Der schwarze Sigurd - Claus Bork - E-Book

Der schwarze Sigurd E-Book

Claus Bork

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Beschreibung

"Die unendliche Geschichte" auf dänisch - ein Fantasy-Klassiker aus dem hohen Norden.In seinen Träumen reist der 10-jährige Jesper des nachts ins Abenteuerland, wo er mit seinen neuen Freunden - der Prinzessin Isabel und einem Raben, dem Schwarzen Sigurd - abenteuerliche Geschichten erlebt. Unter den Bewohnern des Abenteuerlands, den Hexen, Trollen, Drachen und Marzipanschweinchen, finden sich jedoch nicht nur Freunde. Der König des Computerreichs DOS, Electro, gewinnt in einer Welt, in der sich die Menschen mehr mit Computern als mit Geschichten und Abenteuern beschäftigen, mehr und mehr an Macht. So wird Jespers Traumwelt Wirklichkeit, und der Kampf gegen Electro und seine elektronisch-emotionslosen Anhänger spielt sich zunehmend in der Realität - und Jespers eigenem Zuhause - ab. Nun ist es also an Jesper und seinen Freunden, das Böse zu besiegen und die Welt der Fantasie zu retten.-

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Claus Bork

Der schwarze Sigurd

Saga

Der schwarze SigurdOriginaltitel: Sorte SigurdÜbersetzt von Susanne RichterCopyright © 2015, 2019 Claus Bork und SAGA EgmontAll rights reservedISBN: 9788711800027

1. Ebook-Auflage, 2019

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit SAGA Egmont gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk– a part of Egmont www.egmont.com

Personenverzeichnis:

Jesper - ein ganz gewöhnlicher Junge.
der Schwarze Sigurd - Jespers Freund, der schwarze Rabe aus Abenteuerland.
Isabel - Prinzessin von Abenteuerland.
Dur - Prinz von Symphonien.
Merlin - der Zauberer.
Archimedes - Merlins kluge Eule.
Elektro - Kriegsprogramm von DOS.
Schatten - Sklave von Elektro.
der Hund - ein Hund mit Augen so groß wie Teetassen.
Sir Gawain - der noble Ritter aus Abenteuerland.
Abenteuerland - das Land in den Träumen, jenseits der Wirklichkeit.
Symphonien - die Welt der Musik, jenseits der Wirklichkeit
DOS - die Welt der Computerspiele, jenseits der Wirklichkeit.
Niemandsland - das Land, das man durchquert auf seinem Weg von der Wirklichkeit in die Traumwelt.

Der Anfang

Er war eigentlich schon ein ganz gewöhnlicher Junge.

Er hieß Jesper. Hatte struppiges, blondes Haar und große braune Augen - denn irgendwo in der Familie seiner Mutter waren Zigeuner im Spiel gewesen. Und vielleicht war er gerade deshalb abenteuerlustig.

Er ging seine eigenen Wege und liebte die Spannung, wenn er Dinge erlebte, die nicht ganz gewöhnlich waren. Er war zehn Jahre alt und ein kleiner Spinner.

Es begann alles an einem kalten Abend im November.

Der Schnee senkte sich wie Löwenzahnsamen aus einem schweren, bedeckten Himmel. Es war zehn Minuten vor neun -Freitagabend.

"So, jetzt geht es ab ins Bett mit dir..." Seine Mutter sah ihn mit diesem üblichen - da gibt es keine Diskussionen - Blick an...

"Ich muß nur noch..." begann er. So ging es jeden Abend.

"Ab, junger Mann, und das zack - zack..."

"Nah, ja..." Er legte das Buch weg und erhob sich vom Sofa. Dann trottete er zur Treppe und schleppte sich hoch in den ersten Stock. Zehn Minuten später, genau um neun Uhr, lag er warm unter der Decke bei ausgeschaltetem Licht.

Durch die Fensterscheibe betrachtete er die Schneeflocken, die im Schein der Straßenlaterne herunterfielen.

"Gute Nacht, und schlaf gut..." flüsterte seine Mutter und schloß die Zimmertür.

Der Wecker tickte hart und metallisch aus der Ecke beim Schreibtisch. Tick - tack - ein ganz normaler Wecker zum Aufziehen.

