Der Schock - Marc Raabe - E-Book
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Der Schock E-Book

Marc Raabe

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Beschreibung

Thriller-Bestseller mit Frankreich-Setting: Spannungsgeladen, brutal und fesselnd bis zur letzten Seite! »... gnadenlos spannend, also ein Buch für die Wochenenden, denn man legt es ungern wieder aus der Hand.« krimi-couch.de Bei einem Unwetter an der Cote d'Azur begegnet Laura Bjely ihrem schlimmsten Alptraum. Ihr Freund Jan findet später nur noch ihr Smartphone – mit einem verstörenden Film im Speicher. Kurz darauf wird in Berlin die Leiche von Jans Nachbarin entdeckt. Auf ihrer Stirn eine blutige Nachricht. Allen Warnungen zum Trotz sucht Jan weiter nach Laura. Dabei stößt er auf einen Abgrund aus Wahnsinn und Bösartigkeit. »Ein Psychothriller wie ein Griff in die Steckdose. Hier steht man unter Dauerspannung.« denglers-buchkritik.de *** Für Fans von Freida McFadden und Sebastian Fitzek ein Muss. Bestseller-Autor Marc Raabe garantiert schlaflose Nächte! ***

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Das Buch

Jan Floss braucht dringend eine Auszeit. Seine Schwester Katy organisiert einen spontanen Trip nach Südfrankreich. Mit von der Partie sind Greg und Laura, Jans heimliche Jugendliebe. Vom ersten Moment an ist der alte Zauber zwischen den beiden wieder da.

Doch dann verschwindet Laura, inmitten von einem Unwetter. Jan findet nur ihr Handy, mit einem gespenstischen Film im Speicher. Für ihn steht fest: Laura ist etwas zugestoßen, auch wenn niemand anders daran glauben will.

Ihre Spur führt nach Berlin, und je tiefer Jan bei seiner Suche in Lauras Vergangenheit gräbt, desto mehr verstrickt er sich in einen düsteren Alptraum. Plötzlich wird er von der Polizei und einem psychopathischen Phantom gejagt. Als schließlich sein Leben auf Messers Schneide steht, muss er sich fragen: Wer ist Laura wirklich?

Der Autor

Marc Raabe, 1968 geboren, ist Geschäftsführer und Gesellschafter einer Fernsehproduktion. Schnitt war sein Debüt und wurde sofort zum Bestseller. Marc Raabe lebt mit seiner Familie in Köln.

Von Marc Raabe ist in unserem Hause bereits erschienen:

Schnitt

Marc Raabe

Der Schock

Psychothriller

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Juni 2013© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013

ISBN978-3-8437-0452-6

Umschlaggestaltung: Büro für Gestaltung – Cornelia NiereTitelabbildung: © plainpicture/Arcangel; © Büro für Gestaltung – Cornelia Niere (Blutstrahl)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden

eBook: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

Für Meike und meine Jungs.

Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert.

ENGLISCHES SPRICHWORT

Prolog

Berlin, 26. Dezember 1969

Froggy war zehn Jahre alt, oder, um genau zu sein: 3709 Tage. Und Tag für Tag wünschte er sich verzweifelt, dass sich etwas änderte.

Froggy war nicht blöd. Er wusste, dass es eiserne Regeln gab. Eine dieser Regeln war, dass Wünsche nicht in Erfüllung gingen. Dennoch hoffte er.

Es war der zweite Weihnachtsfeiertag, am späten Abend. Es hatte geschneit, und die ganze Welt erstickte unter einer weißen Haut. Eiskristalle glühten unter den Straßenlaternen wie Phosphor. Das Einfamilienhaus mit seinem Walmdach lag wie ein Fremdkörper zwischen den klotzigen Mehrfamilienhäusern.

Froggy war ein paar Schritte die dunkle Flurtreppe hinabgeschlichen, nun lag er bäuchlings auf den unbequemen Stufen und starrte zwischen ihnen hindurch ins Wohnzimmer. Durch die Sprossenfenster der Wohnzimmertür hatte er den Fernseher gut im Blick.

Seine Eltern saßen weiter rechts auf dem Sofa, verborgen in der Nische, aus der sie sich den Rest des Abends nicht mehr hervorschälen würden. Ab und an quollen bläuliche Schlieren von Zigarettenrauch von dort hervor.

Nach dem Spielfilm kamen die Spätnachrichten. Froggy hasste Nachrichten. Ständig dieser stocksteife Typ, der sprach wie eine Maschine, zwischendurch nichts als langweilige Bilder, und wenn man Glück hatte mal ein paar Tote.

Heute gab es gar keine Toten.

Müdigkeit kroch ihm in die Augen. Er wünschte sich einen Knopf, der ihn zum Spätfilm katapultierte.

Als ihm die Augen zufielen, träumte er von Jenny.

Sie war so alt wie er, und er träumte oft von ihr, fast immer den gleichen Traum. Er kam ihr näher, streckte die Hand nach ihr aus, konnte sie riechen, wollte ihre Schulter berühren, wollte, dass sie sich umdrehte und ihn ansah. Aber jemand stieß ihm schmerzhaft in die Rippen und lachte höhnisch.

Mit einem Ruck öffnete er die Augen.

Er lag immer noch auf der Treppe. Die Kante der Stufe drückte ihm in die Rippen. Der Schlafanzugärmel, auf dem sein Kopf lag, war feucht, und aus seinem Mundwinkel rann ein Speichelfaden.

Hatte er etwa … geschlafen?

Er schrak zusammen, sah zum Fernseher. Die Nachrichten waren vorbei. Der Spätfilm lief.

O nein! Wie hatte er nur so unvorsichtig sein können! Sein Blick flog panisch hinüber zur Nische. Ein dünner Faden Rauch schwebte aus der Ecke. Er atmete auf. Sie saßen immer noch da, wie festgewachsen.

Zeit zu verschwinden. Lautlos spannte er die dünnen Muskeln und richtete sich auf. Zufällig fiel sein Blick noch einmal auf den Fernseher, und er erstarrte mitten in der Bewegung. Da war ein Mann auf der Mattscheibe. Sein ganzer Kopf war mit einem breiten Wundverband umwickelt, nicht einen Zentimeter Haut konnte Froggy erkennen. Ganz langsam, mit ebenfalls verbundenen Händen, löste der Mann die Bandagen von seinem Kopf.

Wie elektrisiert starrte Froggy auf die Szene.

Denn hinter dem Verband war – nichts.

Einfach nichts.

Der Mann war unsichtbar!

Froggy bekam eine Gänsehaut. Plötzlich war ihm alles egal. Der feuchte Ärmel seines Schlafanzugs, dass er eingeschlafen war, dass er entdeckt werden könnte. Er musste diesen Film sehen.

Als der Abspann lief, fühlte er sich wie ein Astronaut, der vom Himmel fiel. Mit steifen Armen und Beinen schlich er nach oben, schlüpfte in die Enge seines Kinderzimmers. Der Widerschein der Straßenlaternen warf giftiges Licht durchs Fenster. Müde trat er an sein Bett und erschrak bis ins Mark.

Da saß jemand.

Eine massige Gestalt, die nach Rauch stank, und nach Alkohol. Die Gestalt erhob sich von der Matratze, ein schwarzes Gespenst vor der gelbgrau erleuchteten Tapete. In der Hand der Gestalt baumelte ein Ledergürtel.

