Der Schlafwagendiener - Suzette Mayr - E-Book

Der Schlafwagendiener E-Book

Suzette Mayr

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Beschreibung

Baxter träumt davon, Zahnarzt zu werden, und spart dafür jeden Dollar Trinkgeld. Bis er sich das Studium leisten kann, muss er auf mehrtägigen Schlafwagentouren stumm lächelnd und nickend alle Aufträge der reichen, weißen, oft skurrilen Fahrgäste ausführen. Er darf weder seinen eigenen Namen verwenden noch sich den kleinsten Fehler erlauben, dort am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie, auf dem Trittschemel beim Schuhepolieren oder beim Kloputzen. Im Jahr 1929 würde er für seine heimliche Hingabe an Männer nicht nur seinen Job verlieren, sondern unweigerlich im Gefängnis landen. Unterdessen bleibt der Zug auf der Fahrt von Montreal nach Vancouver vor einer Schlammlawine stehen. Die Stimmung an Bord wird mit jeder Stunde angespannter. Während des pausenlosen Tag- und Nachtdiensts bekommt der völlig übermüdete Baxter langsam Halluzinationen und hat seine unterdrückten Gefühle immer weniger unter Kontrolle.

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Viele der Passagiere auf der Eisenbahnreise quer durch Kanada haben eine besondere Geschichte, auch der stets freundliche und emsige Page Baxter. In einer starken Bildsprache und einer magnetischen Detailfülle wird die Reise mit dieser hochsympathischen Hauptfigur zu einer rasanten und herzergreifenden Tour d’emotion.

Suzette Mayr

Der Schlafwagendiener

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Verlag Klaus WagenbachBerlin

Für Don Bragg und für Davis

Ich liebte meinen Freund.

Er ging weg von mir.

Mehr gibt es nicht zu sagen.

Das Gedicht endet,

Zart wie es begann –

Ich liebte meinen Freund.

Langston Hughes, 1925

»Poem (For F. S.)«

Als der Zug in einen Bahnhof einfährt

in der Dunkelheit des frühen Abends,

verschwindest du.

Fred Wah, 1985

»Waiting for Saskatchewan«

Schlafwagendiener gesucht für Einsatz im Sommer oder auf Dauer.

Erfahrung nicht notwendig. Mehr Informationen auf schriftliche Anfrage.

Vorher

Toronto–Winnipeg, Mo., 22:45 Uhr (E. T.) bis Mi., 21:15 Uhr (C. T.)

21:45 Uhr. Baxter steht neben seinem Trittschemel und hält Ausschau, reglos, geschmeidig, jederzeit bereit, einen Koffer hochzuhieven, einen Fahrplan zu analysieren, auf den Schaffner zu verweisen, zu nicken, weitere Koffer hochzuhieven oder auch eine Hutschachtel, weitere Fragen zu beantworten, zu nicken und immer wieder zu nicken. Hosenaufschläge schleifen durch den Staub, blanke Stiefelabsätze klackern über den Bahnsteig, ein Kind rennt zum Aussichtswagen, Haarbänder, Manschettenknöpfe, Tickets und Abschiedsbriefe rauschen zu Boden. Hände strecken sich ihm entgegen, halten sich an ihm fest, ziehen ihn an der Jackentasche, fuchteln ihm vor dem Gesicht herum. Eine Woge aus Fahrgästen walzt auf seinen Wagen zu, ein Mahlstrom hektischen Abfahrtstrubels.

R. T. Baxter, Zahnarzt in spe, der einmal Zahnfleisch aufsäbeln und kranke Weisheitszähne ziehen will, steht da, hier, neben seinem Zug, inmitten dieses Wirbelsturms.

Jetzt schon schläfrig.

Ein Fahrgast, der in Baxters Wagen zusteigt, drängelt sich an einer Mutter vorbei, die ihren Knirps am Ellbogen festhält. Der Mann, geformt wie ein Herz, wie eine Mango, verharrt kurz auf dem Trittschemel, ehe er in den Waggon klettert. Mango reckt den gekrümmten Zeigefinger in die Luft und öffnet die trockenen Lippen, aber es entweicht ihnen kein Ton, kein Fragezeichen.

»Sie sind in Abteil C, Sir«, sagt Baxter, obwohl der Schaffner dem Passagier das bereits erklärt hat. Er ist sich nicht sicher, was der Passagier jetzt noch wissen möchte und was der schweigend in die Luft gereckte Zeigefinger zu bedeuten hat. »Willkommen an Bord«, sagt er.

»Mitternacht«, sagt Mango. Er schiebt den Finger in seine Brusttasche, zieht eine Visitenkarte heraus und schnippt Baxter die Karte zu. Die Berufsbezeichnung lautet Optiker. Auf die Rückseite hat der Passagier in winzig kleinen Versalien notiert:

MITTERNACHT. KEINE MINUTE SPÄTER.