Er schloß die Augen - und schlief ein. Und das war das letzte mal, daß er sich wie ein ganz gewöhnlicher Junge fühlte.

Der Traum

Sobald seine Augen sich geschlossen hatten, verließ er die Welt, die er so gut kannte und wirbelte davon. Er fühlte, wie ihn etwas anzog, ohne daß er wußte, wohin.

Weit weg, in der Ferne, wurde es hell. Er kam mit großer Geschwindigkeit auf das Licht zu, in es hinein und stand dann da - in einer anderen Welt, deren Namen er nicht kannte.

Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. Als er an sich selbst heruntersah, bemerkte er, daß er immer noch seinen Schlafanzug an hatte.

Er stand auf einem Kiesweg mit einem Graben auf beiden Seiten. Am Rande der Gräben wuchsen die gelbesten Löwenzahnblüten, die er jemals gesehen hatte. Hinter den Gräben war auf der einen Seite ein Feld, auf der anderen Seite ein großer, düsterer Wald.

Über dem Feld sangen die Vögel vom Himmel. Im Wald dagegen war es ganz still.

Er stand etwas da und überlegte, wie er es anstellen sollte, an andere Kleidung zu kommen. Wenn ihn jemand sah, gekleidet mit einem Schlafanzug am helllichten Tag, würde er zum Gespött werden.

"Mach den Weg frei für die königliche Kutsche Ihrer Majestät..." rief eine schrille Stimme hinter ihm.

Er schaffte es gerade noch, sich umzudrehen, die heranbrausenden Pferde zu sehen, und sich aus dem Weg zu werfen -hinunter in den Graben - bevor die Pferde vorbeidonnerten und eine Wolke aus Staub aufwirbelten, die über das Feld fegte.

"Prrr..." rief der Kutscher. Die Pferde wieherten, die Ketten rasselten und die schweren Räder polterten und bremsten.

Jesper lag auf dem Boden des Grabens und starrte erschrocken zurück auf den Weg. Er konnte nicht richtig sehen, weil das Gras ihm die Sicht nahm.

Er kletterte etwas auf die Böschung und bog die Halme zur Seite. Und da, mitten auf dem Kiesweg, hielt eine vergoldete Kutsche mit Holzrädern mit Speichen und acht weißen, schnaubenden Pferden davor gespannt.

Die Pferde schlugen mit den Hufen, sodaß das Zaumzeug rasselte.

Der Kutscher, ein kleiner, dicker Mann mit roten Wangen, zog die Zügel stramm, um sie zum Stehen zu bringen.

Die Kutsche war aus Holz gebaut und so kunstfertig beschnitzt, daß es unmöglich etwas vergleichbares irgendwo anders auf der Welt geben konnte.

Das Dach wurde von zehn geschnitzten, vergoldeten Drachen mit gespaltenen Zungen getragen.

In den Fenstern war richtiges Glas, so fein geputzt, daß man es nur sah, wenn die Sonne in ihm leuchtete.

Ein Gesicht kam in einem Fenster zum Vorschein. Es war eine junge Frau. Sie war sehr hübsch mit tiefblauen Augen und langem, rabenschwarzem Haar. Sie starrte mit Verwunderung in ihrem Blick auf ihn herab. Dann lächelte sie und schob die Tür auf.

"Komm hierher, Junge - und laß mich dich ansehen..."

Jesper fand, sie war so schön, daß ihm ganz schwindelig wurde. Er erhob sich langsam und kletterte das letzte Stück aus dem Graben, bevor er über den Weg ging und vor der Wagentür stehenblieb.

Plötzlich lachte sie und hielt die Hand vor den Mund.

"Warum hast du dieses Zeug an...?" Er sah das Lächeln in ihren Augen, bevor er sich über den Schlafanzug ärgern konnte.

"Das ist mein Schlafanzug..." sagte er und lächelte sie an.

Sie sah mit leicht schrägem Kopf an ihm herunter.

"Was machst du hier draußen...?" fragte sie und machte einen Schmollmund.

"Ich gehe, wohin ich Lust habe.." antwortete Jesper.

