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Die Grundthese des Buches ist, dass die meisten unserer Ortsnamen in Wirklichkeit aus der keltischen Sprache kommen. Es gelang denn auch, zahlreiche Namen auf ihre keltischen Bestandteile zurückzuführen und ihre wahre Bedeutung zu entschlüsseln. Im Lexikon finden sich beispielhaft Hunderte Deutungen von Ortsnamen vorwiegend aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Dazu kommen Orte aus Europa und sogar von andern Kontinenten. Die vollkommen neuen Deutungen ermöglichen einen einzigartigen Blick in die Welt und auf die Werte unserer Vorfahren. Besonders spannend: Die über zweihundertfünfzig erstmals hier dargestellten urkeltischen Wörter ermöglichen dem Leser, selbst Ortsnamen zu deuten. Mithilfe dieser urkeltischen Worte werden zwei alte Inschriften neu übersetzt. Die Folgen der Entdeckungen in diesem Buch für die Kenntnis der Kelten und deren Sprachen sowie für die germanischen und indogermanischen Sprachen sind kaum abzuschätzen. Beispielsweise legt die Einfachheit der urkeltischen Worte nahe, dass sie zur indogermanischen Ursprache gehören.
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Seitenzahl: 370
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Gewidmet meiner Mutter, meinem Gotti
und meinen Kindern Zora, Lajla, Moira, Naïma.
Was sind Kelten?
1.1 Kelten aus der Sicht der alten Griechen
1.2 Die Römer nannten sie Gallier
1.3 Die Hallstatt- und Latène-Kelten
1.4 Die Sprache: Kelte ist, wer keltisch spricht
1.5 Die Geschichte der Kelten im Überblick
1.6 Irland und Schottland
Die keltische Sprache
2.1 Die keltische Sprachgruppe und ihre Entstehung
2.2 Die vielen keltischen Sprachen
2.3 Der Spezialfall: Wales und die Bretagne
2.4 Die keltische Sprache unter römischer Besatzung
2.5 Die keltische Sprache nach der römischen Besatzung
2.6 Glücksfall I: die „altirische“ Überlieferung
2.7 Glücksfall II: die echt irische Überlieferung
2.8 Der Sonderfall: die romanischen Sprachinseln
Keltische Ortsnamen: eine Einführung
3.1 Gibt es keltische Ortsnamen?
3.2 Namenskontinuität und Siedlungskontinuität
3.3 Ursprungssprache: Jeder Name kommt aus einer Sprache
3.4 Fokuserweiterung: Wo gibt es keltische Namen?
3.5 Wo die bisherige Deutung irrte
3.6 Der Charakter der keltischen Namen
3.7 Kurze Geschichte der keltischen Ortsnamen
3.8 Von der Ursprungssprache in die neue Sprache
Die Deutung keltischer Ortsnamen
4.1 Das grundsätzliche Vorgehen
4.2 Die Überlieferung analysieren
4.3 Den keltischen Kern bestimmen
4.4 Veränderung der Aussprache
4.5 Die Analyse: Aus welchen urkeltischen Worten ist ein Name zusammengesetzt
4.6 Die Übersetzung des gesamten Namens
4.7 Typische Muster keltischer Namen und die Besiedlungsstruktur
4.8 Stimmt die Deutung aus der keltischen Wurzel?
Die Sprache der Bestandteile von Ortsnamen bestimmen
5.1 Keltische und deutsche Worte in Ortsnamen
5.2 Einige Beispiele urkeltisch-deutscher Wortverwandtschaften
5.3 Keltische Kurzworte und Suffixe
5.4 Keltische Wörter und keltische Namen
5.5 Exkurs: Urkeltisch und Protoindogermanisch
Die Bedeutung der urkeltischen Worte erschliessen
6.1 Vergleich mit den vorhandenen Wörterbüchern
6.2 Der Durchbruch gelingt
6.3 Die Übersetzung der urkeltischen Worte
6.4 Besonderheiten des Altgälischen
Keltische Inschriften neu übersetzt
7.1 Alteuropäische Schriften
7.2 Die lepontische Inschrift von der Mur d’Hannibal
7.3 Übersetzung einer Münzinschrift
7.4 Ein interessanter Kurztext: Das Zinktäfelchen von Bern
Urkeltisch als Urahne der germanischen Sprachen?
8.1 Germanische These
Ortsnamenelemente und Ortsnamendeutung
9.1 Übersichtslisten
9.1.1 Ortsnamenelemente
9.1.2 Ortsnamenelemente nach Bedeutung
9.2 Ortsnamenelemente
9.3 Ortsnamen mit Deutung
Kontinente
Landesnamen
Völker, Stämme
Ortsnamen nach Ländern
Literaturverzeichnis
Abbildung 1: Inschrift von Ramha (www.ramha.ch/?page_id=396)
Abbildung 2: Eine keltische Münze mit Inschrift (Nash Briggs, 2011 S. 84)
Tabelle 1: Die frühen Überlieferungen der Ortschaft THAYNGEN
Tabelle 2: Vokalgruppen für die Bestimmung des keltischen Grundvokals
Tabelle 3: Urkeltische Konsonanten
Tabelle 4: Vermutete Bedeutung der urkeltischen Konsonanten
Tabelle 5: Lepontische Schriftzeichen (www.omniglot.com/writing/lepontic.htm)
Tabelle 6: Inschrift des Zinktäfelchens von Bern
Tabelle 7: Die [ei]r-Worte im Deutschen
Meine Reise zu den Ortsnamen begann im Jahre 2013 auf dem Mont Beuvray in Frankreich. Im dortigen „Museum der keltischen Zivilisation“ wird nebst vielem anderen die Geschichte der Helvetier erzählt, welche mit Frauen und Kindern und Tieren vor zweitausend Jahren aus der heutigen Schweiz geflüchtet waren. Bei ihrer Flucht kamen sie nur bis Bibracte, heute Beuvray genannt, wo es zur Schlacht mit den Römern unter Cäsar kam. Ich hatte schon immer ein Interesse für Sprache und Namen, so habe ich im Museum auf dem Berg das Buch von Xavier Delamarre „Noms de lieux celtiques de l‘Europe ancienne“ erstanden, in dem er die keltischen Ortsnamen Europas analysiert. Dabei fiel mir auf, dass er eine unglaubliche Menge an keltischen Namen auflistet, die sich im heutigen Frankreich befinden, während er nur vergleichsweise wenig Namen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich aufführt. Dies schien mir seltsam zu sein, schliesslich liegen ja die Epochen-Namensgeber der vorrömischen keltischen Geschichte, Hallstatt und La Tène, im heutigen Österreich und der Schweiz. Gibt es im deutschsprachigen Gebiet tatsächlich viel weniger keltische Ortsnamen als im heutigen Frankreich? Mit dieser Frage begann mein Weg zu den Wurzeln unserer Ortsnamen. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass daraus diese unglaubliche Reise von den Wurzeln der Ortsnamen bis zu den Anfängen unserer Sprache und Kultur werden würde.
Winterthur, im Februar 2021
Daniel Paris
In diesem Buch werden zahlreiche Ortsnamen neu gedeutet, indem sie auf ihre keltischen Wurzeln zurückgeführt werden. Bevor man nämlich hier deutsch gesprochen hat, sprach man keltisch, genauer gesagt gallisch, während der Besatzung durch die Römer (ca. 1. bis 4. Jahrhundert n. Chr.) kam noch Latein dazu.
