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Wenn Du erwachst, ist nichts wie zuvor. Ein kleiner Junge verschwindet. Doch der Fall taucht in keiner Akte auf. Fünfzehn Jahre später verschwindet Dana Karasch, seine ältere Schwester. Doch auch für sie scheint sich niemand zu interessieren. Bis auf Art Mayer. Denn der ruppige BKA-Ermittler hat Danas kleine Tochter Milla, die in der Etage unter ihm wohnt, ins Herz geschlossen. Als Art einen mächtigen Freund um Hilfe bittet, stößt er in ein Wespennest. Ein anonymer Hinweis führt ihn und Nele Tschaikowski zu einer verlassenen Wohnwagensiedlung im Wald, fernab der Zivilisation. Dort finden sie mehrere namenlose Tote – und den aufgeschlitzten Körper eines angesehenen Berliner Richters. »Figuren, Plot, Timing – hier stimmt einfach alles.« krimi-couch.de Wer den Thriller des Jahres sucht, kommt an Marc Raabe nicht vorbei.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Nacht
MARC RAABE hat eine TV- und Medienproduktion aufgebaut, bevor er sich 2021 für ein Leben als Autor entschied. Zu diesem Zeitpunkt begann er mit der Art-Mayer-Serie. Der Morgen und Die Dämmerung wurden zu großen Bestsellererfolgen.Raabes Handwerkszeug sind filmisches Erzählen, Schnitttechniken, Cliffhanger und Psychologie. Das Ergebnis: ein rasantes Kopfkino mit Tiefe. So wie seine Ermittlerfiguren bricht auch Marc Raabe hin und wieder Regeln.
Ein kleiner Junge verschwindet. Doch der Fall taucht in keiner Akte auf. Fünfzehn Jahre später verschwindet Dana Karasch, seine ältere Schwester. Doch auch für sie scheint sich niemand zu interessieren.Bis auf Art Mayer. Denn der ruppige BKA-Ermittler hat Danas kleine Tochter Milla, die in der Etage unter ihm wohnt, ins Herz geschlossen. Als Art einen mächtigen Freund um Hilfe bittet, stößt er in ein Wespennest.Alarmiert folgen er und Nele Tschaikowski einem anonymen Hinweis zu einer verlassenen Wohnwagensiedlung im Wald, fernab der Zivilisation. Dort finden sie mehrere namenlose Tote – und den aufgeschlitzten Körper eines angesehenen Berliner Richters. WER DEN THRILLER DES JAHRES SUCHT, MUSS RAABE LESEN.
Marc Raabe
Thriller
Ullstein
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© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2025Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenUmschlagmotive: © FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Hans ScherhauferE-Book powered by pepyrus
ISBN978-3-8437-3098-3
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Titelei
Das Buch
Titelseite
Impressum
Prolog
I.Die Lügner
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Dana
Kapitel 6
Dana
Kapitel 7
Dana
Kapitel 8
Dana
Kapitel 9
Dana
Kapitel 10
Dana
Kapitel 11
Dana
Kapitel 12
Kapitel 13
Dana
Kapitel 14
Dana
Kapitel 15
Dana
Kapitel 16
Kapitel 17
Dana
II. Die Wahrheit
Kapitel 18
Dana
Kapitel 19
Dana
Kapitel 20
Kapitel 21
Dana
Kapitel 22
Dana
Kapitel 23
Kapitel 24
Dana
Kapitel 25
Dana
Kapitel 26
Dana
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
III. Die andere Wahrheit
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Dana
Kapitel 37
Drei Tage später
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Anhang
Social Media
Vorablesen.de
Cover
Titelseite
Inhalt
Prolog
Für alle,die glauben, die Wahrheit zu kennen.
Ist die Wahrheit nicht ein tückisches Biest? Sie kann heute anders sein als morgen, für dich anders als für mich – und am Tag anders als in der Nacht.
Kaum fühlst du dich sicher, beißt sie zu. Deshalb hast du Angst vor ihr. Und beim Versuch, ihr zu entkommen, wirst du lügen.
Nur, Lügen beißen auch.
Flashback – Die Revolvermündung auf der Stirn. Taschenlampenlicht, so grell, dass es blendet. Sie hört den Wind in den Bäumen. Dann die Frage, wütend, gezischt: »Was ist passiert?« Klar, die wichtigste Frage überhaupt. Die einzige Frage. Die Antwort wäre so einfach, aber nicht, wenn man überleben will.
Der Flashback verblasste ebenso schnell, wie er gekommen war.
Der Vollmond hing über ihr wie eine matte Lampe im Dunst. Adi ging direkt vor ihr. Seine Stableuchte erhellte den Waldboden; er ließ ihren Schein hin und her pendeln. Das Ding sah aus wie ein zu kurzes Laserschwert. Es roch nach Sommer, Fichten, Moos und Vergänglichkeit. Adis Stiernacken bewegte sich im Rhythmus seiner Schritte. Die Tattoos wanden sich wie Schlangen an seinen Armen.
»Und er ist wirklich noch da?«, fragte sie.
»Wirst schon sehen«, knurrte er.
Wie lange war sie nicht mehr hier gewesen?
Dreizehn Jahre?
Gott, diese Nacht hatte sie aus der Bahn geworfen. Und Adi wohl auch, nur nicht ganz so wie sie.
Einmal mehr sah Adi sich nach ihr um. Misstrauisch. Als wäre mit ihr etwas nicht in Ordnung. So sah er sie schon die ganze Zeit an. Was um Himmels willen war bloß los mit ihm? Warum benahm er sich so strange? Der federnde Waldboden kam ihr plötzlich vor wie dünnes Eis.
Musste sie vor Adi Angst haben? Sie hatte gedacht, über diesen Punkt wären sie hinaus, nach allem.
Die ersten Umrisse schälten sich aus dem Dunkel. Wohnwagen und Trailer, dicht gedrängt zwischen jungen Bäumen. Die Siedlung oder was von ihr übrig war. Keiner der Camper war mehr beleuchtet, warum auch, hier lebte niemand mehr. Trotzdem war da in einer der hinteren Reihen ein rötlicher Schein. Adis Taschenlampe fing ein Warnschild ein, das am Boden lag: Vorsicht, Elektrozaun. Adi hatte ihr davon erzählt. Ein Maschendrahtzaun, von ihm aufgestellt, damit sich niemand hier herumtrieb. An einer Stelle war er niedergerissen worden, und sie stiegen über den sich am Boden wellenden Draht. Das Gitter knirschte unangenehm, junge Triebe knickten unter ihren Schritten. Sie schlängelten sich durch die erste Reihe, dann sah sie den Wohnwagen.
Ihr Herz begann zu rasen.
Die Fenster leuchteten dunkelrot.
Zugezogene Vorhänge. Im Inneren Licht.
Flashback – Drei Schüsse. Ein scharfer Geruch in der Luft, wie Schwefel und Holzkohle. Stille. Nur das Stöhnen und ihr eigener Schrei, als sie sieht, wer da liegt.
Die Erinnerung war so verflucht klar. So detailreich, als wäre es gerade eben erst passiert. Sie schüttelte sie ab.
Adi öffnete die Tür des Wohnwagens. Die alten Scharniere quietschten leise. Die Taschenlampe streifte die Außenhaut. Überall Schmutz und Narben aus alten Zeiten.
»Geh ruhig rein«, murmelte Adi. Er hielt ihr die Tür auf und sah sie mit diesem schrägen Blick an, als würde etwas mit ihm nicht stimmen. Sie überlegte kurz, ob es besser war, die Segel zu streichen, einfach davonzulaufen.
Aber sie musste in diesen Wohnwagen.
Und Adi? Wahrscheinlich hatte er einfach nur einen Hau, wie sie alle nach dieser Nacht.
Wie sollte einen so was auch loslassen?
