihre letzte Predigt zu hören, sie beschäftigte sich mit der Auferstehung des Geistes von Saul. Was wäre, wenn so etwas wieder geschieht?“

„Oh, verzeihen Sie mir“, entgegnet der Dean, „in dieser Predigt war ich bei dem Zugeständnis vorsichtig, daß der Tag dieser besonderen Erscheinung vor sehr langer Zeit war und solche Einblicke in die Kraft, die die Welt beherrscht, wie auch jetzt, uns gnädig gewährt werden, kommen auf anderen Wegen auf uns.“

„Wie können Sie sagen, daß die Tage der Wunder vorüber sind?“ fragt der Earl, nun fest im Sattel seines bevorzugten Hobbys sitzend, „alle Natur ist ein Wunder, ein tägliches, stündliches Wunder.“

„Ja, aber auf ein Gesetz zurückzuführen ist, auf ein klares und unveränderliches Gesetz, welches keine Abweichung von einem etablierten zuläßt. Obwohl ich als Geistlicher gewissenhaft und konsequent auf die Ordnung vertraue, kann ich mich nicht vor den wundervollen Entdeckungen des modernen Denkens und vor den unschätzbaren Segnungen der modernen Wissenschaft verschließen. Natürlich könnte ich wünschen, und ich wünsche es, daß die Männer der Wissenschaft mehr Toleranz für die heiligen Geheimnisse, denen wir vertrauen, zeigen würden und daß sie nicht so geneigt sein würden, so voller Verachtung zu sein, gegenüber, wie Sie sagten, den Prüfsteinen und die Mikroskope als endgültige Revision für den Glauben anzusehen, den wir hatten und haben, wie auch so viele der Besten und Nobelsten der Menschheit. Die Wissenschaft verliert ihre Gewißheit. Diese jüngsten Experimente in Pariser Krankenhäuser von Charcot und anderen und die Aufmerksamkeit, die sie von Wissenschaftlern der ganzen Welt erhielten, zeigen, daß das Vertrauen in Unbekanntem – dem Occulten – noch überlebt und daß es schwierig ist, es auszurotten.“

„Oh“ , sagt seine Lordschaft mit einem Lächeln des Triumphs, „soweit stimmen wir überein! Sie glauben an Hypnose?“

„Ohne Frage. Der Einfluß mancher Individuen durch hypnotische Kraft ist klar und Fakt. Mancher bezweifelt ebenso gut die Kraft des Dampfes. Ich selbst besitze die Kraft in einem gewissen Grad. Vor ein oder zwei Jahren hypnotisierte ich ein Dienstmädchen, die dann im Trancezustand eine Anzahl von geringfügigen Diebstählen, die in der Kirche stattfanden, enthüllte. Die Macht über einen Lebenden Willen auszuüben, kann ich verstehen. Es ist eines der allgemeinsten Phänomene des Lebens. Aber ich gehe fehl zu verstehen die Macht eines Lebenden über den Tod.“

„Gut, gut“, sagt der Earl und legt seine Papiermesser, mit denen er die ganze Zeit während der Unterhaltung gespielt hatte, beiseite, „das ist eine Sache in welcher wir nicht einer Meinung sein werden.“

„Ich fürchte nicht“, sagt der Dean feierlich.

Der Earl of Wanborough lehnt sich in seinem Sessel zurück und wirft einen seitlichen Blick auf den smaragdgrünen Rasen unter dem Fenster. Er ist ein Mann Anfang der Sechziger, lang und ein bißchen locker gebaut. Er ist gegenwärtig einer der edelmütigsten Männer in England und sein Gesicht, obgleich von den Jahren des Denkens und Studierens gezeichnet, ist schön und verehrungswürdig. Sein Lächel einzigartig süß und seine Stimme hat den zarten Klang eines musikalischen Instruments. Würde und Freundlichkeit zeigen sich in jeden seiner Worte und Gestik.

Er ist unbekümmert – für einen Mann seines Ranges und Reichtums nahezu abgetragen gekleidet in gut verschlissenen Tweed(5). Die Strähnen seines seidigen grauen Haares fallen unter dem Käppchen aus schwarzer Seide über sein Gesicht.

Der Dean, ein stattlich, hübsch aussehend, setzt seinen Nasenzwicker auf seine Nase und nutzt den Vorteil aus, die momentanen Einwände seines Gastes näher zu prüfen. Der Earl wäre unermeßlich überrascht, als erfreut gewesen sein, wenn er vermutet hätte, was im Kopf seines alten Freundes vor sich geht.

‚Er kann nicht verrückt sein‘ , denkt der Dean, ,sein Vater und Großvater waren bei gesundem Verstand und sein Leben ist die Reinheit selbst. Und außerdem, wie kann ein Mann ist seiner Intelligenz und humanistischer Bildung solchen Unsinn glauben?“

„Sie erwarten Lord Dewsbury hier, wie Sie sagten?“, fragt der Dean und unterbricht damit eine ziemlich lange Pause.

„Ja“, sagt der Earl, selbst aus seinen momentanen Überlegungen gerissen, „ich erhielt heute morgen einen Brief von ihm. Er hat eine gute Feder.“

Er sucht den Brief aus einer Anzahl anderer in seiner Brieftasche heraus.