Schritt für Schritt wurde eine Methodik entwickelt, die es erlaubt, jeden Namen auf keltische Ursprungswörter hin zu untersuchen. Diese keltischen Wörter konnten überraschenderweise durch den rein klangorientierten Vergleich1 mit altirischen Wortlisten erstmals übersetzt werden2. Damit konnte bestätigt werden, dass sehr viele Ortsnamen im deutschen Sprachraum in Wirklichkeit einen keltischen Ursprung haben, aber es zeigte sich auch, dass sehr viele weitere Namen im gesamten Eurasischen und im Mittelmeerraum einen gleichartigen Aufbau haben und im Kern offenbar keltisch sind.
Die in den Ortsnamen gefundenen – urkeltisch genannten3 – Worte erweisen sich als ausserordentlich interessant, es sind ganz kurze und einfache Worte, welche baukastenartig erweitert wurden. Dieses Phänomen wird hier erstmals beschrieben, aus ihm folgt unter anderem, dass das Urkeltische eine „Ursprache“ gewesen sein muss, das heisst eine Sprache, die nicht von einer anderen Sprache abstammt.
1 Der Vergleich muss sich am Klang orientieren, da einerseits die überlieferten Ortsnamen in der Schreibweise an die späteren Sprachen angepasst wurden, anderseits entwickelte sich im Altirischen eine spezifische Schreibtradition.
2 Das Altirische ist zwar erst viel später (ab 700 n. Chr.) umfassend dokumentiert, aber es zeigte sich, dass die altirischen Wörter den gallischen resp. urkeltischen Wörtern noch recht nahestehen.
3 Urkeltisch wurden sie genannt, weil sie in allen keltischen Ortsnamen gefunden wurden, man könnte auch von Gemeinkeltisch (Common Celtic) sprechen.
Das Thema dieses Buches sind die keltischen Ortsnamen. Mit Keltisch ist die Sprache gemeint, aus der diese Ortsnamen in Wirklichkeit stammen. Diese Sprache gehörte ursprünglich zu dem Volk – besser gesagt: zu den Völkern – der Kelten. Der Begriff „Kelten“ kommt aus der Antike, in der er aus griechischer und römischer Sicht Völker bezeichnete, die ursprünglich ausserhalb ihres Einflussbereichs lebten. Später haben aber dann die Römer Land und Leute vieler keltischer Stämme erobert und dem Römischen Reich einverleibt. Aus heutiger Sicht würden wir wohl von den Kelten als indigene Völker mit einer hochentwickelten Kultur sprechen. Trotz Unterschieden und Rivalitäten zwischen den Stämmen gibt es doch auch wesentliche Gemeinsamkeiten – so etwa die Verarbeitung von Eisen zu Werkzeugen, aber auch zu gefährlichen Waffen.
In der griechischen Klassik taucht der Name der KELTOI (Kelten) erstmals bei Hecataeus von Miletus um 517 v. Chr. auf, welcher damit Volksstämme um Marseille herum bezeichnet. In den meisten griechischen Quellen aber werden Volksstämme im Gebiet des Oberlaufs der Donau als Kelten bezeichnet. Man könnte dies das Keltengebiet nach „klassisch griechischer Auffassung“ nennen. Der Oberlauf der Donau liegt im heutigen Süddeutschland und Österreich. Mit den KELTOI waren die dort lebenden Stämme mit ihrer besonderen Kultur und Sprache gemeint. Auch wenn der Name die Bezeichnung der Griechen für diese Völker war, dürfte der Name auf der keltischen Selbstbezeichnung GAL basieren. GAL kann leicht zu GEL werden, welches dann wiederum in griechischen Ohren zu „Kel“ wurde, an welches sie die Endung „toi“ hängten.
Die Römer wiederum nannten diese Stämme die GALLI, wobei sie sich bewusst waren, dass dieser Begriff mit dem griechischen KELTOI übereinstimmte – die Provinz LUGDUNUM im heutigen Frankreich beispielsweise wurde früher auch GALLIA CELTICA genannt. Die Gallier waren die Bewohner der Provinzen im heutigen Frankreich, in Belgien, der Schweiz und in Süddeutschland. Ihre Sprache wird Gallisch genannt, das damit zur wichtigsten festlandkeltischen Sprache wurde. Wichtig ist die Feststellung, dass die Kelten aus römischer Sicht in einem wesentlich grösseren Gebiet lebten als dem früheren „Griechischen“: Es erstreckte sich vom Oberlauf der Donau aus weit nach Süden und im Westen bis an den Atlantik. Aber auch in weiteren von den Römern besetzten Gebieten wurden keltische Sprachen gesprochen, Lepontisch in Norditalien, Keltiberisch auf der Iberischen Halbinsel, Norisch in der Provinz Noricum im heutigen Österreich und Brittonisch in England. Dazu kamen Gebiete wie Irland und Schottland, die von den Römern nicht besetzt wurden, in denen man aber bekanntermassen ebenso keltisch sprach.
Im 19. Jahrhundert wurden im Gebiet des österreichischen Städtchens Hallstatt spektakuläre Funde gemacht, welche aus der Bronzezeit und frühen Eisenzeit stammten. Der Ort wurde zur Namensgeberin für die Hallstatt-Kultur und es wurde festgelegt, dass die erste wirklich keltische Kultur Hallstatt C und D sei, die von 800 oder 750 bis 450 v. Chr. existiert habe. Das Gebiet dieser Hallstatt-Kultur sei nicht nur in Hallstatt, sondern entsprechend der griechischen Gebietsauffassung der KELTOI dem ganzen Oberlauf der Donau entlang gelegen. Wenn behauptet wird, es sei auch das erste Gebiet, in dem keltisch gesprochen wurde, dann ist dies ganz sicher falsch, wie im nächsten Kapitel gezeigt wird.
Später wurden bei La Tène im Gebiet der heutigen Schweiz zahlreiche keltische Artefakte gefunden. In der Folge wurde die zweite Phase der eisenzeitlichen keltischen Kultur, welche von ca. 450 v. Chr. bis zur Zeitenwende bestand, Latène benannt. Das Gebiet der Latène-Kultur wurde als wesentlich grösser definiert als dasjenige der Hallstatt-Kelten, es umfasse nämlich in etwa das von den Römern als gallisch angesehene Gebiet, plus die britischen Inseln, Teile Iberiens und gegen Osten auch das Karpatenbecken. Der enorme Grössenunterschied zwischen dem Hallstatt- und dem Latène-Gebiet wurde damit erklärt, dass sich die Hallstatt-Kultur ausgebreitet habe, bis sie das Gebiet der Latène-Kultur umfasst habe. Aus der Sicht der Ortsnamenforschungen in diesem Buch kann aber keine Eisenzeit-Wanderung bestätigt werden, da die Ortsnamen im Hallstatt und Latène-Gebiet von der gleichen Art sind. Es dürfte sich beim Grössenunterschied Hallstatt– Latène nicht um eine reale kulturelle Ausbreitung oder gar physische Wanderung, sondern eher um eine unterschiedliche Gebietsfestlegung handeln.
Hingegen zeigen neue genetische Forschungen, dass es schon in der Bronzezeit, also vor Hallstatt und Latène, zu einer massiven Einwanderung von Nomaden aus dem riesigen sibirischen Steppengebiet kam. Diese Einwanderung wurde sowohl in Grossbritannien (Patterson, 2022) wie auch auf der iberische Halbinsel (Olalde, 2019) nachgewiesen4. Haben diese Nomaden die keltische Sprache nach Westeuropa gebracht? Denkbar ist es, beweisbar wird es wohl kaum je sein.