Sie starrte ins Innere des Campers. Es war, als gäbe es unsichtbare Fäden zwischen ihr und all den Dingen, die im Wagen waren. Eine Woge schlug über ihr zusammen. Bunte Lichterketten, farbig leuchtende Tupfer an den Wänden. Die Fotos! Das kleine Holzkreuz mit dem geschnitzten Jesus an der Schranktür. Der beige Topf mit den orangen Punkten. Die kleine Küche aufgeräumt, die Herztasse auf dem Resopaltisch mit den runden Ecken. Damit niemand sich wehtut, hatte Mutter damals gesagt und mit ihrem Zeigefinger sanft auf eine der gerundeten Stellen getippt. Das war es doch, was eine Mutter tat, oder? Sie gab acht, dass niemand und nichts einen verletzen konnte.
Wäre er nicht gewesen, wäre ihr das vielleicht auch gelungen.
Ihr Blick fiel erneut auf die Fotos. Was fehlte, war ein Bild von ihnen allen. Sie würde nächstes Mal eins mitbringen. Wenn es denn ein nächstes Mal gab.
»Geh ruhig rein, deswegen bist du ja hier, oder?« Adi nickte ihr aufmunternd zu.
Warum war er jetzt so nett? Okay, vielleicht deshalb, weil er etwas wiedergutzumachen hatte.
Der Boden knarzte, als sie eintrat. Da war Jonathan! Er saß zusammengesunken vor dem hinteren Fenster zwischen den Kissen auf der Matratze und sah sie mit leblosen Augen an. Sie schluchzte auf, bekam einen Augenblick keine Luft.
»Ist wie ’ne Zeitmaschine, oder?«, sagte er.
Sie nickte. »Wie lange darf ich hierbleiben?«
Adi lächelte vieldeutig. »Von mir aus für immer.«
Sein »für immer« hörte sich merkwürdig an, so wie er es betonte. So endgültig. Ihr wurde plötzlich eiskalt.
»Aber vorher müssen wir über was sprechen«, knurrte Adi.
»Worüber denn?«
Adi öffnete seine Gürtelschnalle, ein schweres kantiges Stück Metall mit einem grob gehauenen Totenkopf. »Du hast damals nicht die Wahrheit gesagt, oder?«
»Doch«, widersprach sie. »Natürlich!« Sie, Dana, war jederzeit bereit zu schwören, dass sie die Wahrheit gesagt hatte.
»Du weißt noch«, sagte er kalt, »was Walter mit Leuten gemacht hat, die gelogen haben?«
Ihr gefror das Blut in den Adern.
Wenn es danach ging, hätten sie alle tot sein können.
Aber sie waren nicht alle tot.
Nur einige.
Adi zog den Gürtel aus seiner Hose und wickelte das Leder um seine Hand. »Die Wahrheit«, forderte er. »Sag mir, was damals wirklich passiert ist.«
Sie sah auf die baumelnde Schnalle, dann in sein Gesicht. Es sprach alles dafür, dass sie die Nächste war, die starb.
Kurz vor vier. Gerade noch rechtzeitig.
Nele Tschaikowski schaltete den Motor des Volvos aus. Ein familienfreundlicher Kombi, natürlich. Sie saß wirklich in jeder Hinsicht in der Falle. Erst Roman mit seiner Dauerflucht vor seinen Vaterpflichten, und jetzt auch noch Art. Sie ärgerte sich, dass sie sich einverstanden erklärt hatte. Was war so schwer an einem einfachen Nein? Gut, er hatte es wirklich dringend gemacht, wie immer allerdings, ohne ihr den wahren Grund zu nennen. Und, hey, da sie ohnehin zurzeit nicht im Dienst war, schien sie die perfekte Besetzung für die Rolle zu sein.
Mama für alle.
Nele seufzte, stieg aus dem Wagen und sah in den orangefarbenen Staub-Himmel über der Elbe-Schule in Neukölln. Seit gestern Nachmittag brannte es südlich von Berlin. Bei Blake standen mehr als 200 Hektar Wald in Flammen. Der Rauch zog direkt über die Stadt, und als wäre das nicht genug, trug der Wind auch noch Saharastaub über das Mittelmeer bis nach Berlin. Die Sonne war eine trübe rötliche Scheibe, und in den sozialen Medien kursierten apokalyptische Bilder, die den Anschein erweckten, Berlin sei eine Stadt auf dem Roten Planeten.
Nele nahm einen prüfenden Atemzug.
Immerhin, die Luft auf dem Mars war halbwegs okay. Ein Mundschutz wäre ihr übertrieben vorgekommen, obwohl sie auf der Fahrt bereits ein paar Menschen damit gesehen hatte.
Sie band sich das Tragetuch um und nahm ihren schlafenden Sohn aus dem Kindersitz auf der Rückbank. Als sie ihn ins Tragetuch schob, meldete sich ihr Rücken. Lasse war inzwischen sieben Monate alt und wog jetzt fast acht Kilo. Instinktiv ruckelte sich der Kleine zurecht und drückte sich an sie.
Nele schloss die Autotür und wandte sich der Schule zu, einem klotzigen grauen alten Bau aus der Jahrhundertwende. Die Nachmittagsbetreuung war gerade zu Ende, und Kinder tröpfelten aus der Rundbogentür und liefen die kurze Treppe hinab. Ein paar Meter von Nele weg stand ein junger Mann mit Basecap und einem flaumweichen Tu-so-Bart, der sein Handy zückte und zur Schultür blickte. Er kam ihr irgendwie unreif und für einen Vater deutlich zu jung vor.
Nele fragte sich, welches Kind wohl zu ihm gehörte. Vielleicht holte er auch nur ein jüngeres Geschwister ab.
In diesem Moment kam Milla durch die Tür. Sie trug einen Schulranzen auf dem Rücken und blickte sich suchend um. Milla war jetzt acht, und gemessen an Lasse kam sie Nele geradezu erwachsen vor. Nele hob die Hand und winkte, im selben Augenblick bekam Milla etwas von hinten an den Kopf, ein paar braune Spritzer flogen durch die Luft, und dann landete ein kleiner, halb aufgerissener Tetra Pak neben ihr. Milla blieb stehen, als wäre sie vor eine Wand gelaufen. Hinter ihr traten zwei Jungs feixend aus der Schultür. »Grüß schön zu Hause«, rief der eine, ein schlaksiger Junge mit Undercut. Er trug ein hellblaues T-Shirt mit der Aufschrift Falcon.
»Ja, die bekloppte Omma«, lachte sein deutlich kleinerer Kumpel.
Neles Herz zog sich zusammen. Dass Milla allein mit ihrer halb dementen Großmutter zusammenleben musste, war schon Strafe genug, aber das hier war wirklich zu viel. Milla rührte sich nicht, ertrug es stumm und schien abzuwarten, bis alles vorbei war. Der kleinere der Jungs lief an ihr vorbei und rempelte sie an, und Nele wollte die beiden scharf zurechtweisen, da sah sie, dass Milla ganz leicht ihr rechtes Bein herausstellte. Der Schlaksige, der gerade an ihr vorbeilief, reagierte zu spät, stolperte, stieß einen überraschten Schrei aus und fiel vornüber die Treppenstufen hinab.
Nele rutschte ein verblüfftes Lachen heraus. Im selben Moment registrierte sie, dass der Typ mit der Basecap die ganze Szene mit seinem Handy filmte.
Der Schlaksige rappelte sich wütend auf und rieb sich die Ellenbogen. »Ey, du blöde Hirni-Schlampe. Jetzt biste fällig.«
Nele hatte endgültig das Gefühl, einschreiten zu müssen, doch Milla hob beide Fäuste dicht vor ihr Gesicht, stellte ihre Füße breitbeinig und etwas versetzt auf den Boden, dabei beugte sie sich mit grimmig entschlossener Miene vor. Himmel, wo hatte sie sich denn das abgeschaut? Bei Mike Tyson? Der Schlaksige, der gerade die Stufen zu ihr hinauflief, blieb zögernd stehen. »Ich kann boxen«, rief Milla warnend.