„Er schrieb vom ‚House of Commons(6)‘ , lassen Sie mich sehen, wo er ist, ah ja, hier!“

„Wenn die Abstimmung heute Abend gegen die Regierung geht – und ich bin mir gewiß – muß sie zurücktreten und wir sind sicher auf einem großen Empfang und einer gewaltigen Mehrheit im Land. Salisbury achtet unseren Sieg als ein Vertrauensbeweis und, obwohl er kein unumschränktes Versprechen gibt, ist er guter Hoffnung auf einen Platz für mich in seinem Ministerium.“ „Großartig!“ sagt der Dean, „die Regierung wurde mit zwanzig Stimmen vernichtet!“

„Ja“, sagt der Earl, „und wenn Dewsbury mit seiner Berechnung richtig liegt, wird der Rücktritt in ein oder zwei Tagen sein und wir werden ihn hier haben, um für unsere kleine Stadt wieder zu wirken. Ich bin aber besorgt, daß seine Kariere in den Commons schon bald beendet sein wird.“

„Ist der Earl so krank?“ fragt der Dean.

Sein Zustand ist sehr ernst zu nehmen. Dewsbury schreibt“ , hier zitiert er wieder den Brief:

‚Ich bin betrübt zu sagen, daß die Kraft meines Vaters täglich abnimmt. Er nimmt kaum noch Nahrung zu sich und hat schon drei Tage das Bett nicht verlassen. Lawson gestand mir diesen Morgen, obwohl er vor Wochen noch hoffnungsvoll war, daß er fürchtet, daß das Ende unvermeidlich bald eintreten wird. Armer alter Vater! Der Himmel weiß, die Aussicht auf den Titel ist ein kleiner Ersatz für seinen Verlußt‘.

„Mein Lieber!“ sagt der Dean, „nun ist es das allgemeine Los und wir können nur froh sein, daß er solch einen hervorragenden Nachfolger hinterläßt. Lord Dewsbury ist ein sehr guter Mensch!“

„Ja“, sagt der Earl aufrichtig, „Frank ist wirklich ein sehr guter Zeitgenosse!“

„Sie wissen“, sagt der Dean, „und ich flehe Sie an denken so nicht, daß ich impertinent bin, wenn ich über familiäre Angelegenheiten spreche. Ich habe mir eingebildet, daß Dewsbury hier seine Konsolidierung finden möge.“

„Isabel?“ fragt der Earl mit einem Lächeln, „ich habe es mir so gedacht: Geld beiseite legen, und Dewsbury wird genug haben und sparsam damit umgehen. Ich denke er könnte nichts Besseres tun. Sie ist das entzückendste Mädchen und könnte die Frau eines Kaisers abgeben. Ich denke sie mag Frank und ich bin sicher, er ist auch sehr von ihr angetan.“

„Da ist keine formale Verbindlichkeit zwischen ihnen?“ fragt der Dean.

„So weit, nein, aber ich denke sie verstehen einander. Ich hatte seinen Brief an Miss Arlingtons Tafel erwähnt, wo ich für die letzten zwei Monate jeden Morgen frühstücke und sie machte kein Geheimnis aus ihrer Korrespondenz.“ „Gibt es immer noch keine Nachricht von ihrem Vater?“ fährt der Dean fort und während er spricht wandert sein Blick zu einem Bild, das an der Wand über den Kopf des Earls hängt. Es ist das Portrait eines Mannes in der Blüte des Lebens, mit vorzeitig ergrautem Haar und einen Schnauzbart und in Uniform. Sein Gesicht ist hübsch, aber traurig und streng mit einem Fernweh-träumenden Blick in seinen Augen, welcher so ziemlich

dem Ausdruck seiner Brauen und dem resoluten Mund und dem Kinn widersprechen.

Der Blick des Earls folgt mechanisch in die gleiche Richtung.

„Nein“, sagt er mit einem Seufzer, „nichts hat man von ihm gehört, seit dem letzten Brief aus Thalak vor fast zwei Jahren, wo

er seine Absicht erklärt Zentraltibet zu durchqueren.“

„Ein phantastischer Plan“, sagt der Dean.

„Ich möchte lieber nicht darüber nachdenken, sagt der Earl, „es ist für mich bewundernswert wie Isabel ihre Gesundheit und Seele zusammenhält.“ Er macht eine kurze Pause und sagt dann: „Sie und ich, Dean, denken über verschiedene Sachen unterschiedlich. Sagen Sie mir, was denken Sie über das, was Isabel diesen Morgen sprach. Sie kam strahlend zum Frühstück herunter. Ich habe sie niemals so schön und so glücklich gesehen.

Ich fragte sie und ihre Antwort war: ‚Mein Vater ist am Leben und wird heimkommen.‘ Ich fragte wieder: ‚Sie haben von ihm gehört? Sie haben einen Brief bekommen?‘

‚Nein‘ , antwortete sie, ‚ich habe ihn gesehen. Er kam in Traum zu mir. Er war abgehärmt, krank und erschöpft. Seine Kleider waren in Fetzen und in seinem Gesicht war eine große Narbe. Er sprach zu mir. Ich hörte seine Stimme so deutlich wie Sie jetzt meine hören. Er sagte: ‚Hab keine Furcht, Kind, meine Aufgabe ist erfüllt und ich werde bald wieder bei Dir sein!‘

„Gott will es!“ sagt der Dean inbrünstig, „wir könnten schwerlich den Verlußt solch eines Menschen wie Colonel(6a) Arlington verkraften.“

„Aber der Traum“, sagt Lord Wanborough, „was halten Sie davon?“

„Was kann man davon halten?“ fragt der Dean, „es gibt mehr Dinge, die in unserer Phantasie geträumt werden. Ich kenne Träume, die ganz ungewöhnlich waren und wahr wurden. Es mag eine göttliche Botschaft des Trostes für die junge Lady gewesen sein. Lassen Sie uns das hoffen!“