»Deine Ma hat dich auf der Treppe gesehen«, sagte sein Vater. Seine Stimme klang schwer und müde, aber dennoch klar, obwohl der Geruch aus seinem Mund etwas anderes erwarten ließ.

Froggy begann zu zittern.

»Weißt du, wie viel Kummer ihr das macht, dass du so bist?«

Froggy schwieg. Es machte ihm ja selbst Kummer. Am liebsten wäre er gar nicht da gewesen.

»Ich könnte dir ja verzeihen«, sagte sein Vater. »Ich weiß ja, woher’s kommt. Aber sie weiß es auch. Na ja, und sie hasst mich dafür. Mich! Weißt du, wie weh das tut?«

Froggy biss sich auf die Lippen. Ja! Wusste er! Er hasste sich ja auch dafür. Und er versuchte schon sein ganzes Leben, ein anderer zu sein.

Als er seine Strafe bekam, biss er sich auf die Zunge. Der metallene Geschmack half ihm, nicht zu schreien. Er wollte verschwinden, aus sich heraustreten, nicht mehr da sein.

Sein Vater keuchte vor Anstrengung, als er ging. Sein Schweiß hing noch in der Luft. Froggy lag bäuchlings auf seinem Bett, mit schmerzendem Rücken. Er kam sich erbärmlich vor, schwach, und wollte sich selbst in die hinterste Ecke seiner Seele verkriechen, dorthin, wo ihn niemand sah und wo er still in sich hineinheulen konnte.

Sehnsüchtig dachte er an den Film, den er eben noch gesehen hatte. Wäre er doch nur unsichtbar, wie dieser Mann.

Wer unsichtbar war, der konnte auch nicht dumm auffallen – oder ausgelacht werden. Und vor allem: Wer unsichtbar war, der konnte auch nicht bestraft werden.

Der Wunsch überkam ihn, wie ein Schwarm Heuschrecken, dunkel und brausend. Wenn er unsichtbar wäre, dann könnte er alles tun, was er wollte!

Und niemand könnte ihn davon abhalten.

Seine Religionslehrerin schoss ihm in den Sinn. Sie hatte einmal von einem Arzt für Verrückte erzählt. Der hatte herausgefunden, dass Menschen verschiedene Wesen in sich haben. Es gab ein Es, so etwas wie ein gefräßiges Tier, und dann ein Über-Ich, wie seine Mutter, die alles kontrollierte, und irgendwo dazwischen war man selbst, jedenfalls wenn man normal war.

Aber wenn man so war wie dieser Mann im Film, dann gab es kein Über-Ich mehr. Dann war niemand mehr über einem.

Das musste großartig sein.

Er stellte sich vor, wie er in das Haus von Jennys Eltern schlich, in Jennys Zimmer, ohne dass sie ihn sehen konnte, wie er sie beobachtete, ihr beim Ausziehen zusah, bis sie ganz nackt war, wie die Frauen in Vaters Zeitschriften. Oder er konnte Herrn Broich, seinem Deutschlehrer, ein Bein stellen, am besten kurz vor dem Bordstein. Wenn er sich dann die Vorderzähne ausschlug, dann würde Broich endlich wissen, wie es sich anfühlte, ständig von allen begafft zu werden.

Langsam erhob er sich aus seinem Bett. Sein Rücken loderte vor Schmerzen. Er trat ans Fenster und öffnete es sperrangelweit. Die eisige Winterluft überzog seinen Rücken wie Raureif. Sein Atem dampfte.

Wäre ich unsichtbar, dachte er, würde man jetzt nichts von mir sehen als diese Atemwolke.

Wäre ich unsichtbar, dann könnte ich jetzt ins Schlafzimmer von Ma und Pa schleichen. Ich könnte Pa die Hoden abschneiden und sie ihm in seine gelbe Fresse stopfen. Bis er dran erstickt.

Und Ma sollte zusehen. Das würde ihr eine Lehre sein.

2011

Kapitel 1

Èze – Côte d’Azur, 17. Oktober, 21:55 Uhr

Der Moment, als das Handy klingelte, war für Jan Floss der Moment, in dem alles losbrach.

17 Minuten zuvor hatte Jan nichtsahnend vor dem Panoramafenster gestanden und durch seine eigene Spiegelung hindurch in die Dunkelheit gestarrt. Vierhundert Meter unter ihm brandete das Meer. Das Azurblau der Côte d’Azur hatte sich in schwarzes Blei verwandelt, und der Himmel schien direkt ins Meer zu fließen.

Es goss in Strömen, bereits seit drei Tagen, und eine für diesen Teil der Küste untypische klamme Kälte kroch ihm in die Glieder. Verdammte Heizung. Verdammtes Haus. Seit wie vielen Jahren war sein Vater nicht mehr hier gewesen? Eigentlich seit Mutter ausgezogen war. Und da war Jan gerade zehn geworden. Also seit 24 Jahren. Kein Wunder, dass in diesem Haus nichts mehr funktionierte. Was für eine Schnapsidee, ausgerechnet hierher zu kommen. Zu wenig Heizung, zu viele Erinnerungen.

Seit drei Tagen hockten sie jetzt zu viert hier aufeinander, in einem 120-qm-Ferienhaus, von dem gerade einmal 30 qm halbwegs bewohnbar waren: das alte Elternschlafzimmer und das große Wohn- und Esszimmer mit dem Panoramafenster. Theos altes Kinderzimmer war immer noch abgeschlossen, als würde sein Geist hinter der Tür hausen. Jan wusste nicht, wo der Schlüssel für diese Tür war. Und selbst wenn er es gewusst hätte, er hätte es nicht über sich gebracht, sie zu öffnen.

Greg, Katy und Laura hatten es nicht mehr ausgehalten und waren mit Gregs Jeep zum Einkaufen runter in die Stadt – nach Beaulieu-sur-Mer, kurz vor Nizza.

Jan hatte sich entschieden zu bleiben. 30 qm Haus gegen 4 qm Auto tauschen? Nein danke! Erst recht nicht bei diesem Regen. Außerdem konnte er seiner 37-jährigen Schwester Katy nicht länger dabei zusehen, wie sie Greg anhimmelte, ganz so als gäbe es weder ihren Mann noch ihre Zwillinge. Dazu kam, dass Jan dem Einkaufen in Supermärkten nichts abgewinnen konnte. Endlose Regale, knallbunte Produkte und pausenloses Werbegedudel. Über Jahre hatte er diesen Mist und seine Wirkung auf Kunden untersucht. Die Psychologie von Tütensuppen war viel zu lange sein Lebensinhalt gewesen.

Als Greg und Katy verkündet hatten, dass sie nach Beaulieu-sur-Mer wollten, hatte Jan gehofft, dass Laura blieb. Die Erinnerung an letzte Nacht ließ sein Herz immer noch schneller schlagen. Doch Laura litt offenbar ebenfalls unter dem Hütten-Koller, war in ihre Gummistiefel gestiegen und hatte mit Greg und Katy das Haus verlassen.