Im frühen 18. Jahrhundert wurden die keltischen Sprachen der Gegenwart mit den Kelten der Antike in Zusammenhang gebracht. Diese Erkenntnis wird zu Recht als einer der grossen Durchbrüche in der Keltenforschung angesehen. Dank der vielen erhaltenen keltischen Texte konnte die keltische Sprachfamilie genau erforscht werden. Die Sprache wiederum ist quasi das Fundament einer Kultur – so wundert es nicht, dass H. Birkhahn ausgesprochen hat, was so herrlich plausibel klingt: Kelte ist, wer keltisch spricht (Birkhan, 2009).
Das Problem ist nur: Wir wissen nicht, wer alles früher keltisch gesprochen hat und wo diese Leute gelebt haben. Eine Sprache hinterlässt schliesslich nur dann Spuren, wenn sie aufgeschrieben wird und wenn sich diese Aufzeichnungen auch erhalten haben. Besonders wichtig ist die Frage, ob auch in weiteren römischen Provinzen keltisch gesprochen wurde. Insbesondere im Balkan ist das Illyrische und Pannonische bekannt, die möglicherweise keltische Sprachen waren, die aber mit den spärlichen Inschriftenfunden nicht genauer bestimmt werden können. Schlussendlich stellt sich dieselbe Frage bei den meisten römischen Provinzen nördlich der Alpen. Das in der Provinz Raetia gesprochene Rätisch soll eine etruskische Sprache sein – der Glaube entstand vielleicht aufgrund der Inschriften in lepontischen Buchstaben, die den etruskischen sehr ähnlich sind.
Die Geschichte der Kelten kann in drei Teile gegliedert werden: In die Prähistorie vor der Zeitenwende, in die römische Besatzungszeit (etwa 0 bis 400 AD) sowie in die nachrömische Zeit. In prähistorischer Zeit lebten die verschiedenen keltischen Stämme und Sippen frei, allerdings gab es zahlreiche Konflikte zwischen den Stämmen sowie Kriegszüge von mehreren vereinten Stämmen. Nebst der komplexen Produktion und Verarbeitung von Eisen gab es den Abbau von Salz, bekannt sind die Salzbergwerke in Hallstatt. Das Salz wurde weithin gehandelt, ebenso Olivenöl, Wein, Bernstein.
Nachdem um 387 v. Chr. ein keltisches Heer unter dem Anführer Brennus Rom erobert hatte, wurde das römische Heer reorganisiert und professionalisiert. Spätestens im ersten Jahrhundert vor Christus kehrte sich das Blatt und grosse Teile des bisher keltischen Gebiets wurden nach und nach durch die Römer besetzt. Diese Besetzung weiter Teile Europas durch das Imperium Romanum dauerte über 400 Jahre an. Die eigenständige keltische Kultur war in den eroberten Gebieten zwar beendet, aber Gebräuche, Geschichten und Sprache blieben weitgehend erhalten, da naturgemäss in dem riesigen Gebiet des Imperium Romanum nur wenige „echte“ lateinischsprachige Römer lebten. Nur langsam breitete sich der Gebrauch der lateinischen Sprache von den römischen kulturellen Zentren wie Rom und Marseille nach Norden und Westen aus. Die römische Besatzung des Keltengebiets brachte weitere grosse Veränderungen, riesige bisher bewaldete Gebiete wurden gerodet und es gab ein starkes Bevölkerungswachstum. In den gerodeten Gebieten entstanden Höfe und viele Siedlungen, zahlreiche keltische Siedlungsnamen stammen aus der Zeit der römischen Besatzung.
Der Süden der britischen Inseln, namentlich das heutige England und Wales, wurde von den Römern um 43 n. Chr. besetzt. Weil sie die ansässigen Kelten brutal unterdrückten, hat Königin Boudicca mit ihrem Volk, den Icenern, im Jahre 60/61 einen Aufstand gegen die Besatzungsmacht organisiert, der vorerst erfolgreich war. Den Icenern schlossen sich weitere keltische Stämme an, sie eroberten London, die schon damals grösste Siedlung Britanniens. London wurde von den aufständischen Landbewohnern angezündet und dem Erdboden gleichgemacht.
Bald darauf gelang es den Römern aber, die Aufständischen zu besiegen, die Verluste waren enorm: Die Römer haben die ganze aufständische Armee, deren Frauen und Kinder und sogar die Tiere ausgelöscht. Tacitus schreibt in seinen Annalen (Tacitus S. 14.37) zwar nur von 80.000 Toten, aber wie viele bei weiteren Rebellionen oder durch Selbstmord umkamen, ist unbekannt. War es eine Folge dieses Aufstands, dass den Römern die Lust am Erobern verging? Sie haben jedenfalls Schottland und Irland nie zu besetzen versucht, und genau das wurde zum Glücksfall für die keltische Kultur.
Die lateinische Schrift der Römer war, anders als die einheimische Ogham– Schrift, dazu geeignet, ganze Bücher zu schreiben. Insbesondere in Irland entstanden im frühen Mittelalter einzigartige Zeugnisse altkeltischer Kultur in dieser lateinischen Schrift. Dies, obwohl in dieser Zeit Normannen und Wikinger die britischen Inseln terrorisierten und zum Teil eroberten. Viele keltische Ortsnamen wurden dabei übrigens der Sprache dieser Eroberer angepasst, sodass heute die Deutung der Namen auf den britischen Inseln zu den schwierigsten Aufgaben überhaupt gehört.
Es scheint, dass der Bevölkerungsverlust nach der Niederschlagung des Boudicca–Aufstands so enorm war, dass er während der fast vierhundertjährigen römischen Besatzung nicht ausgeglichen wurde. Dies könnte eine Erklärung für die massive Einwanderung von germanischen Völkern nach Abzug der Römer sein. Jüten, Angeln und Sachsen wanderten in grosser Zahl in England ein. Die germanischen Völker verdrängten die keltische Kultur in England – nicht aber in Wales. Unter den Einwanderern entstand die englische Sprache, die zu einer der am weitesten verbreiteten Sprache der Welt wurde.
4 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Wilkin et al. (2021)
Die keltischen Sprachen gehören zu den indogermanischen Sprachen und damit zu der meistgesprochenen und grössten Sprachfamilie der Welt. Es ist aber wichtig zu sehen, dass sie innerhalb dieser Familie eine ganz besondere Stellung innehaben, da nur bei den keltischen Sprachen die Sätze nach der VSO(Verb-Subjekt-Objekt)-Satzordnung aufgebaut sind. Alle anderen indogermanischen Sprachen sind nach dem SVO-Satzschema gebaut. VSO bedeutet, dass der Satz mit dem Verb beginnt, also „gehe – ich – nach Hause“ statt „ich – gehe – nach Hause“. Allein dieser Umstand kann schon als Hinweis auf den besonders urtümlichen Charakter der keltischen Sprachen angesehen werden. Die ältesten als keltisch erkannten Inschriften wurden im Alphabet von Lugano in lepontischer Sprache geschrieben, sie stammen aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. aus den Südalpen5.