„Ich sprach darüber mit Madam Obnoskin“, fährt der Earl fort, „sie erachtet das als tatsächliche Wahrheit und prophezeite, daß wir in kurzer Zeit von Colonel Arlington hören werden.“

„Gott fügt es!“ sagt der Dean, „so ist Madam Obnoskin noch hier?“

„Ja. Sie wird einige Zeit bleiben, hoffe ich. Eine bemerkenswerte Frau, mein lieber Dean, eine sehr bemerkenswerte Frau. Sie müssen sie treffen. Wenn irgendwelche Argumente Sie dazu führen könnten die ewigen Geheimnisse von einem anderen Standpunkt aus zu betrachten, ihre wären es! Ich schulde Madam Obnoskin intellektuell und moralisch große Anerkennung. Sie ist eine Frau von ungewöhnlichen Fertigkeiten. Sie steht in direkter Verbindung mit der okkulten Kraft der Natur.“

„Wirklich! Und diese Verbindung – wie bekommt sie die?“

„Auf manchen Wegen. Manchmal durch Intuition, manchmal durch Botschaften.“

Der Dean tut sein Bestes, um ein Kichern zu unterdrücken.

„Das ist in der Tat sehr bemerkenswert.“

„Was ist bemerkenswert?“ fragt der Earl.

„Das Geister Briefmarken benutzen sollen.“

„Mein lieber Dean“, sagt Seine Lordschaft etwas verdrießlich, „die Sache ist ganz einfach. Geister können nur durch körperliche Beziehungen tätig sein.“

„Ganz recht, ganz recht!“sagt der Dean mit wiedergefundenem Ernst, „und diese Lady - Madam Obnoskin – welche Art Person ist sie? Jung?“

„Ja, ziemlich. Nicht älter als dreißig würde ich sagen. Dreißig höchstens.“

„Hübsch?“

„Ausgesprochen. Eine sehr reizende Frau. Sie würde eine Bereicherung in jeder Gesellschaft sein.“

„Eine Witwe?“ fragt der Dean.

„Ja, eine schlechte Erfahrung, fürchte ich. Ihr Ehemann war ein Pole wie sie selbst, ein sehr fleißiger Mann und ein Kenner der Religion, der sie angehört. Aber ich folgere nur von Andeutungen, die sie verlauten ließ, daß sie nicht glücklich waren.“

„Hmm.“ äußert der Dean mit leicht geschürzten Lippen und hochgezogenen Augenbrauen.

„Sie müssen sie kennenlernen, mein lieber Dean“, fährt Seine Lordschaft fort.

„Ich werde entzückt sein. Ihre Beschreibung der Lady hat meine Neugier geweckt.“

„Wenn Sie nun gerade hier sind“, sagt Lord Wanborough, „warum bleiben Sie nicht zum Dinner?“

„Ich danke Ihnen außerordentlich, aber ich fürchte, es ist nicht möglich. Ich habe eine Kirchenversammlung in Wanborough um sieben Uhr und ich versprach nachdrücklich anwesend zu sein. Aber wenn Madam Obnoskin weiterhin hier bleibt, werde ich eines Abends zur Heiligen Messe um eine Aufwartung bitten.“

Der Raum in dem sie sitzen ist eine langgezogene Galerie, die sich nahezu über die gesamte Länge von Wanborough Castle erstreckt und in regelmäßigen Abständen von Fenstern in Höhe der Wände unterbrochen wird.

Die Herbstnacht ist eingefallen und die weite Aussicht schwindet allmählich dahin, als die Schatten sich an den Wänden erheben, die mit Familienportraits und Statuen geschmückt sind. Es ist ein kleiner Schock der Überraschung, als der Dean plötzlich bemerkt, daß er und der Earl nicht mehr allein sind. Kein Geräusch des Öffnens oder Schließens der Tür, oder eines Schrittes auf dem dicken Teppich, haben die Anwesenheit einer Lady angekündigt, die jetzt einige Fuß von ihnen steht. Der rote Schein der untergehenden Sonne fällt auf sie und gibt ihrem Gesicht und ihrer Gestalt einen fremden Glanz, welcher durch den Umstand der Plötzlichkeit ihres Erscheinens, etwas schicksalshaftes hat. Sie ist größer als die durchschnittliche Norm der Frauen und von einer vollen, aber anmutigen Gestalt.

Ihre Gesichtszüge sind gleichmäßig und schön, ihre Augen sind schwarz, strahlend und unergründlich.

„Ah!“ ruft Seine Lordschaft aus und erhebt sich, „das ist günstig. Meine liebe Madam Obnoskin, lassen Sie mich Ihnen Dr. Darley, den Dean von Wanborough, vorstellen. Er brennt darauf Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Ich bin entzückt Sie zu treffen, Dean“, sagt die Lady in einer klaren Altstimme und einem schwachen, sehr anziehenden ausländischen Akzent.

Der Dean verbeugt sich und murmelt, daß er bezaubert ist und sagt;

„Ich habe viel von Ihnen vom Earl gehört, daß ich es nur bedauern kann, verursacht durch meinen jährlichen Urlaub, daß unser Treffen so lange verzögert worden ist.“

„Sie sind sehr freundlich“, sagt die Lady, geht an die Seite Seiner Lordschaft und beugt sich über seinen Sessel, „Ihnen geht es heute gut, lieber Freund?“

„Gänzlich, ich danke Ihnen“, antwortet der Earl.

„Ich habe Neuigkeiten für Sie.“

„Wirklich?“fragt der Earl.

