Der Schatz der Osteopathie - Peter Levin - E-Book

Der Schatz der Osteopathie E-Book

Peter Levin

0,0

Beschreibung

Ein Grundlagenwerk der Osteopathie und manuellen Medizin. Aufregende Lektüre für alle, die Osteopathie und manuelle Therapie studieren und praktizieren wollen. Es legt die Grundlage für eine universitäre Entwicklung der Osteopathie zwischen Natur- und Humanwissenschaft.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 191

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter Levin, 1963 in Ulm geboren. Lebt und arbeitet in Hamburg. Studium der Soziologie und Religionswissenschaften in Freiburg, Berlin und London. Ausbildung zum Osteopathen, seit 1993 in eigener Praxis tätig. War Herausgeber der Deutschen Zeitschrift für Osteopathie und ist Dozent für Osteopathie.

Inhalt

Einleitung

Klinische Fragestellung in Befund und Behandlung

1.1 Was behandeln?

1.2 Wie behandeln?

1.3 Wann behandeln?

Bezugspunkt der manuellen Medizin: Aktivität der Gewebe

2.1. Was können wir manuell wahrnehmen?

2.2 Ruhe- und Belastungsaktivität

2.3 Spürbare biomechanische Qualitäten

2.4 Aktivität der Gewebe

2.5 Funktion als Bezugspunkt der manuellen Therapie?

2.6 Die Zukunft der Osteopathie gehört der Aktivität

Berührung, Beziehung, Biomechanik

3.1 Bei sich und in Beziehung

3.2 Mehr als Haltung – zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung

3.3 Das Bündnis und die Gestaltung der therapeutischen Beziehung

3.4 Grundlagen einer biomechanischen Krankheitslehre

3.5 Aktivitätszustände: Ruhe, Anstrengung, Erschöpfung

3.6 Von Regulationszusammenhängen zu verkörperten Funktionen

3.7 Sonderstellung der Elastizität

3.8 Erste Antworten auf die drei klinischen Fragen

3.9 Zugangsqualitäten und Zugangserlaubnis

3.10 Therapeutischer Prozess: Wirksamkeit, Wahrheit und Wirklichkeit

Leib und Körper in der Osteopathie

4.1 Repräsentation oder Einbettung

4.2 Medizinisch-biologischer Körper und erlebter Leib

4.3 Leib- und Naturverhältnis: gebrochen und vermittlungsbedürftig

4.4 Schmerzen: existenzielles Erleben und medizinische Verortung

4.5 Osteopathisches Medizinparadigma

4.6 Ganzheit als Leistung des leiblichen Selbst

Organcharaktere, Organfamilien und Organsysteme

5.1 Ursprungsfamilie Hohlorgane

5.2 Ursprungsfamilie Blutorgane

5.3 Organcharakter

5.4 Drei Säulen, drei Mittelorgan-Systeme

5.5 Aufgabenbereiche der inneren Organe

Gewebe und Gewebecharakter der inneren Organe

6.1 Gewebecharakter

6.2 Energieanforderung

6.3 Die Einzigartige: Alleinstellungsmerkmal Schleimhaut

6.4 Muskeln zwischen Anspannung und Motilität

6.5 Faszien und Bindegewebe

6.6 Das Peritoneum: Faszie und Flüssigkeitsraum

6.7 Gefäße und Nerven

Die osteopathische Universität

Literaturempfehlungen

Für Werner Strebel

Einleitung

Der Schatz der Osteopathie enthält drei Diamanten. Die drei Diamanten sind in geschliffener Form als die drei B oder die drei Brillanten bekannt. Sie stehen für Berührung, Beziehung und Biomechanik. Diese drei B sind das Wertvollste, was die Osteopathie zu bieten hat. Wenn wir die drei Brillanten in die passende Konstellation bringen, werden sie nicht nur ihre je eigene Kraft entfalten, sie werden sich wechselseitig anregen und im vollen Glanze ihrer Möglichkeiten erscheinen.