Aber Sprachen entstanden natürlich schon, bevor sie erstmals niedergeschrieben wurden, auch das Keltische entstand sicher längst vor dem 6. Jahrhundert v. Chr. Das Alter einer Sprache zu bestimmen, ist im Grunde unmöglich, da eine Sprache als gesprochene Sprache entsteht und solange immateriell ist, bis sie niedergeschrieben wird. In einem Standardwerk über die Kelten (Chadwick, et al., 1970) wird gesagt, die erste keltische Sprache, das Protokeltische, sei in der spätbronzezeitlichen Urnenfelderkultur Mitteleuropas, um etwa 1200 v. Chr. entstanden, da vernünftigerweise angenommen wurde, das Keltische sei nicht erst mit dem Beginn der Hallstatt-Zeit um 800 v. Chr. sozusagen aus dem Nichts hervorgegangen.
Anfang des 21. Jahrhunderts wurde mittels eines ganz neuen Ansatzes versucht, das Alter der keltischen Sprache zu bestimmen, und zwar mithilfe von Computermodellen. Ob das valable Ergebnisse liefert, ist allerdings diskutabel. Gray und Atkinson (Gray, et al., 2003) kamen aufgrund ihrer Berechnungen zu einer Entstehungszeit um 4100 v. Chr., während Forster (Forster, et al., 2003) ein Datum von 3200 v. Chr. ±1500 Jahre für die Ankunft der Kelten in Grossbritannien vorschlägt. Für beide ist die keltische Sprache also jedenfalls älter als bisher angenommen wurde.
In der Antike gab es noch zahlreiche keltische Sprachen, die später ausgestorben sind. Von vielen wissen wir nur wenig, da nur einzelne Inschriften bekannt sind. Relativ viele Inschriften sind vom Keltiberischen erhalten, welches in Gebieten der Iberischen Halbinsel gesprochen wurde, ebenso vom Lepontischen aus Norditalien und Gallischen vom westlichen Europa. Eher sagenhaft sind das Illyrische, Vaskonische und andere Kelt-Sprachen, dazu kommen Sprachen, bei denen nicht einmal sicher ist, ob sie überhaupt keltisch sind, wie das Tartessische, welches in etwa im Gebiet des heutigen Portugals gesprochen wurde.
Die Ähnlichkeit der keltischen Ortsnamen in ganz Europa, wie sie in diesem Buch dargestellt wird, deutet allerdings darauf hin, dass in der Antike zumindest ein einheitliches keltisches Basisvokabular existiert hat. Nur einige wenige keltische Sprachen haben bis in die Neuzeit überlebt, zum einen das irische und schottische Gälisch, das sogenannte Q-Keltisch, sowie Bretonisch und Walisisch, welche auch als P-Keltisch bezeichnet werden. Heute werden diese Sprachen nur noch von wenigen Muttersprachlern tagtäglich gesprochen, aber noch im 19. Jahrhundert waren sie in ihren angestammten Gebieten Standardsprache. Bis heute hat sich die walisische Sprache am besten gehalten, sie ist im Grunde die letzte, welche noch von einer grösseren Zahl Menschen gesprochen wird.
Erstaunlicherweise blieb die keltische Sprache in Wales erhalten, das in Wales gesprochene Kymrische ist mit der Sprache der Bretonen nahe verwandt. Nach allgemeiner Auffassung sind die Bretonen ausgewanderte Waliser, diese Auswanderung habe, so die These, im 5. bis 7. Jahrhundert stattgefunden. Es sei erlaubt, hinter diese Theorie ein Fragezeichen zu setzen, schon wegen der grossen Zahl an Einwanderern, die dafür nötig gewesen wären, um die neue Sprache in der ganzen Bretagne zu verbreiten. Nach einer derart massiven Auswanderung aus Wales wäre dasselbe zudem nur noch dünn besiedelt gewesen, und es wäre innert kürzester Zeit ebenso germanisiert worden wie das restliche England. Aber genau das Gegenteil war der Fall: Wales blieb eine Bastion der keltischen Sprache in Britannien, und zwar bis auf den heutigen Tag.
Die übliche These besagt, dass sich das Walisische aus einer britischen keltischen Sprache, dem Brittonischen („common brittonic“), entwickelt habe. Es wurden einige wenige Inschriften aus der Zeit der römischen Besatzung gefunden, die aber eher frühgälisch oder urkeltisch wirken, nebst den Inschriften gibt es relativ viele Namen von Einheimischen, die im CPNRB (Russell, et al.) gesammelt wurden. Auffällig ist dabei, dass typisch walisische Wörter wie BRENIN (König) in diesen Texten nie auftauchen, der König wird RI oder RIG genannt, welches Wort sowohl im Walisischen wie auch im Gälischen vorhanden ist6.
Es scheint daher möglich, dass die walisische Sprache von aussen eingewandert ist, wobei sich die Einwanderer sowohl in Wales wie auch der Bretagne mit den dort ansässigen Kelten vermischten. Doch wer waren die Einwanderer? Waren es Keltiberer, welche vor den Vandalen, Alanen und Sueben aus dem heutigen Spanien flüchteten, oder waren es die Überlebenden von Seefahrernationen, die an beiden Orten gleichzeitig Zuflucht genommen haben? Um dies zu erforschen, müsste das spezifisch bretonisch-walisische Vokabular mit den möglichen Ursprungssprachen verglichen werden.
Nach der Unterwerfung der freien keltischen Völker durch die Römer begann der langsame Niedergang der keltischen Kultur und Sprache. Die Römer bemühten sich, ihre Kultur in den besetzten Gebieten zu verbreiten, ohne allerdings die alte Kultur und Sprache zu verbieten. Von den kulturellen Zentren, wie Rom und Marseille, hat sich die lateinische Sprache nach Norden ausgebreitet, primär als Handels- und Verkehrssprache. Zudem war es die Sprache der Bildung, die sich vor allem in der Oberschicht verbreitete. Die keltische Sprache zog sich umgekehrt von Süden nach Norden zurück, bis zur romanisch-germanischen Sprachgrenze, die seit der Antike in etwa den Rhein entlang verläuft.
Im Volk entwickelte sich aus der Verkehrssprache Latein das Vulgärlateinische, aus dem mit der Zeit die romanischen Sprachen entstanden. Die erste Frage ist, ob während der römischen Besatzung noch keltisch gesprochen wurde. Hier sind manche Wissenschaftler bisher schon sehr salopp davon ausgegangen, dass kaum nach der Eroberung durch die Römer kein Mensch mehr keltisch gesprochen habe, womit zum einen die Intensität der römischen Besatzung völlig überschätzt wurde, zum andern auch die Geschwindigkeit, mit der eine Sprache verschwindet7. Heute hat sich allerdings die Auffassung durchgesetzt, dass das Gallische bis etwa ins 6. Jahrhundert überlebt hat.
Nur wenn ganze Völker ausgerottet werden, stirbt logischerweise gleichzeitig auch deren Sprache, wie dies bei manchen indigenen Völkern Nordamerikas der Fall war. Die Römer aber haben die Ureinwohner nur dann umgebracht, wenn sie sich nicht unterwerfen wollten, die allermeisten wurden selbstverständlich am Leben gelassen, was hätten sie auch mit leeren Landstrichen anfangen sollen? In der Zeit vor der industriellen Revolution waren alle Tätigkeiten extrem arbeitsintensiv, dies galt für die Landwirtschaft wie auch für den Bergbau und das Handwerk. Die „eroberten“ Bewohner und deren Kinder und die nachfolgenden Generationen haben ganz selbstverständlich keltisch gesprochen, es haben sich davon einfach wenig schriftliche Zeugnisse erhalten.