"Du bist bestimmt eine schlimme, kleine Rübe..." lachte sie.

Er nahm die Hände an die Hüften und antwortete: "Wenn ich eine Rübe bin, was bist du dann...?"

Drüben vom Hinter Brett der Kutsche sprangen zwei Diener in roten Uniformen auf die Erde.

"Nein, laßt ihn..." rief sie und hob die Hand. Dann sah sie wieder zu ihm.

"Ich bin Prinzessin Isabel vom Abenteuerland..." Sie lachte wieder.

"Lachst du immer, wenn du redest...?" fragte Jesper.

"Nicht immer..." antwortete sie. Ein Schatten glitt über ihr Gesicht, worauf sie über das Feld starrte und schwieg.

"Na, ich muß weiter..." begann Jesper.

Der eine uniformierte Diener stellte sich vor ihn.

"Wenn man mit Prinzessin Isabel von Abenteuerland spricht, dann sagt man Ihre Majestät..." Er war rank und breitschultrig und schaute mit seinen freundlichen, aber bestimmten blauen Augen auf Jesper. Er roch nach Schuhwachs von den langschäftigen Stiefeln und die zwei Reihen blanker Knöpfe glänzten und funkelten auf der Jacke.

"Laß ihn, Rinze..." Sie sprach aus dem Wagen zu ihm.

Er trat zur Seite, worauf sie eine Hand zu Jesper streckte und ihn näher winkte. Er nahm ihre königliche Hand und hüpfte hinauf in die Kutsche.

Die Diener in den roten Jacken gingen um den Wagen und sprangen auf.

"Weiter..." rief Prinzessin Isabel, und der Wagen begann zu rollen.

Das Feld sauste draußen am Fenster vorbei.

"Was für eine Geschwindigkeit..." rief Jesper aus. "Hier ist es auch sehr schön..."

"Hier ist es nett, aber in meinem eigenen Land ist es viel schöner..."

"Bist du auf dem Weg nach Hause, oder was...?"

"Dies ist Niemandsland..." sagte sie und zeigte aus dem Fenster. "Hier kommen alle her, die Lust haben. Nach Abenteuerland kommen nur die, die dort wohnen..."

"Abenteuerland..." murmelte Jesper vor sich hin. "Das klingt nett..."

Sie nickte freundlich und reichte ihm eine Schachtel.

"Isst du Schokolade?"

"Ja, das tat er.“

Er fand nicht, daß es einen Grund gab, bescheiden zu sein. Sie wirkte ja sehr jung, dafür, daß sie eine Erwachsene war. So stopfte er den Mund mit Schokolade voll und steckte auch ein paar Stücke in die Tasche.

"Bist du immer so...?" fragte sie.

"Jah..." murmelte er, während er kaute.

Sie schaute etwas aus dem Fenster, dann wandte sie ihren Blick wieder ihm zu und fragte geradeheraus: " Wo kommst du her...?"

"Åhh..."

Er kratzte sich etwas an der Wange und dachte nach. "Ja also - gerade jetzt träume ich. Aber ich komme aus Dänemark, wie die meisten anderen..."

"Dänemark...?" Sie sah ihn nachdenklich an. "Meinst du, daß du aus der Wirklichen Welt kommst...?"

"Die Wirkliche Welt...?" Er lachte. "Es gibt doch nur eine Welt."

"Da irrst du dich." lächelte sie und lehnte sich gegen ihn.

"Ich werde dir meine Welt zeigen - die Abenteuerwelt. Vielleicht kann ich auch einmal die Hilfe von so einem niedlichen, jungen Kavalier, wie dir, gebrauchen, wer weiß."

"Du bist doch Prinzessin." sagte er und schluckte den letzten Klumpen Schokolade hinunter. "Du kannst doch unmöglich irgendwelche Probleme haben?"

"Ich wünschte es wäre so schön," seufzte sie.

"Lächel jetzt." sagte Jesper und lutschte seinen Daumen von der Schokolade sauber. "Man wird häßlich, wenn man sich Sorgen macht, das sagt meine Mutter jedes Mal, wenn mein Vater Rechnungen bezahlen soll."

"Meinetwegen" antwortete sie und lächelte wie vorher.