Den Schatz zu bergen, braucht es weich zupackende Hände und dann geeignete Werkzeuge, um die Diamanten zu schleifen. In den ersten Kapiteln werden wir detailliert die klinische Fragestellung entwickeln und in kleinen Schritten die drei B beschreiben und bearbeiten:

die osteopathischen Qualitäten der therapeutischen Berührung,

die Gestaltung der therapeutischen Beziehung und des therapeutischen Prozesses,

die Deutung der Aktivitätszustände in einer biomechanischen Krankheitslehre.

Der erste Diamant wurde in 130 Jahren Osteopathie vorzüglich geschliffen und poliert, die anderen beiden kamen dagegen nicht zur Geltung. Die osteopathischen Qualitäten der therapeutischen Berührung sind vielfältig und feinsinnig ausgebildet. Die Gestaltung der therapeutischen Beziehung führte lange ein Schattendasein. Die Deutung der geweblichen Aktivitätszustände ist seit Langem in einer Krise, die durch die Fixierung auf die osteopathische Funktion und Dysfunktion eingeleitet wurde.

Da ethisch geboten und maßgeblich am Erfolg der Behandlung beteiligt, muss die Kompetenz zur Gestaltung der therapeutischen Beziehung im Zentrum der osteopathischen Bildung stehen. Therapeutische Beziehungsgestaltung geht weit über die Selbstsorge und respektvolle Haltung des Therapeuten hinaus. Es geht vielmehr darum, einen professionellen Rahmen für die Therapie aufzubauen und die therapeutischen Prozesse der Kontaktregulation, der Übertragung und der Regression mitzugestalten. Die Entwicklung der osteopathischen Sensibilität muss eingebettet sein in die therapeutische Beziehung, da nur in dieser Beziehung klinische Wahrheit entsteht. Wenn wir die therapeutische Berührung weiter verfeinern wollen, um die Geschichte und die Gegenwart der Gewebequalitäten besser zu lesen, ist diese verfeinerte Lesart nur im Kontext der biomechanischen Krankheitslehre und der therapeutischen Beziehung umzusetzen.

Zur Veranschaulichung dieser Themen kommen wir immer wieder auf die Behandlung der inneren Organe zu sprechen. Das Beispiel der Organbehandlung ist nicht willkürlich gewählt. Die Organe waren die ersten, die dem Denken in osteopathischen Funktionsbegriffen Grenzen aufgezeigt haben. Insofern steht die Behandlung der Aktivitätszustände der Organe exemplarisch für eine Neubegründung der Osteopathie. Die Verschiebungen und Schleifprozesse, die wir an den Organen – aber auch am Beispiel der Aufrichtung und anderen komplexen Fähigkeiten – demonstrieren, wirken sich auf alle Bereiche der Osteopathie aus. Physiologie und nicht Anatomie ist die Leitwissenschaft der Osteopathie; die Beschreibung von Aktivitätszuständen ist unser Bezugspunkt und nicht das Modell von Funktion und Dysfunktion.

Über ein Jahrhundert hinweg wurde dieses Modell am Bewegungsapparat entwickelt und auf das kraniosakrale System und die Organe übertragen. Heute können wir klar erkennen, dass dieser Übertrag zu keiner realistischen Klinik geführt hat. Die letzten Jahrzehnte haben zudem gezeigt, dass diese Konzepte zu einem Entwicklungshindernis geworden sind. Die inneren Organe sind Kronzeugen für die Notwendigkeit, diese Hindernisse zu überwinden. Das ist möglich, wenn wir alle drei B bis zur vollen Brillanz bearbeiten.

Am Ende kommen wir dann auf die Brut- und Werkstätten zu sprechen, in denen der Schatz der Osteopathie den Anforderungen der Reflexivität und der Einbindung in die wissenschaftlichen Diskurse gerecht werden kann: die osteopathische Universität und das osteopathische Labor. Diese Werkstätten sind Arbeitsfelder, die für die Weiterentwicklung der Osteopathie zentral sind. Ohne sie trübt der schönste Brillant ein und verliert seinen Glanz. An diesen Orten kann sich aus dem Schatz der Osteopathie ein professionelles Selbstverständnis entwickeln, das auf der Höhe der Zeit ist. Die Osteopathie wird dabei ihre materielle und geistige Basis verwirklichen. Sie wird sich gleichermaßen als Natur- und Humanwissenschaft entwickeln.