Im Laufe der Forschungen zu diesem Buch wurde eine grosse Anzahl keltischer Ortsnamen gefunden, wobei insbesondere in der Schweiz8 sogar noch zahlreiche keltische Flurnamen erhalten sind, darunter Namen von kleinen und winzigen Gebieten, ja sogar einzelnen Bauernhöfen oder Strassen. Da diese Flurnamen unmöglich aus römischer oder gar vorrömischer Zeit stammen können, stellte sich die Frage, wie lange die Bewohner der von Rom eroberten Gebiete noch gallisch und andere einheimische keltische Sprachen gesprochen haben, da nur eine keltische Bevölkerung keltische Namen vergibt.
Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs wurden die keltischen Sprachen durch romanische und germanische Sprachen ersetzt, aber der genauere Verlauf ist schwer zu rekonstruieren. Dazu muss auch die Geschwindigkeit der romanischen Sprachbildung berücksichtigt werden – wir dürfen nicht vergessen, dass das Altfranzösische zum Beispiel erst um 750 herum überhaupt entstanden ist, davor wurden Varietäten des Vulgärlateins gesprochen. Wie diese Transition von Vulgärlatein als Verkehrssprache (ähnlich heute dem Englischen) zur Sprache der Bevölkerungsmehrheit im Detail ablief, ist schwer festzustellen.
Grund dafür ist die magere Quellenlage, in der Nachantike gab es nur noch ganz wenig Leute, die lesen und schreiben konnten. Aus der Zeit zwischen 400 und 700 n. Chr. sind deshalb nur wenige Dokumente überliefert, danach wurden es im Gefolge von neuen Klostergründungen schnell mehr. Aber in den Klöstern durfte nur in den drei „heiligen Sprachen“, nämlich in Latein, Griechisch und Hebräisch geschrieben werden. Alle lebendigen Sprachen hingegen galten im frühen Mittelalter als nicht schriftfähig, sie wurden als Vernakulärsprachen bezeichnet. Es ist daher fast ein Wunder, dass sich in einigen wenigen lateinischen Folianten einzelne Randbemerkungen der Kopisten in der Volkssprache erhalten haben, die sogenannten Glossen. Erst im Hochmittelalter tauchen eigentliche Texte in den Vernakulärsprachen wie dem Deutschen auf.
Die Gretchenfrage ist nun aber, ob nach der römischen Besatzung zumindest in einigen Gebieten noch keltisch gesprochen wurde oder nicht. Wie erwähnt ist die allgemeine Auffassung heute, dass das Gallische noch bis ins 6. Jahrhundert überlebt hat, obwohl einige Forscher wie Alderik H. Blom (2009) schon dies eher kritisch sehen. Dem sei hier die These zum langen Überleben der gallischen Sprache entgegengesetzt: Insbesondere entlang des Rheins und in den Alpengebieten hat sich das Keltische noch bis zum Ende 6. Jahrhunderts weitgehend gehalten. Erst in den drei Jahrhunderten von 700 bis 1000 wurde das Keltische von den Folgesprachen verdrängt, nach der Jahrtausendwende hat es sich wohl nur noch in einzelnen Gruppen und Familien erhalten. Dazu sei nur kurz die Aussage von Ekkehard IV. von St. Gallen erwähnt, der in einer Geschichte aus dem 10. Jahrhundert von einem Mann des Volkes sagt, er sei „contractum de gallum genere“, das heisst, der gallischen Gruppe oder Art zugehörig9 (Ekkehard IV Kap. 88).
Es ist naheliegend, dass sich die keltische Volkssprache in unzugänglichen Bergtälern sowie in Sondergruppen wie den Fahrenden am längsten erhalten hat. Eine wichtige Eigenbezeichnung der Keltischsprecher war UAL (WAL), wobei UEL und UIL in etwa gleichbedeutend sind. Daraus entstand das deutsche Wort „welsch“, welches zuerst die Keltische und später einfach eine unverständliche oder fremde Sprache bezeichnete. Im Englischen wird mit „welsh“ noch heute die walisische Sprache bezeichnet. Aus dem Wort UAL/VAL/WAL entstanden zahlreiche Ortsnamen, von VALS über das WALLIS bis zu WALES.
Die römischen und nachrömischen gallisch-lateinischen Kulturen werden als gallo-romanisch bezeichnet, wobei dieser Begriff sich nur auf die Kultur beziehen kann. Eine gallo-romanische Sprache hingegen gab es niemals, keltisch und lateinisch wurden immer nebeneinander gesprochen. Im Gegensatz zu kulturellen Mustern vermischen sich Sprachen nicht so einfach! Sprachen verhalten sich bildlich gesprochen wie Öl und Wasser, das heisst sie vermischen sich nicht zu etwas Neuem, sondern es gibt eine wechselseitige Beeinflussung.
Es ist ein Glücksfall der Keltenforschung, dass sich eine genügende Menge an altirischen Texten erhalten haben, um die Sprache genau bestimmen zu können. Die Erforschung des Altirischen stellt eine der ganz grossen Errungenschaften der Sprachwissenschaft dar. Die Koryphäen zu Beginn dieser Forschung kommen übrigens mehrheitlich aus dem deutschen Sprachraum: Ernst Windisch, Kuno Meyer und der Basler Rudolf Thurneysen, dessen „Handbuch des Altirischen“ von 1909 ein noch heute viel beachtetes Standardwerk ist.
Nach heutigem Sprachgebrauch haben diese Forscher allerdings mehrheitlich mittelirische Texte analysiert, dies ist eine wichtige Unterscheidung. Es gibt nämlich nur ganz wenige altirische Texte, die aus Irland selber stammen, ganz im Gegensatz zu den mittelirischen Niederschriften. Die allermeisten „altirischen“ Texte kommen nämlich aus den Klöstern auf dem Kontinent, hauptsächlich aus Nordfrankreich, Norditalien, Süddeutschland, der Schweiz und dem heutigen Österreich. Die Texte entstanden zwischen dem 8. und dem 10. Jahrhundert genau in dem Gebiet, in dem nach der Römerzeit noch keltisch gesprochen wurde.
Aber wie ist es möglich, dass sich solche „altirischen“ Texte erhalten haben, obwohl in den Klöstern absolut nur lateinisch geschrieben werden durfte? Die Antwort ist, dass die ermüdeten Mönche manchmal etwas in ihrer eigenen Sprache zwischen die lateinischen Zeilen schrieben, meist nur Wörter oder kurze Sätzchen, sogenannte Glossen. Diese Mönche kamen aus dem weiten Umland und viele von ihnen sprachen damals noch die keltische Muttersprache. Doch wie hat man im Latein des Frühmittelalters die Leute bezeichnet, die noch keltisch gesprochen haben? Sie wurden, unabhängig von ihrer Herkunft, als Hiberni, Scoti und Galli, das heisst als „Iren“, Schotten und Gallier bezeichnet, der Name Celti wurde hingegen kaum mehr gebraucht. Das Wort Hiberni kommt von „hiberno“, welches im klassischen Latein Winterlager bedeutet, später „Winter-Schlaf“ (frz. hiberner), offenbar metaphorisch10 für die Leute gebraucht, die immer noch keltisch sprachen.