Der Wagen rollte vom Kiesweg. Das Poltern wurde von einem gleichlautenden Ton der Räder abgelöst.

"Dann sind wir bald da," sagte sie und lehnte sich gegen das Fenster.

Er folgte der Richtung ihres Blickes. Draußen war alles verändert. Sie donnerten dahin über eine glatte, blanke Spiegelfläche.

Jesper schaute hinunter in die spiegelnde Ebene. Er meinte sicher, daß er zwei weiße Schwäne sah, wie ein erstarrtes Bild in einem Spiegel.

"Nun kommen wir zu den Toren," sagte sie. "In wenigen Augenblicken sind wir in meinem Land." Jesper rückte auf dem gepolsterten Sitz und drückte die Nase an der Scheibe platt.

Vor der Kutsche tauchte eine riesige Mauer auf. Je näher sie kamen, je höher türmte sie sich gegen den Himmel. Mitten in der Mauer war ein sehr hohes, breites, doppeltgeflügeltes Tor. Das Tor war aus Metall mit großen Bolzen rund herum an den Seiten. Als die Kutsche sich näherte, schwangen die schweren Tore auf. Hinter dem Tor standen zwei Reihen rotgekleidete Soldaten mit Trompeten und bliesen eine Fanfare, während sie hindurchfuhren.

Die Kutsche sauste ins Abenteuerland. Die Trompeter bliesen und das Tor schloß sich hinter ihnen.

Es ging über Stock und Stein, durch malerische Wälder und Täler, auf das weiße Schloß auf dem Gipfel eines Berges zu. Durch die blanken Fensterscheiben sah Jesper eine wunderliche Welt vorbeirollen. Dörfer mit Leuten, die er meinte, zu kennen. Leute aus seiner Phantasie und Leute, von denen er in den Abenteuern gehört hatte, die er vorgelesen bekommen hatte, schon seit er ganz klein war.

Draußen auf einer Ebene lief ein Mann sieben Meilen bei jedem Schritt, den er machte. Nach drei Schritten holte er sie ein, ging an ihnen vorbei und verschwand vor ihnen.

Und das, trotz der acht Pferde, die in schnellem Galopp vorandonnerten, sodaß die Kutsche schaukelte und auf dem Weg hin und her tanzte.

Ritter in glänzenden Rüstungen mit farbenprächtigen Wimpeln, die von ihren Lanzen wehten, waren auf dem Weg über die Ebene, auf der Jagd nach Drachen, die es in fast allen Abenteuern gibt, die aufgeschrieben worden sind.

Jesper sog alles in sich ein, so gut er konnte, aber es geschah zuviel, als daß er es schaffen konnte, alles zu sehen.

Die ganze Zeit beobachtete sie ihn, ohne daß er es bemerkte.

"Was ist das?" flüsterte er und zeigte. Sie polterten durch einen tiefen, dunklen Wald.

"Das ist ein aus allerlei leckeren Sachen gebautes Haus..." lachte sie. "Du mußt davon gehört haben - das Knusperhäuschen?"

Jesper nickte.

"Willst du probieren?" fragte sie.

"Nein, danke," Jesper schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich an die Hexe, die Kinder im Ofen briet und verlor die Lust auf Pfefferkuchen.

"Je weiter wir hineinkommen," sagte sie. "Je merkwürdiger wird dir diese Welt noch vorkommen. Weil sie weniger und weniger der Welt gleicht, aus der du selbst kommst."

Er lächelte, ohne den Blick vom Fenster zu wenden. "Ja, das glaub ich auch..."

Sie fuhren über eine Brücke aus Zucker. Ein großes Schwein trollte am Ufer eines Limonadenbaches entlang. Es war aus Marzipan und hatte ein Messer und eine Gabel tief im Rücken stecken.

"Magst du Marzipan?" fragte sie freundlich.

"Jahh..." seufzte Jesper. "Aber nicht jetzt. Ich muß mich erst an all das hier gewöhnen."

"Du mußt andere Kleidung haben," sagte sie säuerlich.

Er nickte wieder. Allerdings, das gefiel ihm auch nicht.

Sie rollten über eine Brücke zu dem weißen Schloß. Die Hufe donnerten auf den Steinen, hinein durch ein Tor.