»Na klar«, rief der Kleinere von unten spöttisch. »Und wer hat’s dir beigebracht? Deine Alzheimer-Omi?«
»Mein Vater ist Polizist, der macht so was dauernd«, krähte Milla.
Nele blieb der Mund offen stehen. Sie beschloss, noch etwas abzuwarten. Solche Mobbingsituationen mit Jungs kannte sie von früher zur Genüge. Wenn Milla das allein schaffte, war das mehr wert, als von einer Erwachsenen gerettet zu werden.
»Ach ja? Und wo ist dein angeblicher Polizisten-Daddy gerade?«, fragte der Schlaksige, der zwei Stufen unterhalb von Milla stehen geblieben war.
»Der holt mich heute ab, du Blödarsch.«
»Huh, jetzt hab ich aber Angst«, sagte der Junge, ging auf Milla zu, hob selbst die Fäuste und fuchtelte damit witzelnd herum. Im selben Moment ließ Milla ihre geballte rechte Faust vorschnellen, traf dabei zufällig eine der Fäuste des Jungen, und ehe der sich versah, prallte ihm die eigene Faust durch den Schwung von Millas Schlag ins Gesicht.
Der Junge stieß einen überraschten Laut aus, stolperte, fiel erneut die Treppe hinab und schrammte sich den Unterarm auf dem Gehweg auf.
Nele konnte sich nur mit Mühe ein lautes Lachen verkneifen.
Hinter Milla war ein Mädchen mit roten Haaren und blasser Haut aus der Tür gekommen. Mit großen Augen sah sie auf den gestürzten Jungen herab. Ein Lächeln huschte über ihr angestrengtes Gesicht. Sie ging an Milla vorbei, flüsterte ihr dabei etwas ins Ohr, dann eilte sie die Treppe hinab.
Diesmal war der Junge nicht so schnell wieder auf den Beinen. »Ey, das gibt Ärger«, brummte er undeutlich, während ihm sein kleinerer Kumpel auf die Beine half.
Milla sah dem Mädchen mit den roten Haaren nach, wie sie die Straße hinunterging.
»Komm schon, die machst du doch voll mit links fertig«, munterte der Kleinere den Schlaksigen auf.
»Nee, lass ma«, brummte der Schlaksige und verrenkte seinen Arm, um die Schürfwunde zu betrachten. »Wann anders.« Dann warf er Milla noch ein genuscheltes »Hirni-Schlampe« zu und trat mit seinem Kumpel den Heimweg an.
»Głupi Dupek«, rief Milla ihm halblaut nach, dann sah sie sich erneut suchend um.
»Hey, Milla. Hier«, rief Nele, überquerte die Straße und ging auf sie zu. Milla strich sich die widerspenstigen dunklen Haare aus dem Gesicht, erkannte sie und schien enttäuscht.
Kein Wunder. Sie erwartete ja Art. Im letzten Jahr war der knurrige Ermittler zu so etwas wie einem neuen Dreh- und Angelpunkt für sie geworden, zumal ihre Mutter spurlos verschwunden und ihr Vater bereits vor langer Zeit abgehauen war. Art hatte Milla ein paarmal nachts im Treppenhaus aufgelesen, weil sie Stress mit ihrer Großmutter hatte. Inzwischen hatte Nele den Eindruck, dass Milla häufiger in Arts Wohnung anzutreffen war als bei ihrer Oma im Stockwerk drunter.
Und nun ließ Art sie ausgerechnet heute im Regen stehen.
»Hey, Milla.« Nele strahlte sie an. »Happy Birthday!«
Milla gab ihr ein halbes Lächeln zurück. »Hallo, Nele. Danke. Wo ist Art?«
»Er kann nicht kommen. Er hat leider ’nen Einsatz, soll ich dir sagen.«
Milla runzelte die Stirn, nahm wie selbstverständlich ein Telefon heraus und checkte die Nachrichten, fand aber offenbar nicht, was sie suchte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Nele. »Das hast du gut gemacht, mit den beiden da.« Sie deutete auf die Jungs, die in einiger Entfernung nebeneinander die Straße hinunter gingen. »Ich wollte dich abholen. Gehen wir ein Geburtstagseis essen? Oder einen Kuchen?«
Milla seufzte. »Okee.«
Nele hielt ihr die Hand hin.
»Ich bin doch kein Baby mehr«, sagte Milla, warf ihre Locken zurück und guckte sich um.
»Ich weiß, du bist Mike Tyson.«
»Wer ist Mike Tyson?« Milla runzelte die Stirn.
»Egal, nur so ein Typ. Aber er kann nicht halb so gut boxen wie du.«
Milla zögerte, dann zuckte sie mit den Achseln. »Okee. Weil du es bist.« Sie nahm Neles Hand, und sie schlenderten gemeinsam über die Straße zum Wagen.
»Was hast du den Jungs da vorhin nachgerufen?«, fragte Nele.
»Och, nichts. War nur Geheimsprache.«
»Und was hieß das in Geheimsprache?«
»So was wie Blödmann.«
»Treffend«, meinte Nele und nahm sich vor, die Worte Głupi Dupek zu googeln. »Und wer war das andere Mädchen?«
Millas Gesicht war ein Fragezeichen.
»Die mit den roten Haaren. Die, die dir was zugeflüstert hat.«
»Ach, die. Das war Rosa«, meinte Milla, schien aber nicht bereit zu sein, über Rosa ein weiteres Wort zu verlieren. Der junge Mann mit der Basecap filmte oder fotografierte immer noch. Nele sah sich um. Außer ihr und Milla war niemand mehr da, den er hätte aufnehmen können. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. »He, Sie! Was soll das werden?«, rief sie.
Der Kerl sah vom Display auf, schien zu überlegen, filmte aber weiter.
»Was das werden soll, hab ich gefragt.«
»Ey, chill ma, Mutti. Ich film die Schule, siehste doch.« Er ließ das Handy sinken und machte einen Schritt zurück.
Nele steuerte jetzt direkt auf ihn zu. »Kannst du gerne machen, aber ohne fremde Kinder zu filmen. Ich will, dass du das sofort löschst, klar?«
Der junge Mann machte einen weiteren Schritt zurück. Nele schätzte ihn auf höchstens zwanzig, vielleicht sogar jünger.
»Alte, was willst du, ich hab doch gar nichts gemacht.«
Alte! Sie war gerade mal sechsundzwanzig – was bildete der Typ sich ein?
»Hör zu, ich bin Polizistin«, sagte Nele bestimmt, »und bei fremden Männern, die kleine Mädchen vor der Schule filmen, da läuten bei mir die Alarmglocken. Du gibst mir jetzt dein Handy, wir löschen den Clip, und dann verziehst du dich hier, klar?«
Schon beim Wort »Polizistin« hatte der Kerl mit der Basecap einen weiteren Schritt zurück gemacht, nun drehte er sich um, zog die Cap tief in die Stirn und ging mit raschen Schritten davon.
»Hey – das war ernst gemeint«, rief Nele. Sie ließ Millas Hand los, drückte Lasse mit einem Arm fester an sich und ging in einen Laufschritt über. Der junge Mann begann zu rennen, wechselte die Straßenseite und bog dann um die nächste Ecke. Nele lief, so schnell sie konnte. Sie wusste, dass sie ihn nicht einholen würde – nicht mit Lasse vor der Brust –, aber irgendwie hoffte sie, dass sie ihn vielleicht sehen würde, wie er in ein Auto stieg oder auf ein Mofa, und hoffte, sich ein Kennzeichen merken zu können. Keuchend bog sie um die Ecke. Der junge Mann hatte inzwischen fast zwanzig Meter Vorsprung und lief direkt auf einen Motorradfahrer zu, der am Straßenrand auf einer laufenden Maschine wartete.