Jan starrte durch die Scheibe. Sein Spiegelbild trat deutlich auf dem Glas hervor; das erschöpfte Gesicht eines 34-jährigen Einzelgängers. Seine braunen Augen waren schwarze Punkte; seine dunklen Haare standen wild von seinem Kopf ab, so wie ihm die Gedanken durchs Hirn flogen. Und dann war da noch das Feuermal, das sich wie eine rötliche Insel von seiner linken Schläfe über die Wange bis hinab zum Mundwinkel zog. Nach der Sache mit Theo war es ihm immer vorgekommen, als hätte jemand da oben vorgehabt, ihn schon bei seiner Geburt zu brandmarken. Seht her, dieser Junge zieht das Unglück an. Seid vorsichtig. Meidet ihn.

Als das Telefon klingelte, griff Jan einfach nach rechts, drückte blind die grüne Taste und hob das Gerät ans Ohr. Da sprudelte ihm schon ihre Stimme entgegen.

»Hey. Katy hier. Sag mal, ist Laura bei dir?«

»Was?«, fragte Jan.

»Spreche ich Spanisch? Ob Laura bei dir ist.«

Jan runzelte die Stirn. »Also eben hat sie noch neben dir im Auto gesessen, aber wart mal«, meinte Jan, »ich seh mal gerade nach, vielleicht steht sie hinter der Gardine hier.« Er wedelte lautstark mit dem Stoff. »Ups. Nein. Da ist sie nicht.«

»Haha. Sehr witzig, Bruderherz.«

»Garbage in, garbage out«, sagte Jan lakonisch.

»Hä?«

Er seufzte. »Na, wenn die Frage Müll ist, dann ist die Antwort eben auch Müll.«

»Kannst du mal aus deiner destruktiven Stimmung aussteigen und mir bitte helfen?«

»Ich bin nicht destruktiv«, sagte Jan, »mir geht’s nur nicht besonders gut.«

»Kannst du mir jetzt bitte einfach sagen, ob Laura bei dir ist. Oder ob sie sich bei dir gemeldet hat.«

»Ist Laura denn weg?«

»Wie vom Erdboden verschluckt. Sonst würde ich ja wohl kaum fragen.«

»Wo seid ihr denn gerade?«

»Beim Supermarkt.«

»Bei welchem Supermarkt?«

Katy schnaubte. »Dem Hypermarché. Am Ortseingang von Beaulieu. Wo denn sonst. Könntest du mir jetzt einfach mal meine Frage beantworten?«

»Du hast dir deine Frage gerade selbst beantwortet.«

Katy stöhnte in den Hörer.

»Katy, bitte! Ihr seid vor ’ner halben Stunde losgefahren. Bis da unten braucht man mit dem Auto zehn Minuten. Den Berg hoch zu Fuß braucht man erheblich länger. Wenn Laura also nicht schon auf der Fahrt aus dem Auto gesprungen ist, weil sie Gregs Gequatsche nicht mehr ertragen hat, dann kann sie noch gar nicht hier sein.«

»Herzlichen Dank für den Kurzlehrgang in Sachen Logik! Ich mach mir einfach Sorgen, okay? Laura ist weg, und wir haben keine Ahnung, wieso. Also, wenn sie sich bei dir meldet oder bei dir auftaucht, dann sag wenigstens Bescheid«, sagte Katy bissig und legte abrupt auf.

Jan seufzte, als es in der Leitung knackte. Sofort tat ihm leid, dass er es mal wieder nicht hatte lassen können. Es war immer das Gleiche. Wenn er mit Katy sprach, saßen tausend kleine Teufel in seinem Gehirn, und er verfiel in Verhaltensmuster, die eher zu einem bockigen Teenager passten als zu einem erwachsenen Mann.

Er starrte hinaus in den Regen. Die Felskante, hinter der es steil abwärts zum Meer ging, war nur noch ein unscharfer gezackter Schatten in der Dunkelheit. Er dachte an Laura. Ihr Gesicht sah so ganz anders aus als damals in der Schule. Voller. Erwachsener. Nicht nur weil sie älter geworden war – da war noch etwas anderes. Etwas Verschlossenes, das ihn faszinierte, oder besser gesagt, ihn magisch anzog.

Schon damals in der Schule, mit 14, hatte Lauras Nähe ihn immer in Not gebracht. Sein Kopf wurde heiß, und er wusste nur zu gut, dass auch sein Feuermal dann noch deutlicher hervortrat. Dennoch suchte er immer wieder ihre Nähe. Nachts hatte er dann so intensive Träume, dass er tags darauf nur noch verlegener beiseitesah, wenn sich ihre Blicke trafen. Er wusste nicht, wie er mit all diesen Gefühlen fertig werden sollte, er kam sich dumm vor und irgendwie schuldig, als ob das alles nicht normal sei, was ihn da überwältigte.

Dann war Laura plötzlich weg gewesen, von einem Tag auf den anderen. Später erfuhr er, dass sie die Schule gewechselt hatte, aus einem Grund, den er bis heute nicht kannte. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen – bis Katy diesen unseligen Trip nach Frankreich vorgeschlagen hatte.

Er sah nach links, zu der schmalen Straße, die sich den Hang nach Èze emporwand. Das Wasser floss in breiten Bächen bis zum Wendehammer vor dem Haus und sammelte sich in großen Pfützen. Zu verschwinden, das schien irgendwie eine Eigenart von Laura zu sein. Aber warum ausgerechnet in einem französischen Kaff, bei diesem Wetter, vor einem Supermarkt, der in wenigen Minuten schloss? Ihm wurde mulmig.

Instinktiv griff er zum Handy. Lauras Nummer hatte er nicht, also rief er Katy an.

Ihr gewünschter Gesprächspartner ist vorübergehend nicht erreichbar, tönte es aus dem Handy.

Na großartig! Und jetzt?

Für einen Moment kam er sich albern vor. Eine erwachsene Frau verschwand für ein paar Minuten, und schon drehte er durch. Es liegt am Regen, dachte er. Immer wenn es so regnet, drehst du durch.

Er schloss die Augen und lehnte sich mit der Stirn an die Scheibe. Das Glas drückte kalt gegen seine Haut.

Vermutlich saßen die drei im Jeep und waren irgendwo auf der Küstenstraße, auf dem Weg zu ihm. Auf der Corniche gab es bestimmt einige Stellen, an denen das Mobilfunknetz nicht gut funktionierte.

Noch zehn Minuten. Vielleicht auch etwas mehr. So lange dauerte es mit dem Wagen vom Hypermarché bis vors Haus.

So lange würde er noch warten.

Kapitel 2

Beaulieu-sur-Mer – Côte d’Azur, 17. Oktober, 22:05 Uhr

Die straffe Haut hatte kurz Wiederstand geleistet, dann war die Kanüle mit der scharfen V-förmigen Spitze eingedrungen. Unter der Haut schimmerten bläuliche Venen. Der dünne Schlauch an der Kanüle hatte sich mit Rot gefüllt. Eine weitere Ader, mit einem kleinen weißen Plastikhahn.

Dahinter war der Schlauch noch jungfräulich. Durchsichtig.

So lange, wie er es wollte.

Er begann sie zu rasieren. Nass. Etwas von dem weißen Schaum kleckste auf den Stahltisch. Frisch gefallener Schnee mit dunklen Schamhaaren. Eben hatte sie sich noch gewehrt. Gebettelt. Gerüttelt. Als er die Dreifachklinge nah ihrer Klitoris angesetzt hatte, war sie erstarrt. Jetzt flennte sie nur noch. Das beschissene Salz in den Tränen verdarb den Teint. Er musste sie wegtupfen, dabei hatte er gleichzeitig auf so vieles zu achten.