Die spitzen Ecken der Karte piksen Baxter in die Fingerspitzen. Um Mitternacht wird er noch beschäftigt sein, Fahrgästen gut zureden, sich in ihre Kojen zu begeben, und über Kissen und Schlafanzüge stolpern. Er hat eine vage Ahnung, was der Mann mit seinen akkuraten Winzbuchstaben sagen will, aber manche Passagiere sind durchtriebene Gesellen, die einem in der einen Sekunde freundlich die Zähne zeigen, um sie in der nächsten arglistig zu fletschen. Er hat keine Zeit, für Mango den Kummerkastenonkel zu spielen, sich seine nächtlichen Bekenntnisse über eine unglückliche Liebesaffäre oder einen lasterhaften Bruder anzuhören, wo er doch Stiefel wichsen und Berichtzettel ausfüllen muss. Um Mitternacht werden noch Passagiere betrunken durch den Wagen torkeln oder nach der Leiter klingeln oder zur Toilette und wieder zurück wanken, ihn mit Fragen belästigen wie Wann fährt der Zug durch Octopus? oder Warum ist der Zug langsamer geworden?, als läge Baxter, sobald er aus ihrem Blickfeld verschwindet, auf dem Dach des Zuges. Vielleicht kann Mango, der Optiker, ihm ja die menschlichen Augen aus den Höhlen schaben und stattdessen Vogelferngläser einsetzen.

Federn schweben vor Baxters Augen. Er blinzelt, putzt sich mit dem Taschentuch die Brille. Keine Federn. Kaum Schlaf letzte Nacht, davor zwei Nächte hintereinander überhaupt kein Schlaf, jetzt zieht in seinen Augäpfeln Nebel auf. Er steckt sich die Karte des Optikers in die Brusttasche.

Baxter füllt die Formulare aus, hievt Kisten hoch und runter und hoch, steigt beim Kontrollieren der Kojen über Kissen und Schlafanzüge, notiert innerlich, wessen Schuhe geputzt werden müssen und wer schon so viel getrunken hat, dass er sich im schnurgeraden engen Korridor garantiert verlaufen wird.

Um 23:59 Uhr drückt Baxter den Perlmuttklingelknopf zu Abteil C. Mango öffnet die Tür mit qualmender Zigarre im Mund, der Rauch und der Geruch aus dem Abteil schlagen Baxter entgegen, die Schultern des betrunkenen Körpers füllen den Türrahmen aus.

»Exakt pünktlich.« Qualm quillt aus Mangos Mund.

Er hält Baxter einen Fünfdollarschein hin, und Baxter greift danach, schwindelig angesichts des ungeheuren Geldbetrags. Aber Mango zieht den Schein mit einem Ruck zurück, zerreißt ihn und hält eine Hälfte Baxter zwinkernd hin. Die Lippen rund um die Zigarre hat er zu einem höhnischen Grinsen verzogen. Die Zeit kommt schlagartig zum Stillstand. Mango ist einer dieser widerlichen Typen, die Baxter als Alibi oder Zeuge für eine noch nicht begangene, aber beabsichtigte Dummheit oder Schandtat brauchen. Baxter faltet den halben Geldschein in der Mitte und steckt sich das verdorbene Ding in die Brusttasche seiner Uniformjacke.

Ihm fällt ein, dass Mangos pompöse protzige Kerne haben.

»Die andere Hälfte gibt’s am Ende der Reise«, raunt Mango ihm zu und klopft ihm auf die Schulter.

Lange Haare wachsen dem Passagier aus den Nasenlöchern, aus den Ohren. Baxter hat Männer wie ihn schon gesehen. Und nicht gesehen. Sein Ausbilder Edwin Drew hat ihm alles gesagt, was man über solche Männer wissen muss. Liebesdiplomaten hat er sie genannt.

»Hier«, sagt Mango, »die hast du vergessen.«

Er schiebt Baxter ein Paar Schuhe hin, die innen feucht sind und übel riechen. Dann macht er die Abteiltür zu, knallt sie ihm gegen die Fußspitze.

Baxter bringt weitere Passagiere in ihren Kojen unter, wischt rund um die Waschbecken die Spritzer weg, holt neue Handtücher. Sein Zwillingsbild zieht in den Spiegeln weißjackige Pirouetten, zeigt seine Schweißtropfen auf der Stirn, sein langes und dünnes Gesicht, die schimmernde Brille. Die zweite Stunde einer fast achtundvierzig Stunden langen Tour, und am liebsten würde er sich jetzt schon zusammenrollen und fortwehen lassen.

Baxter befreit Mangos Schuhsohlen vom Schmutz, schrubbt mit der Bürste über die Vorderkappe, den Absatz, die Seiten, tupft und verteilt Schuhcreme und auf der Kappe Wasser und reibt mit dem Lappen, bis der Schuh glänzt, bis das Leder straff und blank ist. Er fährt, nur ganz kurz, mit den Fingern über die Nähte und Zierlöcher.

Stinkmorchel.

Die Schuhe stellt Baxter in das Schränkchen neben Mangos Abteiltür. Dann setzt er sich wieder auf seinen Hocker und putzt die Schuhe und Stiefel der anderen Passagiere, die Fingernägel schmierig von der Schuhcreme, putzt weiter bis in den schlaftrunkensten Teil der Nacht, in dem er endlich das Putzzeug einpacken und sein eigenes Bett machen kann, weil selbst die pingeligsten Passagiere so tief träumen, dass sie einmal nicht das Bedürfnis haben, nach dem Schlafwagendiener zu klingeln.

Dennoch ruft ihn von Zeit zu Zeit die Klingel, und er muss die Leiter an eine der oberen Kojen anlegen, damit ein Passagier hinabsteigen, sich zum nächtlichen Besuch des Waschraums oder einer anderen Lustbarkeit aufmachen und wie ein trunken schläfriges Eichhörnchen wieder hinaufklettern kann.