1. Klinische Fragestellung in Befund und Behandlung

Ähnlich wie ein Journalist oder ein Kriminologe müssen wir als Kliniker der inneren Organe die drei W-Fragen beantworten: Was? Wie? Wann? Die Frage nach dem, was zu behandeln ist, stellt sowohl die Frage, welches Gewebe oder Organ unsere Hilfe braucht, als auch die Frage, was an diesem Gewebe oder jenem Organ bitte zu ändern wäre, da es nicht „gut genug“ funktioniert. In der Tradition der Organbehandlung gab es Antworten, die nicht gut genug waren, zum Beispiel die Aussage, dass alle Organe sich bewegen müssen und dass Spannung schlecht ist. Diese auch als „somatische Dysfunktion“ bezeichnete Annahme, schematisch ausgedrückt „Bewegung gut, Spannung schlecht“, hat sich als wenig organfreundlich erwiesen. Daher lohnt es sich, noch vor jeder manuellen Untersuchung und Behandlung die Frage zu stellen, wie die Organe ihre Gesundheit und Krankheit ausdrücken. Schnell stellt sich dann heraus, dass schon die Rede von „den Organen“ zu ungenau ist. Die inneren Organe sind so unterschiedlich in ihrem Charakter und in ihrer Lebensweise, dass wir die organbetreffenden Fragen differenzieren müssen.

Wir werden daher nach Gemeinsamkeiten der Organe suchen und gleichzeitig ihre Unterschiedlichkeit betonen. Der Dünndarm als klassisches Hohlorgan und Darmrohr drückt Gesundheit und Krankheit anders aus als eine blutgefüllte Leber oder ein elektrisch aktives Gehirn. Während der Darm sich durch peristaltische Bewegungen äußert, zeigt sich der Zustand der Leber an ihrer Blutfülle. Gesundheit und Krankheit eines elektrischen Organes wie des Gehirns wird sich in Veränderung der elektrischen Oszillationen äußern.

All diese Veränderungen haben auch gemeinsame Aspekte. Ein krankes Organ wird sich anders verhalten als ein gesundes Organ, ganz ähnlich wie ein Kind, dem wir die Krankheit oft zuerst an seltsamen Verhaltensweisen oder Stimmungsänderungen anmerken. Der kranke Dünndarm verdaut schlecht und verändert das Stuhlverhalten. Eine angeschlagene Leber schafft es nicht, ihre Aufbauleistung zu bringen, und der Mensch wird müde und gereizt. Ein Gehirn, das nicht mehr im Takt schlägt, neigt zu Vergesslichkeit, zu Wahrnehmungsstörungen oder auch zu einem unsicheren Gang. Daher werden wir die verschiedenen Organe und ihren jeweiligen Charakter beschreiben und demgemäß die Frage nach dem Was, dem Wie und dem Wann der Behandlung beantworten.

Es gibt eine Gemeinsamkeit der Organe, die damit zu tun hat, dass wir die inneren Organe hier aus der Sicht der manuellen Therapie betrachten. Während die einzelnen Organe ihre Fähigkeiten auf vielfältige Weise ausdrücken, ist für die manuelle Arbeit der mechanische Ausdruck von besonderem Interesse. Diese Eingrenzung oder erzwungene Gemeinsamkeit der Organe hat nur damit zu tun, dass in der manuellen Behandlung leicht und ohne Mühe mechanische Veränderungen erspürt werden können. Auch wenn in der Leber alle möglichen chemischen Prozesse ablaufen, mit unseren Händen werden wir (nur) den mechanischen Effekt dieser Prozesse spüren. Wenn das Herz aktiv ist, gibt es starke elektrische und elektromagnetische Änderungen, die wir manuell nur als mechanische Zustandsänderungen wahrnehmen werden. Dünndarm und Lungen sind Organe, die im ständigen Kontakt und Austausch mit der Umgebung sind. Auch hier wird es so sein, dass wir die qualitativen Veränderungen, die dieser Kontakt mit sich bringt, als mechanische Änderungen spüren können.