Der elektrische Gabelstapler stand bereit. Seit fünfzig Minuten härteten die ersten zwanzig Zentimeter auf dem Boden von Wanne eins aus. Es roch dementsprechend beißend. Die Lüftung lief auf Hochtouren. Sein Schwanz auch. Jeder Zug der Rasierklinge ließ ihn pulsieren.

Sie starrte an die Decke und flennte weiter.

Prinzessinnen flennten nicht.

Nicht seine.

Das nahm er ihr übel.

Selbst wenn es seinem Schwanz gefiel. Er wischte die Sauerei mit den viel zu dunklen Haaren weg. Kletterte auf die Stahlplatte. Stand über ihr, sein Glied wie ein Revolver. Jetzt sah sie ihn und wusste, dass es so weit war. Scheiße, es hatte lange gedauert. Aber jetzt war es so weit.

Er drang in sie ein, stieß zu, legte seine Linke um ihren Hals und drückte. Nur keine Würgemale. Mit der Rechten löste er die kleinen weißen Plastikhähne. Blut floss in die beiden Schläuche, und da, wo sie endeten, plätscherte es zu Boden. Sie wurde blasser und sein Schwanz immer noch steifer. Der Gestank der Chemikalien, der metallische Geruch des Blutes, seine heißlaufenden Erinnerungen, das alles war ein einziger großer Strudel.

Dann platzte etwas. Und spritzte.

Er sah auf. In Wanne eins lief Fixierer aus der Leitung, direkt ins Becken. Er sprang auf, wäre beinah in der klebrigen roten Lache ausgerutscht, und rannte zum Becken.

Aber es war schon zu spät.

Verfluchte Scheiße.

Der Zeitplan war im Arsch.

Er starrte auf den defekten Verbinder. Musste an den Verkäufer denken, der ihm das Zeug angedreht hatte. ›Klar ist das sicher. Das ist Plastik. Das hält ewig.‹ Schwachkopf, beschissener! Am liebsten hätte er ihm jeden Finger einzeln abgeschnitten.

Das war vor drei Tagen gewesen, in Berlin.

Heute musste er zugeben: Ohne die geplatzte Leitung wäre er sicher nicht noch einmal losgefahren. Dann hätte er sie nicht gesehen. Und dann wäre er jetzt nicht hier: im Regen, auf einem einsamen Parkplatz vor einem französischen Hypermarché.

Er konnte es förmlich riechen. Und sehen. Sie hatten Angst, der große Blonde und die Dunkelhaarige. Wie sie ums Auto staksten! Wie zwei blöde Flamingos.

Die Angst hüllte sie ein wie eine schwere süße Wolke Parfüm, die er gierig mit weit geöffneten Nasenflügeln einsog. Seit zwanzig Minuten waren sie in dieser Wolke, suchten, telefonierten und wurden pitschnass im Regen. Jetzt steckte die hübsche Dunkelhaarige wütend ihr Handy ein. Auch ihr Lover, der All-American-Boy mit seinem scheißbraunen Teint, sah nicht gerade glücklich aus. Eher so, als wünschte er sich auf sein Surfbrett nach Venice Beach.

Dann sah er sie.

Sie kam aus dem Supermarkt, ganz selbstverständlich, als wäre sie nicht mehr als ein paar Sekunden weg gewesen. Sie hatte diese Anmut in ihrem Gang. Der Schwung ihrer langen Haare erschlug ihn, und das obwohl sie nicht blond waren. Alles an ihr erschlug ihn. Das schmale Gesicht mit den so klaren Wangenknochen, wie eine Heilige, und dann die Augen, die wegen der hochstehenden Brauen immer etwas überrascht aussahen – und zugleich merkwürdig teilnahmslos, als würden sie eine stille Trauer verbergen. Trauer. Verbergen. Wie gut er das kannte! Sie war schon jetzt wie ein Teil von ihm. Und die Sache mit den Haaren – nun ja, Haare konnte er färben. Oder bleichen.

Bereits in Berlin, als er sie zufällig am Straßenrand gesehen hatte, wie sie mit ihrer Reisetasche zu den anderen stieß, hatte es ihm den Atem verschlagen. Er war auf dem Weg gewesen, Ersatzteile zu besorgen. Instinktiv hatte er auf die Bremse getreten und durch das getönte Heckfenster gespäht. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte geschworen, es gäbe so etwas wie Wiedergeburt, so sehr erinnerte sie ihn an Jenny.

Als sich der Cherokee-Jeep mit ihr und den anderen in Bewegung setzte, hatte er sich blitzschnell entscheiden müssen – für einen Blindflug. Ohne Planung, ohne Anlauf. Nicht einmal aufräumen konnte er vorher noch. Entweder alles stehen und liegen lassen – oder sie verlieren. Und verlieren war nicht drin. Dafür war sie zu besonders.

Also war er ihr gefolgt, 1324 Kilometer lang, bis hierher. Eine Rast auf der Autobahn hatte er genutzt, um das Kennzeichen zu wechseln. Er hatte immer eins in Reserve. Ebenso wie all das andere.

Als sie in Èze angekommen waren, hatte das Warten begonnen. Es war ihm elend schwergefallen. Erst am gestrigen Abend gab es endlich eine Gelegenheit. Sein Herz hatte schneller geschlagen, als sie alleine vor die Tür getreten war und sich eine Zigarette angesteckt hatte. Er hatte die Waffe gehoben, angelegt, die Sehnen in seinem Zeigefinger gespannt bis zum Äußersten – und dann, im letzten Augenblick, war er aufgetaucht.

Verfluchter Wichser!

Und dieses Feuermal. Dunkel, violett und hässlich. Er hatte es eine Weile mit dem Fadenkreuz des Zielfernrohrs anvisiert, sich vorgestellt, was eine Kugel anrichten würde. Da hatte er noch gehofft, dass der Kerl irgendwann wieder zurück ins Haus ging.

Stattdessen hatte er sie angegraben. Angetatscht. Besitz von ihr ergriffen.

Während er den beiden zusehen musste, quälte ihn das gleiche stechende Gefühl, das ihn schon damals gequält hatte, als er noch Froggy war – nur Froggy – und ertragen musste, wenn die anderen Jenny beim Tanzen mit ihren Blicken auszogen.

Das Zielfernrohr hatte alles unerträglich nah herangerückt. Erst als sie plötzlich erstarrte und Mr Feuermal wegen irgendetwas wütend ansah, gab es einen kurzen Moment Hoffnung. Vielleicht schickte sie ihn ja zum Teufel. Hauptsache er verschwand! Stattdessen ließ sie ihn stehen und verschwand selbst im Haus.

Scheiße.

Also weiter warten und sich zügeln.

Er war durch eine harte Schule gegangen, was das betraf. Aber jetzt und hier, auf dem Parkplatz vor diesem Supermarkt, konnte er sich kaum mehr beherrschen. Die Erregung packte ihn, sein Glied schwoll an, ein Gefühl von uneingeschränkter Macht und Kraft füllte ihn aus wie Magma. Er starrte sie an, aus seiner Höhle unter der schwarzen Kapuze. Der vom Regen feuchte Stoff lag kalt auf seiner nackten Kopfhaut.

Bleib ruhig, mahnte er sich. Konzentrier dich!