Unter dem Schaukeln und Schwanken des Wagens gleitet draußen vor den Zugfenstern die Nacht vorüber. Baxter reibt sich die Augen so fest, dass unter seinen Lidern Polarlichter wabern.

Um 2:00 Uhr zieht er im Raucherabteil neben der Toilette eine hauchdünne Matratze heraus und legt sie auf das Sofa. Er streckt sich darauf aus, sein Kopf sinkt zur Seite, er nickt ein. Seine Finger fassen nach dem Betttuch, um es sich bis zum Hals hochzuziehen, da fällt ihnen auf, dass er das Laken vergessen hat. Und er hat vergessen, den Diener im nächsten Wagen zu bitten, ihn kurz zu vertreten. Er muss wieder aufstehen, er muss Ordnung schaffen. Er sinkt zurück in den Schlaf.

Nach nur zwanzig Minuten weckt ihn das Schrillen der Klingel. Mühsam rappelt er sich auf.

Baxter hält die Leiter fest, damit ein betrunkener Hallodri, der außer Schlafanzug und Regenmantel nichts anhat, in eine der leeren oberen Kojen kraxeln kann. Der Kerl hat es zunächst ohne Leiter probiert und ist dabei auf der unteren Koje herumgetrampelt. Der Mann unten hat dann Baxter herbeigeklingelt und sich wieder weggedreht.

»Danke danke, daaanke schööön«, flüstert der Betrunkene und zieht sich die Decke bis unter die Achseln. »Diener«, zischt er, »Diener! Guck mal. Guck mal, was ich hier habe.«

Mr. Schnapsnase stützt sich auf einen Ellbogen. Raschelnd zieht er eine abgegriffene Postkarte aus der Schlafanzugtasche und schiebt sie Baxter hin. »Hihi«, kichert er.

Baxter betrachtet die Karte im Dämmerlicht.

Zwei Frauen räkeln sich nur mit Strümpfen bekleidet auf einem Kanapee.

»Hab ich aus Frankreich«, sagt Schnapsnase. »Paris.«

Baxter streicht die abgewetzte Schmuddelkarte auf der Bettkante glatt. Schweiß kriecht ihm auf die Stirn und in den Nacken. Die weißen Zähne der einen Lady säumen wie winzige Blütenblätter ihre Lippen.

Er steht auf dem obersten Tritt der Leiter und zermartert sich den Kopf, was er vorgaukeln könnte. Interesse darf er nicht vorgaukeln, nicht mal für das beste Trinkgeld der Welt. Er will nicht gefeuert oder totgeprügelt werden, weil er einer nackten weißen Lady lüsterne Blicke zugeworfen hat, und er will sich auch keine Strafpunkte für ungebührliche Vertraulichkeit mit diesem Passagier einhandeln. Übelkeit kann er auch nicht vorschützen. Nein, das geht alles nicht.

Schnapsnase runzelt die Stirn und schnaubt missbilligend, weil die schäbige Liederlichkeit seiner Karte Baxter weder einen Pfiff noch ein Kichern entlockt; er schnaubt verärgert, weil Baxter überhaupt keine Reaktion zeigt.

Mit zornesrotem Gesicht nimmt Schnapsnase seine Postkarte wieder an sich.

Baxter schaltet auf witzig und charmant. Genau wie Edwin Drew.

»Da haben es die Ehemänner wohl versäumt, den Damen Mäntel zu kaufen«, sagt Baxter.

Schnapsnase stößt ein schniefendes Lachen aus und wirft den Hinterkopf aufs Kissen.

In Baxter bricht sich lautlos ein erschöpftes, schwindeliges Dampflokjohlen Bahn. Der Gedanke an die Lady, die ein Pferdegebiss wie diesen Passagier mit der Postkarte in der eheberingten Hand heiratet, ist einfach nur komisch. Baxter hat keinen Schimmer, wie ein Zahnarzt den Gebissverhau im Mund des Mannes diagnostizieren würde, der möglicherweise einem zu späten Durchbruch der bleibenden Zähne oder einer Anomalie der Wurzeln geschuldet ist.

»Sir«, sagt Baxter, »ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Sir.«

Der Mann kichert kieksend.

Mach hinterher sauber, denkt Baxter.

Er schüttelt sanft am Vorhang der Koje eines Passagiers, der um drei Uhr früh aussteigen muss.

»Morgen«, sagt der Passagier und reibt sich den Schlaf aus den Augen. »Kann man drei Uhr als Morgen bezeichnen?«

Baxters Lippen verweigern die Antwort. Auch sein Kopf ist benebelt.

Der Passagier streckt die Beine aus dem Bett und kugelt auf den Boden, benommen zu der gespenstisch frühen Stunde.

Baxter muss ihn und seinen Koffer nachgerade durch die Tür, auf den Trittschemel und den Bahnsteig hinunter wuchten; dort hält er dezent die Hand auf für Münzen oder eventuell sogar einen Geldschein. Ein Passagier, dem Rolly, der Diener im Wagen hinter ihm, aus dem Zug hilft, lässt versehentlich eine Handvoll Hartgeld auf den Bahnsteig regnen. Auf dem dunklen Bahnsteig jagt Rolly den rollenden Münzen hinterher, sucht kopfschüttelnd mit seinen tellergroßen Händen den Boden ab, bis er alles Silber erwischt hat.