Die Kutsche hielt im Hof des Schlosses an. Rundherum ragten weiße Türme mit den Spitzen gegen den Himmel.

"Wahnsinn..." dachte Jesper, der nie etwas dem gleichendes gesehen hatte. Das war schon etwas anderes, als Schloß Sorgenfrei, zuhause, wo er herkam.

"Wie mußt du glücklich sein," sagte sie, gerade als sie dabei war , auszusteigen. Sie drehte sich um und warf ihm einen langen, freundlichen Blick zu. "So in einer wirklichen Welt zu leben, ganz ohne Sorgen und Nöte..."

"Ich habe eigentlich Probleme genug," antwortete Jesper. "Frag nur meine Eltern."

Sie stieg hinunter mit Hilfe des Dieners in der roten Uniform.

"Danke, Rinze..." murmelte sie.

"Ihre Majestät, sie sind allzu freundlich." murmelte er und ließ ihre Hand los.

Dann drehte sie sich um. "Wie sind sie - deine Eltern?"

"Meine Mutter ist nett," sagte er. "Mein Vater ist Computer-freak, er ist etwas merkwürdig."

"Computer...?" sagte sie und studierte ihn eine lange Sekunde. Dann streckte sie die Hand vor. "Komm, nun sollst du mit hinein und sehen, wie ich wohne."

Sie führte ihn eine sehr, sehr breite Treppe hinauf. Sie war aus dem weißesten Marmor, und er sah, daß ihre Schuhe aus Glas waren.

Den ganzen langen Tag zeigte sie ihm die Abenteuerwelt. Er traf die Erinnerungen seiner Kindheit wieder, spaßige, unheimliche, phantastische...

Trotzdem wirkte sie besorgt.

"Bald mußt du zurück in deine eigene Welt..." sagte sie leise." Du darfst nicht mehr in meinem Reich sein, wenn die Zeit gekommen ist. Du mußt dafür sorgen, daß du im Niemandsland bist - das ist wichtig. Vergißt du es, kann es dir schaden."

Sie stand vor ihm, schön und unwirklich.

Der Boden in dem großen, hellen Saal hatte ein Schachbrettmuster. Die Schachfiguren, größer als er selbst, standen und warteten im Licht der Kronleuchter.

Von den dicklichen Türmen, den Bauern mit den Sensen über den Schultern, den Springern bis zu den Pferden.

"Hast du Lust zu spielen?" fragte sie.

"Nicht gerade jetzt," antwortete Jesper und kratzte sich an der Nase.

"Was ist es, daß dich traurig macht?"

Bevor sie antworten konnte, kam die schönste, kleine Melodie durch die offenstehende, französische Tür. Sie wallte durch die Luft, sanft und behutsam, und brachte das Lächeln zurück in ihre Augen. Die Schachfiguren standen da und lauschten mit.

Sie warf Jesper ein kleines Lächeln zu und ging auf den Balkon hinaus. Er schlich ihr nach, kauerte sich bei einer Reihe Säulen zusammen und schaute hinunter.

In der Dunkelheit, unten im Blumenbeet im Park, stand ein junger Mann - mit dem Blick auf den Balkon gewandt - und spielte auf einer Laute. Seine Finger spielten leicht über die Saiten, und Töne, so fein, wie klares Kristall, erfüllten die Luft. Hinter ihm stand ein stattliches Pferd und starrte leer in die Dunkelheit.

Er sang so schön für sie, daß Jesper wußte, daß er sie liebte, obwohl die Worte nicht zu verstehen waren.

Prinzessin Isabel schaute mit einem glühenden Blick zu ihm hinunter. Sie liebte ihn auch, das war für jeden deutlich. Sie pflückte eine Rose, die aus dem Balkonkasten am Geländer hing, und warf sie zu ihm hinunter.

Einen Augenblick verstummte die Melodie, während er sie aufsammelte. Dann steckte er sie in ein Knopfloch auf seiner Brust und spielte weiter.

Er spielte noch schöner als vorher. Er lächelte und starrte ihr von da unten tief in die Augen.

Jesper fühlte sich vollkommen überflüßig.