„Ja, gute Neuigkeiten – große Neuigkeiten.“

„Sie interessieren mich aufrichtig. Darf ich fragen . . .?“

„Ich wollte sie Ihnen schon vor ein paar Tagen erzählen, aber ich habe es verzögert, bis ich sicher war. Die Ankündigungen, die ich heute erhielt, waren ohne jeden Zweifel und ich kann ohne Furcht auf falsche Hoffnungen sprechen. Eine unserer wirksamsten Persönlichkeiten wird bald hier sein, wenn ich richtig verstanden habe – ein Kenner.“

„Ein ‚Kenner‘?“ fragt der Dean, „ich bitte, Madam Obnoskin, was ist das?“

„Ein Apostel unserer Religion“, antwortet die Lady, „eine Person voller Glanz des spirituellen Lebens, imstande mit Geistern unten im Grab zu kommunizieren.“

Die Worte sind an den Dean, aber die Blicke der Lady sind auf den Earl gerichtet.

„Du meine Güte!“ sagt der Dean etwas einfältig. Madam Obnoskin sprach mit solch perfekter Ruhe, mit so wenig Akzent in ihrem Ausdruck, so weise für gewöhnliche Ohren, daß er für den Moment verdutzt war.

„Darf ich fragen“, fährt er fort, „wie Sie diese Nachricht erhielten? Durch einen Brief?“

„Nein.“

„Telegraphisch vielleicht?“ deutet er listig an.

„Nein“, antwortet sie wieder mit einem Lächeln und Kopfschütteln, „durch eine Intuition. Ich habe zuvor eine ähnliche Ankündigung gehabt und sie hat stets die Ankunft eines Adepts(7) angekündigt. Und dies ist das Merkwürdigste, was ich je fühlte. Der Eindruck war überwältigend gewesen.“

„Du meine Güte!“ sagt der Dean wieder, „und diese Person - ist eine menschliche Seele oder ein Geist?“

„Weder noch. Ein Mann wie Sie selbst – nichts als ein Mensch.“ „Aber meine liebe Lady . . .“

„Er ist einer, der die Geheimnisse der spirituellen Welt entdeckte. Noch trägt er das fleischliche Gewand, er ist für alle Außenstehenden eine körperliche Darstellung unserer selbst.“

„Hmm!“ sagt Dr. Darley, „und Sie – sind Sie auch eine körperliche Darstellung?“

„Mein lieber Dean!“ ruft der Earl aus.

„Sicher“, sagt die Lady mit einem kleinen Lacher, „eine sehr charmante.“ Wieder lacht die Lady.

„Und das charmante Kleid, welches Sie tragen – ist das auch ...“ „Natürlich! Alles was Sie erblicken, alle weltlichen Erscheinungen sind einfach das Karma(8) schwacher himmlischer oder von den Sternen angedeutete Körper!“

Der Dean hustet geräuschvoll und kreuzt seine Beine.

„Mein guter Freund Dr. Darley ist etwas skeptisch“, sagt der Earl.

„Ja?“ sagt Madam Obnoskin mit einem kleinen Lacher und spielt ihren seltsam - liebenswürdigen Akzent voll aus, ah, gut, vielleicht werden wir ihn bekehren!“

„Ich fürchte, dafür ist der Tag schon zu weit fortgeschritten“, sagt der Dean, steht auf und strahlt über seine Beobachtung, „obgleich ich mich darauf freuen würde Unterricht von so einem charmanten weiblichen Tutor zu erhalten. Ich vertraue darauf, daß wir uns wiedersehen werden.“

„Ich hoffe es wirklich“, antwortet sie und streckt ihm ihre Hand entgegen, „und ich warne Sie, sich für eine Diskussion zu wappnen, Ich werde Sie bekehren, wenn ich kann.“

Der Dean verbeugt sich und lächelt, dann wendet er sich an den Earl: „Ich kam, um Ihre Lordschaft zu fragen, als ich so angenehm unterbrochen wurde, ob Sie ein Kopie von Burghardts Werk über die ‚Apostolische Nachfolge‘ haben.“

„Ja. Sie werden sie in der theologischen Abteilung in der Bibliothek im dritten Fach von unten links neben dem Erkerfenster finden.“

„Ich danke Ihnen. Ich wünsche ein Zitat in meiner morgigen Predigt zu verwenden.“

Er schüttelt die Hand des Earls, verbeugt sich wieder zu Madam Obnoskin und verläßt die Galerie.

„Was für eine beklagenswerte Sache ist die menschliche Leichtgläubigkeit!“ murmelt er zu sich selbst.

Kapitel 2

Im Salon

Unter den oft besuchenden und begünstigten Gästen in Wanborough Castle ist der ehrenwerte Mr. Mervyn Darrel, ein Neffe des Earls, ein junger Gentleman. Gesegnet mit ein paar Tausend pro Jahr. Perfekte Nerven und wohlgenährt. Mit einer mehr als mittelmäßigen Intelligenz und einem ungeheuren Glauben an sich selbst. Eine seiner wenigen Sorgen auf Erden ist, daß er, gleich nach der Teenager-Zeit frühreif, kahlköpfig wurde, was der Tatsache einer seiner geheimen Freuden entsprang.

Es gibt eine gute Anzahl von Begierden und Sehnsüchte in der Welt. Des ehrenwerten Mervins Hauptsehnsucht ist allen Dingen und jedem überlegen zu sein. Ein Ehrgeiz, der für ein zu jugendliches Erscheinungsbild eine Schattenseite geworden ist. Er hat die Gewohnheit erlangt, in jeden unvermuteten Moment, wenn ihn die Idee gepackt hat, aufzuschlagen. So schlägt er an dem Morgen auf, als Dr. Darley die Bekanntschaft von Madam Obnoskin gemacht hat. Sie schickt ihren Bediensteten mit seinem Gepäck nach oben. Er setzt sich in den Salon, schlendert dann mit seiner üblichen unduldsamen Langeweile durch den Salon, wo eine junge Lady zart für sich Klavier spielt.