Das vielfältige Leben der Gewebe und Organe umfasst also biomechanische, chemische, elektromagnetische, energetische, biografische, sensomotorische, thermische und seelisch-geistige Aspekte. Erst unsere eigene Begrenzung auf den Bereich der manuellen Arbeit hat zur Folge, dass wir uns hier bevorzugt mit den biomechanischen Aspekten befassen. Zugleich finden sich in der Physiologie und besonders in den ganzheitlichen Ansätzen der Naturheilkunde immer wieder Hinweise darauf, dass diese jeweiligen Aspekte ineinander übersetzbar sind. So ist es möglich, dass die elektrische Änderung auch eine mechanische mit sich bringt; umgekehrt kann eine mechanische Änderung sich auch auf andere Aspekte, wie zum Beispiel die chemische Aktivität des Organes auswirken oder mit ihr vergesellschaftet sein. Insofern es Belege für solche Gleichzeitigkeiten und Wechselwirkungen gibt, werden wir diese immer wieder hervorheben, da sie das Herzstück der manuellen Arbeit sind. Gleichzeitig werden wir zu wissenschaftstheoretischer Vorsicht raten und nicht automatisch unterstellen, dass immer alles mit allem verbunden ist. Die wechselseitige Beeinflussung der verschiedenen Aspekte der Organaktivität ist nachweislich vorhanden; aber es ist eine waghalsige Annahme der sich als ganzheitlich bezeichnenden Medizin, dass diese Aspekte immer identisch überlappen und keiner Vermittlung bedürfen.

Wertschätzung der Biomechanik der Gewebe

Die Mechanik lebendiger Gewebe wird als Biomechanik bezeichnet. „Bio“ bezieht sich auf Lebendiges und Organisches, in Abgrenzung zum Anorganischen. Im Bereich der Humanmedizin klingen Aspekte des lebendigen Menschseins an: Selbstregulation, Kommunikation, Umweltbezogenheit, Einbettung, Anpassungsfähigkeit, Stoffwechsel, Wachstum, Triebhaftigkeit, Selbstreproduktion, Sterblichkeit, Bezug auf Zeit und Raum. Beziehen wir Mechanik auf den lebendigen Menschen, werden Kräfte und Bewegungen im Organismus betrachtet; so sind Momentum, Richtungsorganisation, Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Organismus Themen der biomechanischen Erkundung. Da Kräfte nicht nur in Biodynamik resultieren, ist Biostatik ebenso in der Biomechanik eingeschlossen. Biomechanik ist nicht mit Determinismus oder newtonscher Mechanik gleichzusetzen. Die Mechanik lebendiger Gewebe schließt newtonsche Mechanik, Quantenmechanik, Thermodynamik, Flüssigkeitsdynamik etc. ein. Für die Identifizierung der Biomechanik mit dem Bewegungsapparat gibt es keine Begründung. Im vaskulären, viszeralen und respiratorischen System drückt sich Mechanik so aus: Elastizität, Stabilität in Form und Position, Druck, intrinsische und räumliche Bewegung, Volumendynamik und Flüssigkeitsbewegung, Rhythmizität. Die Realisierung einer ernstzunehmenden und konsequent wahrgenommenen Biomechanik mündet in eine biomechanische Krankheitszeichenlehre (Semiologie).

1.1 Was behandeln?

Wenn wir nun die inneren Organe unter dem Aspekt ihrer mechanischen Aktivität untersuchen und behandeln wollen, haben wir damit schon eine erste wichtige Weiche gestellt und die Frage, was wir behandeln, elegant und im Vorbeigehen beantwortet. Die Antwort lautet: Wir behandeln Aktivität! Wenn wir es genauer fassen, werden wir sagen, dass wir die Aktivitätszustände eines Organes untersuchen, deuten und behandeln.