»Hey! Stopp!«, rief Nele. Lasse fing an zu strampeln und zu weinen.
Der Motorradfahrer war ganz in Schwarz gekleidet. In seinem dunklen Helmvisier spiegelte sich die Straße. Der junge Mann blieb bei ihm stehen, gab ihm das Handy, doch statt hinten aufzusteigen, wie Nele es erwartet hatte, rannte er einfach weiter die Straße hinunter. Der Motorradfahrer drehte das Gas auf, lenkte das Motorrad auf den Bürgersteig und steuerte direkt auf Nele zu. Abrupt blieb sie stehen, hörte das Aufheulen des Motors, der wie eine schwere Kreissäge klang, sah den Scheinwerfer direkt auf sich zufliegen und drückte sich bäuchlings an die Hauswand, um Lasse zu schützen.
Kurz vor vier. Es wurde hell, und Art Mayer blickte zur Decke. Neun Meter über ihm war gerade die Studiobeleuchtung eingeschaltet worden; die Talk-Arena war jetzt vollständig ausgeleuchtet. Zwei Lichtdoubles wurden angewiesen, sich dorthin zu setzen, wo um halb fünf die Moderatorin Vera Björk und ihr Gast Platz nehmen würden. Wenn es nach ihm gegangen wäre, würde er in diesem Augenblick Milla von der Schule abholen. Aber weder Zeit- noch Treffpunkt hatte er vorgeschlagen. Beides war ihm diktiert worden – und da ein Treffen in seinem eigenen Interesse war, blieb ihm nichts anderes übrig, als hier zu sein.
Art Mayer wandte sich vom Set ab. Es lag mittig in der Halle und war von hohen schallschluckenden schwarzen Vorhängen umgeben, die sich nun hinter ihm wieder schlossen. Der Randbereich des Studios 7 lag im Halbschatten. Schilder wiesen den Weg zum Eingang der TV-Bühne. Art ging in die entgegengesetzte Richtung, passierte zwei Beamte der Sicherungsgruppe des BKA und spähte unruhig Richtung Hintereingang des Studios. Die Tür war etwa zehn Meter von ihm entfernt und lag im Halbdunkel, darüber leuchtete ein grünes Notausgang-Schild. Eine Produktionsassistentin mit einem Headset stand neben der Tür. Das Mikrofon an ihrem Mund hatte sie etwas beiseitegeschoben, nervös kaute sie am Nagel ihres Ringfingers.
Immer noch nichts.
Art drückte den Gedanken weg, ob er zu weit ging. Juristisch betrachtet war das, was er vorhatte, Erpressung. Aber die Ermittlungen steckten fest. Niemand schien sich mehr um diesen Fall zu scheren. Was blieb ihm also übrig?
Die Produktionsassistentin mit dem Headset ließ plötzlich von ihrem Fingernagel ab, nickte hastig und öffnete die Tür. Grelles Tageslicht fiel in den Gang. Zwei athletische Männer betraten das Studio und prüften die Umgebung mit Blicken. Hinter ihnen trat ein weiterer Mann ein, groß, mit einem perfekt sitzenden Anzug, umgeben von dieser speziellen Aura, die nur Macht verleiht.
»Herr Bundeskanzler«, begrüßte ihn die Produktionsassistentin beflissen und erntete ein freundliches Nicken. Hinter Henrik Westphal folgte ein halbes Dutzend weitere Personen. Arts Blick fiel auf eine Frau, und er stutzte. Im ersten Moment war sie nur ein Schattenriss, doch ihre fließenden Bewegungen und die Geste, mit der sie das Haar nach hinten strich, reichten, um sein Herz schneller schlagen zu lassen.
Es war unverkennbar Juli. Henrik war in Begleitung seiner Frau gekommen. Das war das Letzte, womit Art gerechnet hatte. Seit Monaten hatte er mit Juli kein Wort mehr gewechselt, noch nicht einmal eine WhatsApp. Es herrschte vollkommene Funkstille zwischen ihnen. Jeden Tag hatte er sich nach einem Gespräch mit ihr gesehnt, aber ganz sicher nicht hier und jetzt.
Die Tür fiel gedämpft ins Schloss, und die Gruppe kam auf ihn zu. Art blieb keine Zeit mehr zu überlegen.
Schon von Weitem breitete Henrik die Arme aus. »Art Mayer«, konstatierte er, »schön, Sie zu sehen, alter Freund.«
Art ließ sich in eine joviale Männerumarmung ziehen und knurrte: »Herr Westphal, hallo.«
Dicht an seinem Ohr flüsterte Henrik: »Ich gebe dir zehn Minuten, du Mistkerl.« Dann machte er einen Schritt zurück und wies auf Juli. »Meine Frau kennen Sie ja, sie ist heute zur Unterstützung mitgekommen. Wahlkampf, sage ich nur. Ein echter Zeitfresser. Wenn sie mich nicht ab und an begleiten würde, würden wir uns vermutlich gar nicht mehr sehen. Aber das ist es wohl, was eine gute Ehe ausmacht. Man findet immer einen Weg.«
Art sah Juli an, dass sie ebenso wenig auf ihre Begegnung vorbereitet gewesen war. Dennoch setzte sie rasch ein moderates Lächeln auf. »Herr Mayer, hallo.«
Küsschen links, Küsschen rechts.
Was für ein absurdes Theater.
Ihre Körper berührten sich kaum, doch die Luft zwischen ihnen war wie elektrisch geladen.
»Wir sind Ihnen heute noch dankbar«, sagte Henrik, »für das, was Sie damals für Juli getan haben. Oder, Schatz?«
Einige der Umstehenden nickten, obwohl sie gar nicht gefragt waren. Dass Art damals der entführten Frau des Bundeskanzlers das Leben gerettet hatte, war ins kollektive Gedächtnis des Landes eingebrannt. Was dagegen niemand wusste, war, dass Henrik, Juli und Art sich bereits seit ihrer Jugend kannten.
»Außerordentlich dankbar«, pflichtete Juli ihrem Mann bei. War da Ironie? Vielleicht. Aber dass jemand seine Anspannung mit Ironie überspielte, das kannte Art aus unzähligen Vernehmungen und anderen Situationen. Juli war da also keine Ausnahme.
»Herr Mayer«, fuhr Henrik fort, »ich hätte da noch eine persönliche Frage an Sie, vielleicht begleiten Sie mich kurz in die Maske?«
Art nickte nur.
Der kleine Tross setzte sich in Bewegung. Der Weg zur Maske war den Kollegen von der Sicherungsgruppe des BKA durch die Vorbesichtigung bekannt, und schließlich winkte Henrik Art in das fensterlose Zimmer, das für den Kanzler vorbereitet worden war. Mit einer kleinen Geste signalisierte Henrik den Beamten, dass sie allein sein wollten, warf Juli ein »bis gleich, Schatz« zu und bat die Maskenbildnerin mit einem höflichen Lächeln hinaus. Art war überrascht, auf wie viele verschiedene Weisen man Menschen aus einem Raum schicken konnte. Kaum waren sie allein, verschwand die routinierte Freundlichkeit aus der Miene des Kanzlers. »Dein Handy«, sagte Henrik und streckte fordernd die Hand aus. Art gab es ihm, und Henrik versicherte sich, dass es ausgeschaltet war.
»Okay. Jacke aus und Oberkörper frei«, sagte Henrik.
»Dein Ernst?«
»Ich muss sichergehen. Wundert dich das?«
»Du bist paranoid«, sagte Art.