Die meisten „Hiberni“ waren aber in Gegensatz zu dem, was die heutige Wissenschaft denkt, gar keine echten Iren. Somit muss die ganze sogenannt iroschottische Missionsgeschichte Westeuropas neu überdacht werden, deren erster Vertreter Columban von Luxeuil war, der zusammen mit dem heiligen Gallus mit mehr oder weniger Erfolg auch in der Schweiz missioniert hat. Die meisten dieser Missionare waren keine Iren aus Irland, sondern sie waren „Hiberni“, Sprecher der keltischen Sprache. Auch der heilige Gallus wird von der bisherigen Wissenschaft als „Ire“ bezeichnet, als Auswanderer aus Irland. Recht witzig, weil man sich ja wohl fragen müsste, warum er denn ausgerechnet „Gallus“ genannt wurde. Zwar wurden Iren zum Beispiel auch SCOTI (Schotten) genannt, von SCOT (Blüte, fig. die Besten) abgeleitet – andere Personennamen wären also durchaus möglich gewesen, aber „Gallus“ (Gallier) würde man einen echten Iren ganz sicher nicht nennen!
Unter den Missionaren Mitteleuropas des 6. und 7. Jahrhunderts wie unter den Klostermönchen der folgenden Jahrhunderte mag es einzelne SCOTI (Iren und Schotten im eigentlichen Sinne) gegeben haben, aber die Mehrzahl waren ganz einfach Leute, die noch gallisch gesprochen haben. Nebst Hibernia waren die Namen für das echte Irland im klassischen Latein: Juverna, Juvernia, Ouvernia, Ibernia, Ierna, Vernia, Iouernia und Ivernia, sie alle wurden in Zusammenhang mit den „irischen Mönchen“ nie gebraucht. Doch kommen wir zurück zu den „altirischen“ Glossen, die in Wirklichkeit wohl von einheimischen Mönchen in ihrer gallischen Sprache geschrieben wurden. Damit wären es in Wirklichkeit spätgallische Glossen, womit sich die Frage stellt, warum sie der Sprache der Iren, also dem Alt- respektive Mittelgälischen derart ähnlich sind?
Dazu lassen sich vorläufig nur Thesen bilden, so könnte das Gallische der nachrömischen Zeit sich ebenso weiterentwickelt haben wie die lateinisch-vulgärlateinisch-romanischen Sprachen auf der einen Seite, und die germanischaltsächsisch-althochdeutsche Entwicklungslinie auf der anderen Seite.
Die ältesten irischen Texte sind im Ogham-Alphabet geschrieben, einer sehr urtümlich wirkenden Schrift, deren Buchstaben aus einer Horizontallinie mit davon abgehenden 1 bis 5 Querlinien bestehen. Die meisten der alten Ogham-Texte bestehen leider nur aus wenigen Worten. Sie stammen aus dem 4. bis 8. Jahrhundert und wurden in Steinstelen gemeisselt, deren Sprache wird als primitives Irisch bezeichnet. Obwohl die späten Ogham-Texte somit fast gleichzeitig mit den kontinentaleuropäischen „altirischen“ Glossen entstanden sind, stehen sie interessanterweise sprachlich dem Urkeltischen noch sehr nahe, wesentlich näher jedenfalls als dem Altirischen.
Diese Steinstelen finden sich hauptsächlich in Irland, aber auch auf dem britischen Festland, also in England. Seltsamerweise sind diese zum Teil in genau demselben primitiven Irisch beschrieben wie diejenigen in Irland. Statt dass die Wissenschaft nun daraus geschlossen hätte, dass man im nachrömischen England ausserhalb Wales dasselbe Gälisch wie in Irland gesprochen hat, behauptet man ganz einfach, die Stelen stammten von ausgewanderten Iren.
Das älteste Buch aus Irland selber, das „Buch von Armagh“, soll aus dem Frühmittelalter stammen, namentlich soll es von einem Scribe namens Ferdomnach um 800 herum geschrieben worden sein, obwohl der Beweis dafür fehlt, die entsprechende Stelle im Manuskript ist nämlich leider verschwunden. „Zufällig“ enthält genau dieses Buch auch die Erzählung vom Leben des heiligen Patrick, dem Nationalheiligen von Irland, dadurch ergibt sich ein gewisses Interesse daran, das Buch als besonders alt erscheinen zu lassen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es nur sehr wenige altirische Texte aus Irland selbst gibt, und selbst bei diesen wenigen ist die Datierung oder die Herkunft unsicher. Die ersten Quellen, die mit Sicherheit irisch sind, stammen aus dem Hochmittelalter und sind in mittelirischer Sprache verfasst. Da die Forschung bisher felsenfest davon überzeugt ist, dass die in den Klöstern entstandenen Glossen „altirisch“ sind, werden im massgebenden Wörterbuch der irischen Sprache, dem „Dictionary oft the Irish Language“, Worte aus den altirischen Glossen mit denjenigen aus den mittelirischen Texten zusammengemischt.
Die im Hochmittelalter und danach in Irland entstandenen Bücher aber sind wahre Monumente europäischer Kultur, welche der Allgemeinheit viel zu wenig bekannt sind. Dass sie geschrieben und erhalten geblieben sind, ist wiederum ein grosser Glücksfall für die Erforschung der irischen Sprache! Leider kennen nur wenige Leute die irischen Triaden, die Annalen, die die Geschichte von der Weltentstehung bis ins Mittelalter erzählen, oder die Geschichten vom mutigen Cú Chulainn aus dem „Táin bó Cúailnge“.
Eine Besonderheit stellt die rätoromanisch-friaulische Sprache dar, die sich zumindest im schweizerischen Alpengebiet bis heute halten konnte. Bei dieser ist davon auszugehen, dass die Bewohner bis um oder nach der ersten Jahrtausendwende noch keltisch gesprochen haben, danach wurde das Keltische noch nicht einmal durch die umgebenden Sprachen wie Deutsch und Italienisch ersetzt, sondern es entwickelte sich aus der vulgärlateinischen Verkehrssprache eine eigene Sprache. Eine ähnliche Situation gab es früher auch im Balkan mit den balkanromanischen Sprachen, so war das Dalmatische eine eigene romanische Sprache, deren letzter Sprecher 1898 auf der Insel Krk verstarb.
Daneben sei die moselromanische Sprachinsel erwähnt, eine romanische Sprachinsel im Rhein-Moselgebiet um Trier, die seit der römischen Besetzung bis ins hohe Mittelalter bestanden haben soll. Grabinschriften aus nachrömischer Zeit wurden dort in Vulgärlatein geschrieben, was auf eine sprachliche Entwicklung der Verkehrssprache schliessen lässt, allerdings hat sich im Moselromanischen Gebiet wohl keine eigene romanische Sprache entwickelt. Manche Wissenschaftler haben in den offensichtlich nicht-deutschen Ortsnamen wie LONGUICH romanische Wurzeln gesucht11. Der Name ist aber eindeutig keltisch, auffällig ist allerdings, dass keinerlei Anpassung an eine neue Sprache erkennbar ist, er ist sozusagen im Originalzustand erhalten. Dazu finden sich in diesem Gebiet Kleingewässer und kleinräumige Fluren, die keltische Namen tragen, beides weist tatsächlich auf einen sehr langen Gebrauch des Keltischen hin.
5 Die Datierung ins 6. Jahrhundert v. Chr. ergibt sich allerdings aus den heute angenommenen prähistorischen Sprachgegebenheiten, meines Wissens gibt es bisher wenig absolute Datierungen der Inschriften resp. der Inschriftenträger.
6 Es müsste erst einmal vertieft untersucht werden, ob spezifisch walisische Wortformen oder Worte in den Inschriften und Namen wirklich fehlen.