Im klinischen Kontext müssen wir dann natürlich genauer werden und uns festlegen, welche Gewebe- und Organzustände behandlungsbedürftig sind und welche wir besser unbehandelt lassen. Dabei werden wir naturgemäß den physiologischen Beschreibungen folgen. Dadurch erweisen sich die Organe zuallererst als rhythmische Wesen. Alle Organe kennen einen aktiven Ruhezustand und einen hyperaktiven Belastungszustand. Der rhythmische Wechsel zwischen Ruhe und Anstrengung ist normal für alle Organe. Erst wenn die Aktivität eines Organes diese rhythmische Änderung nicht mehr regulieren kann, ist es behandlungsbedürftig.

1.2 Wie behandeln?

Haben wir nun geklärt, welches Organ zu behandeln wäre, stellt sich die nächste Frage: Wie kann es behandelt werden? Diese Frage weckt natürlich den Stolz des Handwerkers in uns. Haben wir nicht genau deswegen immer wieder an unseren manuellen Fähigkeiten gefeilt und unser Fingerspitzengefühl raffiniert ausgebildet? Wir sind Spezialisten der verschiedenen Wege, wie mit dem Gewebe umzugehen ist, wie wir in der Behandlung möglichst geschickt, feinfühlig und angepasst an das Gegenüber mit dem Gewebe in Kontakt kommen. Gefragt ist gewiss nicht nur das Geschick des Handwerkers in uns, es braucht auch die Fähigkeit des Therapeuten, diesen Kontakt mit dem Patienten zu gestalten. Wie ein Organ oder ein Mensch zu behandeln ist, erschließt sich nicht nur durch die verfeinerte Motorik des Handwerkers, sondern auch durch die Bereitschaft des Therapeuten, Zugänge zum Gewebe zu suchen. Die Zugangserlaubnis des Gewebes und das Bündnis mit dem Patienten sind essenzielle Bestandteile einer klinisch relevanten Antwort auf die Frage, wie zu behandeln ist. Wir brauchen in der Therapie einen Bündnispartner und können diesen nicht nur in den unbewussten und biologischen Qualitäten des Gewebes finden. Ebenso gefragt ist die bewusste und sprachliche Fähigkeit des Therapeuten und seines Patienten, ein Arbeitsbündnis einzugehen.

1.3 Wann behandeln?

Die Frage nach dem Wann plagt uns sehr; es ist die Frage nach der Chronologie in der Behandlung. Die Beantwortung dieser Frage stellt eine maximale Anforderung an den Therapeuten dar. Den Zeitpunkt einer Behandlung oder Intervention zu bestimmen, fordert unsere Genauigkeit in der Palpation heraus und testet unser klinisches Verständnis vom Heilungsprozess. Fehlt es einem Patienten an Stabilität, sind dynamisierende Techniken zu diesem Zeitpunkt kontraproduktiv oder gar verletzend.

Die biologischen Gesetze der Entwicklung und Gesundung sind die Basis der Chronologie im therapeutischen Prozess. So stellt sich mit der Chronologie auch die Frage, ob Osteopathie eher einem Modell des therapeutischen Prozesses folgt oder auf die Kraft der singulären Intervention im Rahmen der Ereignis-Medizin baut. Die Ereignis-Medizin ist mit dem mehrwissenden Heiler und -könnenden Manipulator verbunden, während es im therapeutischen Prozess um Heilung und Verstehen in der therapeutischen Beziehung geht. Im therapeutischen Bündnis spielt der Therapeut eine Rolle, er ist aber weder Heiler noch Manipulator und die Beantwortung der klinischen Frage nach dem Zeitpunkt der Intervention erfolgt im Prozess der Behandlung selbst. Denn erst in der Reaktionsbereitschaft des Patienten in der Behandlung zeigt sich, ob der Zeitpunkt der therapeutischen Intervention gut gewählt war. Daher gehört es zur hohen Kunst des Therapeuten, im Verlauf des therapeutischen Prozesses aufmerksam die Veränderungen des Gewebes und des Gesamtzustandes seines Patienten wahrzunehmen. Osteopathie beinhaltet intervenierende Techniken, wird hier aber ganz eindeutig als prozesshafte Therapieform und nicht als Ereignis-Medizin konzipiert.