»Ich bin nicht paranoid, ich bin Kanzler«, erwiderte Henrik ungerührt, »und seit deiner letzten Nachricht weiß ich, dass du versuchst, mich unter Druck zu setzen.«
»Wärst du ein anderer Mensch, müsstest du auch als Kanzler nicht paranoid sein.«
»Spar dir deine moralischen Anflüge. Du hattest ein Verhältnis mit meiner Frau.«
Art nickte, auch wenn er nicht ganz sicher war, ob ihn das moralisch disqualifizierte. Da gab es andere Dinge, die er mit sich herumtrug. Doch angesichts der WhatsApp, die er Henrik am Vormittag geschickt hatte, konnte er es ihm nicht verübeln, dass er alarmiert war. Rasch zog Art seine Jacke und das schwarze T-Shirt aus, Henrik tastete die Kleidungsstücke ab und ließ sie anschließend zu Boden gleiten. Dann wies er Art an, seine Hosentaschen nach außen zu kehren. Natürlich hätte Henrik auch einen seiner Securitys um eine Leibesvisitation bitten können, doch es war auch so schon seltsam genug, dass er wegen einer ›persönlichen Frage‹ mit Art allein in der Maske verschwand. Weiteres Aufsehen wollte er mit Sicherheit vermeiden.
»Schön«, sagte Henrik, nachdem er sich überzeugt hatte, dass Art weder ein Mikrofon noch ein Aufzeichnungsgerät bei sich trug. »Ich muss gleich zum Interview, also kommen wir zum Punkt. Was weißt du über die Sache?«
Art zögerte. Vermutlich war es besser, nur einen Teil der Katze aus dem Sack zu lassen. Wenn Henrik begriff, dass er im Grunde ALLES wusste, würde er Schwierigkeiten machen. »Ich weiß von dem Toten beim Kloster«, sagte Art.
Henrik kaute auf seiner Unterlippe. Das Dilemma, in dem er sich befand, war ihm anzusehen. Er wollte fragen, ob Art noch mehr wusste, aber ihm war klar, dass er mit einer solchen Frage zugab, dass da noch mehr war. Also schwieg er lieber.
»Okay«, sagte Henrik leise. »Was willst du? Was ist so wichtig, dass du glaubst, das hier tun zu müssen?«
»Bei mir im Haus wohnt ein kleines Mädchen«, sagte Art. »Sie heißt Milla. Ihre Mutter Dana ist im Januar vor eineinhalb Jahren spurlos verschwunden. Ich suche nach ihr und brauche deine Unterstützung.«
Henrik schnaubte. »Dafür sind die Vermisstenabteilungen der Polizeibehörden zuständig.«
»Ja, aber nach eineinhalb Jahren liegt sie unter einem riesigen Stapel von neuen Vermisstenfällen. Auch wenn ihr Fall offiziell noch offen ist, die Ermittlungen sind de facto eingestellt. Das würde sich ändern, wenn du ein paar Hebel in Bewegung setzt.«
»Du weißt, wie das in einer Demokratie läuft? Die Polizei ist unabhängig, und ich bin nicht weisungsbefugt. Man nennt das auch Gewaltenteilung.«
»Und trotzdem bist du der Kanzler. Eine Bitte wird man dir nicht abschlagen, oder?«
Henrik verzog die Lippen, nickte jedoch. »Warum interessiert dich die Frau?«
»Wegen des Mädchens.«
Henrik hob die Brauen. »Wie alt ist sie?«
»Gerade acht geworden. Hat’s nicht leicht.« Art schwieg einen Augenblick.
»Ich wusste gar nicht, dass du väterliche Ambitionen hast.«
»Hab ich auch nicht. Aber die Sache ist kompliziert. Milla hat nur noch ihre Oma, und die ist demenzkrank. Die Schule ist schon darauf aufmerksam geworden. Wenn die das Jugendamt informieren, dann wandert Milla ins Heim.«
Henriks Miene wurde etwas milder. »Du willst sie vor deinem eigenen Schicksal bewahren? Davor, um alles kämpfen zu müssen? Klingt für mich sehr nach Vater-Ambitionen.«
»Nenn es, wie du willst.«
»Glaubst du, du tust dem Mädchen einen Gefallen, wenn du sie bei ihrer Oma lässt?«
»Wir kommen klar.«
»Wir. Aha.« Henrik betrachtete ihn nachdenklich. »Glaubst du, ihre Mutter ist noch am Leben?«
Art sah zu Boden, dahin, wo sein T-Shirt und seine Jacke lagen. »Alles was zählt, ist, sie zu finden. Ich suche jetzt seit eineinhalb Jahren, aber ich komme keinen Schritt weiter. Außerdem sind Teile der Akte lückenhaft«, sagte er leise.
»Lückenhaft?«
»Bestimmte Teile sind wie ausgeklammert.«
»Du meinst Sperrvermerke?«
»Nein, die würde ich ja erkennen. Es wirkt eher, als wären bestimmte Fragen gar nicht gestellt worden.«
»Kannst du das näher beschreiben?«
»Na ja, bei Vermisstenfällen wird grundsätzlich die Vergangenheit der vermissten Person unter die Lupe genommen. Man beginnt bei der jüngeren Vergangenheit und geht dann sukzessive in der Zeit zurück. Hier ist nur die jüngere Vergangenheit beleuchtet worden, und das nicht gerade besonders akribisch.«
Henrik schien zu überlegen.
»Also, kannst du helfen?«
»Ich wünschte, du hättest einfach freundlich gefragt.«
»Hab ich«, erinnerte ihn Art. »Schau in deinen WhatsApp-Verlauf.«
Henrik verzog das Gesicht. »Na schön. Ich werd’s versuchen.«
»Gut«, sagte Art erleichtert. »Die Vermisste heißt Dana Karasch. Wohnte zuletzt in Neukölln. Das sollte reichen, um ihren Fall zu finden.«
Art nahm sein schwarzes T-Shirt vom Boden und streifte es sich über. Für einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, Henrik betrachtete dabei seinen Oberkörper. »So wirst du den Gedanken daran nie los«, sagte Art.
»Was?«
»Wenn du dich fragst, was ich habe, was du nicht hast.«
Henriks Lippen wurden schmal. »Ich habe eine Frau, und du hast keine, so viel ist schon mal klar, oder? Und jetzt raus hier.«
Art lächelte kühl, schnappte sich seine Jacke und verließ die Maske. Im Flur schaltete er sein Handy wieder ein und bemerkte plötzlich, dass Juli an der Tür zum Hinterausgang stand. Wartete sie etwa auf ihn? Sein Herz schlug schneller. Verdammt, als ob er immer noch ein Teenager wäre. Liebe und Erwachsensein passten so schlecht zusammen. Am Ende passierte ein guter Teil der Morde, die die Polizei aufzuklären hatte, genau deshalb.
»Art?« Juli trat ihm an der Tür entgegen. »Können wir kurz –«
»Keine Zeit«, sagte Art ruppig und floh an ihr vorbei ins Freie.
Nele spürte einen scharfen Luftzug. Für einen Moment glaubte sie, das Motorrad würde sie streifen oder sogar rammen, doch die Maschine raste an ihr vorbei. Sie drehte sich um, erfasste das Kennzeichen und sah, wie das Motorrad mit einem kurzen Sprung von der Bordsteinkante auf die Straße wechselte. Etwas kleines Schwarzes fiel zu Boden und schlidderte über den Asphalt. Im nächsten Moment bog der Fahrer um die Ecke und verschwand aus ihrem Blickfeld.
Der junge Mann mit der Basecap war ebenfalls fort.
Nele atmete tief durch und versuchte, Lasse zu beruhigen, der immer noch weinte und strampelte. Dann fiel ihr plötzlich Milla ein. War der Motorradfahrer nicht gerade in ihre Richtung abgebogen? Sie rannte bis zur Ecke, wo sie keuchend stehen blieb. Milla stand mit dem Rücken an den Volvo gelehnt, den Schulranzen hatte sie neben sich abgestellt.