7 Vgl. z.B. (Weisgerber, 1931 S. 176): „soviel ist sicher, dass bis zum Ausgang des Altertums die keltische Sprache überall auf dem Festland (…) ausgestorben war.“
8 Inwieweit dies noch in anderen Gebieten der Fall ist, müsste noch untersucht werden.
9 Der Mann wurde im Kloster gebadet, aber das Badewasser war zu heiss, weshalb er „cald est, cald est“ rief, was Lateinisch sein sollte. Dass er im Kloster nicht keltisch sprechen durfte, war ihm natürlich bekannt. Aber selbst dieses „Latein“ wurde vom deutschen Knecht als „es ist kalt“ verstanden, weshalb er das Badewasser noch mehr aufheizte und den armen Einheimischen fast verbrühte!
10 Vermutlich mit abwertendem Beiklang.
11 Vgl. Wikipedia.de/longuich: „der sich von einer Gründung … namens Longus Vicus (langes Dorf, langes Viertel) ableitet“. In Wirklichkeit kommt der Name von kelt. LONG (Boot) und UICH von UIG (Bucht, Ecke, Schlaufe).
Ausgangspunkt für dieses Buch waren die Ortsnamen und deren Erforschung. Aus welcher Sprache stammen sie? Stimmt die These, dass sie aus dem Keltischen stammen? Wenn ja, was ist ihre Bedeutung? Das sind die Fragen und Thesen, aus denen heraus dieses Buch entstanden ist. Und die Beantwortung der einen Fragen führte wieder zu anderen, die auch beantwortet werden mussten. Zu guter Letzt konnten zahlreiche neue Erkenntnisse zu Ortsnamen, zu den keltischen Sprachen im Besonderen und zu den indogermanischen Sprachen im Allgemeinen gewonnen werden.
Jeder Ortsname kommt aus einer Sprache, und zwar aus einer Sprache, welche in dem Gebiet, in dem der Ort liegt, auch gesprochen wurde. In den Ländern, in denen heute mehrheitlich deutsch gesprochen wird, wurden früher ältere Sprachformen des Deutschen, namentlich germanisch, althochdeutsch, altsächsisch und andere mehr gesprochen. In einzelnen Gebieten dieser Länder wurden und werden auch slawische und romanische Sprachen gesprochen, was bedeutet, dass auch sie als Ursprungssprachen von Ortsnamen infrage kommen können.
Aber obwohl germanische, slawische und romanische Sprachen sehr gut erforscht und bekannt sind, können manche Ortsnamen aus diesen Sprachen allein nicht erklärt werden. Die Forschung hat deshalb Behauptungen in die Welt gesetzt, die wissenschaftlich niemals nachweisbar sind – beispielsweise wurde häufig behauptet, die undeutbaren Ortsnamen kämen von einem alten Personennamen, nämlich dem Namen des Anführers, der den Ort „gegründet“ habe. Auf diese „patronymische Theorie“ kommen wir später noch zu sprechen (im Kap. 3.5).
Der südliche Teil des deutschen Sprachraums war bekanntermassen früher von gallisch sprechenden Kelten bewohnt, trotzdem versuchte man nur selten, Ortsnamen auf eine gallisch-keltische Herkunft zurückzuführen, was sicher auch damit zusammenhing, dass über die gallische Sprache nur sehr wenig bekannt war.
Es muss in aller Klarheit gesagt werden: In den heute deutschsprachigen Gebieten sind nur wenige Sprachen bekannt, die vor dem Deutschen gesprochen wurden, und das ist die gallische Sprache und das Lateinische, in den Alpen kommen allenfalls noch das Rätische und das Norische und andere kaum bekannte Sprachen dazu. Da sich aber die alpinen Namen genauso aus dem Urkeltischen erklären lassen wie alle anderen, ist mit einiger Sicherheit davon auszugehen, dass das Rätische sowie die anderen erwähnten Sprachen ebenfalls keltische Sprachen waren.
Lateinische Ortsnamen hingegen kommen nur äusserst selten vor. Die romanischen Sprachen haben sich aus dem Lateinischen erst gegen Ende des ersten Jahrtausends entwickelt, als die grossen Orte längst benannt waren. Die slawischen Sprachen sind ebenfalls vergleichsweise spät entstanden, ganz abgesehen davon, dass sie nur an den Rändern der heutigen deutschsprachigen Länder vorkommen. Eine slawische Herkunft kommt demnach nur bei jungen Ortsnamen und in heute oder ehemals slawisch besiedelten Gebieten überhaupt infrage.
Aus diesen Gründen kommen wir zum Fazit, dass die Ortsnamen in den deutschsprachigen Ländern in den allermeisten Fällen nur entweder deutsch oder keltisch sein können. Deutsche Ortsnamen aber sind vergleichsweise leicht erkennbar. Da viele alte Ortsnamen offenbar nicht aus dem Deutschen kommen, wird in diesem Band erstmals für die meisten Ortsnamen eine keltische Herkunft postuliert und systematisch untersucht.
Bei der Untersuchung der keltischen Ortsnamen fiel als Erstes auf, dass sie aus immer wieder gleichen Bestandteilen bestehen. So kommt das bekannte DUR in diversen Namen und verschiedenen Formen vor, etwa auch als TUR und THUR. Dergestalt wurden alle Ortsnamen auf wiederkehrende Bestandteile untersucht, welche sodann systematisch aufgelistet und zu übersetzen versucht wurden. Erstaunlicherweise schienen sich diese Ortsnamenbestandteile im ganzen Untersuchungsgebiet sehr ähnlich zu sein, ja, sie entpuppten sich als Wörter einer neuen, bisher weitgehend unbekannten keltischen Sprache. Diese Sprache wurde als „urkeltisch“ bezeichnet, und zwar weil vermutet wird, dass die Wörter aus der Zeit stammen, in der sich die keltischen Sprachen noch nicht stark unterschieden. Urkeltisch ist gleichbedeutend mit Gemeinkeltisch, auch „Protokeltisch“ kann als ein weiterer Ausdruck für diese Sprache angesehen werden.
Die ersten Ortsnamen wurden naturgemäss den landschaftsprägenden geografischen Orten gegeben, allen voran den grossen Flüssen und Seen, ebenso alt dürften die Namen der wichtigsten Gebirge sein. Daneben gehören die Stammesnamen wie derjenige der Belger zu den ältesten erhaltenen Namen. Die Stammesnamen sind an sich noch keine Ortsnamen, aber wenn ein Stamm in einem Gebiet sesshaft wurde, wurden sie häufig zu Gebietsnamen oder gar Landesnamen, im Beispiel zum Landesnamen Belgien. Siedlungsnamen können allerdings ebenso alt wie Landschaftsnamen sein, da die Menschen ja seit der Mittelsteinzeit in festen Siedlungen lebten. Gute Siedlungsplätze sind an sich von der Natur gegeben, sie lagen in alter Zeit fast immer an Flüssen, am besten in geschützten Flussschlaufen oder an Seen und natürlich am Meer.