Er sah, wie der dunkelhaarige Flamingo auf sie zustürmte und wild gestikulierte. Wie schmeckte eigentlich Flamingo? Er überlegte, ob er jemals Flamingo-Fleisch gegessen hatte und welche Farbe es wohl hatte. War es rosa?

Jetzt stiegen sie ins Auto ein.

Die Lichter des Cherokee flammten auf. Der Jeep wendete rasch, und die Scheinwerfer streiften ihn, wie ein Spot einen Tänzer streift, der noch am Rand steht und darauf wartet, dass seine Musik einsetzt.

Kapitel 3

Beaulieu-sur-Mer – Côte d’Azur, 17. Oktober, 22:07 Uhr

Laura hatte sich kaum auf die Rückbank des Cherokee gesetzt, als Greg schon das Gaspedal trat und scharf wendete. Die Fliehkraft riss an der Tür, und Laura schaffte es nur mit Mühe, sie zu schließen.

»Würdest du mir bitte einen Gefallen tun und nicht fahren wie ein Teenie auf Speed«, schnappte Laura.

»Klar«, knurrte Greg, »wenn du uns das nächste Mal Bescheid sagst, bevor du für zwanzig Minuten auf dem Supermarktklo verschwindest. Und das auch noch kurz vor Ladenschluss! Wir haben uns Sorgen gemacht.«

»Glaubst du, mir macht das Spaß? Es ging halt nicht anders.«

»Es ging nicht anders?«

»Ich bin ’ne Frau, verdammt!«

»Ach ja?«, knurrte Greg. »Und Frauen können nicht Bescheid sagen?«

Laura rollte mit den Augen. »Katy, erklär du’s ihm bitte, ja.«

Katy schwieg, drehte den Kopf zur Seite und sah zum Fenster hinaus.

»Ach, Scheiße«, murmelte Laura. Sie wusste, dass Greg recht hatte – irgendwie. Und den Teil, wo er nicht recht hatte, den vollgesogenen Tampon, die blutige Hose und die ganzen übrigen Scherereien, diesen Teil konnte und wollte sie nicht erklären.

Sie beugte sich leicht nach vorne; etwas Regen war ihr unter den Kragen der Jacke gelaufen, und jetzt klebte die nasse Kleidung an ihrem Rücken. In ihrem Bauch rumorte es immer noch, und zwischen Becken und Rückenwirbeln tobte ein krampfartiger Schmerz, ganz zu schweigen von den Kopfschmerzen und der Übelkeit. Sie hatte gestern schon geahnt, dass es wieder so weit war. Doch wie immer hatte sie es verdrängt, bis es aus ihr herausbrach.

Ihre Tage als notwendiges Übel zu bezeichnen wäre eine Untertreibung gewesen. Übel ja. Aber notwendig? Wofür denn? In ihrem ersten Leben war sie zu jung für Kinder gewesen. In ihrem zweiten Leben zu verloren und zu kaputt.

Und jetzt, in ihrem dritten Leben?

Sie hatte noch nicht einmal einen Partner, geschweige denn jemanden, mit dem sie ein Kind haben wollte. Alleine der Gedanke, die Verantwortung für ein Kind tragen zu müssen, schnürte ihr die Kehle zu, weil sie immerzu an ihre eigene Kindheit denken musste, an die drückende Einsamkeit in der Villa in der Finkenstraße, an ihren Vater, der dauerabwesend war, entweder auf Geschäftsreise in Wien oder in irgendeinem seiner Zimmer, immer unansprechbar, während ihre Mutter … nun ja …

Dann schon lieber wirklich alleine. So wie jetzt. Sie hatte ihre Wohnung, ihre Arbeit bei Ultimate-Action, einer Sport-Event-Agentur, und den Rest der Zeit war sie damit beschäftigt, nicht wieder zurückzufallen in alte Gewohnheiten. Sie war gewissermaßen immerzu auf der Flucht vor Leben Nummer zwei.

Wozu also brauchte es diese elenden Regelschmerzen? Ihre Tage waren ein ständiger Störfaktor. Auch für ihren Job bei Ultimate-Action. Eine Reihe von Fallschirm-Tandemsprüngen – abgesagt. Die letzte Klettertour – ebenfalls abgesagt. Sie hatte Glück, dass Gerald, ihr Chef, sie nach wie vor mochte, und das, obwohl sie seine Annäherungsversuche bisher beharrlich ignoriert hatte.

Laura seufzte und sah aus der Seitenscheibe des Cherokee. Hinter den vom Fahrtwind verzerrten Tropfenbächen wischten die letzten Häuser von Beaulieu-sur-Mer vorbei. Ihr feuchter Rücken erinnerte sie an den gestrigen Abend, an Jan und an das, was vor dem Haus passiert war.

Sie hatte einen Rappel bekommen und vor die Tür gemusst, an die frische Luft. Auf Dauer hielt sie es einfach nicht in geschlossenen Räumen aus. In einer ihrer Jackentaschen hatte noch eine angebrochene Packung Lucky Strikes gesteckt, von einem ihrer Kollegen. Zigaretten waren eigentlich nicht ihr Ding, wenn überhaupt war sie Gelegenheitsraucherin, doch hier und jetzt war es die perfekte Ausrede gewesen, um für einen Moment alleine vor die Tür zu gehen – zumal die anderen nicht rauchten. Eine Viertelstunde alleine, nur mit einer Zigarette, das erschien ihr als Paradies.

Das Paradies hielt ganze drei Minuten an. Sie hatte draußen gestanden, mit dem Rücken zur Eingangstür, über ihr das vorkragende Wohnzimmer des Hauses, das wie eine riesige Zigarettenschachtel in den oberen Teil des Steilhangs gerammt war. Vor ihren Augen rannen Wasserfäden vom Dach, und das Ende ihrer Zigarette glühte auf, als sie daran zog.

In der Dunkelheit, rechts von ihr, zwischen den Bäumen am Hang, blitzte plötzlich etwas auf. War da nicht ein Schatten? Sie kniff die Augen zusammen und spähte in die Nacht. Vielleicht ein Tier?

In diesem Moment trat Jan hinter ihr aus der Tür, stellte sich still neben sie und sah aufs dunkle Meer und die tiefhängenden Wolken. Sie schwiegen in stillem Einvernehmen. Nur der Regen prasselte, und die See brandete weit unter ihnen gegen die Felsen.

Laura schnippte die Zigarette in den Regen und zündete sich eine weitere an.

»Du rauchst eigentlich nicht, oder?«, fragte Jan, ohne den Blick vom Meer abzuwenden.

»Ach, nein?«

»Nein«, sagte Jan.

Laura stieß den Rauch in den Regen und musste lachen. Es klang überraschend rau und etwas spöttisch. »Was hat mich verraten, Kommissar Floss?«

Jan lächelte und zuckte mit den Schultern. »Deine Haltung. Die Hände …«

»Ich seh schon«, sagte Laura, »ein echter Fachmann. Auch eine?« Sie hielt ihm die Schachtel hin.