Baxters Passagier drückt ihm fünfundzwanzig Cent in die Hand. Ist in Ordnung. Nichts Besonderes. Nur in Ordnung. Es reicht für eine schicke Zahnbürste, aber nicht, um seine Ersparnisse für das Zahnmedizinstudium aufzustocken.

Er rollt die gebrauchte Bettwäsche in der nun leeren Schlafkoje zusammen. Seine Klingel läutet. Einer Reisenden, die mit dem Finger nach ihm schnippt, bringt er einen Becher Wasser. Eine Minute später holt er den geleerten Becher wieder ab. Er durchquert den Zugvorraum zwischen seinem Wagen und dem nächsten, bleibt stehen, als sich die Tür des nächsten Wagens wie Gummi drei Meter hoch streckt und dann zurückschnellt. Er schließt die Augen zu einem Nickerchen von der Größe eines Mohnsamens und zieht die Tür auf. Rolly wischt gerade mit dem Staubwedel über die Korridorwände. Als Baxter ihm auf die Schulter tippt, lässt Rolly ihn fallen.

»Mannomann!« Rolly bückt sich und verfolgt den wegrollenden Staubwedel, dessen Straußenfedern über den Boden fegen. »Schleich dich nicht so an.«

»Ich muss mich mal ablegen«, sagt Baxter.

»Wollte dich auch schon fragen!«, sagt Rolly, »gleich nach dem Abstauben!«

»Kannst du meinen Wagen übernehmen?«, fragt Baxter.

Ein Güterzug rattert vorbei und kippt seinen Lärm über die beiden aus. Rolly schwenkt mit seinen Riesenhänden den Staubwedel und meckert mit gespitzten und geschürzten Lippen, hinter denen nur die untere Schneidezahnreihe zu sehen ist. Baxter, der ihn nicht hören kann, lächelt zwetschgensüß.

Sie verbinden die Wagenklingeln, sodass Rolly nun auch rennen muss, wenn es bei Baxter läutet.

»Ruhe in Frieden.« Rolly fährt mit seinen Wurstfingern über einen Türsturz und streckt Baxter einen spinnwebbehangenen Finger entgegen.

Auf dem Sofa dreht sich Baxter auf die Seite. Weil die Matratze so schmal ist, stürzt er bei jedem Schlingern des Waggons fast ab. Seine Augen fallen zu.

Ein Passagier knallt die Klotür zu.

Baxters Lider ploppen auf. Er rappelt sich mühsam hoch. Sein Magen grummelt vor Hunger, und so holt er sich ein Sandwich aus der Tasche und wickelt es aus dem Papier. Er döst ein, öffnet wieder die Augen, das Sandwich hängt lose zwischen seinen Fingern. Er knabbert an der Kruste und kann vor lauter Müdigkeit nicht sagen, was für ein Brot er da kaut. Die grauen Fleischstückchen zwischen den Zähnen lösen sich auf der Zunge in geschmackloses Nichts auf. Zunge und Zähne erinnern sich an Tante Arimentas gedünsteten Fisch, frisch aus dem nahen Meer, dazu Maisgrütze, alles dampfend aus dem Topf direkt auf den Teller, ihre schmalen Hüften, wie sie am Herd stand und rührte, die geäderten Hände, die seinen Teller auffüllten, sobald er ihn geleert hatte. Immer wieder. Sie selbst aß nur einmal am Tag, um schlank zu bleiben, sagte sie. »Spart auch ein bisschen Geld«, sagte sie.

Während er und seine Cousins und Cousinen aßen, schmauchte sie ihre Pfeife.

Die Zugpfeife kreischt.

Er beißt schnell noch ein paarmal in das krümelige Sandwich, denn seine Zeit ist rum. 7:00 Uhr. Während draußen die Sonne den Horizont aufschäumt, schlürft er blutwarme Milch aus der Flasche. Er steckt die Flasche ein und trennt die Verlängerungsschnur, die die beiden Wagenklingeln verbindet. Rolly, der gerade einer Freundin einen Brief schreibt, ist so vertieft, dass er ihn nur mit einem kurzen Nicken grüßt. Fahrgäste ruckeln sich aus dem Schlaf, und Baxter schluckt den letzten Bröckel seines Sandwichs hinunter.

8:00 Uhr. Baxter stemmt die Schlafkojen hoch. Er sammelt Apfelgriebsche ein, Brillenetuis, abgelöste Kragen und Haarnadeln. Er wischt Waschbecken und Holzoberflächen ab, von Atem beschlagen, von Händen betatscht. 11:00 Uhr. Er besorgt Taschen, Hutschachteln, Minzbonbons, einen Pfirsich.