»Milla, alles okay?«
»Ja, klar«, rief das Mädchen. »Was war denn los?«
»Alles gut. Bleib einfach, wo du bist, Schatz. Ich bin sofort wieder da.« Nele ging langsam und mit wiegenden Schritten ein Stück zurück, während sie leise auf Lasse einredete. Der Gegenstand, den der Motorradfahrer verloren hatte, lag immer noch auf der Straße. Es war das Handy, das der junge Mann vorhin benutzt hatte. Sie bückte sich und hob es auf. Es war ein Android-Gerät älteren Baujahrs. Offenbar hatte der Motorradfahrer es nicht gut genug eingesteckt, und so war es vorhin beim Überfahren der Bordsteinkante heruntergefallen. Das Display war beim Sturz gebrochen, dennoch erwachte es nach einem Fingertippen zum Leben. Ein Sperrcode war nicht eingerichtet. Nele ging rasch die einzelnen Apps durch, um einen Hinweis auf den Besitzer zu finden, doch das Handy war blank. Keine Mails, keine Adressen, keine Telefonnummern. Die einzigen Daten waren ein paar Fotos und Videoclips, alle vor wenigen Minuten gemacht. Und sie alle zeigten Milla.
Bis eben hatte Nele instinktiv gehandelt – auf Verdacht. Jetzt verwandelte sich ihr ungutes Gefühl in echte Sorge. Sie steckte das Handy ein und ging zurück zu Milla, die immer noch am Wagen lehnte und sie mit gerunzelter Stirn empfing. »Was war denn los?«, fragte sie erneut.
Wie erklärte man einem Kind, was es bedeuten konnte, wenn ein Erwachsener unerlaubt Fotos von ihm machte?
»Nichts. Ist schon okay«, beschwichtigte Nele.
»Warum bist du dann so gerannt?«
»Kanntest du den Mann, der vorhin neben mir stand?«
»Den mit dem Handy?«
»Und der Baseballkappe, ja.«
»Nö.« Milla schüttelte den Kopf. »Wieso wolltest du nicht, dass er Fotos von der Schule macht?«
Nele überlegte. »Ich fand ihn komisch.«
»Alle machen doch Fotos. Dauernd.«
»Ja, aber der war irgendwie anders. Ich will, dass du mir was versprichst, okay?«
»Was denn?«
»Wenn jemand versucht, dich zu filmen oder zu fotografieren, oder wenn dich jemand anspricht, dann lauf weg und geh zu einem Erwachsenen, ja?«
»Verstehe«, sagte Milla. »Keine Foto-Honks und keine Fremden, die mir Überraschungen oder Süßigkeiten versprechen.«
»Ich seh schon, du weißt Bescheid.«
»Hat Mama mir immer gesagt, das mit den Fremden.«
»Gut. Dann kommen die Foto-Honks jetzt noch dazu.«
Milla sah sie skeptisch an. »Ist das nicht etwas übertrieben?«
»Kein bisschen«, sagte Nele.
Neles Anruf hatte Art noch auf dem Parkplatz des Fernsehstudios erreicht. Dass Milla von einem jungen Mann gefilmt worden war, beunruhigte ihn, doch dass dieser junge Mann offenbar auch noch im Auftrag von jemand gehandelt hatte, warf noch mehr Fragen auf. Außerdem hatte Nele bei einer schnellen Überprüfung herausgefunden, dass das Kennzeichen des Motorrads erst kürzlich als gestohlen gemeldet worden war.
Wer war dieser Unbekannte? Und was für ein Interesse hatte er an Milla? Nele stellte sich die gleichen Fragen, also hatten sie verabredet, sich bei ihm zu Hause in Neukölln zu treffen.
Als Art in seine Straße einbog, sah er Nele – und zu seiner Überraschung auch Roman. Die beiden standen auf dem Gehweg neben Neles Wagen und diskutierten lebhaft. Roman warf die Arme in die Luft, und Nele gestikulierte hitzig, wobei sie immer wieder auf ihren Volvo zeigte, genauer: in Richtung der Rückbank des Wagens. Milla stand etwas abseits und bemühte sich um ein unbeteiligtes Gesicht.
Art parkte seinen Wagen und stieg aus. Milla bemerkte ihn sofort, Nele und Roman dagegen waren vollkommen mit sich selbst beschäftigt.
»Herzlichen Glückwunsch, Milla«, sagte Art, als er neben sie trat.
Milla schenkte ihm einen finsteren Blick. »Du warst nicht da.«
»Ich weiß. Tut mir leid. Da ist ein Fall, für den ich dringend etwas tun musste.« Dass es dabei um ihre Mutter ging, erwähnte er lieber nicht. Er wollte sie weder unnötig aufwühlen, noch wollte er, dass sie sich vergeblich Hoffnungen machte. »Und du hast einen Jungen vermöbelt?«
Sie nickte, und der finstere Zug in ihrem Gesicht wich einer gewissen Zufriedenheit.
Art hielt ihr die Faust hin, und sie schlug mit ihrer an. Vor etwa sieben Monaten hatte Art zum ersten Mal gehört, dass Milla in der Schule immer wieder drangsaliert wurde, und er hatte sie in einem Neuköllner Boxstudio für Kinder angemeldet. Er selbst hatte das Kämpfen im Heim gelernt, auf die harte Tour und sehr viel später, als es ihm gutgetan hatte.
»Pass nur auf, dass du’s nicht übertreibst«, sagte er zu Milla. »Wenn’s Ärger gibt, könnten die in der Schule genauer drauf schauen, wie die Situation mit deiner Oma ist, und ich will nicht, dass das Jugendamt auftaucht und auf komische Ideen kommt.«
Milla nickte, wobei Art nicht ganz sicher war, ob ihr die Tragweite wirklich klar war. Im Grunde reichte es schon, wenn der Junge sich beschwerte. Wenn die Schule dann Millas Oma zu einem Gespräch bat, war es nicht mehr weit, bis jemand die häusliche Situation als untragbar einstufte. Hätte er selbst die Möglichkeit, sich als Vormund oder Pflegevater eintragen zu lassen, er hätte es getan. Aber als Single mit einem Vollzeitjob bei der Polizei war er dafür denkbar ungeeignet.
»Er ist auch dein Sohn, oder?« Neles Stimme wurde zunehmend lauter.
»Natürlich, ich versteh nur nicht, was das jetzt soll?«, erwiderte Roman. »Das ist doch kein Grund, mich plötzlich hierherzuzitieren.«
»Du warst dran heute, das war abgesprochen.«
»Wenn ich es schaffe, hab ich gesagt. Und ich hatte im Werk noch etwas zu tun.«
»Weißt du, dass du das jedes Mal sagst?«
»Ja, klar. Ich kann’s ja nicht ändern. Es ist halt auch dauernd was.«
Nele lachte laut auf. »Tu doch nicht so, als würdest du Tesla Grünheide leiten. Du hast ein Sägewerk mit zwölf Angestellten. Erzähl mir nicht, dass du das nicht anders organisieren kannst. Du willst nicht. Das ist der Punkt.«
»Was ist so falsch daran, wenn ich unser Geld verdiene, während du bei unserem Sohn bist?« Roman breitete die Arme aus, als wäre die Antwort vollkommen logisch. »Oder hast du was Dringenderes vor? Du bist doch nicht im Dienst, oder? Ich dagegen schon.«
»Dann wird es wohl höchste Zeit, dass ich wieder in den Dienst zurückgehe, was?«
»Ich wusste es«, knurrte Roman. »Ich wusste von Anfang an, dass du den Mutterjob nicht lange durchhältst.«
Nele schnaubte laut. »Wenn ich ’nen Typen an meiner Seite hätte, der sich an unsere Vereinbarung hält, … aber du bist ja mit allem anderen beschäftigt.« Sie hielt mit spitzen Fingern den Autoschlüssel in die Höhe. »Und weißt du, was ich jetzt mache?«
»Nele, bitte. Kannst du dich einfach mal beruhigen?«
»Ich mache das, was du die ganze Zeit machst.« Nele legte den Autoschlüssel demonstrativ auf das Dach des Volvos.