„Guten Morgen, Lottie“, sagt er und setzt sich in einen Sessel, „was ist mit Onkel?“

Lady Carlotta Deepdale, die einzige Tochter des Earl of Wanborough, ist im Temperament das komplette Gegenteil ihres Vaters, was man leicht feststellen kann. Seine Lordschaft ist ein natürlich denkender Mann, der sich gänzlich dem Studium der moralischen und religiösen Problemen widmet und, wenn sich auch Glück und Trägheit nicht vertragen, enthält er sich jeglicher aktiven Anstrengung. Er würde vermutlich sich einen großen Namen als Schriftsteller über Ethik und Theologie machen. Er ist verträumt, nicht besonders ehrgeizig und übermäßig unpraktisch. Lottie ist eine hellwache junge Lady, die ihr schönes Haupt nicht mit irgendwelchen Problemen belastet, außer dem einen - dem leicht erklärbaren für eine junge und schöne Frau mit einem großen Namen und einer Menge Geld – wie man den größten Wert an Ehre und harmloses Glücklichsein an jedem Tag seines Lebens erreicht.

„Papa ist irgendwo mit dieser furchtbaren Frau im Gelände spazieren und reden über Theosophie vermute ich.“

„Wen meinen Sie?“ fragt Mervyn, legt sein Buch hin und sitzt gelangweilt in seinen Sessel.

„Diese Obnoskin-Gestalt“, sagt Lottie boshaft, „warum geht sie nicht? Sie kam für eine Woche her und blieb nun schon für einen Monat.“

„Ich nehme an“, sagt Mervyn, während er seine Fingernägel mit einem kleinen Apparat poliert und im Sonnenlicht den Glanz begutachtet, „daß sie noch bleibt, weil mein Onkel sie fragte zu bleiben.“

„Natürlich. Das weiß ich“, sagt Lottie, „und das ist ja der Ärger.“ „Darf ich fragen warum?“

„Können Sie es nicht sehen, daß Papa wegen ihr völlig den Kopf verlor und nicht mehr weiß als ein Kind, was für ein Spiel sie mit ihm treibt?“

„Und was für ein Spiel treibt sie?“ fragt Mervyn, der noch immer seine Fingernägel bearbeitet.

„Wollen Sie damit sagen, daß Sie es nicht sehen? Es ist klar wie die Nase in Ihrem Gesicht. Die Frau will die Comtess von Wanborough werden.“

Gerade Mervyns übertriebene Vorliebe zur Gleichgültigkeit zu allem auf Erden, eine Gleichgültigkeit, die er schon so lange heuchelt, daß sie beinahe real geworden ist, verschwindet in dem Moment bei diesen Worten. Er verbirgt weise sein Erschrecken, indem er sich streckt und gähnt.

„Meine liebe Lottie, was für ein Nonsens! Ihr Vater würde niemals von so etwas träumen!“

„Ein Mann in Papas Alter ist das Leben töricht genug für alle Dinge, die mit einer Frau zu tun haben.“

„Sie sind furchtbar respektlos“, sagt Mervyn.

„Es ist wahr“, fährt das Mädchen fort, „und Sie, mit Ihrer üblichen Albernheit, ermuntern ihn in seiner Torheit.“

„Ich? Ermuntere ihn!“

„Natürlich machen Sie das, durch das Vorgeben den Unsinn zu glauben, was sie sagt.“

„Meine liebe Lottie, als eine Person, die philosophisch interessiert ist in allen menschlichen Entwicklungen...“

„Oh“, unterbricht Lottie ihn kurzerhand, „ich bitte Sie, sprechen Sie nicht diesen Unsinn über Philosophie und Entwicklung! Ich denke manchmal, Sie glauben ihre Narrheit, wenn es irgendwelche Moral zu beklagen gibt, sind Sie sicher sie richtig zu verstehen? Auf dem Gymnasium hatte sie Scharlachfieber und schwatzte über Lilien, Sonnenblumen und blauem Porzellan. Dann wurde sie von Radikalismus befallen, ging dazu über, sich in Kordhosen zu verbergen und hielt Vorlesung in der Toynbee Universität. Dann wiederum, nach mehr oder weniger ernsten Krankheiten leidet sie immer noch an der letzten Epidemie, an der Sie sich sicher noch erinnern.“

„Und was könnte das sein?“ fragt Mervyn und steckt seinen Nagelpolierer in seine Westentasche.

„Individualismus nennen Sie es, glaube ich. Ich nenne es Schwermütigkeit.“

„Schwermütigkeit!“ murmelt Mervyn mit leicht angehaltenen Atem, als ob der Ausdruck ihn physisch verletzt hat.

„Eine Art moralische Grippe“, fährt Lottie fort, „welche sie daran hindert, sich an hellen und sonnigen Dingen zu erfreuen. Sie ist einfach unmöglich!“

„Ich bin konsequent“, sagt Mervyn, „ich durchstreife viele verschiedene Stimmungen. Ich bin chamäleonähnlich in meinen äußeren Anzeichen, aber ich habe niemals in meinem Vertrauen in die Natur geschwankt. Und was ist mein interessantester Ausdruck?“

„Und was ist das?“ fragt Lottie.

„Ich selbst“, erwidert der jugendliche Weise.