»Danke. Ich rauch nicht.«

Skeptisch sah sie ihn an. »So wie ich, meinst du?«

Jan zog fröstelnd den Kopf zwischen die Schultern. »Mir wär jetzt eher nach ’nem Kaffee.«

»Kaffee? Um die Uhrzeit? Da würde ich die ganze Nacht senkrecht im Bett stehen.«

Jan lächelte schief. »Alles eine Frage der Übung.«

»Wo übt man denn bitte nachts Kaffee trinken?«

»Marktforschung. Oder Werbung. Man fängt morgens damit an und hält den Koffein-Pegel die ganze Zeit über auf konstantem Niveau.«

Laura erinnerte sich dunkel daran, dass Jans und Katys Vater Inhaber einer Werbeagentur war. Deswegen auch das Ferienhaus an der Côte d’Azur. Auch wenn es inzwischen so heruntergekommen war – es hatte sicher einmal ein kleines Vermögen gekostet. »Also lange Tage im Job?«

Jan nickte. »24 Stunden, sieben Tage die Woche. Zumindest gefühlt.«

»Bravo. Beste Voraussetzungen für einen Burn-out.«

»Yepp«, sagte Jan.

»Und warum machst du es dann?«

Wieder ein schiefes Lächeln. »Mach ich ja gar nicht mehr. Ich bin raus. Ist vorbei.«

»Aha. Bist du freiwillig ausgestiegen … oder …?«

»Mehr ›oder‹«, sagte Jan und schwieg einen Moment. »Ist ’ne komplizierte Geschichte.«

»Aha.« Laura zog an ihrer Zigarette. Wenn er nicht darüber reden wollte, kein Problem. Sie mochte es schließlich auch nicht, ausgefragt zu werden. Sie drehte die Zigarette in ihrer Hand und betrachtete die Glut, die sich durch den Tabak fraß.

»Mein Vater hatte einen Schlaganfall«, sagte Jan unvermittelt.

»Oh«, rutschte es Laura heraus. »Das tut mir leid, ich –«

»Nein, nein«, beeilte sich Jan zu sagen. »Schon okay, er hat’s überlebt. Ist jetzt in einem wirklich guten Altenheim untergebracht, Residenz Blankenburg. Ich war nur so dumm, zu glauben, dass er meine Hilfe braucht. Also hab ich gekündigt. Ich habe Marktforschung gemacht, hatte eine ganz gute Stellung bei einem Institut, als Psychologe, seit acht Jahren. Die waren ziemlich sauer, weil ich von jetzt auf gleich aufgehört habe.«

»Und dann?«

»Ich hab mich um die Werbeagentur meines Vaters gekümmert.«

»Einfach so? Ich dachte, du bist Psychologe.«

»Du wirst lachen«, sagte Jan ohne einen Anflug von Humor, »eigentlich habe ich Psychologie studiert, weil ich dachte, dann würde ich auf jeden Fall etwas anderes machen als mein Vater.«

»Hört sich so an, als wärt ihr nicht sonderlich gut miteinander klargekommen, du und dein Vater.«

Jan schwieg einen langen Moment. »Immer zweihundert Prozent verlangen, aber nie da sein, wenn man ihn braucht. Das ist mein Vater.«

Laura sagte nichts. Sie wusste nur zu gut, was Jan meinte – und wie es sich anfühlte. Nur dass ihr Vater nie etwas verlangt hatte. Sie war ihm schlicht egal gewesen.

»Nach dem Studium«, fuhr Jan fort, »habe ich dann die Ausbildung zum Psychotherapeuten angefangen, mit einem praktischen Jahr in einer Tagesklinik. Schon am dritten Tag sollte ich eine Gruppe leiten. 18 Alkoholiker und ich als Azubi, ohne jede Praxiserfahrung. Genauso gut kannst du einen Medizinstudenten alleine in den OP stellen und sagen, er solle jetzt gefälligst am offenen Herzen operieren. Meine Patienten waren teilweise hochaggressiv, die hatten nicht das geringste Bedürfnis, behandelt zu werden. Einer ist auf mich losgegangen und hat mir die Nase gebrochen. Danach habe ich mich umorientiert und bin in die Marktforschung. Und die ist letztlich eng mit der Werbung verknüpft.«

»Also genau das, was du eigentlich nicht machen wolltest.«

»Na ja.« Jan zuckte mit den Schultern. »Im Grunde hatte ich nichts gegen Werbung. Es ging eher um meinen Vater …«

»Und er? War vermutlich begeistert, als das verlorene Schaf endlich heimgekehrt ist.«

»Mein Vater ist nicht zu begeistern. Jedenfalls nicht von mir.«

»Vielleicht ist er’s, kann es aber nicht sagen«, meinte Laura.

Jan lächelte bitter.

»Verstehe.«

»Selbst wenn’s so wäre, besser anfühlen würde es sich deswegen auch nicht«, sagte Jan. »Jedenfalls, als er im Krankenhaus lag, da geriet die Agentur ins Schleudern. Ich kam mir ziemlich mies dabei vor, zuzusehen, wie alles den Bach runtergeht. Also hab ich gekündigt und ihn vertreten.«

»Und wo ist jetzt das Problem?«, fragte Laura. »Ist die Agentur pleite?«

»Im Gegenteil. Es läuft wieder.«

»Hört sich doch nach einem Happy End an.«

»Mehr End als Happy. Er hat die Agentur verkauft, kaum dass er wieder geradeaus gucken konnte. Einfach so. Ohne mir ein Wort zu sagen. Vertragsbestandteil war, dass ich mit sofortiger Wirkung die Agentur zu verlassen habe.«

Laura sah ihn sprachlos an.

»Das ist jetzt sechs Wochen her. Seitdem bin ich etwas von der Rolle.«

»Wow«, sagte Laura.

Jan holte tief Luft und zuckte wieder mit den Schultern. »Jedenfalls brauchte ich dringend mal eine Luftveränderung. Deswegen bin ich hier.«

Laura nickte, stieß eine Rauchwolke aus und fragte sich, warum Jan für diese Luftveränderung ausgerechnet in das Haus seines Vaters gekommen war.

»Und du?«, fragte Jan. »Warum ist es Katy gelungen, dich zu diesem Trip zu überreden?«

»Wie meinst du das?«

Jan warf ihr einen langen Blick zu. »Na, so richtig glücklich siehst du jedenfalls auch nicht aus.«

»So?«, lachte Laura. Etwas zu schrill, wie sie selbst fand. »Woran siehst du das denn?«

Jan fixierte sie, ruhig und wortlos, mit seinen braunen Augen, und plötzlich hatte sie den Eindruck, er könnte bis in ihr Innerstes sehen. Bis dorthin, wo niemand hinsehen durfte.

Sie stieß erneut eine Rauchwolke in die Nacht, und die Regentropfen durchschlugen lautlos den Qualm. Die Zigarette brannte dunkelrot. Sie nahm sich vor, auf der Hut zu sein, und warf ihm einen raschen kühlen Seitenblick zu. »Das willst du gar nicht wissen.«

»So schlimm?«

Schlimmer, dachte sie. Höchste Zeit für einen Themenwechsel. »Vielleicht nicht ganz so schlimm wie die Versuche deiner Schwester, uns zu verkuppeln.«

Jan lachte. Ein peinlich berührtes Lachen, fand Laura.

»So ist sie, meine große Schwester. Das ging schon so, bevor meine Mutter abgehauen ist. Tu dies, Jan, lass das … Ist auch nicht das erste Mal, dass sie mich verkuppeln will. Ist immer etwas … peinlich.«

»Und, funktioniert es denn wenigstens?«

»Was denn?«

»Das mit dem Verkuppeln«, fragte Laura. »Also, äh, im Allgemeinen.« Am liebsten hätte sie sich auf die Zunge gebissen.