»Das ist nicht dein Ernst«, echauffierte sich Roman.
»Voll und ganz. Wir sehen uns morgen früh.«
»Morgen? Morgen früh? Bist du –« Roman schien es die Sprache zu verschlagen, während Nele ihm im Vorbeigehen ein ironisches Bye-bye zuwinkte.
»Nele, das funktioniert so nicht«, rief Roman ihr nach.
Neles Augen funkelten vor Zorn, während sie auf Art zukam. »Lass uns nach oben gehen«, raunte sie und deutete auf die Haustür. »Ganz schnell bitte.«
Art schloss die Tür auf, ließ Milla und Nele in den Hausflur und drehte sich dann noch einmal zu Roman um.
»Ich werf euch den verdammten Schlüssel in den Briefkasten«, rief Roman aufgebracht.
Art starrte ihn wortlos an. Für einen Moment verhakten sich ihre Blicke ineinander. Roman blinzelte, schaute zu dem Schlüssel auf dem Autodach, dann nahm er ihn an sich, murmelte etwas Unverständliches und stieg zu Lasse in den Wagen.
Als Art schließlich im dritten Stock ankam, stand Nele allein vor seiner Wohnung. »Wo ist Milla?«, fragte er.
»Unten, bei ihrer Oma.« Nele deutete ein Stockwerk tiefer. »Ich hab gesagt, wir müssen etwas besprechen.«
»Und das hat sie akzeptiert?«
Nele zuckte müde mit den Achseln und stand dann mit hängenden Schultern vor ihm. »Kannst du mich bitte mal in den Arm nehmen?«
Wortlos schloss Art sie in die Arme. Nele war so still, dass er kaum ihren Atem hörte. Er sah Roman vor sich und seine Miene, als er den Schlüssel vom Autodach geklaubt hatte. Dann schoss ihm Juli in den Sinn, und wie er vorhin an ihr vorbeigelaufen war. Ihr Gesichtsausdruck. Das Chaos in seinem Innern. Wofür zum Teufel gab es Liebe, wenn sie immer nur alle unglücklich machte?
Nele löste sich von ihm und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen fort. »Das Schlimmste ist, ich vermisse ihn jetzt schon.«
»Wen? Roman?«
Sie schien für einen Augenblick zu überlegen. »Ich weiß nicht. Eigentlich meinte ich Lasse.«
So viel zum Thema Liebe. Art schloss die Tür auf und betrat die Wohnung. Sein Handy summte in der Stille. Ihm war nicht nach Nachrichten, es war eher ein Reflex, der ihn aufs Display blicken ließ. Jemand hatte ihm Positionsdaten geschickt, eine Stelle südlich von Berlin, rot markiert, in der Nähe von Blake. War das nicht genau die Gegend, in der momentan der Waldbrand tobte? Darunter stand eine knappe Nachricht:
Sie suchen die Wahrheit über Dana Karasch?
Art blieb im dunklen Flur stehen und starrte auf sein Telefon.
»Was ist?«, fragte Nele.
Art reichte ihr sein Handy. Neles resignierte Haltung verschwand augenblicklich. »Dana Karasch? Das ist doch Millas Mutter.«
Art nickte.
»Von wem kommt das?«
»Unbekannter Absender.«
»Was soll denn das heißen, die Wahrheit über Dana Karasch? Die Wahrheit über ihr Verschwinden?«
»Ich habe keine Ahnung, was damit gemeint ist.«
Nele blickte noch einmal auf das Handy. »Und die Positionsdaten, weißt du, wo das ist?«
»Den Ort kenne ich nicht. Ist mir auch bei meinen Ermittlungen zu Dana nie untergekommen.«
»Das ist merkwürdig«, sagte Nele. »Heute Nachmittag filmt jemand vor der Schule heimlich Milla, mit einem extra dafür präparierten Handy, und kurze Zeit später bekommst du so eine Nachricht wegen ihrer Mutter? Ist das Zufall?«
»Es kommt noch besser«, sagte Art. »Vor knapp einer Stunde habe ich jemanden in einer hohen Position gebeten, seinen Einfluss wegen der Suche nach Dana geltend zu machen.«
Nele sah ihn stirnrunzelnd an.
»Der Fall war quasi tot«, erklärte Art. »Bei jemandem, der schon so lange vermisst wird, passiert in der Regel nichts mehr. Außerdem ist die Akte merkwürdig lückenhaft.«
»Habe ich das richtig verstanden?«, fragte Nele ungläubig. »Du hast ernsthaft den Bundeskanzler gebeten, der Polizei einen Schubs zu verpassen?«
»Westphal?« Art gab sich überrascht. »Wie kommst du denn auf den?«
»Art, ich bitte dich. Du lügst gerade genauso schlecht wie die Leute, die du sonst überführst. Du kennst genau zwei hohe Tiere. Erstens: meinen Onkel, den Polizeipräsidenten – und ihr hasst euch. Und zweitens: Henrik Westphal.«
Nele hatte sich mit verschränkten Armen auf dem Beifahrersitz eingeigelt und starrte durch die Windschutzscheibe. Bremsleuchten im Feierabendverkehr, darüber der Himmel orange-gräulich, die Sonne eine blasse Scheibe. Art fuhr Richtung Süden aus der Stadt, direkt auf den Waldbrand zu. Die Position, die er anonym zugeschickt bekommen hatte, lag in einem Waldgebiet in der Nähe eines kleinen Sees. Das Satellitenbild von Google Maps zeigte an dieser Stelle vor allem Bäume und ein paar kleine Strukturen, die sich aber nicht klar zuordnen ließen.
»Was glaubst du, was uns da erwartet?«, hatte Nele Art gefragt.
Er hatte mit den Schultern gezuckt. »Hinfahren und gucken. Dann wissen wir’s.«
»Glaubst du, da will dich jemand treffen?«
»Klingt irgendwie nicht danach. Sonst würde man ja einen Zeitpunkt für das Treffen nennen, oder? Ich hab eher den Eindruck, es geht um den Ort.«
»Merkwürdig, vor allem jetzt, wo es dort brennt.«
Nele sah aufs Navi. Noch fünfundvierzig Kilometer. Sie musste an Lasse denken, und das schlechte Gewissen überfiel sie erneut. Sie hatte gerade ihr eigenes Kind abgegeben, um dem Rätsel der verschwundenen Mutter eines fremden Kindes nachzugehen. Doch selbst wenn Art sie vorhin nicht gefragt hätte, ob sie mitkommen wolle, sie wäre so oder so mitgefahren. Vermutlich hätte sie ihn sogar angefleht. Denn abgesehen davon, dass sie es für Milla tun wollte, tat sie es mindestens ebenso sehr, weil ihr die Arbeit fehlte. Sie war sich vorgekommen wie eine Verdurstende, der man ein Glas Wasser verspricht.
»Was glaubst du«, fragte sie nachdenklich, »wen hat Henrik Westphal wegen der Sache angerufen?«
»Henrik war mit seinem Interview beschäftigt«, erwiderte Art, »eigentlich hatte er gar keine Zeit, sich um irgendetwas anderes zu kümmern. Er ist mitten im Wahlkampf, und das hat Priorität.«
»Du meinst, er hat noch gar nichts unternommen? Das würde ja bedeuten, das alles ist ein Zufall, also dass das jetzt alles gleichzeitig passiert.«
Art bremste vor einer roten Ampel und schwieg in sich gekehrt. Nele konnte ihn denken hören. Nach einer Weile nahm er das Telefon zur Hand und begann, eine Nachricht zu tippen.
»Was machst du?«, fragte Nele.