Die Frage, wann zu behandeln ist, fordert auch das klinische Verständnis der manuellen Therapie heraus. Es ist unsere Aufgabe, die Chronologie des Krankheitsprozesses zu erkennen und daraus mögliche Konsequenzen für die schrittweise Gesundung abzuleiten. Die physischen und psychischen Voraussetzungen und Abläufe im Gesundungsprozess richtig einzuschätzen, gehört zu den grundlegenden ethischen Anforderungen an uns Therapeuten. Nur wenn wir unsere Patienten angemessen unterstützen, sie nicht überfordern und in die Krise treiben, können wir dem Nicht-Schaden-Prinzip gerecht werden.

Die biomechanische Krankheitslehre wird uns teilweise helfen, die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt zu klären. Ein Organ, das seine Aktivität verstärkt und übertreibt, ist ein angestrengtes Organ und neigt auch manchmal zur Dysfunktion. Wichtig ist für uns zu erkennen, ob sich das Organ noch im Rahmen seiner Fähigkeiten belastet. Belastet es sich im Rahmen seiner Fähigkeiten, dann ist es gefährdet aber noch nicht krank. Erst, wenn es den Rahmen seiner Möglichkeiten sprengt oder aus dem Rahmen gefallen ist und seine normalen Aufgaben nicht mehr schafft und auf Abwegen unterwegs ist, besteht die Gefahr der Krankheit. Den Unterschied zwischen anstrengender Hyperaktivität und pathologischem Fehlverhalten zu erkennen, ist jene grundsätzliche Fähigkeit, die es ermöglicht, den richtigen Zeitpunkt der Behandlung zu bestimmen.

2. Bezugspunkt der manuellen Medizin: Aktivität der Gewebe

Bevor wir uns in die Tiefen der biomechanischen Diskussion des Organgewebes begeben, wollen wir für einen Moment die Entstehung von funktionellen Kategorien im spielerischen Umgang mit Stoffen und Formen betrachten. Wenn es um Organe geht, haben wir es ja mit zwei Arten von Organen zu tun: jene, die wir als Hohlorgane bezeichnen und jene, die niemals hohl sind, sondern immer mit Blut gefüllt.

Um ein Verständnis der funktionellen Kategorien eines Hohlorgans zu bekommen, kann die Kinderabteilung eines Kaufhauses ein passender Studienort sein. Dort können wir beobachten, wie Kinder mit langen Röhren, die dort zum Spielen ausgelegt sind, umgehen. Daran erkennen wir alle wichtigen Kategorien der Biomechanik eines Hohlorgans. Die Kinder krabbeln in die Röhre und setzen sich außen drauf ohne jemals über die fundamentalen Kategorien von innen und außen nachgedacht zu haben. Dann dehnen sie die Röhre von innen aus, komprimieren sie von außen und etablieren so für uns sichtbar das, was die Biomechanik mit dem schönen Wort der Volumendynamik beschreibt. Sie rollen die Röhre durch den Raum und verformen sie in sich und formulieren dabei die funktionell richtige Unterscheidung zwischen räumlicher Bewegung und elastischer Formveränderung. Innerhalb von Minuten können wir an einem solchen völlig unorganischen Spielgerät die grundlegenden Aspekte der Biomechanik von Hohlorganen beobachten. Die Kinder können sich in den Röhren auch verstecken und Höhlen bilden. Dieses Abenteuer ist leider nicht mit den Aufgaben eines Organtherapeuten vereinbar.