„Das ist tatsächlich wahr“, antwortet sie mit einem Lacher, „Sie selbst sind Ihr hauptsächliches Bestreben, denke ich.“

„Mein einziges“, sagt Mervyn, „ein großes, ein edles Bestreben. Wie man sich gibt - so ist man!“

„Geben Sie sich auch jetzt gerade?“ fragt Lottie, die an der Seite des Sofas steht und auf ihn herab blickt.

Ich hoffe es.“

„Es hat Sie nicht zu sehr verletzt, oder?“ fragt sie mit verhöhnender Sympathie.

Mervyn schließt bloß für einen Moment seine Augen, als ob ihm ihre Keckheit zu viel ist zu ertragen, und als er sie wieder öffnet, heftet er seinen Blick auf sein Buch.

„Was lesen Sie da gerade?“ erkundigt sich Lottie.

„‘Die Vergeistigung der Persönlichkeit oder der Inbegriff des Ego‘ .“

„Klingt wie etwas Besonderes“, sagt Lottie, „denken Sie, ich sollte es lesen?“

„Wenn ich Ihre allgemeinen literarischen Studien beurteilen mag, würde ich nein sagen. Es ist notwendig einen höheren intellektuellen Level erreicht zu haben, dann, fürchte ich, können Sie diesen Kurs einschlagen.“

„Wirklich!“, sagt Lottie, „um was geht es?“

„Es ist eine Abhandlung über die Unvollkommenheit der menschlichen Gesellschaft. Sie zeigt vollkommen und überzeugend, daß alles in Unordnung ist, außer das Innere eines jeden selbst – daß Gesellschaft, Moral, Pflicht, Anständigkeit und die anderen Lösungsworte, nur Begriffe verschiedener Phasen des überlebten bürgerlichen Aberglaubens sind.“

„Wirklich!“, sagt Lottie wieder, „so glauben Sie nicht an die Moral?“

„Nein.“

„Oder Pflicht?“

„Nein.“

„Oder Anständigkeit? An was glauben Sie dann?“

„An mich selbst, an mein Recht mich zu entwickeln, zu leben, auf meinem eigenen Weg sich zu entfalten.“

Und er spannt seine Brust, als ob er sich tatsächlich entwickelt

„Hm! Ist das nicht etwas egoistisch?“ fragt Lottie.

„Sicher“, erwidert Mervyn mit seinem ureigenen Lächeln der Überlegenheit, „das Selbst ist die einzige Realität. Ich bin. Für mich ist alles in der Welt bloß Erscheinung, ein Produkt der Einbildung, welches keine beweisbare Existenz hat.“

„Oh, ich bin nur eine Erscheinung und eine Einbildung, ohne beweisbare Existenz.“

„Sicher“, erwidert Mervyn gelassen, „das eigene Objekt erkennt Erscheinungen und insofern wie Theosophie mir hilft das zu erkennen, akzeptiere ich es.“

„Was für eine bezaubernde Religion“, sagt Lottie am Piano sitzend. Sie läßt ihre Finger ziellos ein paar Sekunden über die Tasten gleiten und geht in den lebhaften Chorgesang der letzten Savoy Oper(8) über. Mervyn windet sich auf dem Sofa wie ein aufgespießter Aal, seine Fassung zeigt extreme Schmerzen.

„Tun Sie das nicht!“ wehklagt er, mit seinen Fingern in den Ohren, „Lottie, tun Sie das nicht!“

„Was ist denn nun los?“ fragt Lottie und hört kurz auf.

„Diese Musik!“ sagt er unter einem Schauer der Erinnerung.

„Warum mögen Sie sie nicht?“

„Es mögen!“, keucht der theosophistische Ästhet, „es mögen! Es erinnert mich an – an was soll ich sagen? Plum Pudding – oder Dickens!“

„Armer Dickens!“ sagt Lottie, „und Sie mögen Dickens nicht?“

„Vulgärer Optimist!“

„Ich glaube nicht, daß Sie irgendetwas mögen“, sagt Lottie lachend.

„Sie liegen falsch, ich mag mich selbst.“

„Epikur(9)!“

„Ich genieße die scharfen, klugen Anfälle künstlerischer Seelenqual, die Würze des sozialen Verfalls, aus denen diese Literatur kommt, welche das Leben ist.“

„Ich wünschte, Sie würden etwas finden, was Ihnen gut tut“, sagt seine Cousine, „Sie sind wirklich auf einem schlechten Weg.“

Mervyn lächelt in unveränderter Gelassenheit.

„Ich werde Ihnen sagen, was es ist, Mervyn. Sie haben diese letzte Verrücktheit bloß angenommen, weil Sie in den anderen Dingen versagt haben.“

„Versagt!“, echot Mervyn, „meine liebe Lottie, die Versäumnisse des Lebens sind nur Erfolge!“

„Was müssen Sie dann sein! Aber es ist so einfach in Paradoxen zu reden.“

„Die ganze Natur ist ein Paradox. Das Paradox des Lebens ist der Tod.“

„Oh Lieber, oh Lieber!“, sagt Lottie und stampft mit ihrem kleinen Fuß auf den Boden und greift in heiterer Verzweiflung in ihr Haar, „um Gottes Willen, stop! In meinem Kopf dreht sich alles!“

„Das ist wirklich nicht schlecht“, sagt Mervyn und schreibt seine letzte Äußerung auf seine Hemdmanschette mit dem Kopf bewundernd zur Seite gedreht, „das Paradox des Lebens ist der Tod. Gar nicht mal so schlecht!“

Lottie beobachtet ihn einige Momente lang mit einem amüsierten Lächeln und will gerade eine andere, nicht gerade für ihn schmeichelhafte Bemerkung machen, als eine Gestalt jenseits der geöffneten französischen Fenster des Salons, die Terrasse passiert.