»Ihn fragen. Inzwischen sollte das Interview vorbei sein.«
Hinter ihnen hupte jemand ungestüm. Die Ampel war auf Grün umgesprungen. Art tippte ungerührt weiter, bis plötzlich jemand auf der Fahrerseite an die Scheibe klopfte und wütend auf die Ampel deutete. Art gab ein Knurren von sich, legte das Handy auf die Mittelkonsole, fuhr an, als die Ampel wieder auf Rot umsprang, musste jedoch wenige Meter nach der Kreuzung wieder ruckartig bremsen, da der Verkehr erneut stockte; wobei sein Handy von der Ablage rutschte und im Fußraum von Nele landete.
Nele beugte sich vor und angelte nach dem leuchtenden Display, dabei fiel ihr Blick auf den Chat oberhalb der neuen Nachricht an den Kanzler.
Ich brauche deine Hilfe. Müssen uns treffen.
Wieso sollte ich DIR noch helfen?
Wegen Spanien. Das Kloster …
Ich weiß nicht, was du meinst.
Ein Bericht der Guardia Civil, dein Name steht drin.
Ok. Heute, um zehn vor vier. Adlershof, Halle 7.
Irritiert steckte sie das Handy in den Getränkehalter der Mittelkonsole. An der nächsten roten Ampel schrieb Art seine Nachricht zu Ende und schickte sie ab.
»Was ist das mit Spanien?«, fragte Nele.
»Spanien?«
»Die Sache mit der Guardia Civil, die du im Chat mit Westphal erwähnt hast.«
Arts Kiefermuskeln spannten sich. »Das war nicht für dich bestimmt.«
»Aber offenbar hat es gereicht, um den Bundeskanzler dazu zu bringen, dir zu helfen, obwohl er es gar nicht wollte.«
Arts Handy gab ein Ping von sich, und er nahm es schnell zur Hand.
»Hm«, brummte er, nachdem er die Nachricht gelesen hatte.
»Was, hm?«, fragte Nele. Sie bereute bereits, Art auf Spanien angesprochen zu haben. Art schnappte zu wie eine Auster, wenn man ihm zu nahe kam, und in der Regel dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis er sich wieder öffnete.
»Der Berliner Innensenator«, brummte Art.
Ups. Die Auster sprach.
»Paul Winkelmann hat sich bei dir gemeldet?«
»Nein. Henrik hat an Winkelmann geschrieben, wegen Dana, ob er da was tun könne. Und die Nachricht hat er geschickt, noch bevor er ins Interview ging. Offenbar wollte Henrik die Sache schnell erledigen.« Art bog auf die Stadtautobahn ab und reihte sich in den zäh fließenden Verkehr ein. Inzwischen war es sieben Uhr.
»Und?«, fragte Nele.
»Nichts und. Eine Antwort vom Innensenator gibt es noch nicht.«
»Glaubst du, irgendjemand von der Polizei hat dir diese merkwürdige Nachricht geschickt, weil er von der Anfrage gehört hat?«
»Unwahrscheinlich«, knurrte Art. »Woher sollte derjenige überhaupt wissen, dass ich hinter dieser Anfrage stecke? Henrik wird mich ganz sicher nicht erwähnt haben, sonst würde es ja aussehen, als ließe er sich von mir vor den Karren spannen. Das kann er sich als Kanzler nicht leisten.«
Guter Einwand, dachte Nele. Aber es machte die ganze Sache nur noch mysteriöser.
Wenig später wechselte Art auf die A113, die dann am Schönefelder Kreuz in die A13 überging. Der Verkehr floss jetzt besser. Bei Groß Köris fuhr er ab auf die L742. Die Tore der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr waren geöffnet, die Garagen leer. Ein paar Männer in Feuerwehrmontur stiegen gerade in einen alten roten VW-Bus. Der Himmel verschwand hinter immer dichteren Rauchschwaden. Hinter dem Ortsausgang überholte sie ein Zug aus drei großen Einsatzfahrzeugen der Potsdamer Feuerwehr mit Blaulicht. Der Widerschein des Feuers färbte den Horizont. Art und Nele wechselten einen Blick.
Ein paar Hundert Meter weiter kamen sie an eine Straßensperre. Ein Mann winkte energisch mit einer Warnkelle und kam mit schweren Stiefeln auf sie zu. Er trug Feuerwehrkleidung und einen Mundschutz, am Gürtel baumelte eine Atemschutzmaske mit Visier. Art ließ die Seitenscheibe herab, Brandgeruch stieg ihm in die Nase.
»Hier geht’s nich weiter für Sie«, rief der Mann und kam ans Fenster. »Dahinten steht alles in Flammen, zu beiden Seiten der Straße.«
»Wir müssen die nächste rechts rein«, sagte Art. »Zum Tonsee.«
»Wohin wollen Se denn? Doch nich zum Campingplatz, oder? Der is evakuiert.«
»Etwas weiter östlich«, sagte Art und zeigte dem Mann die Positionsnadel auf dem Handy.
»Ach, die alte Wohnwagensiedlung? Das könn Se vergessen. Zu gefährlich. Wenn der Wind nur ’n bisschen dreht, dann ist das Feuer in ein paar Minuten da. So schnell könn Se gar nicht gucken, geschweige denn laufen. Außerdem, da gibt’s doch gar nichts zu wollen, das Ding ist doch seit Jahren verlassen.«
»Seit wie vielen Jahren denn?«, fragte Nele und beugte sich etwas vor, um den Mann besser sehen zu können.
»Pfff. Keene Ahnung. Zehn vielleicht.«
Art zog seinen BKA-Ausweis heraus. »Wir müssen da dringend etwas überprüfen.«
Der Feuerwehrmann hob die Augenbrauen. »BKA, wa? Ist das wegen Brandstiftung?«
»Warum? Gibt es den Verdacht, dass das Feuer auf Brandstiftung zurückzuführen ist?«
»Nee. Keene Ahnung. Ich dachte bloß …«
Art nickte. »Hören Sie, wir müssen uns nur kurz dort umsehen. Wir beeilen uns.«
»An Ihrer Stelle würde ich in zwei, drei Tagen wiederkommen, dann ist das hier alles vorbei.«
»Wenn die Wohnwagensiedlung dann abgebrannt ist, hilft uns das nicht. Wir müssen jetzt dahin.«
Der Mann taxierte ihn einen Moment lang. »Ham Sie ’n Walkie-Talkie?«
»Ja, im Handschuhfach.«
»Okay.« Der Mann klopfte auf sein eigenes Walkie-Talkie am Gürtel. »Kanal 444. Ich mach Meldung, dass Sie da hingehen. Sobald Sie ’ne Warnung kriegen, nichts wie weg da.«
»Danke«, sagte Art. »Haben Sie noch zwei Masken übrig?«
Der Mann nickte knapp, ging zu seinem Wagen und kam mit zwei großen Atemschutzmasken mit gläsernem Visier zurück. »Wiedersehen macht Freude.« Dann schob er die Absperrung beiseite und ließ Nele und Art passieren. Art schaltete die Ventilation des Wagens auf Umluft, damit kein weiterer Rauch zu ihnen hereinkam, fuhr noch ein Stück geradeaus, dann bog er scharf rechts in einen kleinen Waldweg ein. Nach etwa fünfhundert Metern wendete er den Wagen und stellte den Motor ab. Nele hatte bereits das Walkie-Talkie aus dem Handschuhfach geholt und es auf den richtigen Kanal eingestellt.
»Du willst wirklich mitkommen?«, fragte Art.
»Wir haben ein Funkgerät und eine direkte Leitung zur Feuerwehr, oder? Die werden uns warnen, wenn es brenzlig wird. Außerdem sind wir zu zweit schneller, wenn wir etwas suchen müssen.«
Ihre Miene wirkte entschlossen, und Art unterließ es, ihr weitere Fragen zu stellen. Er wusste, dass sie Angst hatte, aber er wusste auch, dass Nele sich niemals die Blöße geben würde, dieser Angst nachzugeben.