2.1. Was können wir manuell wahrnehmen?

Auf die Frage, was wir wahrnehmen können, haben wir schon einige Antworten formuliert. Wir hatten betont, dass Organe ihren Gesundheits- und Gemütszustand durch ihr Verhalten zum Ausdruck bringen. Das können wir auch ohne Hände wahrnehmen, wenn es zum Beispiel um Atemgeräusche oder die Häufigkeit nächtlicher Gänge zur Toilette geht. Dann haben wir die Frage eingegrenzt auf die mechanischen Qualitäten der Organe, da wir diese mit unseren Händen leicht wahrnehmen können. Die Kinder im Spielbereich des Kaufhauses haben uns geholfen, die ersten und wichtigsten biomechanischen Qualitäten zu bestimmen. Diese biomechanischen Qualitäten sind: Elastizität und Volumen, Druck und Spannung, Schub und Zug, intrinsische und räumliche Bewegung, Form und Position, rhythmische Änderung und Stabilität.

Implizit haben wir eine zweite Bestimmung schon vorweggenommen, da wir von der Aktivität der Organe gesprochen haben. Aktivitätszustände wahrzunehmen und klinisch einzuordnen, wird sich als das zentrale Verbindungsglied zwischen manueller Therapie und der Welt der Physiologie und Pathophysiologie erweisen. Diese Verbindung werden wir immer wieder herstellen, um nicht zu sehr auf die manuelle Arbeit zu fokussieren. Die Rede von den Aktivitätszuständen hält uns nahe an den Wissenschaften und schlägt zugleich eine Brücke zur situationsgebundenen Palpation in der Therapie.

2.2 Ruhe- und Belastungsaktivität

Um im großen Strom des wissenschaftlichen Diskurses zu baden und mitgenommen zu werden, sprechen wir von den Aktivitätszuständen der Gewebe und Organe. Wir folgen der Physiologie bei der grundlegenden Einteilung dieser Zustände. Sie beschreibt jedes Organsystem in einem Wechsel von Ruhe- und Belastungsaktivität. Jedes gesunde Organ – ob Herz, Lunge, Gehirn oder Darm – zeigt seine Kraft in Ruhe und in verschiedenen Belastungssituationen. Belastungen sind normal, sie führen zu einer Hyperaktivität des Organs. Deswegen ist eine auf die Belastung angepasste Hyperaktivität ein Zeichen eines gesunden Gewebes und nicht behandlungsbedürftig.

Je nach Organsystem wird dieser physiologische Wechsel von Ruhe- und Belastungsaktivität unterschiedlich bezeichnet. Bei der Herz- und Lungenaktivität sprechen wir von Ruhe- und Belastungsrhythmen. Das Gehirn weist unterschiedliche elektrische Oszillationen in Ruheaktivität und in Hyperaktivität auf. Der Darm wird immer in den wissenschaftlichen Untersuchungen und in der Diagnostik in zwei Situationen beurteilt: im leeren Zustand mit Ruheaktivität („house keeping“) und in der physiologischen Hyperaktivität ausgelöst durch den stimulierenden Reiz des Essens.

Das osteopathische Verständnis der Gesundheitszustände und des Krankheitsverlaufs ist einen großen Schritt vorangekommen, seit es den biologischen Ausdruck von Organ- und Gewebeaktivität in den Fokus nimmt. In der klinischen Ausdifferenzierung von Aktivitätszuständen werden wir die für die Krankheitsentwicklung grundlegende Chronologie beachten. Der Wechsel von Ruheaktivität und physiologischer Hyperaktivität (Belastung) ist normal und gesund. Das normale und gesunde Pendeln der Aktivität ist dann gestört, wenn sich Hyperaktivität fixiert hat, also nicht mehr regulierbar ist. Dann hat die Aktivität ihren Rhythmus verloren. Ähnliches trifft zu, wenn normale Ruheaktivität nicht mehr gehalten werden kann und es zu einem Verlust der Basisaktivität kommt. Die Physiologie spricht von Hypoaktivität, Erschöpfung oder Insuffizienz. Die grundlegende Einsicht der Physiologie sollten wir immer im Blick behalten: Das normale Leben der Organe spielt sich im rhythmischen Wechsel zwischen Ruhe- und Belastungsaktivität ab. Diese Zustände gilt es in jedem Organ zu differenzieren und als wahrnehmbare Mechanik zu beschreiben.