Dann der Nachmittag. Er verstaut, er hebt auf, er holt, er erfindet Geschichten. Er sitzt auf einem freien Sessel, sein Oberkörper wiegt sich mit der Bewegung des Zuges, seine Finger tippen auf das Plüschpolster. Er sitzt und sitzt und sitzt, verscheucht den Schlaf, während Passagiere heiße Luft absondern, in ihren Kriminalromanen blättern, durch das Fenster auf Wälder mit Felsen zeigen, auf Gänseblümchen, die in Gräben sprießen, auf mit Jersey-Kühen getupfte Wiesen. Er kann sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein, er könnte seinen Job verlieren, wenn ihm das tagsüber passiert, aber er muss die Augen eine Sekunde zu lang geschlossen haben. Als er den Kopf hebt, wedelt eine Trockenfeige von einem Passagier mit seiner Beaver-Zeitschrift im angrenzenden Kojenabschnitt in Baxters Richtung. Hat er geschnarcht? Ist ihm entgangen, dass eine Reisende eine Sicherheitsnadel brauchte? Mit ausladenden Schritten kehrt er ins Raucherabteil zurück, doch die Pfeile auf dem Klingelbrett stehen alle aufrecht. Er setzt sich ins Raucherabteil und hält sich mit den Daumen die Lider auf. Der dünne Rauchschleier im Raum quillt auf, verklumpt zu Gewitterwolken, aus denen nadelspitze Blitze zucken. Nein, stimmt nicht.

Die Klingel läutet. Abschnitt 4 unten.

»Ich brauche eine Cola«, sagt der Passagier in Abschnitt 4 unten. »Meine Gicht meldet sich, deshalb ist es für mich zu weit.«

»Ja, Sir.«

Baxter zwängt sich Wagen für Wagen durch die Gänge bis zum Speisewagen.

Und zwängt sich wieder zurück.

Abschnitt 4 unten streckt die Hand nach dem Glas aus, ohne ihn anzusehen, taucht die Oberlippe in die Cola und nippt.

Der Passagier im Flanellanzug auf der anderen Seite des Mittelgangs beugt sich zu Baxter hinüber.

»Das sieht gut aus.« Flanell beäugt die Cola. »Hmm. Eine Tasse Tee wäre jetzt genau das Richtige«, sagt er, den Blick durch das Fenster auf einen Sumpf geheftet und auf eine klapprige kleine Brücke, die darin eingebrochen ist.

Der Passagier wünscht Tee?

Flanell dreht Baxter jäh den Kopf zu.

»Eine Tasse Tee wäre jetzt genau das Richtige.« Flanell schnippt mit den Fingern.

Baxter saugt Luft durch die Nasenlöcher ein und stößt sie durch den Mund wieder aus. »Ja, Sir«, sagt er.

Flanell sinkt zurück in das Blumenpolster seines Sessels und faltet die Hände über dem Flanellbauch. Das zwischen den Bäumen hüpfende Licht spiegelt sich in seinem Gesicht, in beiden Insektenaugen der runden funkelnden Brillengläser.

Baxter holt und serviert den Tee, der dichte Dampf schlängelt sich in seine Nase, wohlduftend nach der lauwarmen halben Flasche Milch am Morgen. Er zerrt einen Koffer hervor, damit ein Fahrgast ein Buch herausnehmen kann, hechtet hinter dem bunten Gummiball eines Kindes her, der im Vorraum verschwindet, zerknüllt ein Taschentuch, das jemand verloren hat. Weil ein Passagier mit schicker Uhr am Handgelenk es so will, erzählt er eine spontan erfundene Geschichte über einen Bergsteiger, der in den Rocky Mountains kopfüber in eine Gletscherspalte stürzte, eingekeilt wurde und unter sich einen im Eis eingefrorenen Mann mit Flügeln sah.

Unterdessen gleitet der Zug über die glitzernden Schienen zwischen Pakesley, Westree, Gogoma und Agate, Bäume und Felsen, flaches Land und noch mehr Felsen, uralte Geschichten.

Selbst wenn Baxter steht, ist er in Bewegung. Er flackert überall und nirgends, ein Lidschlag in einem zitternden Zugfenster.

Den abscheulichen Mann, der ihn zusammenstaucht, weil er ihm Kaffee in den Schoß gegossen habe, obwohl der Mann, blutunterlaufene Augen und Mundgeruch, Tasse samt Untertasse klappernd in den zittrigen Händen, den Kaffee selbst verschüttet hat, den würde Baxter am liebsten aus dem Zug schleudern. Ihm einen Faustschlag direkt auf die Nase verpassen. Die oberen und unteren Zähne des fluchenden, Spucke speienden Passagiers stoßen abnormal aufeinander, ein Überbiss, urteilt Baxter, also eine Zahnfehlstellung, dazu eine Zahnlücke hinten, vielleicht der erste Molar. Baxter kann es beim Gezeter des Mannes nicht genau sehen. Angegriffener Zahnschmelz bei einem Amerikaner, der gestern Abend im Speisewagen zu viele Canadian Club Whiskeys getrunken hat und generell zu viel Tabak kaut, der Zug stampft und schnauft missbilligend, während der Mann aufspringt und wegen seiner wackligen Beine und der unablässigen Bewegung des Wagens sofort wieder in den Sessel sinkt. Wenn er seine Schnauze nur lang genug auflassen würde, könnte Baxter mit dem Finger abtasten, ob es sich wirklich um eine Abtragung oder Abnutzung durch Reibung der oberen und unteren Zähne handelt. Das Blut weicht aus dem Gesicht des Mannes, und mitten in einem Kraftausdruck klappen seine Lippen zu. Baxter hilft ihm zur Toilette, die beiden quetschen sich durch den Gang wie die Zahnpasta in der Tube, und dann muss er auch noch die erbrochene Schweinerei aufwischen, weil der Depp überallhin gespien hat, nur nicht ins Klosett. Baxter würgt. Schluckt es runter.