Das Pferd mußte dasselbe fühlen wie er, denn es drehte den Kopf weg und wieherte ganz leise. Dann passierte es.

Das Tor zum Park wurde brutal aufgestoßen und Soldaten in farbenprächtigen Uniformen stürmten in schnurgeraden Reihen herein.

Als erstes ein Leutnant mit goldenen Bändern und Orden -und gezogenem Säbel. Es war die Abenteuergarde, ein Heer, das auf Abenteuerland, den König und die Königin und Prinzessin Isabel aufpasste.

"Nehmt ihn fest..." ertönte das Kommando.

Die Soldaten liefen im Takt voran, mit Bajonetten auf den Gewehren.

Der junge Mann, der für die Prinzessin spielte, lachte und gab ihr einen Handkuß, bevor er die Laute über die Schulter schwang und auf das Pferd sprang. Das wieherte und bäumte sich auf. Jesper hielt den Atem an.

Die Soldaten kamen näher.

Er griff die Laute, schlug die Saiten an, spornte das Pferd und galoppierte direkt auf die hohe Mauer zu, die den Park umgab.

Das Pferd trippelte, setzte ab und sprang.

Prinzessin Isabel sah zu und unterdrückte einen kleinen, erschreckten Seufzer.

Er segelte über die Mauer, getragen von dem Pferd und der lieblichen, kleinen Melodie zusammen. Aber sobald er darüber hinweg und nicht länger zu sehen war, strömte die kleine Melodie über das Abenteuerland und erfüllte die, die dort lebten mit der Hoffnung, daß sie einander eines Tages bekommen würden. Denn Verlobte, das waren sie. Und sie liebten einander so innig, Prinzessin Isabel von Abenteuerland und Prinz Dur von Symphonien.

Die Soldaten blieben stehen und entspannten sich.

Der Leutnant marschierte herüber und stellte sich unter den Balkon. Er wandte den Blick nach oben und sah Prinzessin Isabel ehrerbietig an.

"Mit Eurer Majestät Erlaubnis, werde ich mich zurückziehen?"

Sie nickte.

"Erlaubt mir, vorzubringen, daß ich gezwungen bin, dem König zu melden, daß wir einen Fremden vertrieben haben, der nach dem Gesetz nicht die Erlaubnis hatte im Schloßgarten zu..."

"Wen wollen sie melden, den sie gesehen haben...?" fragte sie nervös.

Er stand etwas und dachte nach. Von weit weg drang die Musik der Laute über die Mauer.

"Gestattet mir," sagte der Leutnant feierlich. "Ich kann niemanden bestimmtes melden, denn ich sah das Gesicht des Betreffenden nicht in der Dunkelheit..."

Prinzessin Isabel lächelte erleichtert und bedankte sich.

Der Leutnant verbeugte sich und schob den Säbel in die Scheide.

Aber gerade als er sich umdrehte und den Soldaten das Kommando gab durch das Tor zu gehen, warf er ihr denselben Blick zu wie der Musikant. Auch er liebte die Prinzessin, aber er respektierte, daß sie gewählt hatte, ihr Herz einem anderen zu schenken, denn er war ein echter Leutnant.

"Die Nacht bei dir zu Hause ist bald vorbei," sagte Prinzessin Isabel.

Sie ging vor ihm durch den Saal mit dem glänzenden, wie ein Schachbrett gemusterten Boden.

Jesper folgte ihr halb rennend, weil sie so große Schritte machte, daß er ihr kaum nach kam.

Die Spiegel an den Wänden tratschten. Jedes Mal, wenn er sich selbst sah, dachte er daran, wie hübsch er war. Ein richtiger Kavalier in einem Hemd mit Rüschen am Hals und einem richtigen Kavaliersfrack mit Schößen und Spangen.

Die braunen Hosen steckten in langschäftigen Stiefeln und einen Säbel hatte er, obwohl er kleiner war, als die der Soldaten. Draußen auf der Marmortreppe blieb sie stehen und schaute sich im Schloßgarten um.

"Du mußt dich beeilen, von hier wegzukommen," sagte sie. Ihr Blick streifte die Turmuhr.