2.3 Spürbare biomechanische Qualitäten

Wir können also jetzt schon eine erste Bestimmung vornehmen, worum es in der manuellen Behandlung von Organen geht. Organe drücken ihre Aktivität in vielfältiger Weise aus, in der manuellen Therapie beziehen wir uns auf die spürbaren, mechanischen Qualitäten. Diese Qualitäten sind: Elastizität, Volumen/Druck, Spannung, intrinsische und räumliche Bewegung, Form und Position, rhythmische Änderung und Stabilität. Uns interessieren aber nicht diese einzelnen biomechanischen Qualitäten für sich genommen, sondern nur, insoweit Aktivitätszustände eines Organes darin zum Ausdruck kommen. Mit der allgemeinen Physiologie unterscheiden wir den normalen und gesunden Wechsel von Ruhe- und Belastungsaktivität, von nichtregulierbarer und behandlungsbedürftiger Hyper- und Hypoaktivität.

2.4 Aktivität der Gewebe

Wie und mit welcher Kraft gelingt es nun einem Organ, diese mechanischen Qualitäten und Aktivitätszustände herzustellen und zu regulieren? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns mit den verschiedenen Geweben eines Organes befassen. Hier kommen wieder die Unterschiede zwischen den Organen zum Tragen. Diese Unterschiede zu kennen, erleichtert eine klinische Einschätzung sehr. Der Unterschied zwischen Hohlorganen und blutgefüllten Organen ist in der Schleimhaut zu finden.

Die Schleimhaut findet sich nur im Hohlorgan und hat besondere Eigenschaften:

Sie kann schwellen,

sich schnell erneuern,

Stoffe aufnehmen und abgeben und

mit dem lokalen Mikrobiom zusammenarbeiten.

Die Schleimhaut stellt – mechanisch und chemisch gesprochen – das Alleinstellungsmerkmal der Hohlorgane dar. Um also die Frage zu beantworten, wie es zu den mechanischen Aktivitätsqualitäten kommt, müssen wir uns mit den einzelnen Geweben und deren Fähigkeiten befassen. Im Darmrohr gibt es neben der Schleimhaut die verschiedenen Schichten der glatten Muskulatur. Nur mit diesen beiden Gewebsschichten können wir sowohl volumetrische Veränderungen, als auch rhythmische Bewegungs- und Spannungsänderungen erklären.

Wir finden im Darm aber auch verschiedene Bindegewebe, eine enorme Vielzahl an Nervengeflechten und ein ausgedehntes Netz an Gefäßen. In den Blutorganen fällt die Schleimhaut weg und es dominieren Muskeln und Bindegewebe. So gleicht die komplexe Gefäßarchitektur der Leber einem Schwamm und ist nicht mit dem Magen zu verwechseln. Auch die unterschiedlichen Substanzen und Flüssigkeiten, die die Organe von innen füllen und tragen, sind für die biomechanische Betrachtung wichtig. Das Essen im Magen, die Luft in der Lunge, der Urin in der Harnblase oder das Blut im Leberschwamm sind chemisch und mechanisch bedeutsam für den Gesamtausdruck des Organes. Die Interaktion von Inhalt und Wand ist sowohl für Hohlorgane als auch für blutgefüllte Organe das grundlegendste Paradigma der Biomechanik.

Aktivitätszustände der Organe in mechanischen Qualitäten

Wir nehmen Aktivitätszustände der Organe in mechanischen Qualitäten wahr: Damit haben wir die Antwort auf die Frage dieses Kapitels gegeben; die Aktivitätszustände entstehen durch die gemeinsame Aktivität der einzelnen Gewebe. Unser Bezugspunkt in der manuellen Medizin ist die Aktivität des Gewebes. So wird es im Weiteren wichtig sein, sich neben der Ausdifferenzierung der Aktivität die Aktivität der einzelnen Gewebe klarzumachen (siehe Kapitel 6