Er entschuldigt sich für den verschütteten Kaffee. Er will vermeiden, dass ihn, wenn er in Winnipeg aus dem Zug steigt, eine böse Überraschung erwartet, dass man ihn nach oben beordert und ihm Strafpunkte aufbrummt, und außerdem hängt das Damoklesschwert aller Schlafwagendiener über ihm: entlassen zu werden wegen einer Lappalie, die er verbrochen hat oder auch nicht, weil zum Beispiel seine Entschuldigung bei einem Passagier, der seinen Kaffee verkleckert hat, nicht unterwürfig genug ausgefallen ist. James, der junge Bursche, mit dem er mal zwei Tage auf Tour war, hatte achtundfünfzig Strafpunkte und erfuhr nach seiner Rückkehr in Montreal, dass er die Höchstmarke von sechzig gerissen hatte; Gott sei mit dir, teilte ihm die Eisenbahngesellschaft mit. Man verzichte auf James’ Service, wie es in den Dienstvorschriften so schön heißt.

Die Strafpunkte und die Kündigung bekam James, weil er sich auf den gepolsterten Arm eines Sessels gestellt hatte, um das obere Bett zu machen. Entlassen wurde er schließlich, weil er sich nicht entschuldigt hatte, nachdem ein Passagier ihn mit George angesprochen und James ihn korrigiert hatte; dass der Passagier ihn George nannte, war für James der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er hieß nicht George, er hieß James Alfred Marshall Clutterbuck, vielen Dank, Sir!

Der Zug stampft und rattert auf Longlac zu. Die Sonne schleicht sich davon, die Nacht bricht herein. Der Zug hält kreischend in Longlac. Fährt wieder los. Baxter rollt schmutzige Bettwäsche zusammen, verteilt mehr Kissen.

0:45 Uhr, Mango aus Abteil C torkelt betrunken durch den Wagen, knallt gegen die Wände, die ihn auffangen. Seine Füße wackeln, und er kippt nach vorne.

Baxter springt auf und packt Mango am Ellbogen.

»SCHSCH … « Mango tätschelt ihm die Hand. »Ich weiß nicht, wohin.«

»Ich helfe Ihnen in Ihr Abteil«, flüstert Baxter.

»Jaaa«, sagt Mango, »das wäre sehr aufmerksam von dir.«

Er stolpert.

»Ja, das wäre famos.«

Er tastet sich mit den Händen an der Wand, dem Geländer, der Holzverkleidung entlang. Seine Finger hinterlassen Schweißspuren auf den Leisten.

»Da wären wir«, vermeldet Baxter.

»Danke«, sagt Mango und tätschelt ihm die Brust. »Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Er streckt die Hand aus, und sein anzügliches Grinsen entblößt eine dicke Zahnsteinkruste auf dem Gebiss sowie geschwollene Röte an der Innenseite von Oberlippe und Wange: Der Mann leidet wahrscheinlich aufgrund übermäßigen Zigarrenkonsums an akuter Stomatitis. Faszinierend. Baxter zeigt keine Regung und erst recht keinen Ekel vor Mangos Berührung, als er dessen heiße Knubbelhand schüttelt.

Mango reißt ihn an sich, pappt seinen Mund auf Baxters Mund und verpasst ihm einen zahnsteinverkrusteten Stomatitis-Kuss.

Baxter stößt Mango von sich und schiebt ihn in sein luxuriöses Plüschabteil. Wischt sich den Mund mit der Rückseite seiner Hand ab.

»Hoppla!«, sagt Mango, der in seine Koje stürzt. »Yearning … just for yooooou«, singt er und öffnet die Arme.

Baxters Brust ist zum Bersten gespannt, als Mango die andere Hälfte des zerrissenen Fünfdollarscheins herauszieht, die Zungenspitze, ein rosa Wurm, eingeklemmt zwischen oberen und unteren Schneidezähnen.

Baxter schließt die Tür.

Aus dem Abteil ist erst ein Rumpeln zu hören, dann ein dumpfer Schlag.

Baxter wischt die Rückseite seiner zitternden Hand am Oberschenkel ab. Will sich mit seinem Taschentuch noch einmal den Mund abwischen, aber es ist der Putzlappen, den er schnell wieder in die Hosentasche steckt. Der Geschmack von teuren Spirituosen, Staub und Spinnweben spukt auf seinen Lippen herum. Die halbe Fünfdollarnote gärt tief in seiner Jackentasche, in die er sie gesteckt hat, die andere Hälfte befindet sich hinter dieser Tür. Baxter wird Mango dem Schaffner melden. Ja, genau!

Fünf Dollar würden für mindestens zwei Wochen Zimmermiete reichen. Fünf Dollar wären ein lokomotivgroßer Beitrag für das Zahnmedizinstudium.

Mango wird Baxter melden, wegen irgendeines frei erfundenen Vergehens; Baxter wird seinen Job verlieren und den Rest seines Lebens an Straßenecken Schuhe putzen und hingeworfenen Centmünzen und funkelnden Knöpfen hinterherkriechen.

Er stolpert zum Vorraum und kauert sich in eine Ecke. Mit den Handtellern reibt er sich über die Stirn, hin und her, hin und her, die Stirn ist feucht, dann feuchter.

Er reißt den Staublappen aus der Hosentasche, schlägt die Tür zum Gang auf und beginnt, die Messingleisten zu polieren, sie zu wienern, bis sie vor Schmerz schimmern.