"Beim zwölften Schlag MUSST du im Niemandsland sein. Versprich mir, das nie zu vergessen."

Er starrte auf die Uhr. "Warum...?"

Sie schaute zu ihm herunter. "Weil du sonst nie wieder in deine eigene Welt zurück kannst. So ist es eben..."

Sie seufzte. "Es nützt nichts, daß du mich fragst warum, denn ich weiß es nicht."

Jesper streifte den Hut mit der Feder vom Kopf und drückte ihn an seine Brust, wie er gesehen hatte, daß man das hier machte. Dann verbeugte er sich und hielt die linke Hand am Säbelschaft.

"Wie Ihre Majestät befehlen." sagte er wichtig.

"Du bist gelehrig," lachte sie. "Du kleiner Lümmel."

Sie drehte sich zum Schloßplatz, pfiff in die Dunkelheit und stellte sich hin, um zu warten.

Drüben im fernsten Winkel polterte ein Tor auf. Das Licht aus einem Stall überflutete die Pflastersteine und die Kutsche mit den acht weißen Pferden brauste auf die Treppe zu. Sie hielt am Fuß der Stufen und eine Tür sprang auf.

"Kommst du eines Tages wieder?" fragte sie.

Jesper sah sie an. "Sobald ich kann..." versprach er.

"Das habe ich gehofft," lächelte Prinzessin Isabel und schob ihn die Treppe hinunter auf die offene Wagentür zu.

Gerade als er einstieg und die Tür zufiel, schlug die Turmuhr das erste Mal. Die Pferde wieherten und die Räder begannen zu rollen.

"Warum ist hier kein Kutscher...?"

"Das ist nicht notwendig," rief sie zurück. Mehr konnte er nicht hören, weil die Räder auf den Pflastersteinen donnerten und der Lärm ihre Worte verschluckte.

Die Pferde steigerten das Tempo, schneller und schneller. Hinaus durch die Tore vorm Schloß und über die Zuckerbrücke. Hinter ihnen dröhnte die Turmuhr ihre Schläge über das Land. Zwei.... Drei.... Vier....

Er fühlte, wie sie voranjagten. Sie wollten, daß er es schaffte.

Das Pfefferkuchenhaus sauste in der Dunkelheit vorbei. Die Hexe stand am Fenster und betrachtete ein kleines Mädchen, das Brennholz für den Ofen sammelte. Er sah sie wie in einem Blitz, dann waren sie vorbei und donnerten weiter.

Ein Drache spie Feuer auf der Ebene, während die Uhr das fünftemal schlug.

Als die Turmuhr das achtemal läutete, verlangsamten die Pferde ihre Geschwindigkeit und blieben stehen.

Die Kutsche hielt bei den zwei offenen Torflügeln, die aus Abenteuerland hinausführten.

Die Diener und die Soldaten in den roten Uniformen waren nicht mehr da. Das Tor war gerade noch so weit offen, daß die Pferde hindurchpassten. Aber auf dem Weg vor der Kutsche stand eine große Männergestalt und versperrte ihnen den Weg.

Er war in einen schwarzen Mantel mit einer Kapuze über dem Kopf gehüllt. Das Gesicht war im Schatten der Kapuze versteckt, nur die Nase und das äußerste vom Kinn glänzten weiß im Mondlicht.

Jesper schaute verstohlen aus dem Fenster. Die Pferde standen unruhig da und stampften mit den Hufen auf dem steinigen Weg. Sie waren feucht von Schweiß und schlugen ungeduldig mit den beschlagenen Füßen.

Die große Gestalt ging schnell um die Kutsche herum zur Tür und öffnete sie. Augen schauten Jesper an, wie zwei blaue Kugeln aus der Dunkelheit unter der Kopfbedeckung.

Er machte eine Gebärde, als wollte er einsteigen, aber die Pferde sprangen vor.

Die Tür knallte auf seine Finger, sodaß er den Halt verlor und unter dem Fenster verschwand, während der Wagen weiterrollte - hinaus durch das Tor und über die spiegelnde Fläche.

"Ich möchte wissen, wer das wohl war?" dachte Jesper und fand ein Stück Schokolade, an dem Fusseln aus seiner Tasche klebten.