„Isabel! Isabel!“ ruft Lottie und als Antwort auf den Ruf betritt ein wunderschönes Mädchen, das einen Strauß frisch gepflückter weißer Rosen aus dem Garten trägt, den Raum. Sie hält auf der Schwelle inne, wirft einen flüchtigen Blick von Lottie auf Mervyn und scheint sich zurückziehen zu wollen, als Lottie zu ihr rennt und ihren Arm um sie legt und mit einem fröhlichen Lacher sagt:

„Oh, komm herein Isabel, Mervyn langweilt mich zu Tode!“

„Habt ihr wie üblich gestritten?“ fragt Isabel, „nun, nur keine Bange, Mervyn, Lottie meint nicht die Hälfte von dem, was sie sagt.“

„Aber ich meine es so!“ sagt Lottie, umfaßt Isabels Hüfte und schiebt sie vorwärts.

„Nun schau ihn Dir an. Weißt Du was er gerade tut? Er, er entfaltet sich!“

Mervyn macht eine abweisende Geste und zuckt mit den Schultern, schaut zu Isabel mit einem Ausdruck,welcher deutlich sagt: Sehen Sie diese kleine Spießbürgerin? Sie versteht mich nicht im geringsten. Ich lebe weit jenseits ihres Verstandes. Aber Sie, die in Vollendung lebt, verstehen mich unzweifelhaft und ich überlasse es Ihnen frei zwischen uns zu richten.

Glücklicherweise ist Lotties Aufmerksamkeit von Mervyns exzentrischen Betrachtungen auf das Gesicht der Neuangekommenen gerichtet.

„Wie blaß Du aussiehst!“ sagt sie.

„Ich bin etwas müde, das ist alles“, erwidert Isabel freundlich, setzt sich auf das Sofa nahe am Fenster, schaut auf die Blumen, die sie in ihrer Hand hält.

„Wir sind neuerdings alle müde“, sagt Mervyn und blickt wieder auf, „wir sind die Erben des Jahrhunderts des Verfalls.“

Dies sagte der ‚Apostel‘ der ‚neuen Kultur‘, steht träge auf und geht gemächlich zum Fenster.

„Ich denke, ich werde einen Bummel machen“, murmelt er, „der Duft dieser Rosen erinnert mich, daß Entspannung von aller geistigen Ermüdung nur noch in der Natur selbst zu finden ist. Ja, ich denke tatsächlich einen Spaziergang zu machen.“

Lottie wirft ihren Kopf herum und lacht.

„Ja, mach das und laß mich mit Isabel unterhalten.“

Als Mervyn gerade geht, setzt sie hinzu:

„Warum nehmen Sie nicht ein Fahrrad, Mervyn, oder etwas wirklich wirksames? Ich bin sicher, es würde Ihnen gut tun!“

Der junge Mann wirft einen flüchtigen Blick auf seine Cousine, mit äußerst herablassendem Mitleid und murmelt während er geht:

„Ein Ritt auf einem Fahrrad! Guter Himmel! Ich würde lieber sterben!“

Die zwei jungen Mädchen, nun allein gelassen, sitzen für eine Weile in der Stille.

Ein zufälliger Beobachter, der sie Seite an Seite sitzen sieht, ginge nicht fehl, den außerordentlichen Kontrast zwischen ihnen zu bemerken.

Lottie, obgleich die ‚Tochter von hundert Earls‘ , ist rund, plump und englisch wie frische Luft und Landleben kann sie glücklich machen. Sie ist blond des hellsten Typs, hübsch frisiert, schöner Teint, blauäugig, Grübchen in den Wangen und ein Gesicht voller Glück und Sonnenschein. Man könnte sagen, wenn man sie ansieht, sie hat niemals Kummer kennengelernt und jemand würde hinzufügen, unter Berücksichtigung ihres guten Charakters, wäre es ein Herzenswunsch, daß sie nie darunter leide.

Isabel Arlington ist das Gegenteil mit ihren dunklen, träumenden Augen, ihr dunkles Haar und ihrem blaß-oliven Teint, scheint sie die Inkarnation dauernder Melancholie zu sein. Schön wie sie ist, scheint ihre Schönheit eher in der Nacht, als am Tage aufzublühen. Ihre Stimme, mit ihrem tiefen musikalischen Klang, vertieft den Eindruck der beständigen Niedergeschlagenheit, sie ist groß und von hagerer Gestalt, auch in dieser Hinsicht ein Kontrast zu ihrer sonnigen Gefährtin.

„Nun, Isabel“, sagt Lottie letztlich mit einem kleinen Lacher, „wie würdest Du Dich fühlen einen Liebhaber wie ihn zu haben?“

Und Isabel lächelt ohne zu antworten. So fährt Lottie fort:

„Ich meinte es ganz ernst, als ich ihm mitteilte, daß er mich zu Tode langweilt. Er nannte mich einen Philister(9a), was auch immer das heißt, aber ich bin mir sicher, ich würde lieber ein Philister sein, als ein Langweiler. Aber nun, laß uns nicht mehr über ihn und andere absurde Dinge reden. Über was sollen wir reden?- über Frank?“

Ein schwaches Erröten auf Isabels Wangen läßt sie noch tiefer sich über die Blumen in ihrer Hand beugen.