Rolly bittet ihn, seinen Wagen zu übernehmen.

Schuhe und Stiefel, Baxter muss Schuhe und schwarze Stiefel einsammeln und putzen. So eine miese Tour. Noch zwanzig Stunden. Zwei Wagen.

Er sitzt auf dem Hocker neben seiner Klingel. Die Augen sind so trocken wie Rosinen. Stundenlang, Stunden über Stunden.

Rolly löst ihn ab, nach seinem viel zu kurzen Schlaf inbrünstig gähnend.

Baxter legt sich auf das Sofa im Raucherabteil. Die Klotür klappt auf und zu, jedes Mal schreckt das Geräusch seinen Körper aus dem Schlaf.

Mango soll um 7:15 Uhr in Fort William aussteigen, Frühstück um 6:00 Uhr. Um 5:45 Uhr drückt Baxter die Klingel zu Abteil C. Er klopft.

Nichts.

Er klopft.

Baxter schiebt sich auf seinen Hocker.

Die Klingel von Abteil C läutet.

Als er die Tür zum Abteil öffnet, liegt Mango zerbröselt in seiner Koje. Sein Kopf ist in einen Pulli gewickelt, nur die Nase schaut heraus.

»Was … sa«, krächzt er.

Bei geschlossenem Rouleau drückt Baxter ihm einen Becher Wasser in die verkaterten Hände, zwischen zwei Fingern klemmt eine aufgeplatzte Zigarre. Auf Mangos Augenlidern liegt ein Spinnennetz aus Schlafsand, in den Mundwinkeln hängen Schlieren getrockneter Spucke.

»Bitte schön«, sagt Baxter. »Sir.«

»Mein … Kopf …«, murmelt Mango.

Der Zug walzt um 7:14 Uhr in Fort William ein, Passagiere springen, wanken und watscheln die Trittstufen hinunter auf den Schemel. Baxter hält die Hand auf. Dezent. Sein Handteller ist gewölbt wie eine flache Löffelschale, damit keine Münze wegrollt. Er lächelt breit, aber nicht zu breit. Es soll nicht nach einem Grinsen aussehen.

Manche Passagiere geben ihm ihr Trinkgeld mit großem Gewese, manche, als wären Münzen und Banknoten Schmuggelware. In Baxters Hosentasche klimpern die Ein- und Fünfcentstücke.

Jetzt steigt Mango die Stufen hinunter, das Gesicht fahl, die verkaterten Augen rot geädert und zu Schlitzen verengt. An der obersten Stufe wankt er, als würde er gleich hinunterpurzeln, in Schuhen, die dank Baxters Schutzputzkunst glänzen.

Yearning just for yoooooou.

Mango stolpert die Trittstufen hinunter.

»Man sieht sich, Boy«, sagt er, ohne einen Cent Trinkgeld zu geben.

Baxter nickt und zieht die Mundwinkel nach oben, roboterfroh, für den Fall, dass ihn ein Späher beobachtet. Vielleicht war Mango ja ein Späher!

Der Zug lässt Fort William und Mango, den doppelzüngigen Optiker, hinter sich. Rast durch Upsala, Wabigoon, Cloverleaf. Rollt um 21:15 Uhr im Bahnhof von Winnipeg ein, und Baxter stellt seinen Trittschemel auf. Er wischt sichtbare und unsichtbare Krümchen Asche, Ruß und Staub von den Schultern der aussteigenden Fahrgäste, er klopft ihnen die Hüte ab, er hält ihnen den Arm hin, wenn sie schwanken. Er spricht einen Passagier mit Nachnamen an, den er auf seinem Koffer erspäht hat, um ihm zu schmeicheln und das Gefühl zu geben, er sei wichtiger als der König von Siam. Er hält die Hand auf. Dezent. Wie Edwin Drew es ihm beigebracht hat.

Trinkgeld: insgesamt 6,47 Dollar von Toronto bis Winnipeg. Nicht so schlecht. Und Mangos bescheuerte halbe Banknote.

In der Zentrale erfährt er, dass er fünf Strafpunkte kassiert hat.

Fünf!

»Aber warum?«, fragt er.

Er setzt die Schultertasche und das Schuhputzzeug auf dem Holzboden ab, bügelt sich das Gesicht glatt und wartet auf die Lügengeschichte, die sich Mango ausgedacht hat.

»Kaffeefleck auf deinem Hemd.«

Am liebsten würde Baxter fluchen, brüllen, den Bahnhof mit Feuerlichtblitzen in Schutt und Asche legen.

»Aber ein Passagier hat den Kaffee auf mich gekippt«, sagt er.

»Das kannst du deiner Großmutter erzählen.«

Fünfzig Strafpunkte hat Baxter nun angesammelt. Mango erwähnt der Vorsteher mit keinem Wort.

Baxter sollte wohl dankbar sein, dass er den Job noch hat, aber am liebsten würde er sich hinhocken und losheulen.

In einer Pension am Bahnhof fällt er in einen unruhigen Halbschlaf. Nicht, dass er schlafen könnte, wenn er in einem richtigenBett liegt. Am Morgen erwirbt er für fünfzehn Cent eine neue Zahnbürste, um sich aufzuheitern. Er schiebt sich die Bürste in den Mund und kaut auf den Borsten herum.