Die Auffassung, was ein guter Siedlungsplatz ist, wird auch durch kulturelle Faktoren bestimmt. Bekannt sind die keltischen Höhensiedlungen, welche als eine kulturelle Errungenschaft der letzten Jahrtausendhälfte vor der Zeitenwende angesehen werden können. Zu den Höhenfestungen haben aber immer auch Talsiedlungen gehört, es brauchte schliesslich Weidegebiete für das Vieh. Wie man am Beispiel Bern sieht, gab es vermutlich eine Höhensiedlung auf dem Felssporn über der Aare, aber der Schmied und die Aareschiffer und andere zum Fluss gehörende Berufsgruppen siedelten unten an der Aare. Viele Hochsiedlungen (beispielsweise Uetliberg, Manching etc.) wurden im Zuge der vorrückenden Römer aufgegeben, da sie sich gegen die römische Militärmacht als wertlos erwiesen. Wie sich bei der Belagerung von Bibracte 58 v. Chr. gezeigt hat, haben die Römer die Festungshügel mit Sperren abgeriegelt, sodass ein Entkommen unmöglich wurde, danach wurden die Bewohner ausgehungert (Furger, 2014).
Die Burgen des Mittelalters basieren aber wieder auf denselben Bauprinzipien wie die keltischen Wehrdörfer: erhöht und gesichert wohnen und herrschen. Der Überblick über das Herrschaftsgebiet und der militärische Vorteil des Erhöht-Seins spielten eine entscheidende Rolle. Die frühmittelalterlichen Burgen waren allerdings wesentlich kleiner als die keltischen Wehrdörfer. Im Falle Berns wurde wohl schon im Frühmittelalter eine Burg auf dem Gebiet der keltischen Höhensiedlung errichtet, später kam die mittelalterliche Stadt dazu. Historisch ist dies im Falle Berns nicht mehr nachzuweisen, da Reste der keltischen Höhensiedlung durch den Bau der mittelalterlichen Stadt zerstört wurden.
Es gibt also durchaus auch Konstanten in dem, was als guter Siedlungsplatz wahrgenommen wurde: Sicherheit, Festigkeit und Ernährungsmöglichkeit waren die primären Faktoren; bei Handelsplätzen spielte die Anbindung an die Verkehrswege eine entscheidende Rolle, wobei nebst den Wasserwegen auch Passwege über das Gebirge schon längst bekannt waren. Diese Konstanten erhielten sich über lange Zeiträume, und viele zentrale Siedlungen wurden seit Jahrtausenden beibehalten.
Dahingegen waren Sümpfe und Überschwemmungsgebiete als Siedlungsgebiete absolut undenkbar. Wenn für BERLIN als Namensherkunft slawisch brlo (Sumpf, Morast) angegeben wird, ist die Deutung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch, eine wichtige Siedlung wurde niemals in einem Sumpf gegründet12. Zwar gab es im Neolithikum die kulturelle Errungenschaft der Pfahlbauersiedlungen, die allerdings am Ufer von Seen und genauso wenig in einem Sumpf gebaut wurden. Die Pfahlbauersiedlungen sind später aufgegeben worden, für sie ist demnach keine Siedlungskontinuität gegeben, auf dem Festland hingegen ist generell von einer hohen Siedlungskontinuität auszugehen.
Zwar garantiert Siedlungskontinuität an sich nicht auch eine Namenskontinuität, aber ein Name hat die Tendenz, an einem Ort erhalten zu bleiben, selbst wenn er nicht mehr verstanden wird. In der Regel haben sich deshalb Namen über lange Zeit gehalten. Siedlungen können allerdings im Laufe der Zeit ihren Charakter eher ändern als Flüsse und Berge. Solange die Siedlungsnamen verstanden wurden, gab es deshalb bei den keltischen Namen vergleichsweise häufig Umbenennungen oder Namensanpassungen. In den Folgesprachen hingegen wurden die keltischen Namen verkürzt oder die Aussprache verschliffen, ausserdem wurden Präfixe und vor allem Suffixe aus der neuen Sprache angehängt. In einigen Fällen wurde auch ein neuer Name gewählt, der dann natürlich auch aus der neuen Sprache stammte, wie zum Beispiel KIRCHDORF, ein häufig vorkommender und rein deutscher Ortsname.
Die Ursprungssprache bestimmt die Deutung eines Namens. Wenn die Ursprungssprache eines Namens nicht feststeht, muss eine solche im Sinne einer These angenommen werden. Würden die Namen der Flüsse SAALE, RHEIN und THUR aus dem Deutschen kommen, käme die SAALE wohl von Saal, der RHEIN von rein, die THUR am ehesten von Dauer. Würden wir annehmen, es seien lateinische Namen, könnte die SAALE am ehesten von sal (Salz) herkommen. Grundsätzlich führt also jede angenommene sprachliche Herkunft jeweils zu einer anderen Deutung. Betrachten wir beispielsweise den Namen SAMNAUN und nehmen an, dass er aus den Teilen Sam- und -naun besteht. Sam- könnte an und für sich aus fast jeder Sprache der Welt kommen, da ein derart einfaches Wort sicher in vielen Sprachen vorkommt. Nur wenn wir SAMNAUN als keltisch annehmen, hat SAM auch die urkeltische Bedeutung ruhig, gemeinsam oder Sommer.
Ortsnamen stammen immer aus einer Sprache, die in ihrem Gebiet gesprochen wurde. Die Anzahl der in einem Gebiet im Laufe der Geschichte gesprochenen Sprachen ist glücklicherweise vergleichsweise klein. Theoretisch könnte zwar irgendein unbekannter migrierender Stamm einen Namen vergeben haben, aber dieser Name wäre heute wohl vergessen, dasselbe gilt für Namen aus Sprachen, die nur von einer Minderheit gesprochen wurden. Wenn ein Name schon aus der Antike überliefert ist, fällt die deutsche Sprache zumindest in Süddeutschland und den weiteren heute deutschsprachigen Gebieten als Ursprungssprache weg, da sie dort noch nicht existierte. Fehlt ein Hinweis auf eine bestimmte Ursprungssprache, wird nicht viel anderes übrigbleiben, als die Namen gemäss allen möglichen Ursprungssprachen zu deuten und dann die plausibelste Deutung zu bestimmen. Im heutigen deutschen Sprachraum kommen nebst dem Deutschen in all seinen dialektischen und historischen Ausformungen das Lateinische, das Keltische und in gewissen Gebieten auch slawische Sprachen als mögliche Ursprungssprachen infrage.
Theoretisch könnten die Namen auch aus einer präkeltischen Sprache kommen, aber im Laufe der Untersuchungen konnte nirgendwo in alten Ortsnamen ein Hinweis auf eine präkeltische Sprache gefunden werden. In vielen Publikationen zur Toponymie werden auch die rekonstruierten Sprachformen Protoindogermanisch und Protokeltisch für die Deutung herangezogen, aber in meinen Untersuchungen konnte nie ein Hinweis auf diese gefunden werden. In keinem einzigen Namen war auch nur ein Hauch von diesen *Protosprachen zu finden, was darauf schliessen lässt, dass diese Rekonstruktionen blosse Fantasiegebilde sind, welchen jeglicher Bezug zu einer Sprachwirklichkeit fehlt. Abgesehen von diesen Protosprachen ist die Sprachgeschichte somit in ganz Mitteleuropa recht klar bestimmt: Keltische Sprachen > Latein > moderne Sprachen, das heißt germanische, romanische und slawische Sprachen.
Nur vergleichsweise wenige Ortsnamen sind in der bisherigen Wissenschaft als keltisch erkannt worden, so wie etwa VINDOBONA, der von den Römern überlieferte Name WIENs. In anderen Fällen wird eine keltische Abstammung zumindest in Erwägung gezogen, in der deutschen Wikipedia werden immerhin über 120 keltische Ortsnamen aufgelistet13