„Er wird heute hier sein, sagt Papa, was für ein sonderbares Mädchen Du bist!“ Nach einer Pause, in der sie Isabels Gesicht prüfend ansieht, fährt sie fort:

„Bist du froh, daß er kommt?“

„Natürlich bin ich froh“, entgegnet sie. Aber das klang für Lottie nicht sehr glücklich.

„Ich mag Frank sehr. Er ist - er ist sehr freundlich.“

„Er ist ganz vernarrt in Dich, Isabel. Ich weiß nicht warum du die Dinge so kalt nimmst. Es muß wunderbar sein einen Liebhaber zu haben. Wenn irgendeiner mich liebt wie Frank Dich liebt, würde ich an die Decke springen!“

„Es tut mir leid, ich bin nicht so schwärmerisch wie Du, Lottie.“ „Aber denke doch daran, wenn Du Frank heiratest, wirst Du die Königin der Gesellschaft sein. Dein Portrait und Bilder von Dir und Deinen Kleidern werden in allen Frauenzeitschriften sein und Zeitungsartikel in der ‚Times‘ und ‚Morning Post‘ beschreiben Dich. Lady Dewsbury! Klingt das nicht herrlich? Und Frank wird jeden Tag berühmter! Er war in ‚Punch‘-Cartoons dreizehn Mal in den letzten zwölf Monaten. Ich habe sie gezählt, deshalb weiß ich es so genau. Und dann, wenn der Earl stirbt, armer alter Mann, wirst Du die Gräfin von Loamshire sein. Und Du darfst Frank nicht gehen lassen und ihn selbst in dem verrückten ‚House of Lords‘ begraben. Du mußt ihn dazu bringen ein Botschafter oder so etwas zu sein. Eine irre Vorstellung! Wenn er Botschafterin Paris sein könnte!“ Sie klatscht in ihre Hände, ihre Wangen sind gerötet und ihre Augen funkeln, als ob die Herzlichkeit sich über sie selbst befindet, als für ihre Freundin.

„Ich könnte herüber kommen und mit dir leben und deine Anstandsdame sein. Isabel, was ist mit dir los? Ich glaube nicht, dass du zugehört hast!“

„Doch, ich habe zugehört, Liebe. Ich dachte daran, daß es viel besser wäre, Du würdest diese Position ausfüllen, als ich es könnte.“

„Ich?“,sagt Lottie in unverfälschter plötzlicher Überraschung, „meine Liebe, ich würde niemals so etwas tun! Ich habe nicht ein bißchen Würde – nicht einen Deut! Ich würde dann entsetzlich die offizielle Position meines Ehemannes gefährden, bevor ich mit ihm eine Woche verheiratet wäre. Ich weiß, das würde ich! Aber Du bist auserwählt für die Frau eines Staatsmannes.“

Isabel lächelt schwach über die Offenheit ihrer Freundin und ihre lebhafte Bewunderung.

„Du liebst Frank, oder nicht, Liebes?“ fragt Lottie mit plötzlicher Ernsthaftigkeit.

Sie ist ein viel zu aufrichtiges, redliches Mädchen, viel zu unverdorben durch die Welt, von der sie so wenig weiß - nicht Liebe anzunehmen, wo jedes treuherzige Mädchen sicher wäre

sie anzunehmen bevor das Leben sonst noch alles bietet. „Ich bin sehr vernarrt in Frank“, sagt Isabel.

Sie sprach unbewegt und aufrichtig, aber Lottie fühlt einen Vorbehalt hinter ihren Worten und wartet mit einer besorgten Miene darauf, daß sie noch etwas sagt.

„Frank ist sehr gut und freundlich und sehr tüchtig, aber wir sind so verschieden.“

„So weit, so gut“, sagt Lottie lebhaft, „die Leute die unterschiedliche Charakter haben, sind die besten Paare. Die Leute deren Wege und Geschmack gleich sind und man denken könnte, daß sie für einander einstehen, sind zusammen meist unglücklich.“

„Dann würdest Du und Mervyn ein prächtiges Paar abgeben.“ sagt Isabel verschmitzt, vielleicht froh den Schlagabtausch zu ihr zu verlagern.

„Mervyn!“sagt Lottie ungehalten, „ich heirate Mervyn! Was für eine Idee! Nein, wenn ich heirate, werde ich einen Mann heiraten, - einen Mann, der vieles kann – kämpfen, oder schreiben oder malen – oder alles zusammen! Mervyn kann nichts, außer herumlungern und sich entwickeln, wie er es nennt.“

„Ja“, sagt Isabel, „und das ist es gerade, was ich meine. Es gibt Frauen wie diese, Frauen die befähigt sind Führer der Menschen zu heiraten, die mit ihren Zielen übereinstimmen und sie in ihrem Kampf unterstützen. Ich werde niemals eine Frau dieser Welt werden, Lottie! Ich werde mich niemals um Politik scheren oder an Franks Studien interessiert sein oder seine Vergnügungen teilen. All die wunderbaren Dinge, die Du anführtest, der soziale Triumph, die hohen Positionen erschrecken mich. Ich fühle wie die Frau des Lord von Burleigh, die unter der Last des Ruhmes dahinschwindet, zu welchen ich nicht geboren bin. Ein Landschaftsmaler würde mir besser einen Heiratsantrag machen, als ein großer Lord.“

Während sie spricht, läßt sie ihren Blick über die Blumen schweifen und Lottie beobachtet sie scharf, ihr Grübchengesicht ist von dem beängstigenden Wunder überschattet.

Isabel, des prüfenden Blickes unbewußt, pflückt die Blütenblätter einer Rose und schaut ihnen nach, als sie von ihren Fingern auf den Teppich fallen.