Dann bleibt ihm nichts anderes übrig, als in einem leeren Wagen nach Osten zurückzufahren – diese Strecke haben nicht genügend Passagiere gebucht. Trotzdem sitzt er da in seinem Frack, dumm und starr, nur für den Fall. Trinkgeld: insgesamt 0 Dollar, 0 Cent. Er dreht und wendet die stechende Unzufriedenheit in seinem Innern. Fünfzig Strafpunkte. Noch zehn, dann ist Schluss. Vor dem Fenster rasen Eisenbahndepots vorbei, Backsteinhäuser, Unkraut, Müll, klapprige Schuppen. Baxter döst ein, schreckt aber vom eigenen Schnarchen wieder hoch. Aus der Schultertasche holt er eine Ausgabe des Magazins Weird Tales, das er auf der vorletzten Tour gefunden hat. Er verschlingt die Horrorgeschichten: eine über einen mordenden Roboter. Eine über eine Qualle, die einen Professor verdaut.

Baxter tut so, als schlängelte sich der Zug über die Oberfläche des Planeten Mars.

Er versucht zu dösen, vielleicht sogar zu schlafen, aber die fünf neuen Strafpunkte rütteln ihn immer wieder wach. Als er die Zeitschrift bis auf die letzte Seite ausgeschlachtet hat, fischt er ein Buch aus seiner Tasche. Der Skarabäus vom Jupiter. Oh, das ist erste Sahne!

In Toronto steigt er, nach seinen eigenen Plänen, in einen Zug nach Montreal um.

Er bummelt den lieben langen Tag über das Gelände der McGill University. Sein Ziel: die zahnmedizinische Fakultät. Im September 1931 geht es los. Er spart seit acht Jahren, und in nochmal zwei, also 1931, wird er, wenn er so weitermacht, 1 068 Dollar zusammen haben, das reicht für vier Jahre an der zahnmedizinischen Fakultät. Jetzt hat er 967 Dollar, fehlen noch 101 Dollar. Im Sommer kann er als Schlafwagendiener Geld verdienen für Kost und Logis. Wie er die Instrumente bezahlt, wird sich zeigen, und wenn er aufs Essen verzichten muss. Irgendwie wird er sie schon auftreiben. Vor acht Jahren fand er im Zug ein Lehrbuch für Zahnmedizin, das jemand hatte liegenlassen: Praxis der Zahnmedizin: Ein praxisorientiertes Kompendium für die operative und prothetische Zahnheilkunde ausschließlich der Kieferorthopädie. Er begann, es zu lesen, und schon im ersten Kapitel über den Durchbruch der Milchzähne war er Feuer und Flamme.

Um 19:00 Uhr stellt er Tasche und Schuhputzzeug in einem dienerfreundlichen Gästehaus beim Bahnhof Windsor in Montreal ab. Um 20:00 Uhr legt er den Kopf aufs Kissen in der Hoffnung, dass der Schlaf ihn einholt.

Nach zwei Stunden wacht er auf, wälzt sich vom Bauch auf den Rücken auf die Seite. Wirft sich wieder auf den Bauch, ihm graut vor der Sonne, die auf ihren unvermeidlichen Aufgang sinnt. Er gleitet gerade in einen Traum über einen Käfer ab, der in einem Eintopf herumpaddelt, da stößt die Zimmerwirtin, fehlender Prämolar unten rechts, einen Schrei aus, weil sie einen heißen Topf mit Kartoffeln hat fallen lassen, und ihr Mann, Schlafwagendiener im Ruhestand, abgebrochener Caninus, ruft: »Alle Mann aufstehen! Raus aus den Federn!«

Baxter könnte zweiundfünfzig Stunden am Stück schlafen, mindestens. Er ist neunundzwanzig Jahre alt, aber seine Knochen und Gelenke klappern, als steuerte er auf seinen hundertneunundachtzigsten Geburtstag zu.

Am Morgen meldet er sich im Depot zum Dienst. Vielleicht bekommt er eine Tour, oder er wartet den ganzen Tag vergeblich. Gähnend stolpert er über Eisenbahnschwellen, auf denen Zugwaggons und Lokomotiven rangieren, keuchen, scheppern, vor und zurück. Baxter ist Springer, er hat die Aufgabe, herumzustehen und die Touren zu übernehmen, die man ihm aufträgt. Die Frau eines Schlafwagendieners, das Haar unter einen Schleifenhut gestopft, eilt ins Büro: Ihr Mann hat eine Lungenentzündung und kann heute Abend die Fahrt Montreal  –Vancouver nicht antreten. Da sagt Baxter, als hätte er die Wahl, natürlich zu, obwohl die Fahrt drei Tage und vier Nächte dauert. Und ob er für die Rückfahrt eine Tour bekommt, ist nicht sicher. Aber er braucht Geld, wenn er alles über Bissanomalien und impaktierte Weisheitszähne lernen will. Er wird nur wenig schlafen oder besser gesagt dösen, egal, wie schwer ihm die Lider werden. Er ist ein schläfriger Schlafwagendiener. Haha. Wie schick!

Er muss noch warten, bis er in seinen Wagen einsteigen kann. In der Zwischenzeit geht er im Untergeschoss eines Hotels beim Bahnhof auf die Toilette. Ein Weißer stellt sich neben ihm vor ein Pissoir, unter den Hemdsärmeln zeichnen sich kräftige Arme ab.