Jan schwieg einen Moment. »Ich tue grundsätzlich nicht, was meine Schwester sagt. Schon aus Prinzip nicht.«

»Gut«, sagte Laura. »Dann hätten wir das ja geklärt.« Sie schnippte die abgebrannte Zigarette in den Regen hinaus, wo sie einen roten Bogen beschrieb und im feuchten Schotter vor dem Haus verlosch.

Sie blickte zu Jan. Das Mal auf seiner Wange sah aus wie ein zerklüfteter dunkler See auf einer Landkarte. Auch damals schon, in der Schule, hatte sie sein Mal nie gestört, sondern eher angezogen.

Ich hätte nicht die Zigarette wegwerfen sollen, dachte sie. Und ich stehe viel zu nah an ihm dran.

Sie spürte seinen Blick, sah, wie sein Blick flackerte, als wäre er unsicher, so wie sie. Er sollte sich jetzt besser umdrehen – dachte sie – , die Treppe hochgehen und im Haus verschwinden.

Aber er blieb. Stand viel zu nah vor ihr. Sah hinunter, zwischen ihre Brüste, dahin, wo ihr schwarzes Gothic-Kreuz an der dünnen silbernen Kette hing, die sie ihrer Mutter gestohlen hatte.

Als sie ihre Lippen öffnete, floss ein elektrischer Strom, schon bevor sie seine Lippen berührte. Sie wusste, dass sie nach Rauch schmeckte, aber es schien ihn nicht zu stören. Er war vorsichtig, als ob er sich selbst nicht sicher war, und das erregte sie nur noch mehr. Sie taumelte, hielt sich an ihm fest und spürte, wie ihr Regenwasser in den Kragen lief. Sie musste lachen, hielt inne und – konnte nicht anders, als seine Lippen anzustarren und ihn dann wieder zu küssen, viel heftiger, als sie wollte. Sie erinnerte sich an früher, es war wie ein Flashback, sie, mit 14 auf dem Schulhof, verstohlen nach Jan schielend, mit schwitzigen Händen und ihrem unerträglich schnell schlagenden Herz. Jan war so anders gewesen. Still und sensibel. Kein ständiges Auf-die-Brust-Getrommel wie bei den anderen Jungs. Er war, wie It could be sweet von Portishead klang, genauso verloren, genauso melancholisch, genauso süß.

Die Küsse lösten ein Feuerwerk in ihrem Kopf aus, und ihr wurde schwindelig.

Gibt es das?

Das kann nicht sein. Nicht so. Das sind nur Küsse!

Sie spürte die Spitzen ihrer Brüste, die Gänsehaut überall. In ihrem Rücken meldete sich der wohlbekannte ziehende Schmerz. Innerlich verfluchte sie ihren Zyklus, und dankte ihm zugleich auf Knien. Wären nicht ihre Tage im Anmarsch gewesen, sie hätte hier und jetzt mit ihm geschlafen, weil es sich mit Jan plötzlich anfühlte, wie nach Hause zu kommen, obwohl sie nie wirklich ein Zuhause gehabt hatte. Als wäre das in der Schule nicht nur eine Teenie-Schwärmerei gewesen, sondern er schon damals der einzige Mensch, der sie hätte verstehen können, ein Seelenverwandter.

»Das hab ich mir immer gewünscht, damals«, flüsterte Jan ihr ins Ohr.

Sie presste ihn an sich. »Warum hast du nie was gesagt?«

»Du hast doch nie etwas gesagt. Und plötzlich warst du weg. Einfach so.«

Plötzlich versteifte sie sich in seinen Armen. Als wäre es ihre Schuld gewesen, dass sie damals weggemusst hatte. Was fiel ihm ein, so etwas auch nur zu denken!

Eine Bodenwelle riss sie aus ihren Gedanken. Katy stieß einen überraschten Laut aus, und Greg bremste den Cherokee ruckartig ab. Hinter ihnen scherte ein schwerer SUV nach links aus, fuhr neben sie und hielt einen Moment ihr Tempo. Am Steuer saß eine dunkle Gestalt, die durch die nassen Scheiben vorwurfsvoll zu ihnen herüberzustarren schien – ein gefährliches Manöver auf der immer höher ansteigenden Küstenstraße.

»Ja, ja. Schon gut«, knurrte Greg in Richtung des Fahrers. »Reg dich ab.«

Der Wagen fuhr immer noch neben ihnen her. »Verschwinde«, knurrte Greg und zeigte mit seiner Linken den Mittelfinger.

Der Mann – wenn es überhaupt ein Mann war – reagierte nicht darauf. Für einen Moment schien es Laura so, als hätte er seinen Blick ausschließlich auf sie gerichtet.

Sekunden später wurde der SUV langsamer und fiel zurück.

»Penner«, murmelte Katy und drückte mit ihrer Hand beschwichtigend Gregs Arm.

Laura verdrehte die Augen. Schon auf der Hinfahrt hatte Katy bei jeder Gelegenheit an Greg herumgefingert. Ihre weit auseinanderstehenden dunklen Augen brannten förmlich für ihn, und sie fragte sich allmählich, ob Katy Jan nur mit ihr hatte verkuppeln wollen, um ungestört mit Greg zusammen zu sein.

Es rauschte dumpf, als der Cherokee durch eine breite Pfütze fuhr und auf die D6007, die Avenue Bella Vista, Richtung Èze abbog. Nach ein paar hundert Metern teilte sich die Straße und wurde zweispurig. Bogenförmige Straßenlampen warfen in regelmäßigen Abständen Lichtinseln auf den nassen Asphalt. Rechts unten lagen die Lichter von Beaulieu und wurden immer kleiner. Links türmten sich Felswände oder bewaldete Hänge, die sich im Dunkeln verloren.

Laura dachte wieder an Jan und daran, dass sie insgeheim gehofft hatte, er käme mit nach Beaulieu. Sie kramte in ihrer Jackentasche, zog ihr Handy hervor und überlegte, ihn anzurufen. Doch das Display zeigte Kein Netz an. Aus dem Augenwinkel registrierte sie plötzlich einen Lichtreflex, dann einen klobigen Schatten neben sich. Der SUV war wieder da und wollte offenbar überholen.

»Was will der denn schon wieder«, murmelte Greg. Offenbar drückte er aufs Gas, denn der Cherokee zog spürbar an.

Für einen langen Moment schien es, als könnte sich der Fahrer des SUV nicht entscheiden, ob er überholen oder langsamer werden wolle, stattdessen hielt er das Tempo mit dem schneller werdenden Cherokee und fuhr links neben ihnen. Die grellen Halogenscheinwerfer der beiden Wagen durchschnitten den Regen. Die Tachonadel kletterte auf 80, dann 90 Stundenkilometer.

»Greg …«, sagte Katy leise.

Greg starrte stur geradeaus, seine Kieferknochen traten deutlich hervor.

Für einen Augenblick fürchtete Laura, der SUV könnte sie abdrängen, über die Leitplanke und in den Abgrund. Sie reckte den Hals, versuchte den Fahrer zu erkennen, der offenbar wieder direkt zu ihr herüberstarrte.

Auch das noch.

Mit ein paar Tastendrücken aktivierte sie den Videomodus ihres Handys und tat das, was die meisten schrägen Typen verschreckte: Sie hob die Kamera und filmte den Mann so demonstrativ wie möglich. Ob er sie sehen konnte, im dunklen Fond des Wagens? Jedenfalls warf die Straßenbeleuchtung alle fünfzig Meter ein Schlaglicht auf die beiden Wagen.

Und dann, ganz plötzlich, blitzte aus dem Nichts ein Licht am Rand der Straße auf.

Laura sog scharf die Luft ein. »O Gott«, murmelte sie leise. Für einen Augenblick meinte sie das Gesicht des Fahrers gesehen zu haben, aber es hatte so unwirklich ausgesehen, so grotesk, dass sie ihren Augen nicht trauen mochte. Sie ließ das Handy sinken. Kälte kroch ihr den Rücken empor.

»Na bravo«, knurrte Greg. »Hier ist Tempo siebzig.«

»Wieso? Wie schnell warst du denn?«, fragte Katy.

»Auf jeden Fall schneller.«

Laura sah, wie der SUV wieder zurückfiel. Sie wollte sich umdrehen, sich vergewissern, dass der Wagen verschwand, aber irgendetwas sagte ihr, dass sie es lassen sollte, dass die unheimliche Gestalt am Steuer des Wagens das vielleicht sogar als Aufforderung auffassen könnte.

»Habt ihr das eben auch gesehen?«, fragte sie.

»Stell dir vor, ich hab sogar direkt ins Licht geguckt und nett gelächelt«, ätzte Greg, »damit ich wenigstens ein ordentliches Foto für mein Geld bekomme.«

»Schon okay«, sagte Katy. »Wir teilen uns das Knöllchen.«

Der Cherokee fuhr durch eine tiefe Pfütze und warf lautstark links und rechts Wasserfontänen auf.

Katy quietschte und fasste Greg am Arm.

Laura stöhnte genervt.

Vor ihnen tauchte der Tunnel auf, und die D6007 wurde wieder schmaler – mit nur einer Spur in jede Richtung. Laura wollte endlich raus aus der verdammten Blechbüchse. Hätte es nicht geschüttet wie aus Eimern und wäre da nicht dieser unheimliche Typ gewesen, sie wäre ausgestiegen und zu Fuß gelaufen.

Das nächste Mal, sagte sie sich, bleibe ich bei Jan.

Irritiert stellte sie fest, wie sehr sie sich auf ihn freute. Noch fünf Minuten, dachte sie. Ein paar Kilometer die Moyenne Corniche hinauf bis nach Èze und von dort wieder ein paar Serpentinen den Steilhang hinab bis zum Haus …

Dann kam der Tunnel. Die Einfahrt glich einem Maul und verschluckte den Cherokee in der 200 Meter langen, schwarzen Felsröhre.

Kapitel 4

Èze – Côte d’Azur, 17. Oktober, 22:18 Uhr

Jan hatte alles Mögliche versucht, um sich nicht verrückt zu machen, um nicht ständig daran zu denken, dass Laura vielleicht verschwunden war, vor einem Supermarkt in einer fremden Kleinstadt.

Doch es half nichts.

Seit letzter Nacht kreisten seine Gedanken ohnehin unablässig um Laura. Als hätte es keine Pause zwischen damals und heute gegeben. Er kam sich vor wie mit 14, die gleichen jäh aufflammenden Gefühle, das gleiche schneller schlagende Herz, nur dass sein Spiegelbild in der Glasscheibe einen 34-Jährigen zeigte. Einen erwachsenen Mann.

Ob es denn funktionieren würde, das mit dem Verkuppeln, hatte Laura ihn letzte Nacht gefragt.

Er hätte etwas Charmantes erwidern können, ausweichen können, Zeit gewinnen, oder einfach nur lächeln. Stattdessen war es brüsk aus ihm herausgeplatzt: »Ich tue grundsätzlich nicht, was meine Schwester sagt. Schon aus Prinzip nicht.«

Bereits im selben Augenblick hätte er sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Warum fiel ihm im richtigen Moment bloß immer das Falsche ein? Er hatte keine Ahnung, weshalb sie ihn trotzdem geküsst hatte. Als es geschah, war es wie eine Erlösung gewesen, als hätte sich aus schwarzem Rauch eine weiße Wolke gebildet. Die Zeit setzte aus, als wäre nichts von Bedeutung, außer dem Moment, ganz so, als gäbe es keine Vergangenheit, als wäre Theo nicht durch die Windschutzscheibe geflogen und seine Mutter nie abgehauen.

Hier und jetzt mit Laura fühlte sich alles gut an. Er fühlte sich gut. Nicht mehr wie ein verlassenes Kind, nicht mehr wie ein schuldiges Kind.

Und dann war der Faden wieder gerissen.

»Warum hast du nie etwas gesagt?«, hatte sie ihn gefragt.

»Du hast doch nie etwas gesagt, und dann warst du plötzlich weg.«

Ihm war erst hinterher aufgefallen, dass sie das vielleicht als Vorwurf empfand. Warum auch immer sie damals von der Schule verschwunden war, es war sicher auch für sie nicht gerade einfach gewesen.

Sie war steif geworden wie ein Brett, hatte sich aus seinen Armen gelöst und war von ihm abgerückt. »Was heißt hier du?«

»Nein, versteh mich nicht falsch, ich hätte ja auch was sagen können, aber …«, er stockte kurz, sah sie an. »Du warst so … unnahbar …«

»Unnahbar?« Ihre Augen verengten sich, ihre Wangen wurden rot. »Du meinst, so wie deine Patienten in der Tagesklinik? Die nicht von dir therapiert werden wollten? Und vor denen du abgehauen bist?«

Peng. Er merkte, dass er ebenfalls rot wurde. Vor Wut. Vor Verlegenheit. »Was soll das denn jetzt? Das hat doch damit nichts zu tun. Das waren Alkoholiker. Die sind zum Teil mit über zwei Promille eingeliefert worden, zum zigsten Mal, und … die wollten alles Mögliche, aber ganz sicher keine Hilfe von einem ahnungslosen Berufsanfänger. Außer ich hätte ihnen Schnaps gebracht.«

Sie hatte ihn angestarrt, mit einem seltsamen Gesichtsausdruck. Irgendwie wütend und genauso verletzt wie er, als hätte er einen wunden Punkt getroffen. »Du meinst, es braucht immer nur der Hilfe, der um Hilfe bittet?«

»Willst du jetzt etwa ernsthaft mit mir über die Psychologie von Alkoholikern diskutieren?«, fragte er.

Ihr Blick flackerte kurz. Stumm sah sie an ihm vorbei in die Dunkelheit, mit leerem Blick, dahin, wo das Meer lag.

»Nein, will ich nicht«, sagte sie rau, drehte sich um und öffnete die Tür. Ihre Silhouette zeichnete sich scharf vor dem Licht im Innern ab.

Warum reagierte sie so empfindlich? Konnte es etwa sein, dass … Er stutzte. Ihm fiel plötzlich ein, dass Laura die Einzige gewesen war, die am Abend partout keinen Wein hatte trinken wollen.

»Laura, ich –«

Sie hob ihre Hand und schnitt ihm das Wort ab, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. Das Geräusch, mit dem sie die Tür zuzog, war wie ein Déjà-vu. Nur ein einziges Geräusch hatte sich ebenso tief in seine Erinnerung gebrannt wie diese Tür: das Schliddern von Reifen auf regennassem Asphalt, nahtlos gefolgt von berstendem Glas und gestauchtem Metall.